Böses Blut - Robert Galbraith - E-Book
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Böses Blut E-Book

Robert Galbraith

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Beschreibung

Atemberaubend, labyrinthisch, episch – der 5. Cormoran-Strike-Roman ist der bislang fesselndste und faszinierendste aus der Feder von Bestsellerautorin J. K. Rowling!

Cormoran Strike ist gerade zu Besuch bei seiner Familie in Cornwall, als er von einer Frau angesprochen wird, die ihn bittet, ihre Mutter, Margot Bamborough, ausfindig zu machen, die 1974 unter mysteriösen Umständen verschwand.
Strike hatte es noch nie mit einem Cold Case zu tun, geschweige denn mit einem, der bereits vierzig Jahre zurückliegt. Doch trotz der geringen Erfolgsaussichten ist seine Neugier geweckt, und so fügt er der langen Liste an Fällen, die er und seine Arbeitspartnerin Robin Ellacott gerade in der Agentur bearbeiten, noch einen hinzu. Robin selbst hat mit einer hässlichen Scheidung und unerwünschter männlicher Aufmerksamkeit zu kämpfen – und dann natürlich mit ihren Gefühlen für Strike …
Strikes und Robins Nachforschungen zu Margots Verschwinden führen sie auf die Fährte eines vertrackten Falls mit Hinweisen auf Tarotkarten, einen psychopathischen Serienkiller und Zeugen, die nicht alle vertrauenswürdig sind. Und sie merken, dass sich selbst Fälle, die schon Jahrzehnte alt sind, als tödlich herausstellen können ...

Sie sind Fan des außergewöhnlichen Ermittlerduos Ellacott und Strike? Dann lesen Sie auch die anderen Romane der SPIEGEL-Bestsellerreihe.

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Buch

Cormoran Strike ist gerade zu Besuch bei seiner Familie in Cornwall, als er von einer Frau angesprochen wird, die ihn bittet, ihre Mutter, Margot Bamborough, ausfindig zu machen, die 1974 unter mysteriösen Umständen verschwand.

Strike hatte es noch nie mit einem Cold Case zu tun, geschweige denn mit einem, der bereits vierzig Jahre zurückliegt. Doch trotz der geringen Erfolgsaussichten ist seine Neugier geweckt, und so fügt er der langen Liste an Fällen, die er und seine Geschäftspartnerin Robin Ellacott in der Detektei bearbeiten, noch einen hinzu. Robin selbst hat mit einer hässlichen Scheidung und unerwünschter männlicher Aufmerksamkeit zu kämpfen – und natürlich mit ihren Gefühlen für Strike …

Strikes und Robins Nachforschungen zu Margots Verschwinden führen sie auf die Fährte eines vertrackten Falls mit Hinweisen auf Tarotkarten, einen psychopathischen Serienkiller und Zeugen, die nicht alle vertrauenswürdig sind. Und sie merken, dass sich selbst Fälle, die schon Jahrzehnte alt sind, als tödlich herausstellen können …

Autor

Robert Galbraith ist das Pseudonym von J. K. Rowling, Autorin der Harry-Potter-Reihe und des Romans »Ein plötzlicher Todesfall«. Die ersten vier Cormoran-Strike-Romane, »Der Ruf des Kuckucks«, »Der Seidenspinner«, »Die Ernte des Bösen« und »Weißer Tod«, erklommen die Spitzenplätze der internationalen Bestsellerlisten und wurden für BBC One als große TV-Serie verfilmt, produziert von Brontë Film and Television.

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Robert Galbraith

Böses Blut

Ein Fall für Cormoran Strike

Deutsch von Wulf Bergner, Christoph Göhler und Kristof Kurz

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Troubled Blood« bei Sphere, An Imprint of Little, Brown Book Group, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © J. K. Rowling 2020The moral right of the author has been asserted.All illustrations by the author.All characters and events in this publication, other than those clearly in the public domain, are fictitious and any resemblance to real persons, living or dead, is purely coincidental.All rights reserved.

No part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted, in any form or by any means, without the prior permission in writing of the publisher, nor be otherwise circulated in any form of binding or cover other than that in which it is published and without a similar condition including this condition being imposed on the subsequent purchaser.Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2020 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Leena Flegler

Covergestaltung: www.buerosued.de nach einer Originalvorlage

Coverdesign: Duncan Spilling © Little, Brown Book Group Ltd 2020

Coverfotos: Stephen Mulcahey (Figuren); © Shutterstock.com (Kopfsteinpflaster, Pfütze, Vögel und Textur)

KW · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27322-4V003www.blanvalet.de

Für Barbara Murray,Sozialarbeiterin, Lehrerin, engagiert in der Erwachsenenbildung,Ehefrau, Mutter, Großmutter,teuflisch gute Bridgespielerinund

beste Schwiegermutter der Welt

Und allerorten suchten sie nach ihr,Spürten vergeblich nach, wo sie verblieben.Doch ist, welch schlimmes Los ihr ward beschiedenUnd gnadenlose Schicksalswendung, dieVon des Geliebten Seite sie vertrieben,Wohl eine weidlich lange Mär …

EDMUND SPENSERDie Feenkönigin

Denn wenn dem nicht so wäre, würde etwas im Nichts verschwinden, was mathematisch absurd wäre.

ALEISTER CROWLEYDas Buch Thoth

ERSTER TEIL

Es zog der heit’re Sommer ein …

EDMUND SPENSERDie Feenkönigin

1

Euch Kunde tun will ich von Artegall,Gerechter Sache unverdross’ner Streiter …

EDMUND SPENSERDie Feenkönigin

»Du bist ein echter Cornishman, in Cornwall geboren und aufgewachsen«, sagte Dave Polworth gereizt. »›Strike‹ ist nicht mal dein richtiger Name. Von Rechts wegen bist du ein Nancarrow. Da wirst du dich ja wohl kaum als Engländer bezeichnen wollen, oder?«

An diesem warmen Augustabend war das Victory Inn so überfüllt, dass sich die Gäste vor dem Pub bis auf die breite Steintreppe drängten, die hinunter zur Bucht führte. Polworth und Strike saßen an einem Ecktisch und feierten Polworths neununddreißigsten Geburtstag mit ein paar Pints. Seit zwanzig Minuten diskutierten sie über kornischen Nationalismus. Strike kam es bedeutend länger vor.

»Ob ich mich als Engländer bezeichnen würde?«, überlegte Strike laut. »Nein, wohl eher als Briten.«

»Ach, leck mich doch, würdest du nicht«, fauchte der hitzköpfige Polworth. »Das sagst du nur, um mich zu provozieren.«

Physisch hätten die beiden Freunde nicht unterschiedlicher sein können. Polworth war klein und drahtig wie ein Jockey, sein Gesicht wettergegerbt und zu faltig für sein Alter. Die sonnengebräunte Kopfhaut schimmerte durch das schüttere Haar. Sein T-Shirt war so verknittert, als hätte er es vom Boden eines Wäschekorbs geholt, die Jeans zerrissen. Auf seinen linken Unterarm war die schwarz-weiße Flagge von Cornwall mit dem St.-Pirans-Kreuz tätowiert; die tiefe Narbe rechter Hand hatte er bei der Begegnung mit einem Hai davongetragen.

Sein Freund Strike dagegen sah aus wie ein ehemaliger Boxer – und nichts anderes war der eins zweiundneunzig große, massige Mann mit der leicht schiefen Nase und den dichten Locken. Trotz seines immerwährenden Bartschattens umgab ihn die für ehemalige Angehörige von Polizei oder Militär typische Aura von Disziplin und Ordnung, und tätowiert war er auch nicht.

»Du bist hier geboren«, beharrte Polworth. »Also bist du aus Cornwall.«

»Nach dieser Logik wärst du aus Birmingham.«

»Ach, leck mich doch«, wiederholte Polworth ehrlich gekränkt. »Als wir hierhergezogen sind, war ich zwei Monate alt. Meine Mum ist eine Trevelyan. Hier geht’s um Identität – was man hier drin fühlt.« Polworth schlug sich auf Höhe seines Herzens auf die Brust. »Die Familie meiner Mum lebt seit Jahrhunderten in Cornwall …«

»Weißt du, diese Blut-und-Boden-Sache war noch nie mein …«

»Hast du von dieser letzten Umfrage gehört?«, fiel ihm Polworth ins Wort. »›Wie würden Sie Ihre ethnische Herkunft definieren?‹, haben sie gefragt, und die Hälfte – die Hälfte! – hat ›Cornwall‹ statt ›England‹ angegeben. Das ist ein gewaltiger Anstieg.«

»Soso«, entgegnete Strike. »Und als Nächstes kann man wohl ankreuzen, ob man sich für einen Dumnonier oder einen Römer hält.«

»Mach dich nur lustig«, sagte Polworth. »Du wirst schon sehen, was du davon hast. Du bist schon viel zu lang in deinem Scheißlondon, mein Freund … Man kann ja wohl auf seine Herkunft stolz sein, oder? Es ist nichts verkehrt daran, dass die Gemeinden mehr Befugnisse von Westminster fordern. Die Schotten machen es uns nächstes Jahr vor, pass nur auf, und wenn die erst mal unabhängig sind, gibt’s kein Halten mehr. Dann werden sämtliche keltischstämmigen Völker im Land aufbegehren. Noch eins?« Er deutete auf Strikes leeres Glas.

Strike war in den Pub gekommen, um Stress und Sorgen hinter sich zu lassen, nicht um sich einen Vortrag über die Unabhängigkeitsbestrebungen Cornwalls anzuhören. Seit sie sich rund ein Jahr zuvor zuletzt gesehen hatten, schien Polworth ein noch glühenderer Anhänger von Mebyon Kernow geworden zu sein, jener nationalistischen Partei, der er mit sechzehn Jahren beigetreten war. Dave konnte Strike zum Lachen bringen wie sonst kaum jemand, aber wenn es um die Unabhängigkeit Cornwalls ging – ein Thema, das für Strike ungefähr so interessant war wie Heimtextilien oder Modelleisenbahnbau –, verstand er keinen Spaß. Kurz überlegte Strike, ob er wieder nach Hause zu seiner Tante gehen sollte, aber die Vorstellung war noch deprimierender als die Schimpftiraden seines alten Freundes über Supermarktbetreiber, die sich weigerten, in Cornwall hergestellte Produkte mit dem St.-Pirans-Kreuz zu kennzeichnen.

»Ja, gern«, antwortete Strike und schob Dave sein Glas hin. Der nickte auf dem Weg zum Tresen seinen vielen Bekannten links und rechts zu.

Strike blieb allein am Tisch zurück und sah sich gedankenverloren um. Trotz aller Veränderungen, die seine hiesige Stammkneipe im Lauf der Jahre durchgemacht hatte, war sie immer noch als der Pub erkennbar, in dem er sich als junger Mann mit seinen Kumpels getroffen hatte. Merkwürdigerweise fühlte er sich gleichzeitig ganz wie zu Hause und vollkommen fehl am Platz. Alles war vertraut und ihm zugleich fremd geworden.

Sein Blick wanderte ziellos über den Holzboden und die Kunstdrucke mit Meeresmotiven an den Wänden und blieb an einer Frau hängen, die mit einer Freundin am Tresen stand und ihn mit großen Augen verunsichert ansah. Sie hatte ein längliches, blasses Gesicht und dunkles Haar mit grauen Strähnen, das ihr bis zu den Schultern reichte. Sie kam Strike nicht bekannt vor, aber ihm war nicht entgangen, dass sich nicht wenige Einheimische in der letzten Stunde die Hälse verdreht hatten, um ihn anzustarren oder Blickkontakt herzustellen. Er wandte sich ab, nahm sein Handy zur Hand und tat so, als würde er eine Nachricht schreiben.

Strike war klar, dass selbst entfernte Bekannte keine noch so nichtige Gelegenheit verstreichen lassen würden, ein Gespräch mit ihm anzufangen; einen Vorwand dazu hatten sie alle, denn offenbar wusste inzwischen ganz St. Mawes, dass bei seiner Tante Joan zehn Tage zuvor Eierstockkrebs im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert worden war und Strike sowie seine Halbschwester Lucy mit ihren drei Söhnen sofort angereist waren, um Joan und Ted in dieser schweren Stunde beizustehen. Seit einer Woche musste er neugierige Fragen beantworten, Mitleidsbekundungen entgegennehmen und höflich Hilfsangebote ablehnen, sobald er das Haus verließ. Allmählich wusste er nicht mehr, wie er »Nein, es sieht nicht gut aus, und ja, das ist für uns alle ziemlich beschissen« noch formulieren sollte.

Mit zwei frischen Pints bahnte sich Polworth einen Weg zurück an ihren Tisch. »Hier, Diddy.« Er setzte sich wieder auf seinen Hocker.

Der alte Spitzname spielte nicht etwa, wie die meisten annahmen, ironisch auf Strikes Körpergröße an, sondern war eine Verballhornung von didicoy, des im Kornischen gebräuchlichen Ausdrucks für das fahrende Volk, und eine Anspielung auf Strikes unstete Kindheit; der Klang des Namens besänftigte Strike und erinnerte ihn wieder daran, weshalb er mit Polworth länger als mit jedem anderen befreundet war.

Fünfunddreißig Jahre zuvor war Strike mit einem Jahr Verspätung in St. Mawes eingeschult worden. Er war ungewöhnlich groß für sein Alter gewesen und hatte einen für kornische Ohren fremden Akzent gehabt. Zwar hatte er tatsächlich in Cornwall das Licht der Welt erblickt, doch seine Mutter war, sobald sie sich von der Geburt erholt hatte, mit dem Baby im Arm zurück in ihr geliebtes London geflüchtet, wo sie ihr gewohntes Nomadenleben zwischen verschiedenen Wohnungen, besetzten Häusern und wilden Partys wieder aufgenommen hatte. Vier Jahre nach Strikes Geburt war sie mitsamt Sohn und der neugeborenen Lucy nach St. Mawes zurückgekehrt, nur um in den frühen Morgenstunden erneut aufzubrechen – diesmal jedoch, ohne Strike und seine Halbschwester mitzunehmen.

Strike hatte den genauen Wortlaut der Nachricht, die Leda auf dem Küchentisch hinterlassen hatte, nie in Erfahrung gebracht. Bestimmt hatte sie Schwierigkeiten mit einem Vermieter oder Liebhaber gehabt oder auf keinen Fall irgendein Musikfestival verpassen wollen: Mit zwei Kindern im Schlepptau hatte sie nicht mehr einfach tun und lassen können, was sie wollte. Aber wie immer die Gründe für ihre immer längere Abwesenheit gelautet haben mochten: Ledas Schwägerin Joan, die so konventionell und ordnungsliebend war wie Leda flatterhaft und chaotisch, hatte kurzerhand eine Schuluniform für Strike gekauft und ihn an der örtlichen Grundschule angemeldet.

Als er der Klasse vorgestellt wurde, hatten ihn die anderen Kinder angeglotzt und teils sogar gekichert, kaum dass der Lehrer den Vornamen des Neuen – Cormoran – verkündet hatte. Das Ganze war äußerst verwirrend für Strike gewesen, hatte ihm seine Mum doch »Hausunterricht« versprochen; er hatte versucht, seinem Onkel Ted begreiflich zu machen, dass Mum mit dem Schulbesuch bestimmt nicht einverstanden wäre, doch der sonst so nachsichtige Ted hatte dem Jungen unmissverständlich klargemacht, dass er trotzdem würde gehen müssen. Und so hatte sich Strike unter lauter fremden Kindern mit merkwürdigem Akzent wiedergefunden und – obwohl er grundsätzlich sehr selten weinte – mit einem apfelgroßen Kloß im Hals an einem alten Rollladenschreibtisch Platz genommen.

Nicht einmal Strike hatte sich je befriedigend erklären können, warum ausgerechnet Dave Polworth – der in der Klasse den Ton angab – ihn unter seine Fittiche nahm. Aus Furcht vor Strikes Größe sicher nicht: Daves beste Freunde waren zwei kräftige Fischersöhne, und Dave selbst war berüchtigt dafür, dass es sich mit seiner Streitlust umgekehrt proportional zu seiner Statur verhielt. Gleich am allerersten Schultag wurde Strike sowohl Daves Freund als auch dessen Protegé. Dave hatte es zu seinem persönlichen Anliegen gemacht, seine Klassenkameraden davon zu überzeugen, dass Strike ihren Respekt verdiente: Obwohl der Neue nicht wusste, wo seine Mum steckte, war er immerhin in Cornwall geboren und außerdem der Neffe von Ted Nancarrow von der Küstenwache. Dass er so merkwürdig redete, war letztlich nicht seine Schuld.

Trotz ihrer Krankheit hatte sich Strikes Tante gefreut, dass er eine ganze Woche geblieben war, und obwohl er am kommenden Morgen wieder abreisen würde, hatte Joan ihn an diesem Abend förmlich aus dem Haus gescheucht, damit er mit dem »kleinen Dave« Geburtstag feiern konnte. Sie legte viel Wert auf die Pflege alter Bekanntschaften und freute sich darüber, dass Strike und Dave Polworth nach so vielen Jahren immer noch miteinander befreundet waren. Für Joan war diese Freundschaft nicht nur Beweis dafür, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, sich den Wünschen seiner nutzlosen Mutter zu widersetzen und ihn zur Schule zu schicken, sondern auch, dass Strikes wahre Heimat Cornwall war, auch wenn er in der Zwischenzeit weit herumgekommen war und gegenwärtig in London wohnte.

Polworth nahm einen tüchtigen Schluck von seinem vierten Pint. Dann warf er der dunkelhaarigen Frau und ihrer blonden Bekannten, die Strike nach wie vor beobachteten, einen finsteren Blick zu. »Scheißtouristen.«

»Und wo wäre dein Park ohne sie?«, fragte Strike.

»Jetzt mal halblang«, entgegnete Polworth. »Wir haben zig einheimische Besucher und jede Menge Stammgäste.«

Polworth hatte vor Kurzem seine leitende Position bei einem Ingenieurbüro in Bristol aufgegeben und war Chefgärtner einer öffentlichen Parkanlage an der Küste unweit von St. Mawes geworden. Er war erfahrener Taucher und Surfer und hatte schon an Ironman-Wettbewerben teilgenommen. Seit seiner Kindheit war er ruhelos und geradezu besessen von körperlicher Aktivität. Weder sein fortschreitendes Alter noch die Büroarbeit hatten ihn zähmen können.

»Also bereust du es nicht?«, fragte Strike.

»Scheiße, nein!«, antwortete Polworth im Brustton der Überzeugung. »Ich musste einfach wieder an die frische Luft und mir die Hände schmutzig machen. Jetzt oder nie, hab ich mir gedacht. Immerhin werde ich nächstes Jahr vierzig.«

Polworth hatte sich auf die Stelle beworben, ohne seine Frau davon in Kenntnis zu setzen. Nachdem er den Job bekommen und seinen alten gekündigt hatte, hatte er die Familie vor vollendete Tatsachen gestellt.

»Und Penny hat sich damit abgefunden?«, wollte Strike wissen.

»Sie droht mir immer noch einmal wöchentlich mit der Scheidung«, antwortete Polworth gleichmütig. »Aber es war besser so, als erst fünf Jahre lang mit ihr zu diskutieren. Und es hat ja auch prima geklappt. Die Kinder sind begeistert von der neuen Schule, und Pennys Firma hat sich bereit erklärt, sie ins Großstadtbüro zu versetzen.« Mit »Großstadt« meinte Polworth nicht etwa London, sondern Truro. »Sie ist glücklich, sie will es nur nicht zugeben.«

Das bezweifelte Strike insgeheim. Polworths Risikobereitschaft und romantische Vorstellungen gingen Hand in Hand mit seiner Neigung, unbequeme Tatsachen auszublenden. Weil Strike aber selbst genug Probleme hatte und sich nicht auch noch um Polworth Sorgen machen wollte, hob er das volle Bierglas. »Dann herzlichen Glückwunsch«, sagte er in der Hoffnung, dass sein Freund nicht wieder auf Politik zu sprechen käme.

»Prost«, sagte Polworth. »Na, was meinst du – kommt Arsenal weiter?«

Strike zuckte nur mit den Schultern. Er befürchtete, eine Diskussion über die Champions-League-Aussichten seiner bevorzugten Londoner Fußballmannschaft könnte eine weitere Diskussion über seine mangelnde Loyalität gegenüber der kornischen Sache nach sich ziehen.

Polworth verlegte sich auf eine neue Strategie, um Strike aus der Reserve zu locken. »Und was macht das Liebesleben?«

»Momentan gar nichts.«

Polworth grinste. »Joanie ist der Meinung, dass du früher oder später mit deiner Geschäftspartnerin zusammenkommst. Wie heißt sie noch? Robin, oder?«

»Ach ja?«

»Hat sie mir vorletztes Wochenende erzählt. Da war ich bei ihnen und hab ihre Sky Box repariert.«

»Haben sie gar nicht erwähnt.« Strike deutete mit dem Bierglas auf Polworth. »Echt nett von dir, Kumpel. Besten Dank.«

Doch Strikes Ablenkungsmanöver lief ins Leere. Polworth ließ einfach nicht locker.

»Ted war der gleichen Meinung. Sie sind beide davon überzeugt, dass es früher oder später zwischen euch funkt. Oder etwa nicht?«, fragte er, als Strike sich nicht weiter dazu äußerte.

»Nein.«

»Und wieso nicht?« Polworth runzelte die Stirn. Robin schien doch – genau wie die Unabhängigkeit Cornwalls – ein für Strike naheliegendes und obendrein attraktives Zukunftsziel zu sein. »Sie sieht gut aus – weiß ich aus der Zeitung. Vielleicht nicht ganz so gut wie Mylady Berserko«, fügte Polworth hinzu; den Spitznamen hatte er Strikes Exverlobter schon vor langer Zeit verpasst. »Aber dafür ist sie zumindest nicht durchgeknallt, oder?«

Strike lachte.

»Lucy mag sie«, fuhr Polworth fort. »Ihr passt perfekt zusammen, meint sie.«

»Wann hast du denn mit Lucy über mein Liebesleben gesprochen?«, fragte Strike leicht gereizt.

»Vor ungefähr einem Monat«, sagte Polworth. »Sie war übers Wochenende zu Besuch und hatte ihre Jungs dabei. Wir haben sie zum Grillen eingeladen.«

Schweigend nahm Strike einen Schluck.

»Ihr kommt prima miteinander aus, hat sie erzählt.« Polworth ließ ihn nicht aus den Augen.

»Das stimmt.«

Mit erwartungsvoll hochgezogenen Augenbrauen sah Polworth ihn an.

»Das würde bloß alles ruinieren«, sagte Strike. »Ich will die Detektei nicht aufs Spiel setzen.«

»Verstehe. Aber hat es dich nie gereizt …?«

Es folgte eine kurze Pause. Strike gab sich alle Mühe, nicht zu der dunkelhaarigen Frau und ihrer Freundin hinüberzusehen, die – da war er sich sicher – in genau diesem Augenblick über ihn redeten.

»Doch, hin und wieder schon«, gestand er. »Aber sie steckt gerade mitten in einer unschönen Scheidung. Außerdem verbringen wir sowieso schon genug Zeit miteinander. Und sie ist eine sehr angenehme Geschäftspartnerin.«

Angesichts ihrer langen Freundschaft und weil sie sich schon über Politik in die Haare geraten waren, bemühte sich Strike, seinen Unmut über Polworths Fragen hinunterzuschlucken – außerdem hatte sein Kumpel heute Geburtstag. Aber weshalb versuchten eigentlich sämtliche verheirateten Leute in Strikes Bekanntenkreis geradezu krampfhaft, andere in den Hafen der Ehe zu lotsen, sogar wenn sie selbst kein besonders leuchtendes Beispiel dafür abgaben? Die Polworths beispielsweise befanden sich im Dauerclinch. Penny hatte ihren Ehemann in Strikes Gegenwart häufiger als »blöden Penner« bezeichnet, als ihn beim Namen zu nennen, und Polworth hatte seine Freunde an nicht wenigen Abenden detailreich mit Schilderungen unterhalten, wie es ihm gelungen war, seine eigenen Wünsche und Vorhaben gegen die Interessen seiner Frau und unter ihrem Protest durchzuboxen. Beide wirkten am glücklichsten und entspanntesten in der Gesellschaft von Vertretern des jeweils eigenen Geschlechts. Bei den wenigen Gelegenheiten, da Strike anlässlich einer Feier bei ihnen eingeladen gewesen war, hatten sich die Männer in einen und die Frauen in einen anderen Bereich des Hauses zurückgezogen, als wäre dies ein unabänderliches Naturgesetz.

»Und was, wenn Robin Kinder will?«, hakte Polworth nach.

»Glaub ich nicht«, sagte Strike. »Sie liebt ihren Job.«

»Das sagen sie alle«, meinte Polworth geringschätzig. »Wie alt ist sie jetzt?«

»Zehn Jahre jünger als wir.«

»Dann will sie bald Kinder«, versicherte Polworth ihm. »So ist das doch immer, Frauen sind da nur früher dran. Bei denen tickt die Uhr.«

»Tja, von mir kriegt sie jedenfalls keine. Ich will keine Kinder. Und je älter ich werde, desto weniger bin ich davon überzeugt, dass die Ehe das Richtige für mich wäre.«

»Das dachte ich auch, Kumpel«, sagte Polworth. »Aber dann ist mir klar geworden, dass ich auf dem falschen Dampfer war. Das hab ich dir doch erzählt, oder? Wie ich Penny am Ende doch einen Antrag gemacht habe?«

»Ich glaube nicht«, sagte Strike.

»Hab ich dir nie die Tolstoi-Geschichte erzählt?« Polworth war überrascht.

Strike, der gerade das Glas an die Lippen hatte heben wollen, ließ es verblüfft wieder sinken. Trotz seines messerscharfen Verstands hatte sich Polworth seit der Grundschule standhaft geweigert, irgendetwas zu lernen, was keinen sofortigen praktischen Nutzen hatte, und – von Betriebsanleitungen abgesehen – das gedruckte Wort stets gescheut.

»Tolstoi. Das war ein Schriftsteller«, erklärte Polworth, der Strikes Miene falsch gedeutet hatte.

»Ach«, sagte Strike. »Danke auch. Was hat Tolstoi …«

»Das will ich dir ja erklären, oder? Ich hatte mich gerade zum zweiten Mal von Penny getrennt. Sie hatte mir in einem fort in Sachen Verlobung in den Ohren gelegen, aber ich wollte nichts davon wissen. Ich sitze also mit meinem Kumpel Chris im Pub und erzähle ihm, wie satt ich es habe, dass sie ständig wieder von Verlobung anfängt – du erinnerst dich doch an Chris, oder? Großer Kerl, lispelt, du hast ihn bei Rozwyns Taufe kennengelernt. Wie dem auch sei – neben uns sitzt ein älterer Typ. Cordsakko, gewelltes Haar, ein bisschen angeschwuchtelt. Ich war sauer, weil ich schon gemerkt hatte, dass er uns zuhört, und hab ihn gefragt, was es da Scheiße noch mal zu glotzen gibt. Da sieht er mir direkt in die Augen und sagt: ›Wie man nur ein Bündel tragen und doch dabei etwas mit den Händen verrichten kann, sobald das Bündel auf den Rücken gehängt ist, so ist es auch mit der Heirat. Dies habe ich an mir erfahren, als ich geheiratet hatte. Meine Hände waren da plötzlich wieder frei. Aber ohne die Ehe ein solches Bündel mit sich schleppen heißt mit Händen laufen, die so vollgepackt sind, dass man nichts sonst zu tun vermag. Sieh Mazankow, Krupow an. Sie haben ihre Karrieren durch die Weiber zugrunde gerichtet.‹ Ich dachte, Mazankow und Krupow wären Kumpels von ihm, und hab ihn gefragt, was zum Geier er mir da erzählt. Er hätte Tolstoi zitiert, meint er daraufhin. Wir kommen ins Gespräch, und ich sag dir, Diddy, dieser Moment hat mein Leben verändert. Plötzlich ging mir ein Licht auf.« Polworth deutete auf die leere Luft über seinem schütteren Haar. »Der Typ hat mir die Augen geöffnet. Das ist das Dilemma des Mannes: Ich sitze da, langweile mich zu Tode, versuche vergeblich, an einem Donnerstagabend irgendwen aufzureißen, und dann geh ich doch wieder allein nach Hause und mit weniger Geld in der Tasche. Ich hab an die ganze Kohle gedacht, die für die Jagd auf Muschis draufgeht, an den ganzen Aufwand und ob ich mit vierzig immer noch einsam zu Hause sitzen und mir Pornos angucken will, und da denk ich mir: Genau das ist doch der Punkt. Deshalb gibt es die Ehe. Finde ich eine Bessere als Penny? Macht es mir echt so viel Spaß, irgendwelche Frauen in der Kneipe aufzureißen? Penny und ich kommen doch halbwegs miteinander aus. Ich hätte es viel schlechter treffen können. Sie sieht ganz gut aus. Ich hab also schon eine Muschi, die daheim auf mich wartet. Stimmt doch, oder nicht?«

»Schade, dass sie das jetzt nicht gehört hat«, sagte Strike. »Sie hätte sich auf der Stelle noch mal in dich verliebt.«

»Ich hab dem Cordtypen jedenfalls die Hand geschüttelt«, fuhr Polworth fort, ohne Strikes Sarkasmus zur Kenntnis zu nehmen. »Und ich hab ihn gebeten, mir den Titel des Buchs aufzuschreiben. Dann bin ich raus aus der Kneipe, hab ein Taxi zu Pennys Wohnung genommen und an die Tür gehämmert, bis sie aufgewacht ist. Sie war auf hundertachtzig, weil sie dachte, dass ich nur da wäre, weil ich besoffen war und ficken wollte und keine Bessere auftreiben konnte. ›Nein, du dumme Nuss‹, hab ich gerufen, ›ich bin hier, weil ich dich heiraten will.‹ Das Buch hieß übrigens Anna Karenina. War aber scheiße«, sagte Polworth und leerte sein Pint.

Strike lachte.

Polworth rülpste laut, dann sah er auf die Uhr. Er wusste, wann es an der Zeit war, nach Hause zu gehen, und hatte für lange Abschiedsszenen ebenso viel Geduld wie für russische Literatur.

»Ich muss los, Diddy.« Er stand auf. »Wenn ich vor halb zwölf zurück bin, krieg ich einen Geburtstagsblowjob. Und siehst du – genau das meine ich, Kumpel: Nur darum geht’s.«

Strike gab Polworth grinsend die Hand. Polworth trug ihm noch auf, Joan schöne Grüße auszurichten und sich zu melden, sobald er wieder in der Gegend wäre. Dann drängelte er sich durch den Pub und war verschwunden.

2

Dem Herz, von tiefem Schmerz geplagt, verschafftNur Hoffnung auf der Qualen End Erleicht’rung …

EDMUND SPENSERDie Feenkönigin

Strike schmunzelte immer noch über Polworths Geschichte, als ihm auffiel, dass die dunkelhaarige Frau von der Bar Anstalten machte, zu ihm herüberzukommen, obwohl ihr die Blondine mit der Brille offensichtlich davon abriet. Strike leerte sein Pint, steckte sein Portemonnaie ein und vergewisserte sich, dass er seine Zigaretten in der Tasche hatte. Dann richtete er sich unter Zuhilfenahme der Wand gerade auf und setzte sich vorsichtig in Bewegung. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass er sich nach vier Pints nicht immer auf seine Beinprothese verlassen konnte. Sobald er sich sicher war, das Gleichgewicht halbwegs halten zu können, machte er sich auf den Weg nach draußen. Dabei nickte er denjenigen Bekannten, die er nicht ignorieren konnte, ohne sie vor den Kopf zu stoßen, mit ernster Miene zu, schaffte es zum Ausgang, ohne behelligt zu werden, und trat hinaus in die laue Nacht.

Auf den breiten, unebenen Steinstufen, die zur Bucht hinunterführten, drängten sich trinkende und rauchende Gäste. Strike zwängte sich zwischen ihnen hindurch und holte seine Zigaretten aus der Tasche.

An diesem milden Augustabend war das malerische Ufer voller Spaziergänger. Strike selbst hatte einen viertelstündigen Fußmarsch vor sich, der zum Teil über eine steile Anhöhe führte. Aus einem spontanen Impuls heraus überquerte er die Straße und hielt auf die Steinmauer zu, die den Parkplatz und das kleine Fährterminal vom Meer trennte. Er lehnte sich dagegen, zündete sich eine Zigarette an und starrte hinaus auf den rauchgrau-silbernen Ozean. Hier war er für einen Moment nur einer von vielen Touristen in der Dunkelheit, konnte in Ruhe rauchen und musste keine Fragen zu Joans Krankheit beantworten. Er wollte seine Rückkehr auf das unbequeme Sofa, auf dem er die letzten sechs Nächte geschlafen hatte, nach Möglichkeit hinauszögern.

Bei seiner Ankunft hatte Joan ihm eröffnet, dass es ihm als kinderlosem, ungebundenem ehemaligem Soldaten sicher nichts ausmache, im Wohnzimmer zu übernachten: »Dukannst ja überall schlafen«. Strike hatte zuvor am Telefon vorgeschlagen, sich ein Zimmer in einem Bed & Breakfast zu nehmen, statt die Kapazitäten des kleinen Hauses über Gebühr zu beanspruchen. Dies hatte Joan rundheraus abgelehnt. Dass Strike sie besuchen kam, war selten genug, und dann auch noch gleichzeitig mit seiner Schwester und seinen Neffen – nein, Joan hatte so viel wie möglich von seiner Anwesenheit haben und sich einmal mehr als Versorgerin fühlen wollen, auch wenn sie durch die ersten Chemobehandlungen geschwächt gewesen war.

Also hatte sich der große, schwere Strike, der mit einer Campingliege weitaus zufriedener gewesen wäre, ohne zu murren und Abend für Abend auf den rutschigen Satinbezug des steifen Rosshaarsofas gelegt, nur um am folgenden Morgen von seinen Neffen geweckt zu werden, die mit schöner Regelmäßigkeit vergaßen, dass sie das Wohnzimmer erst nach acht Uhr betreten sollten. Wenigstens Jack hatte den Anstand, eine Entschuldigung zu flüstern, wenn er seinen Onkel wieder einmal aus dem Schlaf gerissen hatte. Luke, der Älteste, polterte jeden Morgen schreiend die enge Treppe hinunter und rannte kichernd an Strike vorbei in die Küche.

Außerdem hatte Luke Strikes nagelneue Kopfhörer ruiniert, und der Detektiv hatte sich verpflichtet gefühlt, so zu tun, als machte es ihm nichts aus. Sein ältester Neffe hatte es darüber hinaus für einen spaßigen Einfall gehalten, eines Morgens mit Strikes Prothese in den Garten zu laufen und seinem Onkel damit durch das Fenster zuzuwinken. Als Luke sie ihm endlich zurückgegeben hatte, hatte Strike – dessen Blase zum Bersten voll gewesen war und der die steile Treppe ohne künstliches Bein niemals bewältigt hätte – ihn so scharf zurechtgewiesen, dass der Junge den restlichen Vormittag über ungewöhnlich still gewesen war.

Unterdessen teilte Joan Strike allmorgendlich mit, dass er »gut geschlafen« habe, statt sich zu erkundigen, ob das auch wirklich stimmte; sie hatte schon immer die Angewohnheit gehabt, ihre Familie mit subtilem Druck dazu zu bringen, genau das zu sagen, was sie hören wollte. Als Strike noch in seinem Büro geschlafen hatte und stets von der Insolvenz bedroht gewesen war (was er seiner Tante und seinem Onkel selbstverständlich verschwiegen hatte), hatte Joan ihm am Telefon fröhlich erzählt, wie toll das Geschäft für ihn laufe. Auch damals hätte er es als unnötigen Affront betrachtet, ihre optimistische Einschätzung zu korrigieren. Und nachdem er seinen Unterschenkel in Afghanistan durch eine Sprengfalle verloren hatte, hatte eine weinende Joan an seinem Krankenhausbett gestanden und dem vom Morphium benebelten Strike mitgeteilt, dass er es »doch ganz bequem« habe: »Immerhin hast du keine Schmerzen.« Er liebte seine Tante, die über weite Strecken seiner Kindheit seine Erziehung übernommen hatte, doch sobald er sich länger in ihrer Gegenwart aufhielt, beschlich ihn ein erdrückendes, erstickendes Gefühl; ihr Beharren, in sämtlichen sozialen Belangen den schönen Schein zu wahren und unbequeme Wahrheiten zu leugnen oder zu ignorieren, ermüdete ihn auf Dauer.

Etwas glänzte im Wasser unter ihm, er sah geschmeidiges Silber und ein kohlschwarzes Augenpaar: Direkt vor Strike drehte eine Robbe träge ihre Kreise. Er betrachtete sie und fragte sich, ob sie ihn ebenfalls sehen konnte. Aus Gründen, die er nicht hätte benennen können, wanderten seine Gedanken zu seiner Geschäftspartnerin.

Ihm war bewusst, dass er Polworth nicht die ganze Wahrheit über seine Beziehung zu Robin erzählt hatte. Diese Wahrheit – die weder seinen Freund noch sonst jemanden etwas anging – lautete, dass er seine komplizierten, widersprüchlichen Gefühle nicht näher analysieren wollte: dass er beispielsweise dazu neigte, sich nach dem Klang ihrer Stimme zu sehnen, wenn er allein, gelangweilt oder niedergeschlagen war.

Er sah auf die Uhr. Robin hatte heute einen freien Tag gehabt, aber womöglich war sie noch wach. Er hatte sogar einen glaubhaften Vorwand, ihr eine Nachricht zu schreiben: Saul Morris, der Neuzugang unter ihren freien Mitarbeitern, hatte seine Monatsspesen noch nicht erstattet bekommen, und Strike hatte diesbezüglich keine Anweisungen hinterlassen; wenn er Robin dazu jetzt eine Nachricht schrieb, war es durchaus möglich, dass sie ihn anrief, um sich nach Joans Befinden zu erkundigen.

»Verzeihung?«, sagte eine nervöse Stimme hinter ihm.

Ohne sich umzudrehen, wusste Strike, dass es die dunkelhaarige Frau aus dem Pub war. Sie hatte einen Home-Counties-Akzent und klang halb entschuldigend, halb aufgeregt, wie so viele, die mit ihm über seine detektivischen Glanzleistungen reden wollten.

»Ja?« Er drehte sich um.

Die blonde Bekannte hatte sie nach draußen begleitet. Oder war es möglich, schoss es Strike durch den Kopf, dass sie mehr waren als nur Bekannte? Zwischen den beiden Frauen, die er auf Anfang vierzig schätzte, herrschte ein schwer zu fassendes Gefühl der Vertrautheit. Beide trugen Jeans und Hemden. Die leicht wettergegerbte Drahtigkeit der Blondine ließ auf mit Wandern oder Radfahren verbrachte Wochenenden schließen. Gleichzeitig verliehen ihr die hohen Wangenknochen, die Brille und das zu einem Pferdeschwanz gebundene Haar etwas Strenges. Sie trug kein Make-up; landläufig hätte man sie wohl als »natürliche Schönheit« bezeichnet.

Die dunkelhaarige Frau war etwas zierlicher. Ihre großen grauen Augen leuchteten blass in dem schmalen Gesicht. Im Zwielicht besaß sie eine intensive, beinahe fanatische, an eine mittelalterliche Märtyrerin erinnernde Aura.

»Sind Sie … Sind Sie Cormoran Strike?«, fragte sie.

»Ja«, sagte er nicht unbedingt freundlich.

»Oh«, keuchte sie. »Das … das ist wirklich sehr seltsam. Sie möchten im Augenblick bestimmt nicht … Tut mir leid, Sie zu stören! Sie sind ja nicht im Dienst.« Sie kicherte nervös. »Ich heiße übrigens Anna, und ich wollte Sie fragen, ob …« Sie holte tief Luft. »Ob ich bei Gelegenheit mit Ihnen über meine Mutter sprechen könnte.«

Strike schwieg.

»Sie ist verschwunden«, fuhr Anna fort. »Ihr Name ist Margot Bamborough. Sie war Allgemeinärztin, hat eines Tages nach der Arbeit ihre Praxis verlassen und wurde nie wiedergesehen.«

»Haben Sie sich schon mit der Polizei in Verbindung gesetzt?«, fragte Strike.

Anna gab ein seltsames kurzes Lachen von sich. »Natürlich. Die weiß Bescheid und hat auch ermittelt. Aber sie hat nichts herausgefunden. Meine Mutter«, ergänzte sie, »ist 1974 verschwunden.«

Das dunkle Wasser klatschte gegen die Steine. Strike glaubte, die Robbe durch die feuchten Nasenlöcher schnauben zu hören. Drei betrunkene Jugendliche torkelten an ihnen vorbei zum Anleger. Ob sie wussten, dass die letzte Fähre schon um sechs abgelegt hatte?

»Gerade, also letzte Woche«, legte die Frau hastig nach, »war ich bei einem Medium …«

Scheiße, dachte Strike. Im Rahmen seiner Tätigkeit als Detektiv war er schon des Öfteren Leuten begegnet, die gegen Bezahlung übersinnliche Einsichten feilboten. Er hatte nur Verachtung für sie übrig: Seiner Meinung nach waren das ausnahmslos Blutsauger, die die Leichtgläubigen und Verzweifelten um ihr Geld brachten.

Das Tuckern eines Motorboots störte die nächtliche Stille. Aber offenbar hatten die drei betrunkenen jungen Männer genau darauf gewartet. Sie lachten, stießen einander mit den Ellbogen an und scherzten darüber, wer wohl zuerst seekrank würde.

»Das Medium hat gesagt, dass ich ein ›Zeichen‹ bekäme«, fuhr Anna fort. »›Sie werden herausfinden, was mit Ihrer Mutter passiert ist. Sie werden ein Zeichen erhalten, und dann werden Sie Ihren Weg sehr bald klar vor sich sehen.‹ Und als ich Sie vorhin im Pub entdeckt habe – Cormoran Strike im Victory, das muss man sich mal vorstellen! –, war das ein so unglaublicher Zufall, dass ich Sie einfach ansprechen musste.«

Eine sanfte Brise fuhr durch Annas dunkles, silbersträhniges Haar.

»Wir sollten gehen, Anna. Na komm«, sagte die Blondine streng und legte einen Arm um Annas Schultern. Dabei blitzte ein Ehering an ihrem Finger auf. »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte sie zu Strike.

Mit sanftem Druck versuchte sie, Anna von Strike wegzuführen. Anna schniefte und murmelte: »Tut mir leid, ich … hab wohl zu viel Wein getrunken.«

»Moment.« Schon öfter hatte Strike seine unstillbare Neugier verflucht, seine Unfähigkeit, ein Rätsel auf sich beruhen zu lassen – insbesondere wenn er so müde und gereizt war wie heute. Doch 1974 war sein Geburtsjahr. Margot Bamborough wurde bereits vermisst, solange er lebte. Er konnte nicht anders: Er musste mehr in Erfahrung bringen.

»Machen Sie hier Urlaub?«

»Ja«, antwortete die Blondine. »Wir haben eine Zweitwohnung in Falmouth. Eigentlich leben wir in London.«

»Ich fahre morgen Vormittag dorthin zurück«, sagte Strike (Was zum Teufel soll das hier werden?, fragte eine Stimme in seinem Kopf), »und könnte unterwegs bei Ihnen in Falmouth vorbeischauen … falls es Ihnen passt.«

»Wirklich?«, keuchte Anna. Er hatte gar nicht bemerkt, dass ihre Augen feucht geworden waren, doch so musste es gewesen sein, weil sie sie jetzt trocken tupfte. »Das wäre ganz wunderbar. Danke. Vielen Dank! Ich gebe Ihnen die Adresse.«

Die Blondine schien von der Vorstellung, Strike wiederzusehen, nicht ganz so angetan zu sein. »Schon gut«, sagte sie trotzdem, noch während Anna in ihrer Handtasche kramte, »ich hab eine Visitenkarte dabei.« Sie zog ihr Portemonnaie aus der Gesäßtasche und reichte Strike eine Karte, auf der »Dr. Kim Sullivan, zertifizierte Psychologin« stand. Darunter war eine Adresse in Falmouth abgedruckt.

»Danke.« Strike steckte die Karte in seine Brieftasche. »Dann sehen wir uns morgen Vormittag.«

»Tut mir leid, vormittags bin ich in einer Telefonkonferenz«, wandte Kim ein, »aber die ist um zwölf zu Ende. Oder ist das zu spät für Sie?«

Was sie eigentlich sagen wollte, lag auf der Hand: Sie reden nur in meiner Anwesenheit mit Anna.

»Nein, kein Problem«, sagte Strike. »Dann bis morgen um zwölf.«

»Vielen herzlichen Dank!«, sagte Anna.

Kim nahm deren Hand, und die beiden gingen davon. Strike sah ihnen nach, bis sie aus dem Lichtkegel einer Straßenlaterne heraus waren, dann drehte er sich wieder zum Meer um. Das Motorboot mit den drei Jugendlichen war bereits abgefahren. Inzwischen wirkte es geradezu winzig in der großen Bucht, und das Dröhnen des Motors verebbte allmählich zu einem entfernten Summen.

Strike, der die Nachricht an Robin völlig vergessen hatte, zündete sich die nächste Zigarette an, nahm sein Handy heraus und googelte Margot Bamborough.

Zwei Fotografien erschienen auf dem Display: zum einen das grobkörnige Porträt einer Frau mit attraktivem, ebenmäßigem Gesicht, weit auseinanderstehenden Augen und dunkelblondem gewelltem und zu einem Mittelscheitel frisiertem Haar. Sie trug eine Bluse mit breitem Kragen über einem Häkeltop.

Das zweite Bild zeigte dieselbe Frau, nur etwas jünger und im unverkennbar schwarzen Korsett eines Playboy-Bunnys, mit schwarzen Hasenohren, einer schwarzen Strumpfhose und einem weißen Schwanzpuschel. Sie hielt ein Tablett mit Zigaretten in den Händen und lächelte in die Kamera. Hinter ihr stand eine identisch gekleidete Frau und grinste breit. Sie hatte leicht vorstehende Schneidezähne und war etwas kurviger als ihre gertenschlanke Kollegin.

Strike scrollte weiter, bis er in den Suchergebnissen auf einen berüchtigten Namen stieß.

… der jungen Ärztin und Mutter Margot »Margot« Bamborough. Die Umstände ihres Verschwindens am 11. Oktober 1974 weisen Parallelen zu Creeds Entführungen von Vera Kenny und Gail Wrightman auf.

Bamborough, die in der St.-John’s-Praxis in Clerkenwell arbeitete, war um achtzehn Uhr mit einer Freundin im nahe gelegenen Three Kings Pub verabredet, kam dort jedoch nie an.

Mehrere Augenzeugen beobachteten zu dem Zeitpunkt, da Bamborough sich auf dem Weg zu ihrer Verabredung befunden haben müsste, in der Umgebung einen weißen Lieferwagen, der mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs war.

Detective Inspector Bill Talbot, der die Ermittlungen im Fall der vermissten MargotBamborough leitete, war schon früh davon überzeugt, dass die junge Ärztin Opfer des Serienmörders geworden war, der zu der Zeit im Südosten Londons sein Unwesen trieb. In der Kellerwohnung, in der Dennis Creed seine Opfer gefangen hielt, folterte und sieben Frauen ermordete, wurden jedoch keine Spuren von Bamborough sichergestellt.

Zu Creeds Markenzeichen gehörte, die Leichen seiner Opfer zu enthaupten und …

3

Doch nun von Britomart sei Euch berichtetUnd mannigfalt’ger Fährnis und Gefahr …

EDMUND SPENSERDie Feenkönigin

Eigentlich hatte Robin Ellacott vorgehabt, an diesem Abend – nach einem ausgiebigen Bad und erfolgreich gewaschener Wäsche – gemütlich auf dem Bett in ihrer Mietwohnung in Earl’s Court zu liegen und einen Roman zu lesen. Stattdessen saß sie in ihrem alten Land Rover in Torquay und starrte durch das hell erleuchtete Fenster eines Pizza Express. Sie war so erschöpft, dass sie trotz der milden Temperaturen fror, und hatte seit halb fünf Uhr morgens die Kleidung nicht gewechselt. Ihr Gesicht im Außenspiegel sah blass aus, die blauen Augen waren gerötet, das ungewaschene rotblonde Haar hatte sie sich unter eine schwarze Beanie geschoben.

Robins Hand verschwand regelmäßig in einer Tüte mit Mandeln auf dem Beifahrersitz. Trotz ihrer ungeregelten Arbeitszeiten versuchte sie, auf gesunde Ernährung zu achten, denn bei einer Observierung lief man Gefahr, ausschließlich zu Fast Food und Süßigkeiten zu greifen und aus schierer Langeweile Knabbereien in sich hineinzustopfen. Sie hatte die Mandeln längst satt und wünschte sich nichts sehnlicher als ein Stück von der dicken Pfannenpizza mit Salami des korpulenten Pärchens hinter dem Restaurantfenster. Obwohl die Luft nach Meer roch und aus den uralten Sitzen des Land Rover der hartnäckige Muff von Gummistiefeln und nassem Hund aufstieg, konnte sie die Pizza beinahe schmecken.

Das Ziel der Observierung, ein Mann, den sie und Strike aufgrund seines schlecht sitzenden Toupets »Wuschel« getauft hatten, befand sich momentan außerhalb ihres Blickfelds. Er hatte die Pizzeria eineinhalb Stunden zuvor in Begleitung dreier weiterer Personen betreten. Wenn Robin den Hals reckte und den Kopf in den Spalt über dem Beifahrersitz schob, konnte sie eine davon sehen, einen Teenager mit eingegipstem Arm. Etwa alle fünf Minuten hielt sie nach ihm Ausschau, um sich zu vergewissern, dass die vier noch am Tisch saßen. Bei ihrem letzten Kontrollblick war gerade Eis zum Nachtisch serviert worden. Jetzt konnte es nicht mehr allzu lang dauern.

Robin kämpfte gegen eine tiefe Niedergeschlagenheit an, die zu einem nicht geringen Teil ihrer Erschöpfung, ihres von den vielen Stunden auf dem Fahrersitz verspannten Körpers und dem Verlust ihres heiß ersehnten freien Tages geschuldet war. Weil Strike sich für eine ganze Woche hatte abmelden müssen, war sie gezwungen gewesen, zwanzig Tage am Stück durchzuarbeiten. Eigentlich hätte Sam Barclay, der beste freie Mitarbeiter der Detektei, heute Wuschels Observierung in Schottland übernehmen sollen, doch Letzterer hatte überraschenderweise den Flug nach Glasgow nicht angetreten und war stattdessen nach Torquay gefahren. Robin war nichts anderes übrig geblieben, als ihm zu folgen.

Selbstverständlich hatte ihre Niedergeschlagenheit noch weitere Gründe. Einen gestand sie sich freimütig ein, bei dem anderen machte sie sich Vorwürfe, weil sie überhaupt darüber nachdachte.

Ersterer und statthafter Grund war ihre laufende Scheidung, die mit jeder Woche unangenehmer wurde. Nachdem Robin herausgefunden hatte, dass ihr Ehemann eine Affäre hatte, war es zu einem letzten unterkühlten, verbitterten Treffen gekommen – zufälligerweise ebenfalls in einem Pizza Express, der sich in der Nähe von Matthews Büro befand. Sie hatten sich auf eine einvernehmliche Scheidung nach einer zweijährigen Trennungsphase geeinigt. Robin war zu ehrlich, um so zu tun, als wäre sie selbst völlig unschuldig am Scheitern ihrer Beziehung. Sie war zwar nicht untreu gewesen wie Matthew, hatte sich aber auch nicht hundertprozentig auf die Ehe eingelassen. Bei fast jeder Gelegenheit hatte sie ihrem Job den Vorzug vor Matthew gegeben und am Ende tatsächlich nur auf einen Grund gelauert, ihn zu verlassen. Dass er eine Affäre hatte, war ein Schock, aber auch eine Erleichterung für sie gewesen.

In den zwölf Monaten, die seit jener Pizza mit Matthew vergangen waren, hatte es Robin allmählich gedämmert, dass ihrem Nochehemann ganz und gar nicht an einer »einvernehmlichen« Lösung gelegen war. Er gab allein Robin die Schuld am Scheitern ihrer Ehe und war fest entschlossen, sie dafür bezahlen zu lassen – sowohl in emotionaler als auch in finanzieller Hinsicht. Das gemeinsame Bankkonto, auf dem sich der Erlös ihres Hauses befand, wurde eingefroren, während die Anwälte darüber stritten, welcher Anteil Robin rechtmäßig zustand, weil sie doch so viel weniger als Matthew verdient habe; in ihrem letzten Schreiben hatte die Gegenseite sogar ganz unverblümt spekuliert, sie habe ihn wohl nur um eines finanziellen Status willen geheiratet, den sie aus eigener Kraft nie erreicht hätte.

Jedes neuerliche Schreiben von Matthews Anwalt sorgte bei Robin für Stress, Wut und Trübsal. Ihre eigene Anwältin hatte bereits gemutmaßt, dass Matthew sie offenbar dazu zwingen wollte, Geld, das sie nicht hatte, für juristisches Gerangel auszugeben und so ihre Ressourcen zu erschöpfen – eine Erkenntnis, für die Robin nicht eigens eine Anwältin gebraucht hätte.

»Eine so schwierige Scheidung eines kinderlosen Ehepaars ist mir noch nie untergekommen«, hatte die Anwältin gesagt, was auch kein Trost gewesen war.

Matthew beanspruchte derzeit ebenso viel von Robins geistiger Kapazität wie während ihrer Ehe. Obwohl sie inzwischen völlig verschiedene Lebenswege eingeschlagen hatten, meinte sie gelegentlich, seine Gedanken lesen zu können: Er war schon immer ein schlechter Verlierer gewesen und glaubte deshalb, aus dieser peinlich kurzen Ehe als Sieger hervorgehen zu müssen, indem er Robin die alleinige Schuld für ihr Scheitern zuschob und das ganze Geld einstrich.

Als wäre dies nicht schon Grund genug, um gedrückter Stimmung zu sein, gab es noch eine weitere, sich weitaus schwieriger einzugestehende Ursache. Schon allein dass sie darüber nachgrübelte, ärgerte sie.

Es war gestern im Büro passiert. Saul Morris, ihr Neuzugang, hatte seine Monatsspesen noch nicht erstattet bekommen. Nachdem Robin Wuschel bis zum Familienwohnsitz in Windsor gefolgt war, war sie in die Denmark Street zurückgekehrt, um Morris auszubezahlen.

Er arbeitete seit sechs Wochen für die Detektei. Der ehemalige Polizist mit dem schwarzen Haar und den hellblauen Augen war unbestreitbar ein gut aussehender Mann, dennoch fühlte sich Robin in seiner Gegenwart unbehaglich. Wenn er mit ihr sprach, senkte er vertraulich die Stimme. Jede noch so simple Kommunikation war begleitet von pikanten Bemerkungen und allzu persönlichen Kommentaren. In ihrer Nähe ließ er keine Zweideutigkeit aus. Robin verwünschte den Tag, an dem sie herausgefunden hatten, dass sie beide gerade in Scheidung lebten. Er schien zu glauben, dass dies zwangsläufig zu einer größeren Intimität zwischen ihnen führte und er sich daher umso mehr herausnehmen durfte.

Robin hatte gehofft, im Büro zu sein, bevor Pat Chauncey – ihre neue Sekretärin – Feierabend machte, doch als sie die Treppe hinaufgestürmt war, war es bereits zehn nach sechs gewesen, und Morris hatte vor der verschlossenen Tür auf sie gewartet.

»Tut mir leid«, sagte Robin. »Der Verkehr war die Hölle.«

Sie händigte Morris die Spesen in bar mit Geld aus dem neuen Safe aus und teilte ihm dann kurz angebunden mit, dass sie gleich nach Hause müsse, doch Morris hing an ihr wie eine Klette und wollte ihr unbedingt noch von den jüngsten nächtlichen SMS seiner Ex-Frau berichten. Robin blieb höflich und distanziert. Dann klingelte das Telefon auf ihrem alten Schreibtisch. Normalerweise hätte sie gewartet, bis der Anrufbeantworter anging, doch diesmal nutzte sie die Gelegenheit, um das Gespräch mit Morris zu beenden.

»Entschuldigung, da muss ich drangehen. Einen schönen Abend noch«, sagte sie und nahm den Hörer ab. »Detektei Strike, Robin am Apparat.«

»Hi, Robin«, sagte eine rauchige Frauenstimme. »Ist der Chef da?«

Auch wenn das erste und bislang einzige Gespräch, das Robin mit Charlotte Campbell geführt hatte, drei Jahre zurücklag, wusste sie augenblicklich, wer am anderen Ende der Leitung war. Jene wenigen Worte, die sie damals mit Charlotte gewechselt hatte, hatte sie seither mit geradezu lächerlicher Besessenheit analysiert. Natürlich war ihr sofort der süffisante Unterton aufgefallen, als fände Charlotte sie irgendwie amüsant, und auch dass sie Robin beim Vornamen genannt und Strike als »Chef« bezeichnet hatte, war Anlass zu mannigfaltigen Gedankenspielen.

»Nein, tut mir leid«, antwortete Robin und griff nach einem Stift, während ihr Herz einen Tick schneller schlug als zuvor. »Soll ich ihm etwas ausrichten?«

»Könnten Sie ihn bitten, Charlotte Campbell anzurufen? Ich habe etwas für ihn. Meine Nummer hat er.«

»In Ordnung.«

»Vielen Dank«, sagte Charlotte immer noch leicht amüsiert. »Wiederhören.«

Pflichtbewusst schrieb Robin »Charlotte Campbell hat angerufen, sie hat etwas für dich« auf einen Zettel und legte ihn auf Strikes Schreibtisch.

Charlotte war Strikes Exverlobte. Sie hatten ihre Verbindung drei Jahre zuvor am selben Tag aufgelöst, an dem Robin von der Zeitarbeitsfirma zur Detektei geschickt worden war. Obwohl Strike kaum ein Wort über die Angelegenheit verlor, wusste Robin, dass er insgesamt sechzehn Jahre mit Charlotte liiert gewesen war (»mal mehr, mal weniger«, wie Strike gern betonte, weil die Beziehung bis zum endgültigen Aus auch schon zuvor viele Male für beendet erklärt worden war), dass sich Charlotte, nur zwei Wochen nachdem Strike Schluss gemacht hatte, mit ihrem jetzigen Ehemann verlobt hatte und inzwischen Mutter von Zwillingen war.

Doch das war noch nicht alles. Nachdem Robin Matthew verlassen hatte, war sie für fünf Wochen in Nick und Ilsa Herberts Gästezimmer untergeschlüpft. Die beiden gehörten zu Strikes besten Freunden, und auch Robin und Ilsa hatten sich in der Zeit angefreundet und trafen sich immer noch regelmäßig auf einen Drink oder einen Kaffee. Ilsa machte aus ihrer festen Überzeugung, es sei nur eine Frage der Zeit, bis Strike und Robin erkannten, dass sie »wie füreinander gemacht« seien, keinen Hehl: »Je schneller, umso besser«. Robin musste Ilsa in schöner Regelmäßigkeit darum bitten, derlei Anspielungen zu unterlassen, und ihr versichern, dass es ihr vollkommen ausreiche, in Freundschaft und Arbeitspartnerschaft mit Strike verbunden zu sein. Doch Ilsa ließ sich in ihrem Optimismus nicht beirren.

Robin mochte Ilsa sehr gern. Trotzdem war ihre Bitte, weitere Verkuppelungsversuche zu unterlassen, ernst gemeint. Strike sollte auf keinen Fall auf die Idee kommen, dass sie die treibende Kraft hinter Ilsas wiederholten Versuchen war, Treffen zu viert zu organisieren, die verdächtig nach Pärchenabend klangen. Strike hatte die letzten beiden Anfragen dieser Art unter dem Vorwand abgelehnt, zu viel zu tun zu haben. Obwohl es durchaus der Wahrheit entsprach, dass sich mit der aktuell hohen Auslastung der Detektei ein Sozialleben schwierig gestalten ließ, wurde Robin das unbehagliche Gefühl nicht los, dass er Ilsas wahres Motiv hinter den Einladungen durchschaut haben könnte. Während ihrer eigenen kurzen Ehe hatte Robin nie das Bedürfnis verspürt, mit den alleinstehenden Personen aus ihrem Bekanntenkreis so umzuspringen, wie Ilsa es mit ihr tat: mit einem fröhlichen Mangel an Einfühlungsvermögen und mehr oder weniger ungeschickten Versuchen, Einfluss auf Robins Liebesleben zu nehmen.

Eine von Ilsas Strategien, mit denen sie Robin aus der Reserve zu locken hoffte, bestand darin, ihr alles über Charlotte Campbell zu erzählen. Diesbezüglich musste sich jedoch auch Robin schuldig bekennen, weil sie Ilsa nur selten Einhalt gebot, obwohl sie sich hinterher oftmals so fühlte, als hätte sie einen Berg Fast Food verschlungen: Einerseits hatte sie ein schlechtes Gewissen, andererseits hatte sie einfach nicht genug davon bekommen können.

Beispielsweise wusste sie von den vielen Ich-oder-die-Army-Ultimaten, von zwei Selbstmordversuchen (»Der auf Arran war nicht ernst gemeint«, hatte Ilsa bissig bemerkt, »sondern reine Erpressung«) und dem zehntägigen Zwangsaufenthalt in der Psychiatrie. Ilsa verlieh den Geschichten die Titel billiger Thriller: Die Nacht des Brotmessers, Der Skandal um das schwarze Spitzenkleid, Die blutbefleckte Nachricht. Dabei wusste Robin, dass Ilsa Charlotte nicht für verrückt, sondern für durch und durch boshaft hielt. Sie war Gegenstand der heftigsten Auseinandersetzungen überhaupt zwischen Ilsa und Nick gewesen. »Wenn sie das wüsste! Das würde ihr sicher gefallen«, hatte Ilsa hinzugefügt.

Und jetzt hatte Charlotte im Büro angerufen und ausrichten lassen, Strike möge sich bei ihr melden. Während Robin hungrig und müde in ihrem Wagen vor dem Pizza Express saß, kehrten ihre Gedanken immer wieder zu dem Telefonat zurück wie eine Zungenspitze an eine Aphthe in der Mundhöhle. Da sie im Büro angerufen hatte, wusste Charlotte offenbar nicht, dass Strike in Cornwall bei seiner todkranken Tante war, was wiederum darauf schließen ließ, dass sie nicht regelmäßig Kontakt zu ihm hatte. Andererseits hatte Charlottes amüsierter Tonfall auf eine wie auch immer geartete Nähe zu Strike hingedeutet.

Robins Handy, das neben der Mandeltüte auf dem Beifahrersitz lag, vibrierte. Froh über die Ablenkung griff sie danach. Strike hatte ihr eine Nachricht geschickt.

Bist du noch wach?

Robin antwortete:

Nein.

Und genau wie erwartet klingelte im nächsten Moment das Telefon.

»Solltest du auch nicht sein«, sagte Strike ohne Vorrede. »Aber du bist bestimmt hundemüde. Wie lange hast du Wuschel jetzt observiert? Drei Wochen am Stück?«

»Ich bin nach wie vor an ihm dran.«

»Was?« Strike klang verärgert. »Du bist in Glasgow? Und wo ist Barclay?«

»In Glasgow. Er hatte schon Position bezogen, aber Wuschel hat den Flug sausen lassen und ist stattdessen runter nach Torquay gefahren. Gerade ist er beim Pizzaessen. Ich sitze vor dem Restaurant.«

»Was zum Teufel will er in Torquay, wenn seine Geliebte in Schottland wohnt?«

»Seine eigentliche Familie besuchen«, antwortete Robin. »Er ist ein Bigamist.« Sie hätte jetzt zu gern Strikes Gesicht gesehen.

In der Leitung herrschte Totenstille.

»Ich war um sechs vor seinem Haus in Windsor«, führte Robin aus, »um ihm nach Stansted zu folgen. Sobald er im Flugzeug gesessen hätte, wollte ich Barclay anrufen und Bescheid geben, dass er unterwegs sei. Aber dann ist Wuschel gar nicht zum Flughafen, stattdessen lief er panisch aus dem Haus, ist zu einer Mietgarage gefahren, hat seinen Koffer dort abgeladen und ist mit völlig anderem Gepäck – dafür ohne Toupet – den ganzen Weg hier runtergerast. Unsere Klientin aus Windsor dürfte demnächst herausfinden, dass sie von Rechts wegen gar nicht verheiratet ist, weil Wuschel nämlich seit zwanzig Jahren eine Ehefrau in Torquay hat. Ich habe so getan, als würde ich eine Umfrage durchführen, und habe mich in seiner Straße umgehört. Eine Nachbarin war damals sogar zur Hochzeit eingeladen. Wuschel sei geschäftlich viel unterwegs, hat sie gesagt – so ein netter Mann. Liebt seine Söhne abgöttisch. Davon hat er übrigens zwei«, fuhr Robin fort, als Strikes verblüfftes Schweigen anhielt. »Beide in Ausbildung, beide gerade noch im Teenageralter. Sind ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Einer – und das hatte mir auch schon die Nachbarin erzählt – hatte gestern einen Motorradunfall, trägt jetzt den Arm in Gips und sieht auch sonst recht lädiert aus. Deshalb ist Wuschel wohl hergefahren, statt nach Schottland zu fliegen. Wuschel heißt hier übrigens nicht John, sondern Edward Campion – John ist sein zweiter Vorname, zumindest laut Datenbank. Er, seine Frau und die beiden Söhne haben eine schöne Villa mit riesigem Garten und Blick aufs Meer.«

»Ach du Schande«, sagte Strike, »dann ist also die schwangere Freundin in Glasgow …«

»… das geringste Problem von Mrs. Campion aus Windsor«, fiel Robin ihm ins Wort. »Er führt ein Dreifachleben: zwei Ehefrauen und eine Geliebte.«

»Und sieht aus wie ein glatzköpfiger Pavian. Na, das gibt uns Männern doch Anlass zur Hoffnung. Und jetzt ist er gerade beim Abendessen?«

»Pizza, mit Frau und Kindern. Ich hab vor dem Lokal geparkt. Vorhin konnte ich keine Fotos von ihm mit den Söhnen machen. Das will ich aber unbedingt, weil sie ihm so ähnlich sehen. Miniwuschel, genau wie die beiden in Windsor. Was glaubst du, was er als Grund für seine häufige Abwesenheit angibt?«

»Einen Job auf einer Bohrinsel?«, riet Strike. »Einen Auslandsaufenthalt? Vielleicht im Nahen Osten, deshalb achtet er immer so auf seine Bräune.«

Robin seufzte. »Unsere Klientin wird am Boden zerstört sein.«

»Genau wie die Geliebte in Schottland«, sagte Strike. »Das Kind ist jeden Augenblick fällig.«

»Sein Beuteschema ist jedenfalls erstaunlich konstant«, sagte Robin. »Wenn man die Frau aus Torquay, die aus Windsor und die Geliebte aus Glasgow nebeneinanderstellen würde, hätte man mehr oder weniger dreimal die gleiche Frau vor sich – mit einem Altersabstand von je zwanzig Jahren.«

»Wo übernachtest du?«

»In einem Travelodge oder einem Bed & Breakfast.« Robin gähnte. »Sofern ich ein Zimmer finde – momentan ist Hauptsaison. Ich würde ja heute Nacht noch nach London zurückfahren, aber dafür bin ich zu müde. Ich bin seit vier Uhr auf den Beinen und hatte gestern schon einen Zehnstundentag.«

»Dann fährst du auf keinen Fall. Und im Auto schläfst du auch nicht«, sagte Strike. »Nimm dir ein Zimmer.«

»Wie geht’s Joan?«, wollte Robin wissen. »Wir können die Stellung halten, falls du länger in Cornwall bleiben möchtest.«

»Sie will nicht still sitzen, solange wir alle hier sind. Ted ist auch der Meinung, dass sie ein bisschen Ruhe braucht. Ich besuche sie in ein paar Wochen einfach noch mal.«

»Okay. Hast du angerufen, um dich in Sachen Wuschel auf den neuesten Stand zu bringen?«

»Nein, eigentlich wollte ich dir erzählen, was mir gerade passiert ist. Ich war im Pub, und …« In wenigen knappen Sätzen gab Strike sein Gespräch mit Margot Bamboroughs Tochter wieder. »Ich habe sie gerade gegoogelt: Margot Bamborough, Allgemeinmedizinerin, neunundzwanzig, verheiratet, eine einjährige Tochter. Verließ eines Tages nach der Arbeit ihre Praxis und wollte sich auf einen Feierabenddrink mit einer Freundin treffen. Der Pub war nur fünf Minuten zu Fuß entfernt. Die Freundin wartete bereits, aber Margot kam nie an und wurde auch nie wiedergesehen.«

»Und jetzt will die Tochter, dass du herausfindest, was passiert ist? Vier Jahrzehnte später?«, fragte Robin nach einer kurzen Pause, während sie weiter das Fenster der Pizzeria beobachtete.

»Das Medium hat ihr ein ›Zeichen‹ prophezeit, und jetzt ist sie felsenfest davon überzeugt, dass es kein Zufall war, dass wir in derselben Kneipe waren.«

»Hm«, sagte Robin. »Und wie sind deiner Meinung nach die Chancen, nach so langer Zeit herauszufinden, was damals passiert ist?«

»Gering bis nicht vorhanden«, gab Strike zu. »Andererseits kann sie sich ja nicht in Luft aufgelöst haben. Irgendetwas muss ihr zugestoßen sein.«

Robin konnte ihm anhören, dass er sich bereits mit gewissen Fragestellungen und Möglichkeiten beschäftigte.

»Also triffst du dich morgen noch mal mit der Tochter?«

»Kann doch nicht schaden, oder?«

Robin antwortete nicht.

»Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte Strike leicht defensiv. »Ein Medium, eine emotional überforderte Klientin – klingt nach einer Situation, die sich leicht ausnutzen ließe.«

»Ich wollte damit nicht andeuten, dass du …«

»Dann kann ich mir die Sache ja mal anhören, oder? Im Gegensatz zu anderen hab ich nicht vor, sie übers Ohr zu hauen. Und wenn alle Möglichkeiten erschöpft sind …«

»Ich kenne dich doch«, sagte Robin. »Je weniger du herausfindest, umso interessanter wird es für dich.«

»Keine Sorge. Wenn ich nicht in einem vertretbaren Zeitraum Ergebnisse liefere, steigt mir ihre Frau aufs Dach. Anna ist lesbisch und mit einer Psychologin verhei…«

»Cormoran, ich ruf zurück«, unterbrach Robin ihn, legte auf und warf das Handy auf den Beifahrersitz.

Wuschel hatte soeben mit seiner Frau und seinen Söhnen das Restaurant verlassen. Lächelnd und ins Gespräch vertieft, schlenderten sie auf ihren Wagen zu, der fünf Autos hinter Robins Land Rover stand. Sobald sich die Familie näherte, hob Robin die Kamera und schoss mehrere Fotos.

Als sie am Land Rover vorbeigingen, hatte Robin sich die Kamera schon wieder auf den Schoß gelegt und tat so, als würde sie eine SMS schreiben. Im Rückspiegel beobachtete sie, wie Familie Wuschel in ihren Wagen stieg und sich auf den Rückweg zu ihrer Villa am Meer machte.

Robin gähnte abermals, dann rief sie Strike zurück.

»Hast du die Fotos?«, fragte er.

»Ja.« Mit einer Hand klickte sie durch die Bilder, während sie sich mit der anderen das Handy ans Ohr hielt. »Er und die Jungs sind eindeutig zu erkennen. Meine Güte, er hat wirklich starke Gene! Seine vier Kinder sehen alle genauso aus wie er.« Sie schob die Kamera in die Tasche zurück. »Ich bin übrigens nur zwei Stunden von St. Mawes entfernt.«

»Eher drei«, sagte Strike.

»Wenn du möchtest …«

»Willst du wirklich erst hierher und dann wieder zurück nach London fahren? Hast du mir nicht gerade erzählt, wie müde du bist?«

Trotzdem bemerkte Robin natürlich, wie sehr ihm die Vorstellung gefiel. Er war per Zug, Taxi und Fähre nach Cornwall gereist, weil sich seit dem Verlust seines Beins lange Autofahrten weder besonders einfach noch angenehm gestalten ließen.

»Ich würde diese Anna gern kennenlernen. Anschließend nehme ich dich mit zurück.«

»Also, wenn es dir wirklich nichts ausmacht, wäre das natürlich toll.« Strike klang plötzlich wie ausgewechselt. »Wenn wir den Auftrag annehmen, sollten wir ihn auch gemeinsam bearbeiten. Bei einem so alten, ungeklärten Fall gibt es eine Menge durchzuackern, und wie es aussieht, hast du Wuschel heute Abend überführt.«

»Genau«, sagte Robin. »Jetzt will nur noch ein halbes Dutzend Leben ruiniert werden.«

»Du ruinierst überhaupt keine Leben«, erwiderte Strike aufmunternd. »Daran ist einzig und allein er selbst schuld. Außerdem – was wäre besser? Dass die drei Frauen es jetzt herausfinden oder erst, wenn er stirbt und ihnen allen einen Riesenschlamassel hinterlässt?«

»Schon klar.« Robin gähnte erneut. »Soll ich dich bei Joan in St. Ma…«

»Nein«, sagte er ebenso schnell wie bestimmt. »Anna und ihre Frau wohnen in Falmouth. Da musst du auch nicht so weit fahren.«

»Okay«, sagte sie. »Wann soll ich da sein?«

»Schaffst du halb zwölf?«

»Locker«, sagte Robin.

»Ich schreibe dir noch, wo wir uns treffen. Und jetzt leg dich aufs Ohr!«

Als sie den Zündschlüssel herumdrehte und den Motor anließ, hatte sich ihre Laune beträchtlich gebessert. Sie unterdrückte ein Grinsen, als würde sie von einer kritischen Jury beobachtet, zu der auch Ilsa, Matthew und Charlotte Campbell gehörten, und stieß rückwärts aus der Parklücke.

4

Der Väter zwei, doch eine Mutter nurErklärt die gegensätzliche Natur …

EDMUND SPENSERDie Feenkönigin

Am nächsten Morgen wachte Strike um kurz vor fünf Uhr auf. Durch Joans dünne Vorhänge schimmerte bereits Licht. Das Rosshaarsofa schien sich jede Nacht eine neue Körperstelle vorzunehmen, die es quälen wollte: Heute fühlte sich Strike, als hätte er einen Schlag in die Nieren bekommen. Er sah auf die Zeitanzeige seines Handys, und weil die Schmerzen ohnehin zu groß waren, um wieder einschlafen zu können, setzte er sich auf.

Er verbrachte eine Minute damit, sich zu strecken und die Achseln zu kratzen, dann hatten sich seine Augen an das Schummerlicht gewöhnt, und er konnte die merkwürdigen Schatten im Zwielicht von Joans und Teds Wohnzimmer zuordnen. Nachdem er ein weiteres Mal Margot Bamborough gegoogelt und einen flüchtigen Blick auf das Bild der lächelnden Ärztin mit dem welligen Haar und den weit auseinanderstehenden Augen geworfen hatte, scrollte er weiter durch die Suchergebnisse, bis er auf eine Webseite zum Thema Serienmörder stieß. Margot Bamborough wurde in einem langen Artikel über Dennis Creed erwähnt, der mit Fotos gespickt war, die ihn in verschiedenen Altersstufen zeigten: angefangen vom niedlichen blondlockigen Kleinkind bis zur erkennungsdienstlichen Aufnahme der Polizei, auf der ein schlanker Mann mit schmalem, sinnlichem Mund und einer großen, rechteckigen Brille zu sehen war.

Als Nächstes stöberte Strike in einem Online-Buchladen und entdeckte eine 1985 erschienene Biografie des Serienmörders mit dem Titel Der Dämon vom Paradise Park, verfasst von einem renommierten und inzwischen verstorbenen Journalisten. Die Schwarz-Weiß-Fotos der sieben Frauen, die Creed gefoltert und getötet hatte, waren so auf dem Umschlag montiert worden, dass sie durch die Farbabbildung von Creeds Durchschnittsgesicht gespenstisch hindurchschimmerten. Margot Bamborough war nicht darunter. Strike bestellte das gebrauchte Buch zum Preis von einem Pfund und ließ es an die Büroadresse schicken.

Anschließend steckte er das Handy wieder ans Ladekabel, legte seine Prothese an, schnappte sich Zigaretten und Feuerzeug und umrundete vorsichtig ein empfindliches Couchtisch-Ensemble, auf dem eine Vase mit getrockneten Blumen stand. Er zwängte sich durch den Flur, versuchte, keinen der Zierteller von der Wand zu reißen, und betrat über drei Treppenstufen die Küche. Der Linoleumboden, der seit seiner Kindheit nicht ersetzt worden war, fühlte sich unter der Sohle seines verbliebenen Fußes eiskalt an.