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Band 1-3 der grandiosen Krimireihe von Top-3-SPIEGEL-Bestsellerautor Robert Galbraith, dem Pseudonym von J. K. Rowling, nun in einem E-Book!
Der Ruf des Kuckucks:
Als das berühmte Model Lula Landry von ihrem schneebedeckten Balkon im Londoner Stadtteil Mayfair in den Tod stürzt, steht für die ermittelnden Beamten schnell fest, dass es Selbstmord war. Der Fall scheint abgeschlossen. Doch Lulas Bruder hat Zweifel – ein Privatdetektiv soll für ihn die Wahrheit ans Licht bringen.
Cormoran Strike hat in Afghanistan körperliche und seelische Wunden davongetragen, mangels Aufträgen ist er außerdem finanziell am Ende. Der spektakuläre neue Fall ist seine Rettung, doch der Privatdetektiv ahnt nicht, was die Ermittlungen ihm abverlangen werden. Während Strike immer weiter eindringt in die Welt der Reichen und Schönen, fördert er Erschreckendes zutage und gerät selbst in große Gefahr …
Der Seidenspinner:
Als der Romanautor Owen Quine spurlos verschwindet, bittet seine Frau den privaten Ermittler Cormoran Strike um Hilfe. Es ist nicht das erste Mal, dass Quine für einige Tage abgetaucht ist, und sie möchte, dass Strike ihn findet und nach Hause zurückbringt. Doch schon zu Beginn seiner Ermittlungen wird Strike klar, dass mehr hinter Quines Verschwinden steckt, als seine Frau ahnt. Der Schriftsteller hat soeben ein Manuskript vollendet, das scharfzüngige Porträts beinahe jeder Person aus seinem Bekanntenkreis enthält. Sollte das Buch veröffentlicht werden, würde es Leben zerstören – zahlreiche Menschen hätten also allen Grund, Quine zum Schweigen zu bringen. Als Quine tatsächlich tot aufgefunden wird, brutal ermordet unter bizarren Umständen, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, um das wahre Motiv des skrupellosen Mörders aufzudecken – eines Mörders, wie Strike ihm noch nie zuvor begegnet ist …
Die Ernte des Bösen:
Nachdem Robin Ellacott ein mysteriöses Paket in Empfang genommen hat, muss sie zu ihrem Entsetzen feststellen, dass es ein abgetrenntes Frauenbein enthält. Ihr Chef, der private Ermittler Cormoran Strike, ist ebenfalls beunruhigt, jedoch kaum überrascht. Gleich vier Menschen aus seiner eigenen Vergangenheit fallen ihm ein, denen er eine solche Tat zutrauen würde – und Strike weiß, dass jeder von ihnen zu skrupelloser, unaussprechlicher Grausamkeit fähig ist.
Während die Polizei sich auf den einen Verdächtigen konzentriert, der für Strike immer weniger als Täter infrage kommt, nehmen er und Robin die Dinge selbst in die Hand und wagen sich vor in die düsteren und verstörenden Welten der drei anderen Männer. Doch als weitere erschreckende Vorfälle London erschüttern, gerät das Ermittlerduo selbst mehr und mehr in Bedrängnis …
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Seitenzahl: 2349
Robert Galbraith ist das Pseudonym von J.K. Rowling, Autorin der Harry-Potter-Reihe und des Romans »Ein plötzlicher Todesfall«. Die Cormoran-Strike-Romane erklommen die Spitzenplätze der internationalen Bestsellerlisten, eroberten die Top 10 der SPIEGEL-Bestsellerliste und wurden für BBC One als große TV-Serie verfilmt, produziert von Brontë Film and Television.
Als das berühmte Model Lula Landry von ihrem schneebedeckten Balkon im Londoner Stadtteil Mayfair in den Tod stürzt, steht für die ermittelnden Beamten schnell fest, dass es Selbstmord war. Der Fall scheint abgeschlossen. Doch Lulas Bruder hat Zweifel – ein Privatdetektiv soll für ihn die Wahrheit ans Licht bringen.
Cormoran Strike hat in Afghanistan körperliche und seelische Wunden davongetragen, mangels Aufträgen ist er außerdem finanziell am Ende. Der spektakuläre neue Fall ist seine Rettung, doch der Privatdetektiv ahnt nicht, was die Ermittlungen ihm abverlangen werden. Während Strike immer weiter eindringt in die Welt der Reichen und Schönen, fördert er Erschreckendes zutage und gerät selbst in große Gefahr …
Als der Romanautor Owen Quine spurlos verschwindet, bittet seine Frau den privaten Ermittler Cormoran Strike um Hilfe. Es ist nicht das erste Mal, dass Quine für einige Tage abgetaucht ist, und sie möchte, dass Strike ihn findet und nach Hause zurückbringt. Doch schon zu Beginn seiner Ermittlungen wird Strike klar, dass mehr hinter Quines Verschwinden steckt, als seine Frau ahnt. Der Schriftsteller hat soeben ein Manuskript vollendet, das scharfzüngige Porträts beinahe jeder Person aus seinem Bekanntenkreis enthält. Sollte das Buch veröffentlicht werden, würde es Leben zerstören – zahlreiche Menschen hätten also allen Grund, Quine zum Schweigen zu bringen. Als Quine tatsächlich tot aufgefunden wird, brutal ermordet unter bizarren Umständen, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, um das wahre Motiv des skrupellosen Mörders aufzudecken – eines Mörders, wie Strike ihm noch nie zuvor begegnet ist …
Nachdem Robin Ellacott ein mysteriöses Paket in Empfang genommen hat, muss sie zu ihrem Entsetzen feststellen, dass es ein abgetrenntes Frauenbein enthält. Ihr Chef, der private Ermittler Cormoran Strike, ist ebenfalls beunruhigt, jedoch kaum überrascht. Gleich vier Menschen aus seiner eigenen Vergangenheit fallen ihm ein, denen er eine solche Tat zutrauen würde – und Strike weiß, dass jeder von ihnen zu skrupelloser, unaussprechlicher Grausamkeit fähig ist.
Während die Polizei sich auf den einen Verdächtigen konzentriert, der für Strike immer weniger als Täter infrage kommt, nehmen er und Robin die Dinge selbst in die Hand und wagen sich vor in die düsteren und verstörenden Welten der drei anderen Männer. Doch als weitere erschreckende Vorfälle London erschüttern, gerät das Ermittlerduo selbst mehr und mehr in Bedrängnis …
Robert Galbraith
Der Ruf des Kuckucks
Der Seidenspinner
Die Ernte des Bösen
(3in1-Bundle)
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Copyright der Originalausgaben © 2013, 2014, 2016 by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Leena Flegler
Covergestaltung: www.buerosued.de nach einer Originalvorlage
Coverdesign und Fotografie: Duncan Spilling © Little, Brown Book Group Ltd 2018
Satz: Uhl + Massopust
ISBN 978-3-641-31349-4V001
www.blanvalet.de
Robert Galbraith
Aus dem Englischen von Wulf Bergner, Christoph Göhler und Kristof Kurz
Der Originaltitel des Gedichts von Christina G. Rossetti lautet »A Dirge«.
Die Gedichtzeilen stammen aus Alfred Tennysons »Ulysses«.
Dem echten Deeby mit großem Dank
Warum kamst du zur Welt, als der Schnee sie bedeckte?
Hättest kommen sollen, als der Ruf des Kuckucks sie weckte,
Wenn die Weinstöcke grüne Trauben tragen
Oder die Schwalben hoch durch die Lüfte jagen,
Bevor sie in weite Ferne fliegen,
Vom sterbenden Sommer vertrieben.
Warum musstest du gehen, als die Lämmer sprangen?
Wärst doch erst gestorben, wenn die Äpfel rot prangen,
Wenn die Grillen nicht mehr ihre Lieder singen,
Die kahlen Felder keine Ernte mehr bringen
Und die Winde klagend wehen,
Weil die süßen Dinge vergehen.
CHRISTINA G. ROSSETTI, »EIN KLAGELIED«
Is demum miser est, cuius nobilitas miserias nobilitat.
Unglücklich ist letztlich, wessen Berühmtheit auch das eigene Elend berühmt macht.
LUCIUS ACCIUS, TELEPHUS
Die Menge, die sich auf der Straße versammelt hatte, brummte wie ein Fliegenschwarm. Vor den Absperrungen patrouillierten Polizisten, dahinter standen scharenweise Fotografen, die Kameras mit den langen Objektiven im Anschlag. Ihr Atem stieg wie eine Dampfwolke über ihnen auf. Beständig fiel Schnee auf Hüte, Mützen und Schultern. Behandschuhte Finger wischten über Kameralinsen. Hin und wieder ertönte ein Klicken, wenn sich einer der Umstehenden die Wartezeit damit vertrieb, Fotos von dem weißen Zelt mitten auf der Straße, dem Eingang zu dem hohen Backsteingebäude dahinter oder dem Balkon im obersten Stock zu machen – jenem Balkon, von dem der Körper gefallen war.
Hinter den dicht gedrängten Paparazzi standen weiße Übertragungswagen mit gewaltigen Satellitenschüsseln auf den Dächern. Tontechniker mit Kopfhörern lungerten zwischen den einheimischen und ausländischen Journalisten herum. In den Aufnahmepausen stampften die Reporter auf und ab und wärmten sich die Hände an heißen Kaffeebechern aus einem nur wenige Straßen entfernten, hoffnungslos überfüllten Café. Um die Zeit totzuschlagen, filmten die Wollmützen tragenden Kameramänner die Rücken der Fotografen, den Balkon und das Zelt, das den Leichnam verbarg. Dann wieder hielten sie nach einer Position Ausschau, von der aus sie eine Totale von dem Chaos ergattern konnten, das in der beschaulichen, verschneiten Straße in Mayfair mit ihren glänzenden schwarzen Haustüren und den weißen, von sorgfältig gestutzten Büschen flankierten Säuleneingängen ausgebrochen war. Vor dem Eingang zu Nummer 18 war Absperrband angebracht. Im Flur dahinter konnte man mehrere Polizisten erkennen, darunter auch die Beamten von der Spurensicherung in ihren weißen Schutzanzügen.
Die Fernsehsender hatten die Nachricht bereits vor mehreren Stunden gebracht. Zu beiden Enden der Straße hatte sich daraufhin ein interessiertes Publikum versammelt, das von weiteren Polizisten in Schach gehalten wurde. Einige waren eigens zum Gaffen gekommen, andere auf dem Weg zur Arbeit stehen geblieben. Viele hielten ihre Handys in die Höhe, um vor dem Weitergehen noch ein Foto zu machen. Ein junger Mann, der ganz offensichtlich nicht wusste, um welchen Balkon es sich handelte, fotografierte einfach alle nacheinander, obwohl der mittlere mit drei sorgfältig zu akkuraten Kugeln gestutzten Büschen so vollgestellt war, dass ein Mensch nur mit Mühe darauf Platz gefunden hätte.
Eine Gruppe junger Mädchen hatte Blumen mitgebracht. Sie wurden dabei gefilmt, wie sie sie den Polizisten überreichten. Diese wussten nicht so recht, wohin damit, und legten sie behutsam in einen Einsatzwagen – im Bewusstsein, dass die Kameralinsen jede ihrer Bewegungen beobachteten.
Die von den Nachrichtensendern ausgesandten Reporter hielten den stetigen Fluss der Kommentare und Spekulationen um die wenigen bekannten, aber umso sensationelleren Fakten aufrecht.
»… heute um zwei Uhr morgens aus ihrer Penthouse-Wohnung. Die Polizei wurde vom Sicherheitsdienst des Anwesens alarmiert …«
»… keine Anstalten gemacht, den Leichnam abzutransportieren, was Anlass zu der Vermutung gibt …«
»… noch unbekannt, ob sie zum fraglichen Zeitpunkt allein …«
»… haben das Gebäude betreten, um eine gründliche Durchsuchung …«
Kaltes Licht durchflutete das Innere des Zeltes. Zwei Männer kauerten neben dem Körper und warteten darauf, ihn endlich in einen Leichensack legen zu können. Um den Kopf der Toten war ein wenig Blut in den Schnee geflossen. Ihr Gesicht war zerschmettert und geschwollen. Ein Auge ähnelte nur noch einer Falte in der Haut, das andere war lediglich als mattweißer Spalt zwischen den aufgedunsenen Lidern sichtbar. Ihr Paillettentop glitzerte im Licht und erweckte dadurch beinahe den Anschein, als würde sie noch atmen oder die Muskeln anspannen, um sich im nächsten Moment aufzurichten. Die Schneeflocken klopften wie sanfte Fingerspitzen auf die Zeltleinwand über ihr.
»Wo bleibt der gottverdammte Rettungswagen?«
Detective Inspector Roy Carvers Zorn wuchs zusehends.
Das Gesicht des dicken Mannes hatte die Farbe von Corned Beef, und für gewöhnlich befanden sich auf seinen Hemden in Achselnähe große Schweißflecken. Sein von Natur aus äußerst kurzer Geduldsfaden war schon vor geraumer Zeit gerissen. Er war schon fast so lange hier wie der Leichnam. Vor Kälte spürte er seine Füße nicht mehr, und ihm war schwindlig vor Hunger.
»Rettungswagen kommt in zwei Minuten«, teilte Detective Sergeant Eric Wardle beim Betreten des Zeltes dem Handy an seinem Ohr mit und beantwortete damit unbeabsichtigt die Frage seines Vorgesetzten. »Habe gerade einen Parkplatz organisiert.«
Carver grunzte. Seine Gereiztheit wurde noch geschürt durch die Vermutung, dass sein Kollege die Anwesenheit der vielen Fotografen aufregend fand. Seiner Meinung nach hatte der jungenhaft gut aussehende Wardle, auf dessen dichten braunen Locken nun eine dünne Schneeschicht lag, bei den wenigen Malen, als sie das Zelt verlassen hatten, auffällig lange herumgetrödelt.
»Zumindest sind wir die los, sobald die Leiche weg ist«, sagte Wardle mit einem Blick zurück auf die Fotografen.
»Nicht, wenn wir weiterhin so tun, als wäre das hier ein beschissener Tatort.«
Wardle überhörte den unausgesprochenen Vorwurf geflissentlich. Und Carver geriet nur noch mehr in Rage.
»Das dumme Ding ist gesprungen. Da war niemand bei ihr. Ihre sogenannte Zeugin war zugekokst bis zum …«
»Sie kommen«, sagte Wardle. Zu Carvers Missfallen schlüpfte er wieder aus dem Zelt, um im Scheinwerferlicht die Ankunft des Rettungswagens abzuwarten.
Die Story verdrängte Politik, Kriege und Naturkatastrophen von den Titelseiten. Kein Artikel, kein Bericht verzichtete auf ein Bild des makellosen Gesichts und des geschmeidigen, wohlgeformten Körpers der toten Frau. Innerhalb von Stunden hatten sich die wenigen bekannten Fakten wie ein Virus über ein Millionenpublikum verbreitet; der öffentlich ausgetragene Streit mit ihrem ebenso bekannten Lebensgefährten, der einsame Nachhauseweg, das angebliche Geschrei in der Wohnung und schließlich der tödliche Sturz …
Der Lebensgefährte floh in eine Entzugsklinik; die Polizei verweigerte jeden Kommentar. Fieberhaft wurde nach all jenen Personen gesucht, die sie an dem besagten Abend zu Gesicht bekommen hatten. Das Thema füllte Tausende von Zeitungsspalten und stundenlange Sondersendungen. Die Frau, die Stein und Bein schwor, kurz vor dem Aufschlag des Körpers einen weiteren Streit gehört zu haben, gelangte zu kurzzeitigem Ruhm und wurde auf kleineren Bildern neben den Fotos der toten Schönheit gezeigt. Dann stellte sich – gefolgt von einem fast hörbaren enttäuschten Aufstöhnen der Öffentlichkeit – heraus, dass die Zeugin gelogen hatte, woraufhin diese sich in eine Entzugsklinik zurückzog, während der prominente Hauptverdächtige wieder auf der Bildfläche erschien. Wie in einem Wetterhäuschen, wo die Sonnenfrau und der Regenmann niemals gleichzeitig zu sehen sind.
Also doch Selbstmord. Nach kurzem sprachlosem Innehalten bekam die Story noch einmal etwas Rückenwind. Jetzt hieß es, die Tote sei unausgeglichen und labil gewesen; dem Status als Superstar, den ihre Wildheit und Schönheit ihr eingebracht hatten, nicht gewachsen; dass die sittenlosen Superreichen, mit denen sie sich umgeben hatte, sie verdorben hätten; dass die Dekadenz ihres neuen Lebens ihre ohnehin schon fragile Persönlichkeit völlig aus dem Gleichgewicht gebracht habe. Ihr Ende wurde zu einer Moralgeschichte, die vor Schadenfreude triefte. Und die Vergleiche mit Ikarus waren so zahlreich, dass Private Eye dazu einen Extrabeitrag brachte.
Dann endlich flaute die Sensationsgier ab, und die Journalisten konnten nur noch berichten, dass schon viel zu viel berichtet worden war.
Nam in omni adversitate fortunae infelicissimum est genus infortunii, fuisse felicem.
Welche Wendung zum Schlechten das Schicksal auch nehmen mag, so ist der Unglücklichste unter den Unglücklichen jener, der einst glücklich war.
BOËTHIUS, ÜBER DEN TROST DER PHILOSOPHIE
Obwohl Robin Ellacotts fünfundzwanzigjähriges Leben nicht frei von aufregenden und dramatischen Ereignissen gewesen war, so hatte sie doch nie zuvor das Bett in der festen Gewissheit verlassen, dass sie den anbrechenden Tag für den Rest ihres Lebens im Gedächtnis behalten würde.
Gestern um kurz nach Mitternacht hatte ihr langjähriger Lebensgefährte Matthew ihr unter der Eros-Statue mitten auf dem Piccadilly Circus einen Heiratsantrag gemacht. In dem Taumel der Erleichterung, der auf ihr Ja hin folgte, gestand er ihr, dass er sie eigentlich schon während des gemeinsamen Abendessens in dem Thai-Restaurant hatte fragen wollen; ein Vorhaben, das jedoch von dem schweigenden Pärchen am Nebentisch, das jedem Wort ihrer Unterhaltung lauschte, durchkreuzt wurde. Deshalb schlug er trotz Robins Protesten – schließlich mussten sie beide am nächsten Tag früh zur Arbeit – einen Spaziergang durch die dämmrigen Straßen vor. Da kam ihm die rettende Idee, und er führte die verwirrte Robin bis zu den Stufen vor der Statue. Er schlug (ganz Matthew-untypisch) alle Diskretion in den frostigen Wind, kniete nieder und machte ihr den Antrag. Vor drei auf den Stufen zusammengekauerten Pennern, die sich anscheinend eine Flasche Brennspiritus teilten.
Aus Robins Sicht war es, in der gesamten Geschichte der Heiratsanträge, der perfekteste Antrag aller Zeiten. Matthew hatte sogar einen Ring in der Tasche gehabt – jenen Ring mit dem Saphir und den beiden Diamanten, den sie jetzt trug und der ihr wie angegossen passte. Auf dem Weg in die Innenstadt starrte sie ständig auf die Hand, die in ihrem Schoß ruhte. Jetzt hatten Matthew und sie eine Geschichte auf Lager, die sie ihren Kindern erzählen konnten: wie sein Plan (und sie war begeistert, dass er es geplant hatte) schiefgegangen war und er improvisieren musste. Sie war begeistert von den Pennern, dem Mond und natürlich von dem nervös und verlegen vor ihr knienden Matthew gewesen; begeistert von der Eros-Statue, dem guten alten schmuddeligen Piccadilly Circus und dem schwarzen Taxi, das sie zurück nach Clapham gebracht hatte. Sie war kurz davor, sich sogar für London selbst begeistern zu können, obwohl sie in dem Monat, seit sie hier wohnte, mit der Stadt noch nicht warm geworden war. Selbst die blassen, aggressiven Pendler, die sich um sie herum im U-Bahn-Wagen drängten, erstrahlten im Glanz des Rings. Als sie an der Haltestelle Tottenham Court Road in das Licht des kühlen Märztages trat, streichelte sie die Unterseite des Platinbands mit dem Daumen. Bei der Vorstellung, dass sie sich in der Mittagspause ein paar Hochzeitsmagazine kaufen würde, platzte sie fast vor Glück.
Während sie sich einen Weg durch die Baustelle an der Oxford Street bahnte und dabei immer wieder auf einen Zettel in ihrer rechten Hand sah, folgten ihr die Blicke der Männer. Man konnte Robin mit Fug und Recht als hübsche Frau bezeichnen. Sie war groß und kurvig, das rotblonde Haar wippte, während sie flott voranschritt, und die kalte Luft verlieh ihren blassen Wangen etwas Farbe.
Heute war der erste Tag eines einwöchigen Aushilfsjobs als Sekretärin. Seit sie zu Matthew nach London gezogen war, hatte sie sich mit solchen Tätigkeiten durchgeschlagen – aber nicht mehr lange. Sie hatte bereits ein paar, wie sie es nannte, »richtige« Vorstellungsgespräche vereinbart.
Die größte Herausforderung dieser langweiligen Gelegenheitsjobs war in der Regel, den betreffenden Arbeitsplatz überhaupt zu finden. Nach der Kleinstadt in Yorkshire, aus der sie hergezogen war, wirkte London auf sie riesig, kompliziert und undurchdringlich. Matthew hatte ihr eingeschärft, nicht mit einem Stadtplan vor der Nase herumzulaufen, damit sie nicht wie eine Touristin und somit wie leichte Beute aussah. Deshalb verließ sie sich, mit wechselndem Erfolg, auf die kruden, von Hand gezeichneten Karten, die jemand bei der Zeitarbeitsagentur für sie anfertigte. Obwohl sie sich kaum vorstellen konnte, dass sie damit eher als waschechte Londonerin durchging.
Die Metallzäune und die blauen Plastikcontainer rund um die Baustelle erschwerten ihr die Orientierung zusätzlich, da sie die Sicht auf rund die Hälfte der auf der Karte markierten Wegpunkte versperrten. Sie überquerte den aufgerissenen Asphalt vor einem gigantischen Bürokomplex, der auf ihrer Karte mit »Centre Point« beschriftet war und mit seinem strengen Gittergeflecht aus gleichförmigen rechteckigen Fenstern an eine riesige Betonwaffel erinnerte. Danach hielt sie sich grob in Richtung Denmark Street.
Ihr Ziel erreichte sie mehr oder weniger zufällig, als sie einer schmalen Seitengasse namens Denmark Place folgte, die in eine kurze Straße mit farbenfrohen Ladenfronten und Schaufenstern voll mit Gitarren, Keyboards und allen möglichen musikalischen Modeerscheinungen mündete. Rot-weiße Bauzäune umgaben ein weiteres gähnendes Loch in der Straße. Bauarbeiter in grellen Sicherheitswesten begrüßten sie mit frühmorgendlichen Pfiffen, die Robin geflissentlich überhörte.
Sie sah auf die Uhr. Da sie in ihren Zeitplan stets die Möglichkeit einrechnete, sich zu verlaufen, war sie eine Viertelstunde zu früh dran. Die unscheinbare schwarze Eingangstür zu dem Büro, in dem sie arbeiten würde, befand sich gleich neben dem 12 Bar Café; der Name des Büroinhabers stand auf einem zerfledderten Zettel, der mit Klebestreifen neben dem Klingelknopf für die zweite Etage befestigt war. An einem anderen Tag und ohne den funkelnagelneuen Ring am Finger hätte sie so etwas abgeschreckt; heute jedoch waren das schmutzige Papier und der abblätternde Lack der Eingangstür genau wie die Penner in der vergangenen Nacht nur pittoreske Details der Kulisse, vor der sich ihre große Liebesgeschichte abspielte. Sie sah noch einmal auf die Uhr (wobei der Saphir glitzerte und ihr Herz einen Satz machte; ihr ganzes Leben lang würde sie dieses Glitzern betrachten können) und entschied sich in einem Anfall von Euphorie, früher als vereinbart zu erscheinen und Begeisterung für einen Job zu zeigen, der sie nicht im Geringsten interessierte.
Sie wollte eben auf die Klingel drücken, als die schwarze Tür von innen aufgerissen wurde und eine Frau auf die Straße stürmte. Einen seltsam gedehnten Augenblick lang starrten die beiden Frauen einander direkt in die Augen und bereiteten sich auf einen Zusammenprall vor. Robins Sinne waren an diesem magischen Morgen ungewöhnlich scharf; sie sah das bleiche Antlitz ihres Gegenübers nur einen Sekundenbruchteil, bevor es ihnen gerade noch rechtzeitig gelang, einander auszuweichen. Dann war die dunkelhaarige Frau auch schon die Straße hinuntergeeilt und um die Ecke verschwunden. Trotzdem hatte sich Robin das Gesicht derart ins Gedächtnis geprägt, dass sie es ohne Probleme hätte nachzeichnen können – was nicht nur an seiner außergewöhnlichen Schönheit lag, sondern auch an seinem Ausdruck: wütend und zugleich seltsam euphorisch.
Robin ergriff die Tür, bevor sie zufallen konnte, und betrat das schäbige Treppenhaus. Eine altertümliche Wendeltreppe wand sich um einen ebenso altmodischen, von einem Gitterkäfig umgebenen und funktionsuntüchtigen Aufzug. Vorsichtig, um mit ihren hohen Absätzen nicht in den schmiedeeisernen Trittflächen stecken zu bleiben, stieg sie hinauf. Im ersten Stock kam sie an einer Tür vorbei, an der ein laminiertes und gerahmtes Schild mit der Aufschrift Crowdy Graphics hing. Erst als sie die Glastür im nächsten Geschoss erreichte, wurde Robin klar, in welcher Branche sie diese Woche aushelfen sollte – bei der Zeitarbeitsagentur hatte ihr niemand darüber Auskunft geben können. In die Glasscheibe war der Name eingraviert, den sie schon neben der Türklingel gelesen hatte: C. B. Strike. Und darunter: Privatdetektiv.
Robin blieb mit offenem Mund stehen, gefangen in einem Moment der Verblüffung, die selbst diejenigen, die sie gut kannten, nicht hätten nachvollziehen können. Sie hatte nie auch nur einer Menschenseele (nicht einmal Matthew) von diesem immer schon gehegten, geheimen, kindischen Wunschtraum erzählt. Und das ausgerechnet heute! Es kam ihr vor wie ein Wink des Schicksals (was sie zwangsläufig mit der Magie des heutigen Tages, mit Matthew und dem Ring in Verbindung brachte, obwohl zwischen diesen Dingen bei näherer Betrachtung überhaupt keine Verbindung bestand).
Langsam, um den Moment auszukosten, trat sie auf die Glastür zu. Sie streckte die linke Hand nach der Klinke aus (der Saphir wirkte dunkel im trüben Licht), doch noch bevor sie sie ergreifen konnte, flog die Tür auf.
Diesmal konnte sie nicht ausweichen. Hundert Kilogramm ungepflegter Mann krachten in sie hinein. Robin wurde von den Beinen gerissen und nach hinten geschleudert. Die Handtasche entglitt ihren Fingern, und mit rudernden Armen stürzte sie rücklings dem tödlichen Nichts des Treppenhauses entgegen.
Strike spürte den Zusammenprall, hörte den gellenden Schrei und reagierte intuitiv, indem er einen seiner langen Arme vorschnellen ließ und eine Handvoll Stoff und Fleisch packte; ein zweiter Schmerzensschrei ertönte, dann schaffte er es mit Müh und Not, die Frau wieder auf festen Boden zu ziehen. Ihr Kreischen hallte noch immer von den Wänden wider, und ihm wurde bewusst, dass auch er selbst »Herr im Himmel!« gebrüllt hatte.
Die Frau kauerte wimmernd und vor Schmerzen gekrümmt vor der Bürotür. Aus ihrer schiefen Körperhaltung und der Tatsache, dass sie eine Hand tief unter das Mantelrevers geschoben hatte, schloss Strike, dass er bei ihrer Rettung wohl ihre linke Brust gepackt hatte. Ein dichter, welliger Vorhang aus blondem Haar verbarg den Großteil ihres Gesichts, doch aus dem unverdeckten Auge konnte Strike Schmerzenstränen fließen sehen.
»Scheiße – tut mir leid!« Seine laute Stimme schallte durch das Treppenhaus. »Ich hab Sie nicht gesehen … Ich konnte ja nicht ahnen, dass da jemand …«
»Was ist denn da oben los?«, rief der verschrobene, eigenbrötlerische Grafikdesigner aus dem Büro im ersten Stock, und eine Sekunde später war auch über ihnen eine gedämpfte Beschwerde zu hören. Offensichtlich fühlte sich der Wirt der Kneipe im Erdgeschoss, der in der Mansardenwohnung über Strikes Büro lebte, ebenfalls gestört oder war womöglich von dem Krach geweckt worden.
»Kommen Sie rein …«
Strike drückte die Tür mit den Fingerspitzen auf, damit er die davor kauernde Frau nicht aus Versehen berührte, und komplimentierte sie in sein Büro.
»Alles in Ordnung?«, rief der Grafikdesigner in quengelndem Tonfall herauf. Strike warf die Bürotür hinter sich zu.
»Geht schon wieder«, log Robin mit zitternder Stimme. Sie stand vornübergebeugt mit dem Rücken zu ihm da und hielt noch immer die Hand auf die Brust gepresst. Nach ein, zwei Sekunden richtete sie sich auf und drehte sich um. Ihr Gesicht war puterrot, die Augen noch feucht.
Ihr Angreifer wider Willen war gewaltig; durch seine Größe und beträchtliche Körperbehaarung, gepaart mit einem deutlichen Bauchansatz, erinnerte seine Erscheinung an einen Grizzly. Er hatte ein angeschwollenes blaues Auge; unter der Augenbraue befand sich ein Schnitt. Geronnenes Blut füllte die weiß umrandeten Kratzspuren auf seiner linken Wange und auf der rechten Seite seines dicken Halses, soweit dieser unter dem offen stehenden, verknitterten Hemdkragen sichtbar war.
»Sind Sie M-Mr. Strike?«
»Ja.«
»I-Ich bin die Aushilfe.«
»Die was?«
»Die Aushilfe. Von Temporary Solutions Personallösungen.«
Selbst die Nennung der Zeitarbeitsagentur konnte den ungläubigen Ausdruck nicht von seinem zerschundenen Gesicht vertreiben. Sie starrten einander fassungslos und beinahe feindselig an.
Genau wie für Robin stellten die letzten zwölf Stunden auch für Cormoran Strike einen Wendepunkt im Leben dar. Diese Nacht würde er so schnell nicht vergessen. Und jetzt, so schien es, hatte ihm das Schicksal auch noch eine Botin in einem hübschen beigefarbenen Trenchcoat geschickt, um ihm unter die Nase zu reiben, dass sein Leben auf eine Katastrophe zusteuerte. Er konnte sich keine Aushilfe leisten. Als er Robins Vorgängerin entlassen hatte, war er davon ausgegangen, dass dies auch den Vertrag mit der Zeitarbeitsagentur beenden würde.
»Wie lange sollen Sie denn hier arbeiten?«
»Ei-eine Woche erst mal«, sagte Robin, die noch nie mit so wenig Begeisterung an einem neuen Arbeitsplatz willkommen geheißen worden war.
Strike überschlug es kurz im Kopf: Eine Woche zu den exorbitanten Preisen der Zeitarbeitsagentur würde seinem Dispokredit einen irreparablen Schaden zufügen. Wahrscheinlich würde diese Ausgabe sogar den Tropfen darstellen, der das Fass endgültig zum Überlaufen brachte – worauf sein Kreditgeber nur wartete.
»Entschuldigen Sie mich einen Moment.«
Er verließ den Raum durch die Glastür, wandte sich nach rechts und betrat die winzige, nasskalte Toilette. Er schob den Riegel vor und starrte in den gesprungenen, verdreckten Spiegel über dem Waschbecken.
Es war kein schöner Anblick. Strike hatte die hohe, gewölbte Stirn, die breite Nase und die dichten Brauen eines jungen Beethoven, der regelmäßig in den Boxring stieg – ein Eindruck, der durch das angeschwollene blaue Auge noch bekräftigt wurde. Sein dickes Haar – mit Locken wie Matratzenfedern – war der Grund, warum man ihm in seiner Jugend unter anderem den Spitznamen »Muschikopf« verpasst hatte. Er wirkte älter als seine fünfunddreißig Jahre.
Strike steckte den Stöpsel in den Abfluss, ließ kaltes Wasser in das ramponierte, schmutzige Waschbecken laufen, holte tief Luft und tauchte den pochenden Kopf komplett unter. Dass dabei Wasser über seine Schuhe schwappte, nahm er angesichts wohltuender zehn Sekunden eisiger, blinder Stille gern in Kauf.
Unzusammenhängende Bilder der vergangenen Nacht jagten durch sein Gehirn: wie er drei Schubladen mit seinen Habseligkeiten in eine Sporttasche leerte, während Charlotte ihn anschrie; wie ein Aschenbecher ihn an der Augenbraue traf, als er sich an der Tür noch einmal umdrehte; wie er zu Fuß durch die dunkle Stadt zu seinem Büro lief, wo er auf dem Schreibtischstuhl ein, zwei Stunden Schlaf fand; und die abschließende, grässliche Szene, als Charlotte ihn in den frühen Morgenstunden hier aufspürte, um ihm wie beim Stierkampf auch noch die letzten banderillas ins Genick zu stoßen; sein Entschluss, sie ziehen zu lassen, nachdem sie sein Gesicht zerkratzt hatte und aus der Tür gerannt war; und der Augenblick geistiger Umnachtung, als er ihr doch hinterherstürzte; die Verfolgungsjagd, die ebenso schnell endete, wie sie begonnen hatte – dank der unabsichtlichen Intervention jener unachtsamen und völlig überflüssigen Frau, die er erst hatte retten und dann beruhigen müssen.
Prustend und grunzend tauchte er wieder auf. Sein Gesicht und seine Kopfhaut prickelten angenehm betäubt. Er trocknete sich mit dem brettharten Handtuch ab, das hinter der Tür hing, und starrte erneut auf sein grimmiges Spiegelbild. Die vom Blut gesäuberten Kratzer wirkten nun so harmlos wie die Abdrücke eines Kopfkissens. Charlotte saß jetzt bestimmt schon in der U-Bahn. Einer der irrwitzigen Gedanken, die ihn dazu bewogen hatten, ihr nachzulaufen, war die Angst, sie könnte sich auf die Gleise werfen. In ihren Mittzwanzigern war sie einmal nach einem besonders heftigen Streit auf ein Dach geklettert, wo sie betrunken herumgetaumelt war und gedroht hatte zu springen. Vielleicht sollte er sich glücklich schätzen, dass die Personallösung dieser Hetzjagd ein Ende gesetzt hatte. Nach der Szene am frühen Morgen gab es kein Zurück mehr. Diesmal war es endgültig aus.
Er lockerte den Hemdkragen, der nass an seinem Hals klebte, dann zog er den Riegel zurück, verließ die Toilette und trat wieder durch die Glastür.
Von der Straße dröhnte ein Presslufthammer zu ihnen herauf. Robin stand mit dem Rücken zur Tür vor dem Schreibtisch. Als er eintrat, zog sie die Hand aus dem Trenchcoat. Er vermutete, dass sie wieder ihre schmerzende Brust betastet hatte.
»Ist … Geht es Ihnen gut?«, fragte Strike und vermied sorgsam, den verletzten Körperteil in Augenschein zu nehmen.
»Ja, alles in Ordnung. Hören Sie, wenn Sie mich nicht brauchen können, dann gehe ich wieder«, sagte Robin würdevoll.
»Nein, nein, nicht doch«, verkündete eine Stimme aus Strikes Mund, der er selbst nur mit Verachtung zuhören konnte. »Eine Woche, das geht schon. Äh … Die Post ist hier …« Er klaubte sie von der Fußmatte und legte sie als Friedensangebot vor Robin auf den leeren Schreibtisch. »Ja, die müssten Sie durchsehen, außerdem ans Telefon gehen, vielleicht ein bisschen aufräumen … Das Passwort für den Computer ist Hatherill23, ich schreibe es Ihnen auf …« Was er unter ihrem misstrauischen, zweifelnden Blick auch tat. »Bitte schön. Ich bin dort drinnen.«
Er betrat sein Büro, schloss vorsichtig die Zwischentür hinter sich, stand dann eine Weile da und starrte die Sporttasche unter dem leeren Schreibtisch an. Sie beinhaltete sein gesamtes Hab und Gut, denn er bezweifelte, dass er die restlichen neun Zehntel seiner Besitztümer, die er bei Charlotte gelassen hatte, je wiedersehen würde. Wahrscheinlich würde sie die Sachen noch vor dem Mittagessen verbrannt, auf die Straße geworfen, zerschnitten, zertrampelt, mit Bleichmittel übergossen haben. Der Presslufthammer auf der Straße unter ihm dröhnte unablässig weiter.
Die Aussichtslosigkeit, seinen riesigen Schuldenberg je zurückzuzahlen, die entsetzlichen Konsequenzen, die der bevorstehende Bankrott seiner Firma haben würde, und die drohenden, noch unbekannten, aber gewiss grässlichen Folgen seiner Trennung von Charlotte ließen ein Kaleidoskop des Schreckens vor seinem erschöpften inneren Auge aufscheinen.
Ohne bemerkt zu haben, dass er sich überhaupt bewegt hatte, fand er sich auf dem Stuhl wieder, auf dem er die letzten Stunden der vergangenen Nacht verbracht hatte. Durch die dünne Wand hörte er gedämpfte Geräusche aus dem Vorzimmer. Die Personallösung fuhr bestimmt gerade den Computer hoch und würde bald herausfinden, dass er in den vergangenen drei Wochen keine einzige geschäftliche E-Mail erhalten hatte, und unausweichlich würde sie in der Post auf zahlreiche letzte Mahnungen stoßen. Erschöpft, geschunden und hungrig ließ Strike den Kopf auf den Schreibtisch sinken und bedeckte Augen und Ohren mit den Armen, um nicht mit anhören zu müssen, wie nebenan eine ihm völlig Fremde seine beschämende Situation bloßlegte.
Fünf Minuten später klopfte es an der Tür. Strike, der kurz vor dem Einschlafen gewesen war, schreckte auf dem Stuhl hoch.
»Entschuldigung?«
Sein Unterbewusstsein hatte sich wieder mit Charlotte beschäftigt, und er war überrascht, die fremde Frau eintreten zu sehen. Sie hatte den Trenchcoat abgelegt. Darunter war ein fast verführerisch eng anliegender cremeweißer Pullover zum Vorschein gekommen. Strike konzentrierte sich auf ihren Haaransatz.
»Ja?«
»Ein Klient für Sie. Soll ich ihn hereinbitten?«
»Ein was?«
»Ein Klient, Mr. Strike.«
Er sah sie mehrere Sekunden lang verständnislos an und versuchte, die Information zu verarbeiten.
»Ja, in Ordnung, Sandra … Nein, geben Sie mir bitte noch ein paar Minuten, dann führen Sie ihn herein.«
Sie zog sich ohne Kommentar zurück.
Strike verschwendete keine Zeit darauf, sich zu fragen, weshalb er sie Sandra genannt hatte, sondern sprang auf und machte sich daran, ein bisschen weniger wie ein Mann auszusehen und zu riechen, der in seinen Klamotten geschlafen hatte. Er wühlte eine Zahnpastatube aus der Sporttasche unter dem Schreibtisch hervor und drückte sich gut sieben Zentimeter Zahncreme in den Mund. Dann bemerkte er, dass seine Krawatte vom Waschbecken nass war und sein Hemd blutbefleckt. Er riss sich beides vom Leib, dass die Knöpfe nur so von der Wand und vom Aktenschrank abprallten, zerrte ein sauberes, wenn auch stark verknittertes Hemd aus der Tasche, zog es über und knöpfte es ungeschickt mit seinen dicken Fingern zu. Anschließend versteckte er die Sporttasche hinter dem leeren Aktenschrank und setzte sich, wischte sich den Schlaf aus den Augen und fragte sich, ob dieser angebliche Klient tatsächlich ein solcher und noch dazu bereit war, Geld für detektivische Dienstleistungen auszugeben. Während seines achtzehnmonatigen Abstiegs in den finanziellen Ruin hatte Strike lernen müssen, dass beides keineswegs selbstverständlich war. Noch immer hatten zwei seiner Klienten ihre Rechnungen nicht vollständig bezahlt. Ein dritter hatte sich sogar geweigert, überhaupt einen Penny zu berappen, da ihm Strikes Ermittlungsergebnisse nicht behagt hatten. Aufgrund seiner wachsenden Schuldenlast und der Tatsache, dass eine Mietanpassung für das Innenstadtbüro drohte, das er einst so freudig bezogen hatte, konnte sich Strike auf keinen Fall einen Anwalt leisten. Daher waren seit Kurzem unsanftere, gröbere Methoden des Geldeintreibens bevorzugter Gegenstand seiner Tagträume. Nur zu gern hätte er mit angesehen, wie der selbstgefälligste seiner Schuldner zitternd vor Angst im Schatten eines Baseballschlägers kauerte.
Wieder öffnete sich die Tür. Schnell zog Strike den Zeigefinger aus der Nase, setzte sich kerzengerade hin und versuchte, so aufgeweckt und geistesgegenwärtig wie möglich zu wirken.
»Mr. Strike? Mr. Bristow für Sie.«
Der potenzielle Klient trat hinter ihr in das Büro. Der erste Eindruck sprach für ihn – obwohl der Fremde mit seiner zu kurz geratenen Oberlippe, die die großen Schneidezähne nicht ganz verdeckte, etwas eindeutig Hasenhaftes an sich hatte. Sein Teint war teigig, und der Dicke seiner Brillengläser nach zu urteilen war er stark kurzsichtig. Sein dunkelgrauer Anzug hingegen war elegant geschnitten und wirkte ebenso teuer wie der schimmernde eisblaue Schlips, die Armbanduhr und die Schuhe.
Beim Anblick des blütenweißen Hemds wurde sich Strike der tausend Falten in seiner eigenen Kleidung gleich doppelt bewusst. Er stand auf, um sich Bristow in seiner vollen Größe von eins zweiundneunzig zu präsentieren, hielt ihm die am Rücken stark behaarte Hand hin und versuchte, den Kleidungsvorteil seines Besuchers mit der Aura eines Mannes wettzumachen, der zu beschäftigt war, als dass er sich um seine Wäsche kümmern könnte.
»Cormoran Strike. Sehr erfreut.«
»John Bristow.«
Sie gaben sich die Hand. Bristows Stimme war angenehm, kultiviert und ein wenig unsicher. Sein Blick verharrte auf Strikes Veilchen.
»Kann ich Ihnen Tee oder Kaffee anbieten?«, fragte Robin.
Bristow bat um einen schwarzen Kaffee, Strike antwortete gar nicht; er hatte soeben eine junge Frau mit buschigen Augenbrauen in einem altbackenen Tweedkostüm entdeckt, die auf dem abgewetzten Sofa neben der Zwischentür im Vorzimmer saß. Dass gleich zwei mutmaßliche Klienten zur selben Zeit erschienen, war denkbar unwahrscheinlich. Ob sie ihm etwa noch eine weitere Aushilfe geschickt hatten?
»Und für Sie, Mr. Strike?«
»Was? Oh – schwarz, zwei Stück Zucker bitte. Danke, Sandra«, sagte er gedankenverloren. Ihr Mund zuckte leicht, bevor sie die Tür wieder hinter sich schloss. Erst da fiel ihm ein, dass er weder Kaffee noch Zucker im Haus hatte. Von Tassen ganz zu schweigen.
Auf Strikes Aufforderung ließ Bristow sich nieder, um sich dann mit einer Miene in dem schäbigen Büro umzusehen, die Strike zu seinem Bedauern nur als Enttäuschung deuten konnte. Der potenzielle Klient wirkte nervös – auf eine schuldbewusste Art, die Strike intuitiv mit argwöhnischen Ehemännern in Verbindung brachte; und doch strahlte er eine gewisse Autorität aus, die nicht zuletzt seinem offensichtlich teuren Anzug geschuldet war. Strike fragte sich, wie Bristow auf ihn gekommen war. Durch Mundpropaganda an Auftraggeber zu gelangen gestaltete sich schwierig, wenn die einzige Klientin (wie sie oft genug schluchzend am Telefon bekannte) keine Freunde hatte.
»Mr. Bristow, was kann ich für Sie tun?«, fragte er und setzte sich ebenfalls.
»Es … äh … Nun, vielleicht könnten wir zuerst … Ich glaube, wir sind uns schon mal begegnet.«
»Wirklich?«
»Sie erinnern sich sicher nicht mehr an mich. Es ist viele Jahre her … Aber ich glaube, Sie waren ein Freund meines Bruders Charlie. Charlie Bristow? Er starb … Er verunglückte, als er neun war.«
»Verdammt noch mal«, sagte Strike. »Charlie … Ja, ich erinnere mich.«
Tatsächlich erinnerte er sich sehr gut. Charlie Bristow war einer von vielen Freunden gewesen, die er während seiner schwierigen, turbulenten Kindheit gehabt hatte. Charlie war ein wilder, waghalsiger Junge mit einer geradezu magnetischen Ausstrahlung gewesen, außerdem Anführer der coolsten Gang der Londoner Schule, an die Strike kurz zuvor gewechselt war. Charlie hatte einen Blick auf den hünenhaften Neuzugang mit dem starken Cornwall-Akzent geworfen und ihn sofort zu seinem besten Freund und Adjutanten ernannt. Zwei aufregende Monate der Busenfreundschaft und des groben Unfugs folgten. Strike war von der wohlgeordneten Routine, die in anderen – vernünftigeren, konventionelleren – Familien herrschte, immer fasziniert gewesen, genau wie von der Vorstellung, jahrelang ein und dasselbe Kinderzimmer zu bewohnen. Daher hatte er auch Charlies geräumiges, luxuriöses Haus noch in lebhafter Erinnerung: den großen, sonnenbeschienenen Rasen, das Baumhaus, die Zitronenlimonade, die Charlies Mutter ihnen servierte.
Und dann brach am ersten Schultag nach den Osterferien beispielloser Schrecken über ihn herein, als ihnen die Klassenlehrerin mitteilte, dass Charlie nicht mehr zurückkommen werde, dass er tot sei, im Urlaub in Wales in einem Steinbruch mit dem Fahrrad in den Abgrund gefahren. Da die Lehrerin eine gemeine alte Hexe war, konnte sie nicht widerstehen, der Klasse zu predigen, dass Charlie, wie sie wohl wüssten, des Öfteren nicht auf die Erwachsenen gehört habe, die ihm ausdrücklich verboten hätten, in der Nähe des Steinbruchs Fahrrad zu fahren, dass er es aber trotzdem getan habe, möglicherweise aus Angeberei. Hier war sie gezwungen, sich etwas zurückzunehmen, da zwei Mädchen in der ersten Reihe anfingen zu schluchzen.
Von diesem Tag an hatte Strike stets das Gesicht eines lachenden blonden Jungen vor Augen, sobald er einen Steinbruch sah oder sich nur vorstellte. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn ein jeder seiner damaligen Mitschüler die gleiche Angst vor dem großen schwarzen Abgrund, dem tiefen Fall und dem unbarmherzigen Stein zurückbehalten hätte.
»Ja, ich erinnere mich an Charlie.«
Bristows Adamsapfel hüpfte ganz leicht.
»Wissen Sie, mir ist Ihr Name im Gedächtnis geblieben. Ich sehe Charlie noch ganz deutlich vor mir, wie er im Urlaub, in den letzten Tagen vor seinem Tod, von Ihnen sprach: ›mein Kumpel Strike‹, ›Cormoran Strike‹. Ungewöhnlicher Vorname. Woher kommt ›Cormoran‹ eigentlich? Hab ich noch nie zuvor gehört. Hat das irgendetwas mit dem Vogel zu tun?«
Bristow war beileibe nicht Strikes erster Klient, der versuchte, ein Gespräch über das Anliegen, das ihn hierhergeführt hatte, so lange wie möglich hinauszuzögern, indem er über das Wetter, die City-Maut oder seine Heißgetränkvorlieben plauderte.
»Nein. Angeblich mit einer Legende aus Cornwall«, erklärte Strike.
»Ach, wirklich? Aha. Wissen Sie, ich war auf der Suche nach Unterstützung in einer bestimmten Angelegenheit, und da bin ich im Telefonbuch auf Ihren Namen gestoßen.« Bristows Knie federte auf und ab. »Sie können sich sicher vorstellen, wie mir … Nun ja, es kam mir vor wie … wie ein Zeichen. Ein Zeichen von Charlie. Dass ich das Richtige tue.«
Er schluckte, und sein Adamsapfel hüpfte wieder.
»Okay«, sagte Strike vorsichtig. Er hoffte, dass Bristow ihn nicht mit einem Medium verwechselte.
»Es geht um meine Schwester«, fuhr Bristow fort.
»Verstehe. Steckt sie in Schwierigkeiten?«
»Sie ist tot.«
Strike hätte fast ausgerufen: »Was, die auch?«, konnte sich aber gerade noch zurückhalten. »Das tut mir leid«, sagte er höflich.
Bristow quittierte die Beileidsbezeugung mit einem knappen Nicken.
»Ich … Es fällt mir nicht leicht. Zuallererst sollten Sie wissen, dass meine Schwester Lula Landry ist … war.«
Strikes Hoffnung, die sich ob der unerwarteten Aussicht auf einen neuen Klienten ein wenig aufgerichtet hatte, neigte sich, kippte vornüber und schlug ihm mit dem Gewicht eines Granitgrabsteins auf den Magen. Der Mann vor ihm litt offenbar unter Wahnvorstellungen, war womöglich sogar völlig durchgeknallt. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieser käsige, hasenhafte Mann den Genpool mit Lula Landrys bronzehäutiger, gazellenhafter, strahlender Schönheit teilte, war so gering wie die, zwei identische Schneeflocken zu finden.
»Meine Eltern haben sie adoptiert«, sagte Bristow verlegen, als hätte Strike seine Gedanken laut ausgesprochen. »Wir alle wurden adoptiert.«
»Aha«, sagte Strike. Er hatte ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis; wenn er sich das große, kühle, gepflegte Anwesen und den sonnendurchfluteten, weitläufigen Garten vor Augen führte, tauchte auch eine blonde Mutter in seinen Erinnerungen auf, die über den Picknickkorb wachte; die einschüchternde, dröhnende Stimme des Vaters aus der Ferne; ein mürrischer älterer Bruder, der vom Obstkuchen naschte; natürlich Charlie selbst, der seine Mutter mit seinen Albernheiten zum Lachen brachte; aber kein kleines Mädchen.
»Sie konnten sie gar nicht kennenlernen«, fuhr Bristow fort, als hätte er erneut Strikes Gedanken gelesen. »Meine Eltern haben sie erst nach Charlies Tod adoptiert. Sie ist im Alter von vier Jahren zu uns gekommen. Davor war sie längere Zeit im Heim. Damals war ich fast fünfzehn. Ich weiß noch, wie ich in der Eingangstür stand und zusah, wie mein Vater sie die Auffahrt herauftrug. Sie hatte eine kleine rote Strickmütze auf dem Kopf. Die hat meine Mutter bis zum heutigen Tag aufbewahrt.«
Völlig unerwartet brach John Bristow in Tränen aus. Er schluchzte hinter vorgehaltenen Händen und ließ die zitternden Schultern hängen. Tränen und Rotz quollen zwischen seinen Fingern hervor. Jedes Mal, wenn er sich wieder unter Kontrolle zu haben schien, wurde er von neuen Schluchzern geschüttelt.
»Tut mir leid … Verzeihung … oh Gott …«
Keuchend und hicksend tupfte er sich die Augen hinter den Brillengläsern mit einem Papiertaschentuch ab und versuchte, die Fassung zurückzugewinnen.
Die Bürotür öffnete sich, und Robin schlüpfte mit einem Tablett herein. Bristow wandte sich mit bebenden Schultern von ihr ab. Durch die offen stehende Tür erhaschte Strike einen weiteren Blick auf die Frau im Kostüm; sie funkelte ihn über eine Ausgabe des Daily Express hinweg böse an.
Robin stellte zwei Tassen, ein Milchkännchen, ein Zuckerdöschen und einen Teller mit Schokoladenkeksen vor ihnen auf den Tisch – Strike hatte keinen dieser Gegenstände je zuvor gesehen –, lächelte routiniert und wollte schon wieder gehen, als Strike sie aufhielt.
»Einen Moment, Sandra. Könnten Sie …«
Er nahm ein Blatt Papier vom Schreibtisch und legte es auf sein Knie. Während Bristow leise Schluckgeräusche von sich gab, schrieb Strike so schnell und leserlich, wie es ihm unter diesen Umständen möglich war:
Bitte googeln Sie Lula Landry, finden Sie heraus, ob sie adoptiert wurde und, wenn ja, von wem. Sprechen Sie nicht mit der Frau im Vorzimmer darüber! (Wer ist das überhaupt?) Schreiben Sie die Antworten auf einen Zettel und bringen Sie ihn mir, ohne laut darüber zu reden.
Er reichte Robin das Blatt Papier. Sie nahm es wortlos entgegen und verließ den Raum.
»Tut mir leid … Tut mir wirklich leid«, keuchte Bristow, nachdem sich die Tür wieder geschlossen hatte. »Es ist … Normalerweise bin ich nicht … Ich war wieder bei der Arbeit, in einem Mandantengespräch …« Er atmete ein paarmal tief durch. Die geröteten Augen verliehen ihm Ähnlichkeit mit einem Albinokaninchen. Sein rechtes Knie federte immer noch auf und ab. »Es war eine schwere Zeit«, flüsterte er und holte tief Luft. »Erst Lula … und meine Mutter liegt im Sterben …«
Beim Anblick der Schokokekse lief Strike das Wasser im Mund zusammen. Er war so hungrig, als hätte er seit Tagen nichts gegessen. Allerdings hätte es wohl den falschen Eindruck erweckt, wenn er sich vor dem zitternden, schniefenden, sich die Augen wischenden Bristow über das Gebäck hergemacht hätte. Der Presslufthammer knatterte noch immer wie ein Maschinengewehr von unten herauf.
»Lulas Tod hat ihr das Herz gebrochen. Seitdem hat sie sich völlig aufgegeben. Angeblich hatte sich der Krebs zurückgebildet, doch jetzt ist er wieder da, und die Ärzte können nichts mehr für sie tun. Kein Wunder, immerhin handelt es sich um das zweite Kind, das sie verliert. Nach der Sache mit Charlie hatte sie einen Zusammenbruch. Mein Vater dachte, eine weitere Adoption könnte ihr darüber hinweghelfen. Sie hatten sich immer ein Mädchen gewünscht. Natürlich mussten sie gewisse Hürden überwinden, bis sie erneut als Adoptiveltern anerkannt wurden. Andererseits war Lula aufgrund ihrer Hautfarbe nur schwer vermittelbar; daher«, schloss er mit einem erstickten Schluchzen, »wurde sie ihnen schließlich doch zugeteilt.
Sie war schon immer sehr sch-schön. Sie wurde auf der Oxford Street entdeckt, als sie mit meiner Mutter shoppen war. Sie kam sofort bei Athena unter Vertrag, das ist eine der renommiertesten Agenturen überhaupt. Mit s-siebzehn modelte sie bereits Vollzeit. Zum Zeitpunkt ihres Todes war sie gut zehn Millionen schwer. Ich weiß nicht, wieso ich Ihnen das alles überhaupt erzähle. Sie wissen das ja sicher. In Bezug auf Lula hält sich jeder für einen Experten.«
Ungeschickt griff er nach seiner Tasse. Seine Hände zitterten so stark, dass der Kaffee über den Rand der Tasse auf die scharfe Bügelfalte seiner Anzughose schwappte.
»Was genau kann ich für Sie tun?«, fragte Strike.
Umständlich stellte Bristow die Tasse auf den Tisch zurück, dann rang er die Hände.
»Angeblich hat meine Schwester Selbstmord begangen. Aber das kann ich nicht glauben.«
Strike erinnerte sich an die Fernsehbilder: der schwarze Leichensack auf einer Bahre, die im Blitzlichtgewitter in einen Rettungswagen geladen wurde; die Fotografen, die sich um das Fahrzeug drängten, als es sich in Bewegung setzte; die schwarzen Fensterscheiben, die das weiße Blitzlicht der hochgehaltenen Kameras zurückwarfen. Er wusste mehr über den Tod von Lula Landry, als er je hatte wissen wollen, und so gut wie jedem anderen auch nur halbwegs aufmerksamen Einwohner Großbritanniens ging es wohl ähnlich. Man war so lange mit der Story bombardiert worden, bis man gegen seinen Willen Interesse gezeigt hatte. Und ehe man sichs versah, war man dermaßen gut informiert und derart von der wertenden Berichterstattung eingenommen, dass einen jedes Gericht wegen Befangenheit als Geschworenen abgelehnt hätte.
»Es gab eine polizeiliche Untersuchung, oder nicht?«
»Ja, aber der leitende Detective war von vornherein der Ansicht, dass es Selbstmord war – und das nur, weil sie Lithium verschrieben bekommen hatte. Er hat so vieles übersehen – manches davon kann man sogar im Internet nachlesen.« Bristow deutete widersinnigerweise mit dem Zeigefinger auf Strikes leeren Schreibtisch, auf dem man eigentlich einen Computer erwartet hätte.
Ein höfliches Klopfen ertönte. Robin trat ein, ging zu Strike hinüber, reichte ihm einen gefalteten Zettel und zog sich wieder zurück.
»Verzeihung. Darf ich?«, fragte Strike. »Eine dringende Nachricht.«
Er faltete den Zettel so auf, dass Bristow im Gegenlicht nichts erkennen konnte, und las:
Lula Landry wurde im Alter von vier Jahren von Sir Alec und Lady Yvette Bristow adoptiert. Sie wuchs als Lula Bristow auf, nahm aber zu Beginn ihrer Modelkarriere den Mädchennamen ihrer Mutter an. Ihr älterer Bruder John arbeitet als Anwalt. Die Frau im Vorzimmer ist seine Lebensgefährtin. Sie ist als Sekretärin für die Kanzlei Landry, May, Patterson tätig, die von Lulas und Johns Großvater mütterlicherseits gegründet wurde und bei der auch John Bristow angestellt ist. Ein Foto auf der Homepage der Kanzlei zeigt denselben Mann, der vor Ihnen sitzt.
Strike zerknüllte den Zettel und warf ihn in den Papierkorb zu seinen Füßen. Er war wie vom Donner gerührt. Bristow war also kein Fantast; und er, Strike, schien mit einer Aushilfe gesegnet zu sein, die mehr Initiative und eine bessere Interpunktion an den Tag legte als jede ihrer Vorgängerinnen.
»Entschuldigung. Bitte fahren Sie fort«, sagte er zu Bristow. »Wo waren wir – die polizeiliche Untersuchung?«
»Ja«, sagte Bristow und tupfte sich die Nasenspitze mit dem feuchten Taschentuch ab. »Nun, ich will nicht leugnen, dass Lula Probleme hatte. Tatsächlich ist Mum ihretwegen durch die Hölle gegangen. Alles fing ungefähr zu der Zeit an, als unser Vater starb – aber wahrscheinlich ist Ihnen auch das bereits bekannt. Darüber wurde weiß Gott ausführlich in den Medien berichtet … Sie wurde mehrfach wegen Drogenkonsums von der Schule geworfen und haute nach London ab, wo sie mit ein paar Süchtigen auf der Straße lebte. Mum holte sie zurück. Aber die Drogen zogen ihre geistige Gesundheit in Mitleidenschaft. Sie floh aus einer therapeutischen Einrichtung; es folgten endlose Streitereien und Dramen. Schließlich wurde eine bipolare Störung bei ihr diagnostiziert. Mit den richtigen Medikamenten verhielt sie sich – solange sie sie einnahm – unauffällig; niemand hätte je bemerkt, dass mit ihr irgendetwas nicht stimmte. Selbst der Untersuchungsrichter musste einräumen, dass sie ihre Medikamente eingenommen hatte. Das konnte bei der Obduktion zweifelsfrei nachgewiesen werden. Trotzdem sahen sowohl der Untersuchungsrichter als auch die ermittelnden Beamten in ihr nur eine junge Frau mit psychischen Problemen. Sie behaupteten, sie sei depressiv gewesen, aber ich kann Ihnen versichern, dass Lula nicht im Geringsten depressiv war. Ich traf sie am Morgen ihres Todestages. Sie war bester Laune. Es lief glänzend für sie, ganz besonders was ihre Karriere anging. Sie hatte gerade einen Vertrag bekommen, der ihr innerhalb von zwei Jahren fünf Millionen eingebracht hätte. Sie hatte mich gebeten, den Vertrag für sie zu prüfen – und es wäre ein verdammt gutes Geschäft gewesen. Somé, der Modedesigner, war ein guter Freund von ihr; Sie haben sicher schon von ihm gehört. Lula war auf Monate ausgebucht. Ein Shooting in Marokko stand kurz bevor, und sie reiste doch so gern. Sie hatte also nicht den geringsten Grund, sich das Leben zu nehmen.«
Strike nickte höflich, war insgeheim aber wenig beeindruckt. Seiner Erfahrung nach waren Suizidgefährdete wahre Meister darin, in schillerndsten Farben eine Zukunft auszumalen, an der sie jedoch letztlich überhaupt kein Interesse hatten. Landrys goldglänzende, rosige Morgenstimmung konnte im Lauf des Tages und der halben Nacht, die ihrem Tod vorausgegangen waren, durchaus in finstere, hoffnungslose Verzweiflung umgeschlagen sein. Das hatte er schon einmal erlebt, bei einem Lieutenant des King’s Royal Rifle Corps. Er war in der Nacht nach seiner eigenen Geburtstagsfeier, auf der er allen Beteiligten zufolge das blühende Leben gewesen war, aus dem Bett gestiegen und hatte einen Abschiedsbrief geschrieben. Darin hatte er seine Familie gebeten, die Polizei zu rufen und nicht in die Garage zu sehen. Der von der Decke hängende Leichnam wurde von seinem fünfzehnjährigen Sohn gefunden, der den Brief nicht bemerkt hatte, als er durch die Küche gestürmt war, um sein Fahrrad aus der Garage zu holen.
»Aber das ist noch nicht alles«, fuhr Bristow fort. »Es gibt Beweise, stichhaltige Beweise. Tansy Bestigui zum Beispiel.«
»Die Nachbarin, die behauptet hat, einen Streit in der Wohnung über ihr gehört zu haben?«
»Exakt. Sie hörte einen Mann schreien, unmittelbar bevor Lula vom Balkon fiel. Die Polizei schenkte ihrer Aussage keine Beachtung, einzig und allein weil sie … Nun ja, sie hatte Kokain genommen. Aber das bedeutet doch nicht zwangsläufig, dass sie sich das alles nur eingebildet hat! Tansy beteuert bis heute, dass Lula nur Sekunden vor ihrem Tod mit einem Mann gestritten hat. Das weiß ich, weil ich erst kürzlich mit ihr darüber gesprochen habe. Unsere Kanzlei vertritt sie in ihrem Scheidungsprozess. Ich könnte sie bestimmt dazu bewegen, sich mit Ihnen zu treffen. Außerdem«, sagte Bristow, während er Strike mit bangem Blick beobachtete, als versuchte er seine Reaktion einzuschätzen, »wären da noch die Aufnahmen der Überwachungskameras. Zwanzig Minuten vor Lulas Tod geht ein Mann in Richtung Kentigern Gardens. Und nach ihrem Sturz rennt derselbe Mann in die entgegengesetzte Richtung davon, als wäre der Teufel hinter ihm her. Die Polizei hat nie herausgefunden, wer das war. Man konnte ihn nicht aufspüren.«
Mit verschwörerischer Miene zog Bristow einen unbeschrifteten, leicht verknitterten Briefumschlag aus der Innentasche seines Jacketts und hielt ihn Strike hin.
»Ich habe alles aufgeschrieben. Sämtliche Zeiten, Orte und so weiter. Sie werden sehen: Alles passt zusammen.«
Der Umschlag trug nicht unbedingt dazu bei, Strikes Vertrauen in Bristows Mutmaßungen zu befördern. Derartige Aufzeichnungen waren ihm nicht unbekannt: hastig hingeschmierte Ergebnisse einsamer, verbissener Spekulationen; beharrliche Auslassungen über abseitige Theorien, denen jede Objektivität fehlte; komplexe Zeittabellen, die auf Biegen und Brechen unmöglichen Umständen angepasst wurden. Das linke Augenlid des Anwalts zuckte, das Knie federte unablässig auf und nieder, und die Finger, die den Umschlag hielten, zitterten.
Strike wog diese Stresssignale mehrere Sekunden lang gegen Bristows zweifellos handgenähte Schuhe und die Vacheron Constantin ab, die beim Gestikulieren an seinem blassen Handgelenk zum Vorschein kam. Dieser Mann konnte und würde ihn bezahlen; womöglich sogar lange genug, um die Rate des Kredits zurückzuzahlen, die die drängendste seiner Schulden darstellte.
»Mr. Bristow …«, begann Strike, seufzte und verfluchte insgeheim seine Skrupel.
»Nennen Sie mich John.«
»John … Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Ich glaube nicht, dass es anständig von mir wäre, Ihr Geld anzunehmen.«
Rote Flecken erblühten auf Bristows blassem Hals und auf seinem unscheinbaren Gesicht. Er hielt Strike den Umschlag unverwandt entgegen.
»Wie meinen Sie das, nicht anständig?«
»Der Tod Ihrer Schwester wurde ganz sicher so ausführlich untersucht, wie es den Behörden nur möglich war. Millionen Menschen und Medien aus aller Welt haben jeden Schritt der Ermittler minutiös verfolgt. Die Polizei ist doppelt so gründlich vorgegangen wie sonst, das können Sie mir glauben. Natürlich ist ein Selbstmord für die Hinterbliebenen nur schwer zu akzeptieren …«
»Und ich werde es auch nicht akzeptieren. Niemals! Sie hat sich nicht selbst umgebracht. Irgendjemand hat sie von diesem Balkon gestoßen.«
Der Presslufthammer hielt abrupt inne, sodass Bristows Stimme laut durch den Raum hallte – der unvermittelte Wutausbruch eines sonst sanften, schwachen Mannes am Rand der Verzweiflung.
»Aber natürlich. Ich verstehe. Sie gehören also auch zu denen, ja? Sie sind auch nur einer dieser beschissenen Hobby-psychologen. Charlie ist tot, mein Vater ist tot, Lula ist tot, und meine Mutter liegt im Sterben – ich habe alle Menschen verloren, die mir wichtig sind, daher brauche ich einen Seelenklempner und keinen Privatdetektiv, nicht wahr? Glauben Sie nicht, dass ich diesen Mist mittlerweile schon hundertmal gehört habe?«
Bristow stand auf und wirkte trotz seiner Hasenzähne und der roten Flecken auf der Haut fast schon ein wenig einschüchternd.
»Ich bin ein sehr reicher Mann, Strike. Tut mir leid, dass ich das so unverblümt sagen muss, aber bitte sehr. Mein Vater hat mir einen beträchtlichen Treuhandfonds hinterlassen. Ich habe nachgesehen, wie hoch der übliche Tarif für derlei Ermittlungen ist, und würde Ihnen mit Freuden das Doppelte bezahlen.«
Das Doppelte. Das war der K. o. für Strikes sonst so felsenfestes und unbeugsames, aber durch wiederholte Schicksalsschläge angezähltes Gewissen. Sein innerer Schweinehund hingegen vergnügte sich bereits mit fröhlichen Spekulationen: Ein Monat in Bristows Diensten, und er könnte die Aushilfe und einen Teil der ausstehenden Miete bezahlen. Zwei Monate, und er wäre die dringendsten Schulden los … Drei Monate, und das überzogene Konto wäre so gut wie ausgeglichen … Vier Monate …
John Bristow ging auf die Tür zu, wobei er den Umschlag, den Strike nicht hatte annehmen wollen, fest umklammerte und zerknickte. Über seine Schulter hinweg sagte er: »Ich wollte Sie um Charlies willen engagieren, aber ich habe selbstverständlich Erkundigungen über Sie eingeholt. Ich bin ja kein Volltrottel. Sonderermittlungseinheit der Militärpolizei, nicht wahr? Hochdekoriert. Ihr Büro beeindruckt mich allerdings weniger.« Bristow brüllte jetzt fast, und Strike bemerkte, dass die gedämpften Frauenstimmen im Vorzimmer verstummt waren. »Aber anscheinend habe ich mich geirrt, was Ihre finanzielle Situation angeht, und Sie können es sich leisten, diesen Auftrag abzulehnen. In Ordnung! Vergessen Sie’s einfach. Ich finde bestimmt einen anderen, der diese Aufgabe übernimmt. Entschuldigen Sie vielmals, dass ich Ihre Zeit gestohlen habe!«
Mehrere Minuten lang war die Unterhaltung der beiden Männer auf der anderen Seite der dünnen Wand mit zunehmender Deutlichkeit zu hören gewesen; in der plötzlichen Stille, die auf das Verstummen des Presslufthammers folgte, war Bristows Stimme mit einem Mal laut und klar zu verstehen.
Nur zum Spaß – und aus der ausgelassenen Stimmung dieses Freudentages heraus – hatte Robin versucht, in die Rolle von Strikes ständiger Sekretärin zu schlüpfen und Bristows Freundin zu verheimlichen, dass sie erst seit einer halben Stunde für den Privatdetektiv arbeitete. Deshalb unterdrückte sie auch, so gut es ging, jeden Anflug von Überraschung oder Nervosität angesichts des Wutausbruchs nebenan. Rein intuitiv war sie auf Bristows Seite, worum immer es bei dieser Auseinandersetzung auch gehen mochte. Strikes Beruf und sein blaues Auge besaßen einen gewissen schäbigen Glamour; sein Betragen ihr gegenüber hatte jedoch sehr zu wünschen übrig gelassen. Außerdem tat ihr die linke Brust immer noch weh.
Seitdem das Rattern des Presslufthammers von den Stimmen der Männer übertönt worden war, hatte Bristows Freundin den Blick nicht von der geschlossenen Tür genommen. Die stämmige Frau mit dem dunklen, schlaffen Bob und den Augenbrauen, die einen durchgehenden schwarzen Balken unter dem Pony bilden würden, sobald sie aufhörte, sie regelmäßig zu zupfen, wirkte von Natur aus mürrisch. Robin hatte schon häufiger die Beobachtung gemacht, dass Menschen mit annähernd gleichem Attraktivitätsgrad sich zu Liebespaaren zusammenfanden. Natürlich konnten andere Faktoren – wie beispielsweise Geld – dabei helfen, einen Partner von bedeutend besserem Aussehen zu finden. Robin fand es daher äußerst liebenswert, dass Bristow, der mit seinem Maßanzug und seiner angesehenen Kanzlei durchaus Chancen bei einer wesentlich hübscheren Kandidatin gehabt hätte, sich für diese Frau entschieden hatte, die sicher warmherziger und freundlicher war, als es der Anschein vermuten ließ.
»Möchten Sie wirklich keinen Kaffee, Alison?«, fragte sie.
Die Frau drehte ruckartig den Kopf, als wäre sie überrascht, angesprochen zu werden; als hätte sie vergessen, dass Robin sich ebenfalls im Raum befand.
»Nein danke«, sagte sie mit einer tiefen und verblüffend melodiösen Stimme. »Ich habe gleich gewusst, dass er sich wieder aufregen würde«, fügte sie mit einer merkwürdigen Genugtuung hinzu. »Ich habe versucht, es ihm auszureden, aber er wollte einfach nicht auf mich hören. Klingt ganz so, als würde dieser sogenannte Detektiv sein Angebot ablehnen. Ist auch besser so.« Anscheinend stand Robin die Verwirrung ins Gesicht geschrieben, da Alison leicht ungeduldig weitersprach: »Es wäre besser für John, wenn er den Tatsachen endlich ins Auge blicken würde. Sie hat sich umgebracht. Seine Familie hat sich längst damit abgefunden. Wieso nur kann er es nicht einfach auf sich beruhen lassen?«
Robin konnte unmöglich so tun, als wüsste sie nicht, wovon die Frau sprach. Jeder wusste über Lula Landrys Schicksal Bescheid. Robin konnte sich sogar noch genau daran erinnern, wo sie gewesen war, als sie erfahren hatte, dass das Model in einer eiskalten Januarnacht in den Tod gestürzt war. Sie hatte am Spülbecken in der Küche ihres Elternhauses gestanden. Als sie die Nachricht im Radio hörte, rannte sie mit einem kleinen Schrei der Überraschung hinaus, um Matthew – der das Wochenende über zu Besuch gekommen war – davon zu berichten. Wie konnte einem der Tod einer Fremden, der man noch nie begegnet war, so nahegehen? Robin hatte Lula Landrys Schönheit zutiefst bewundert und sie auch ein wenig darum beneidet. Ihre eigene Milchmädchenblässe fand sie nicht sonderlich attraktiv. Das Model hingegen war dunkelhäutig, strahlend, zartgliedrig und wild gewesen.
»Es ist doch noch gar nicht so lange her, oder?«
»Drei Monate«, antwortete Alison und wedelte mit dem Daily Express. »Taugt der Kerl was?«
Robin war Alisons verächtliche Miene, mit der sie den unbestreitbar heruntergekommenen und reinigungsbedürftigen Zustand des kleinen Vorzimmers zur Kenntnis genommen hatte, nicht entgangen. Außerdem hatte sie im Internet gerade Bilder des makellosen, palastartigen Büros bewundern dürfen, in dem ihr Gegenüber arbeitete.
»Oh ja«, sagte sie kühl und eher aus Stolz als aus dem Verlangen, Strike in Schutz zu nehmen. »Er ist einer der Besten.«
Mit dem Gebaren einer Frau, die sich tagaus, tagein mit Problemen herumschlug, die in ihrer Komplexität und Faszination Alisons Horizont weit überstiegen, öffnete sie einen rosafarbenen, mit Kätzchen bedruckten Briefumschlag.
Unterdessen starrten im benachbarten Raum Bristow und Strike einander an – der eine wütend, der andere bemüht, seine Meinung zu ändern, ohne dabei die Selbstachtung zu verlieren.
»Alles, was ich will«, sagte Bristow heiser und mit hochrotem Kopf, »ist Gerechtigkeit.«
Als hätte er eine göttliche Stimmgabel angeschlagen, hallte dieses Wort durch das schäbige Büro und erzeugte einen unhörbaren und dennoch durchdringenden Ton in Strikes Brust. Bristow hatte jenen Funken entfacht, der auch dann noch in Strike glomm, wenn alles andere bereits in Rauch aufgegangen war. Natürlich plagten ihn verzweifelte Geldsorgen – jetzt aber hatte Bristow ihm einen weiteren, noch viel besseren Grund gegeben, seine Skrupel über Bord zu werfen.
»Gut. Ich verstehe. Wirklich, John. Ich verstehe. Setzen Sie sich wieder. Wenn Sie noch immer an meinen Diensten interessiert sind, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.«
Bristow funkelte ihn wütend an. Bis auf die gedämpften Rufe der Bauarbeiter unten auf der Straße war es in dem Büro vollkommen still.
»Möchten Sie Ihre – äh, Frau, ja? – nicht hereinbitten?«
»Nein«, sagte Bristow immer noch erregt, ohne die Hand von der Türklinke zu nehmen. »Alison hält das hier für Zeitverschwendung. Ich weiß nicht, wieso sie überhaupt mitgekommen ist. Vielleicht hat sie gehofft, dass Sie mich wieder wegschicken würden.«
»Bitte, setzen Sie sich doch. Gehen wir alles noch mal in Ruhe durch.«
Bristow zögerte, dann kehrte er zu seinem Stuhl zurück.
Strike konnte nicht länger an sich halten. Er nahm einen Schokoladenkeks, stopfte ihn sich in den Mund, holte ein unbenutztes Notizbuch aus der Schreibtischschublade, klappte es auf, griff nach einem Stift und hatte den Keks hinuntergeschluckt, noch ehe Bristow wieder Platz genommen hatte.
»Darf ich?«, fragte er und deutete auf den Umschlag, den Bristow nach wie vor umklammert hielt.
Der Anwalt überreichte ihn argwöhnisch, als wüsste er nicht so recht, ob er ihn Strike wirklich anvertrauen konnte. Da der jedoch den Inhalt nicht in Bristows Gegenwart prüfen wollte, klopfte er nur kurz darauf – wie zur Bestätigung, dass es sich dabei mit sofortiger Wirkung um einen wichtigen Bestandteil der Ermittlungen handelte –, legte ihn zur Seite und hob den Stift.
»John, wären Sie so freundlich, mir kurz zu beschreiben, was an dem Tag geschah, an dem Ihre Schwester starb? Das wäre sehr hilfreich.«
Strike war nicht nur von Natur aus methodisch und gründlich, sondern auch in Ermittlungsmethoden ausgebildet, die den höchsten Ansprüchen genügten. Daher wusste er: Dem Zeugen musste zunächst die Möglichkeit gegeben werden, die Vorkommnisse in eigenen Worten zu schildern. Ein ungehinderter Redefluss förderte oft Details und sogar Unstimmigkeiten zutage, die später wertvolle Hinweise darstellen konnten. Sobald die erste Fuhre an Eindrücken und Erinnerungen eingeholt war, mussten die Fakten gründlich und gewissenhaft präzisiert und sortiert werden: Wer, wann, wo, wie …
»Oh«, sagte Bristow, der nach seinem vehementen Gefühlsausbruch unsicher war, wo er anfangen sollte. »Ich weiß nicht … also …«
»Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«, fragte Strike.
»Das war … Ja, das war am Morgen ihres Todestags. Um ehrlich zu sein: Wir haben uns gestritten, uns dann aber Gott sei Dank wieder vertragen.«
»Wann war das?«
»Ziemlich früh. Vor neun. Ich war gerade auf dem Weg ins Büro. Um Viertel vor neun etwa?«
»Worum ging es bei diesem Streit?«
»Oh, um ihren Freund, Evan Duffield. Sie hatten sich gerade wieder versöhnt. Ich – die ganze Familie – war heilfroh gewesen, als endlich Schluss war. Er ist ein schrecklicher Mensch, er nimmt Drogen, und er ist ein chronischer Selbstdarsteller; der schlimmste Einfluss auf Lula, den man sich nur vorstellen kann.
Möglicherweise bin ich zu grob mit ihr umgesprungen. Ich … Das ist mir jetzt klar geworden. Ich bin elf Jahre älter als Lula und war der Meinung, sie beschützen zu müssen, verstehen Sie? Da bin ich wohl manchmal zu rechthaberisch gewesen. Sie behauptete immer, dass ich es nicht verstehen würde …«
»Was verstehen würde?«