Das tiefschwarze Herz - Robert Galbraith - E-Book
SONDERANGEBOT

Das tiefschwarze Herz E-Book

Robert Galbraith

0,0
13,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der sensationelle sechste Kriminalroman von SPIEGEL-Bestsellerautor Robert Galbraith – Strike und Ellacott ermitteln in den Tiefen der undurchsichtigen Online-Welt!

Edie Ledwell, die Co-Entwicklerin der Kultserie Das tiefschwarze Herz, erscheint eines Tages völlig aufgelöst in Robin Ellacotts Büro. Mit Ledwells Problem, sie werde von einem mysteriösen Fan mit dem Pseudonym Anomie terrorisiert, kann die Privatermittlerin zunächst nicht viel anfangen. Als Edie einige Tage später ermordet auf dem Highgate Cemetery aufgefunden wird – einem Schauplatz der Serie –, wird Robin hellhörig und stürzt sich gemeinsam mit ihrem Geschäftspartner Cormoran Strike in die Ermittlungen. Auf der Suche nach Anomies wahrer Identität setzt sich das Ermittlerduo schon bald selbst einer unvermuteten Bedrohung aus …

Sie sind Fan des außergewöhnlichen Ermittlerduos Ellacott und Strike? Dann lesen Sie auch den neuesten Roman »Das strömende Herz«.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1514

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Als Edie Ledwell, verwirrt und völlig außer sich, in Robin Ellacotts Büro erscheint und mit ihr sprechen möchte, weiß die Privatermittlerin zunächst nichts mit deren Problem anzufangen. Die Co-Entwicklerin der Kult-Animationsserie Das tiefschwarze Herz wird von einem mysteriösen Fan mit dem Pseudonym Anomie terrorisiert. Edie ist verzweifelt und will endlich herausfinden, wer dahintersteckt.

Robin glaubt nicht, dass die Detektei Edie dabei helfen kann und schickt sie weg. Erst als sie ein paar Tage später in der Zeitung die schockierende Nachricht liest, dass Edie ermordet auf dem Highgate Cemetery aufgefunden wurde, dem Schauplatz von Das tiefschwarze Herz, wird sie hellhörig und nimmt sich dem Fall an.

Robin und ihr Geschäftspartner Cormoran Strike versuchen Anomies wahre Identität zu enthüllen. Mit einem komplexen Netz aus Online-Pseudonymen, Geschäftsinteressen und Familienkonflikten konfrontiert, finden sich Strike und Robin in einer Ermittlung wieder, die sie auf ungeahnte Weise herausfordert und einer unvermuteten Bedrohung aussetzt …

Autor

Robert Galbraith ist das Pseudonym von J. K. Rowling, Autorin der Harry-Potter-Reihe und des Romans »Ein plötzlicher Todesfall«. Die Cormoran-Strike-Romane erklommen die Spitzenplätze der internationalen Bestsellerlisten, eroberten die Top 10 der SPIEGEL-Bestsellerliste und wurden für BBC One als große TV-Serie verfilmt, produziert von Brontë Film and Television.

Von Robert Galbraith bereits erschienen

Der Ruf des Kuckucks · Der Seidenspinner · Die Ernte des Bösen · Weißer Tod · Böses Blut

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlagund www.facebook.com/blanvalet.

Robert Galbraith

Das tiefschwarze Herz

Ein Fall für Cormoran Strike

Deutsch von Wulf Bergner, Christoph Göhler und Kristof Kurz

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel »THE INK BLACK HEART« bei Sphere, Ort.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe © J. K. Rowling 2022The moral right of the author has been asserted.All characters and events in this publication, other than those clearly in the public domain, are fictitious and any resemblance to real persons, living or dead, is purely coincidental.All rights reserved.No part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted, in any form or by any means, without the prior permission in writing of the publisher, nor be otherwise circulated in any form of binding or cover other than that in which it is published and without a similar conditionincluding this condition being imposed on the subsequent purchaser.Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Tobias Schumacher-Hernández

Covergestaltung: www.buerosued.de nach einer Originalvorlage

Coverdesign und Bilddesign: Duncan Spilling © Little, Brown Book Group Ltd 2022

Szenenfotografie: Figuren – Duncan Spilling

Szene – © iStock und Shutterstock

JaB · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-29931-6V004www.blanvalet.de

Für Steve und Lorna,meine Familie, meine Freundeund zwei Bollwerke gegen die Anomie,in Liebe

Es gibt zwei Formen der Dunkelheit. Die eine ist die Nacht …Und die andere Blindheit.

MARY ELIZABETH COLERIDGEDoubt

PROLOG

Wunden des Herzens sind oft,aber nicht zwingend tödlich.

HENRY GRAY FRSGray’s Anatomy

1

Warum hältst du den Atem an,Wenn dein Blick auf mir ruht?Es darf nicht sein, was nicht sein kann –Als wär es nie passiert.

MARY ELIZABETH COLERIDGEA Moment

Von allen Paaren, die an diesem Donnerstagabend die Rivoli Bar im Ritz besuchten, war dasjenige, das ganz offensichtlich am meisten Spaß miteinander hatte, eigentlich gar keines.

Cormoran Strike und Robin Ellacott – Privatdetektive, Geschäftspartner und nach eigenem Bekunden beste Freunde – feierten Robins dreißigsten Geburtstag. Beiden war beim Betreten der Bar, die mit ihren dunklen Holzwänden, Goldtönen und Lalique-Milchglas wie ein Art-déco-Schmuckkästchen wirkte, etwas unbehaglich zumute gewesen. Nie zuvor in den beinahe fünf Jahren, in denen sie sich nun kannten, hatten sie sich privat verabredet oder außerhalb des beruflichen Rahmens Zeit miteinander verbracht (von dem Krankenbesuch vor ein paar Wochen einmal abgesehen, als Strike seiner Geschäftspartnerin als Wiedergutmachung für die beiden blauen Augen, die er ihr verpasst hatte, ein Curry mitgebracht hatte).

Noch ungewöhnlicher war, dass beide einigermaßen ausgeschlafen, erholt und wie aus dem Ei gepellt erschienen waren. Robin trug ein figurbetontes blaues Kleid, das frisch gewaschene, lange und rotblonde Haar fiel offen um ihre Schultern. Ihrem Geschäftspartner waren die begehrlichen Blicke der männlichen Gäste nicht entgangen, die sie im Vorbeigehen auf sich gezogen hatte. Strike hatte ihr bereits ein Kompliment für den Opalanhänger gemacht, den sie von ihren Eltern zum Geburtstag bekommen hatte. Im goldenen Licht der Rivoli Bar glänzten die kleinen, kreisförmig um den Stein angeordneten Diamanten wie ein Heiligenschein, und bei jeder Bewegung blitzten feuerrote Funken im Inneren des Opals auf, der sich an ihr Kehlgrübchen schmiegte.

Strike trug seinen besten – italienischen – Anzug, dazu ein weißes Hemd und eine dunkle Krawatte. Er hatte sich den erst kürzlich zugelegten Vollbart abrasiert, wodurch seine Ähnlichkeit mit einem plattnasigen, etwas übergewichtigen Beethoven noch größer geworden war. Das freundliche Lächeln der Kellnerin, die Strike den ersten Old Fashioned des Abends brachte, erinnerte Robin an etwas, das Sarah Shadlock, die neue Frau ihres Ex-Manns, einmal über den Detektiv gesagt hatte:

»Auf gewisse Art ist er echt attraktiv, oder nicht? Ein bisschen zerknittert vielleicht, aber mir würde das nichts ausmachen.«

Das war natürlich eine glatte Lüge gewesen: Sarah mochte gepflegte, gut aussehende Männer. Dass sie Matthew beharrlich und letzten Endes erfolgreich nachgestellt hatte, war der beste Beweis dafür.

Sie saßen sich an einem Zweiertisch auf Stühlen mit Leopardenmusterbezug gegenüber. Strike und Robin waren ihrem anfänglichen Unbehagen durch ein Gespräch über die Arbeit begegnet und hatten einen hochprozentigen Cocktail lang die aktuellen Fälle des Detektivbüros diskutiert. Nun zog ihr immer lauteres Lachen die Blicke der Kellner und Gäste auf sich. Robins Augen leuchteten, ihre Wangen waren leicht gerötet, und selbst Strike, der über wesentlich mehr Körpermasse als seine Partnerin verfügte und durchaus als trinkfest zu bezeichnen war, spürte bereits die angenehm anregende und gleichzeitig entspannende Wirkung des Bourbons.

Nach der zweiten Runde wurde die Unterhaltung persönlicher. Strike, der uneheliche Sohn eines Rockstars, dem er erst zweimal in seinem Leben begegnet war, erzählte Robin, dass sich seine ihm bisher unbekannte Halbschwester Prudence mit ihm treffen wollte.

»Wer war Prudence noch mal?«, fragte Robin. Sie wusste, dass Strikes Vater dreimal verheiratet gewesen war, ihr Geschäftspartner jedoch das Resultat eines One-Night-Stands mit einer Frau war, die von der Presse für gewöhnlich als »Supergroupie« bezeichnet wurde. Von Strikes sonstigen Familienverhältnissen hatte sie jedoch nur eine ungefähre Vorstellung.

»Das andere uneheliche Kind«, sagte Strike. »Sie ist ein paar Jahre jünger als ich. Ihre Mutter ist Lindsey Fanthrope. Die Schauspielerin? Sie war überall dabei. EastEnders, The Bill …«

»Und, wirst du Prudence treffen?«

»Ich weiß noch nicht so recht«, gab Strike zu. »Eigentlich habe ich für meinen Geschmack schon genug Verwandtschaft. Außerdem ist sie Therapeutin.«

»Was macht sie genau?«

»Psychoanalyse«, sagte Strike und machte dabei eine so skeptische und verächtliche Miene, dass Robin lachen musste.

»Was ist falsch an Psychotherapie?«

»Keine Ahnung … sie scheint ja auch ganz sympathisch zu sein, allerdings haben wir uns bisher nur SMS geschickt, von daher …« Auf der Suche nach den richtigen Worten schweifte Strikes Blick zu dem Bronzerelief an der Wand hinter Robin, das die nackte Leda zeigte, die soeben von Zeus in Gestalt eines Schwans geschwängert wurde.

»Jedenfalls hatte sie es auch nicht leicht im Leben, mit so einem Vater … Doch dann habe ich herausgefunden, womit sie ihre Brötchen verdient …« Er verstummte und nahm einen Schluck Bourbon.

»Glaubst du, dass sie irgendwelche Spielchen mit dir treibt?«

»Das nicht gerade …« Strike seufzte. »Aber mir haben schon genug Küchenpsychologen erklären wollen, dass ich wegen meiner sogenannten Familie bin, wie ich bin. Prudence hat in einer Nachricht erwähnt, wie ›heilsam‹ es gewesen sei, Rokeby zu vergeben … ach, egal. Du hast Geburtstag, also reden wir über deine Familie. Was macht dein Dad eigentlich beruflich? Ich glaube, das hast du mir noch nie erzählt, oder?«

»Wirklich nicht?«, fragte Robin erstaunt. »Er ist Professor für Schafmedizin. Reproduktion und Aufzucht.«

Strike verschluckte sich an seinem Cocktail.

Robin hob die Augenbrauen. »Was ist daran so lustig?«

»Entschuldige«, krächzte Strike, der gleichzeitig lachte und hustete. »Damit hatte ich nicht gerechnet.«

»Er ist eine Koryphäe auf seinem Gebiet, nur damit du’s weißt«, teilte ihm Robin in gespielter Empörung mit.

»Professor für Schaf… wie war das noch?«

»Schafmedizin. Reproduktion und Aufzucht. Warum ist das so witzig?«, fragte Robin, als Strike ein weiteres Mal in Gelächter ausbrach.

»Keine Ahnung, vielleicht wegen der … Reproduktion«, sagte Strike. »Oder den Schafen.«

»Seine Titel haben insgesamt sechsundvierzig Buchstaben«, sagte sie. »Ich habe sie als Kind mal gezählt.«

»Sehr beeindruckend.« Strike nahm noch einen Schluck und bemühte sich um einen ernsten Gesichtsausdruck. »Woher kommt sein Interesse für Schafe? Ist das etwas aus der Kindheit, oder gab es da mal ein ganz besonderes Schaf, das …«

»Strike, er vögelt nicht mit ihnen.«

Wieder lachte der Detektiv so laut, dass sich mehrere Gäste nach ihm umdrehten.

»Den Familienbauernhof hat sein älterer Bruder übernommen, also hat Dad in Durham Tiermedizin studiert. Und ja, er hat sich spezialisiert auf … Hör auf zu lachen! Außerdem gibt er eine Zeitschrift heraus.«

»Aber doch nicht über Schafe, oder?«

»Doch. Schafhaltung aktuell«, sagte Robin. »Und bevor du fragst: Nein, es gibt keine Fotostrecke vom ›Schaf des Monats‹.«

Diesmal war Strikes bellendes Lachen in der ganzen Bar zu hören.

»Reiß dich zusammen«, sagte Robin, die die Blicke der Gäste auf sich ruhen spürte, grinste aber weiter. »Sonst bekommen wir hier auch noch Hausverbot.«

»Meines Wissens haben wir in der American Bar kein Hausverbot, oder?«

Strikes Erinnerung an die Ereignisse, die auf einen erfolglosen Versuch seinerseits gefolgt waren, einem Verdächtigen im Stafford Hotel einen Kinnhaken zu verpassen, war etwas getrübt. Verantwortlich dafür war jedoch nicht der Alkohol, sondern die blinde Wut gewesen, die ihn übermannt hatte.

»Na ja, vielleicht nicht direkt. Trotzdem bezweifle ich, dass sie dich dort mit offenen Armen empfangen würden«, sagte Robin und nahm sich die letzte Olive aus der Schale, die man ihnen mit dem ersten Drink serviert hatte. Die Kartoffelchips hatte Strike bereits vernichtet.

»Charlottes Vater hatte Schafe«, sagte Strike, und wie immer, wenn er seine Ex-Verlobte erwähnte – was selten genug vorkam –, regte sich die Neugier in ihr.

»Wirklich?«

»Ja, auf Arran«, sagte Strike. »Er und seine dritte Frau hatten dort ein riesiges Anwesen. Die Schafe waren so eine Art Hobby von ihm oder vielleicht auch ein Abschreibemodell. Ich fand sie ziemlich gruselig – die Schafe, meine ich. Die Rasse fällt mir nicht mehr ein, aber sie waren schwarz-weiß mit großen Hörnern und gelben Augen.«

»Vielleicht Jakobschafe«, sagte Robin. »In meinem Elternhaus lagen immer stapelweise Ausgaben von Schafhaltung aktuell auf dem Klo, ich bin also mit den verschiedenen Schafrassen bestens vertraut«, schob sie hinterher, als sie sein Schmunzeln bemerkte. »Wie ist es auf Arran so?«, fragte sie und meinte damit eigentlich: Wie ist Charlottes Familie so?

»Ganz nett, soweit ich mich erinnere. Ich war nur einmal dort und wurde kein zweites Mal eingeladen. Charlottes Vater war nicht besonders gut auf mich zu sprechen.«

»Wieso das?«, fragte Robin.

Strike trank seinen Cocktail aus, bevor er antwortete. »Aus verschiedenen Gründen, in erster Linie aber wahrscheinlich, weil seine Frau mich verführen wollte.«

Das überraschte Keuchen, das Robin ausstieß, war lauter als beabsichtigt.

»Ja. Ich war so etwa zweiundzwanzig, dreiundzwanzig und sie mindestens vierzig. Sehr attraktiv, wenn man auf den kokaindürren Typ steht.«

»Wie … was …?«

»Wir verbrachten das Wochenende auf Arran. Scheherazade – so hieß die Stiefmutter – und Charlottes Vater haben immer viel getrunken. Aber die halbe Familie hatte ja irgendwelche Drogenprobleme, die Stiefschwestern und Halbbrüder sowieso.

Wir saßen nach dem Abendessen in feuchtfröhlicher Runde zusammen. Charlottes Vater war von vornherein nicht besonders angetan von mir – er hätte sich wohl etwas Blaublütigeres gewünscht. Deshalb hatten Charlotte und ich auch getrennte Zimmer auf verschiedenen Stockwerken.

So gegen zwei Uhr nachts ging ich hinauf in meine Dachkammer. Ich war sternhagelvoll, fiel sofort ins Bett und machte das Licht aus. Ein paar Minuten später ging die Tür auf. Charlotte, dachte ich natürlich. Es war stockdunkel. Ich rutschte rüber, sie legte sich neben mich …«

Robin bemerkte, dass ihr Mund offen stand, und schloss ihn.

»… und zwar splitterfasernackt. Ich rührte mich nicht, immerhin hatte ich fast eine ganze Flasche Whisky intus. Sie … also … sie hat sich mir genähert, wenn du verstehst …«

Robin schlug eine Hand vor den Mund.

»… und wir haben uns geküsst. Sie flüsterte mir zu, sie hätte bemerkt, dass ich ihre Brüste bewundert habe, als sie sich übers Feuer beugte. Da erst kapierte ich, dass ich mit der Dame des Hauses im Bett lag. Und nur fürs Protokoll: Ihre Titten haben mich nicht interessiert. Sie wollte ein Scheit nachlegen und war so betrunken, dass ich befürchtete, sie würde dabei ins Feuer fallen.«

»Wie hast du reagiert?«

»Ich bin aus dem Bett gesprungen, als hätte jemand ein Feuerwerk in meinem Arsch gezündet«, sagte Strike. Robin lachte wieder. »Dabei bin ich gegen den Waschtisch gestoßen und habe ihn zusammen mit einem riesigen viktorianischen Krug umgestoßen. Sie hat nur gekichert. Sie hat wohl gedacht, dass ich wieder zu ihr ins Bett springen würde, sobald sich mein Schock etwas gelegt hatte. Ich war gerade dabei, im Dunkeln nach meiner Unterhose zu suchen, als die Tür wieder aufging. Und diesmal war es tatsächlich Charlotte.«

»Ach du meine Güte.«

»Sie war – gelinde gesagt – nicht besonders erfreut, mich und ihre Stiefmutter nackt in demselben Zimmer vorzufinden«, sagte Strike. »Sie wusste nicht, wen sie zuerst umbringen sollte. Ihr Geschrei hat Sir Anthony geweckt. Er lief in seinem Brokatmorgenmantel die Treppe rauf, aber weil er so voll war, hatte er ihn nicht richtig zugebunden. Er schaltete das Licht an und stand mit einem Jagdstock in der Hand vor uns. Erst als seine Frau ›Anthony, man kann den kleinen Butzemann sehen‹ sagte, merkte er, dass sein Schwanz herausguckte.«

Nun musste Robin so laut lachen, dass Strike erst fortfahren konnte, als sie sich einigermaßen beruhigt hatte. Ein grauhaariger Mann am Tresen zu seiner Linken beobachtete Robin mit einem lüsternen Lächeln auf den Lippen.

»Und dann?«, keuchte Robin und wischte sich die Augen mit der winzigen Serviette ab, die man ihr zu ihrem Getränk gereicht hatte.

»Wenn ich mich recht erinnere, machte Scheherazade keine Anstalten, sich zu rechtfertigen. Im Gegenteil, sie fand das alles ziemlich komisch. Charlotte wollte auf sie losgehen, ich hielt sie zurück, und Sir Anthony kam zu dem Schluss, dass alles meine Schuld war, weil ich mein Zimmer nicht abgeschlossen hatte. Charlotte war da wohl ganz ähnlicher Ansicht. Was soll ich sagen? Das Nomadenleben mit meiner Mutter hatte mich nicht auf das absonderliche Verhalten der Aristokratie vorbereitet. Alles in allem muss ich aber feststellen, dass die Mitbewohner in den Bruchbuden, in denen meine Mutter mit mir hauste, eine bessere Kinderstube genossen hatten.«

Er hob die Hand, um bei der lächelnden Kellnerin die nächste Runde zu bestellen. Robin, der vom vielen Lachen das Zwerchfell schmerzte, stand auf.

»Ich muss mal«, sagte sie, immer noch etwas außer Atem. Der grauhaarige Mann sah ihr hinterher, als sie zur Toilette ging.

Die Cocktails waren zwar klein, aber dafür ziemlich stark. Robin, die einen Großteil ihres Lebens damit verbrachte, in Turnschuhen Verdächtige zu beschatten, war die High Heels nicht mehr gewöhnt und musste sich auf der mit einem roten Läufer ausgelegten Treppe, die zur Damentoilette hinunterführte, am Geländer festhalten. Dann betrat sie die prächtigste Bedürfnisanstalt, die sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Alles war in sanftem Erdbeermacaronrosa gehalten. Die kreisrunden Waschbecken waren aus Marmor, der Bezug des Sofas gegenüber aus Samt. Die Wandmalereien stellten Nymphen in von Seerosen bedeckten Teichen dar.

Als sie fertig war, zupfte Robin ihr Kleid zurecht und überprüfte ihre Wimperntusche, die entgegen ihrer Erwartung nicht verschmiert war. Beim Händewaschen dachte sie über die Geschichte nach, die ihr Strike gerade erzählt hatte und die zweifellos lustig, aber auch etwas einschüchternd gewesen war. Im Laufe ihrer Tätigkeit als Detektivin hatte sie eine Vielzahl seltsamer Vorlieben kennengelernt, nicht wenige davon sexueller Natur. Dennoch kam sie sich im Vergleich zu anderen Frauen ihres Alters gelegentlich unerfahren und ahnungslos vor. Wilde Liebesabenteuer konnte sie jedenfalls keine vorweisen. Robin hatte bislang nur einen einzigen Sexualpartner gehabt, was nicht zuletzt daran lag, dass sie bessere Gründe als die meisten Frauen hatte, nur mit jemandem ins Bett zu gehen, dem sie auch vertraute. Schuld daran war ein mittelalter Mann mit einer von einer Vitiligo herrührenden weißen Hautstelle unter dem linken Ohr, der vor Gericht behauptet hatte, die neunzehnjährige Robin habe ihn in ein dunkles Treppenhaus gelockt, weil sie Sex mit ihm wollte, und dass er sie nur deshalb beinahe bis zur Bewusstlosigkeit gewürgt habe, weil sie es »so richtig hart« gewollt hätte.

»Ich glaube, ich steige auf Wasser um«, verkündete Robin fünf Minuten später, als sie sich wieder auf ihren Stuhl fallen ließ. »Die Cocktails hier sind nicht von schlechten Eltern.«

»Zu spät«, sagte Strike. Die Kellnerin stellte bereits den nächsten Drink vor ihnen ab. »Wie wär’s mit einem Sandwich, um den Alkohol aufzusaugen?«

Er reichte ihr die Speisekarte. Die Preise waren astronomisch.

»Oh nein, also …«

»Heute habe ich die Spendierhosen an. Sonst hätte ich dich gar nicht erst ins Ritz eingeladen«, sagte Strike mit einer weit ausholenden Handbewegung. »Ich hätte ja eine Torte bestellt, aber …«

»Ilsa hat bereits eine für morgen gemacht?«, mutmaßte Robin.

Ihre gemeinsame Freundin hatte Robin für den morgigen Abend zu sich eingeladen, um den Dreißigsten mit ein paar guten Bekannten zu feiern.

»Richtig. Aber das ist geheim, also tu so, als wüsstest du von nichts. Wer kommt morgen denn noch alles?«, fragte Strike, der ein vages Interesse daran verspürte, ob es sich um – insbesondere männliche – Gäste handelte, die er noch nicht kannte.

Robin zählte die geladenen Paare auf.

»… und dann noch du und ich«, schloss sie.

»Wer ist denn Richard?«

»Max’ neuer Freund«, sagte Robin. Max war ihr Mitbewohner. Der Schauspieler hatte ein Zimmer an sie untervermietet, da er sich sonst die Raten für seine Wohnung nicht hätte leisten können. »Allmählich wird es wohl Zeit, dass ich ausziehe«, fügte sie hinzu.

Die Kellnerin kam an ihren Tisch. Strike bestellte Sandwiches für sich und Robin. »Wieso willst du ausziehen?«, fragte er.

»Max hat eine ziemlich gut bezahlte Rolle in einer Fernsehserie, und gerade wurde eine zweite Staffel in Auftrag gegeben. Zwischen Richard und ihm läuft es richtig gut. Ich will nicht so lange warten, bis sie mich rauswerfen. Außerdem« – Robin nahm einen Schluck von ihrem Cocktail – »bin ich jetzt dreißig. Höchste Zeit für was Eigenes, findest du nicht?«

Strike zuckte mit den Schultern. »Mir ist es egal, ob man zu einem bestimmten Alter dies oder das erreicht hat. Für solche Sachen ist Lucy zuständig.«

Lucy war die Schwester, mit der er den größten Teil seiner Kindheit verbracht hatte, da sie dieselbe Mutter hatten. Normalerweise waren er und Lucy diametral entgegengesetzter Ansicht, was die Freuden und Pflichten des Lebens anging. Sie war zutiefst besorgt darüber, dass Strike immer noch allein in einer winzigen Dachwohnung über seinem Büro hauste und, genau wie ihre gemeinsame Mutter, alltäglichen Verpflichtungen – wie ein Ehepartner, Kinder, ein Eigenheim, Elternabende oder die obligatorischen Weihnachtsfeiern mit den Nachbarn – nichts abgewinnen konnte.

»Ich werde mir eine eigene Wohnung suchen, jawohl«, sagte Robin. »Wolfgang werde ich zwar vermissen, aber …«

»Wer ist Wolfgang?«

»Max’ Dackel«, sagte Robin, überrascht von dem Verhörton, den Strike angeschlagen hatte.

»Ach so … ich dachte schon, du hättest dich in einen Deutschen verguckt.«

»Haha … nein«, sagte Robin. Sie war wirklich sehr betrunken. Hoffentlich halfen die Sandwiches. »Nein«, wiederholte sie. »Max will mich nicht mit einem Deutschen verkuppeln. Womit er eine angenehme Ausnahme darstellt.«

»Wieso, wer versucht denn noch, dich mit einem Deutschen zu verkuppeln?«

»Nicht unbedingt mit einem Deutschen, aber … ach, du weißt ja, wie das ist. Vanessa sagt mir ständig, dass ich Tinder ausprobieren soll. Und meine Cousine Katie will mich einem Bekannten vorstellen, der gerade nach London gezogen ist. Sein Spitzname ist ›Axeman‹.«

»Axeman«, wiederholte Strike.

»Ja, weil sein richtiger Name irgendwie … so ähnlich klingt. Ich weiß nicht mehr so genau.« Robin machte eine vage Handbewegung. »Er hat gerade eine Scheidung hinter sich, und Katie ist der Meinung, dass wir wie füreinander gemacht sind. Ich weiß nicht, wieso zwei Menschen zueinander passen sollen, nur weil beide eine Ehe in den Sand gesetzt haben. Im Gegenteil, das …«

»Du hast deine Ehe nicht in den Sand gesetzt«, sagte Strike.

»Doch«, widersprach Robin. »Ich hätte Matthew überhaupt nicht heiraten dürfen. Das Ganze stand von Anfang an unter einem schlechten Stern und wurde nur immer schlimmer.«

»Er hat dich betrogen.«

»Und ich wollte überhaupt nicht mit ihm zusammen sein. Eigentlich wollte ich schon in den Flitterwochen Schluss machen, aber ich habe mich nicht getraut …«

»Wirklich?«, fragte Strike. Das war ihm neu.

»Ja«, sagte Robin. »Tief im Inneren habe ich gewusst, dass … dass es falsch war.« Einen Moment lang fühlte sie sich auf die Malediven zurückversetzt, in eine jener warmen Nächte, in denen Matthew schon zu Bett gegangen und sie allein den weißen Sandstrand entlangspaziert war und sich gefragt hatte, ob sie in Cormoran Strike verliebt war.

Die Sandwiches kamen. Robin bestellte ein Glas Wasser.

»Mit Tinder würde ich es nicht versuchen«, sagte Strike, nachdem sie eine Minute lang schweigend gegessen hatten.

»Soll das bedeuten, dass du es nicht versuchen würdest oder dass ich es nicht versuchen soll?«

»Beides«, sagte Strike. Er hatte bereits ein Sandwich verschlungen und machte sich über das nächste her, während Robin gerade einmal zwei Bissen geschafft hatte. »In unserer Branche ist es von Vorteil, online so wenige Spuren wie möglich zu hinterlassen.«

»Das habe ich Vanessa auch gesagt. Aber sie hat gemeint, dass ich mich unter falschem Namen anmelden soll, bis ich jemand Vertrauenswürdiges gefunden habe.«

»Nichts ist vertrauensbildender als eine falsche Identität«, sagte Strike und brachte Robin damit abermals zum Lachen.

Sie legte keinen Widerspruch ein, als er eine weitere Runde bestellte. Inzwischen war es in der Bar voller und lauter geworden. Die Kristallkronleuchter waren von einem trüben Schimmer umgeben. Robin empfand eine freundschaftliche Verbundenheit mit allen Anwesenden, von dem älteren Paar, das sich leise bei Champagner miteinander unterhielt, über die emsigen Kellner in ihren weißen Jacketts bis hin zu dem grauhaarigen Mann, der sie anlächelte. Doch am allermeisten mochte sie Cormoran Strike, dem sie diesen wunderbaren, unvergesslichen und kostspieligen Abend zu verdanken hatte.

Strike hatte seinerzeit Scheherazade Campbells Brüste tatsächlich nicht angestarrt und versuchte nun nach Kräften, seiner Geschäftspartnerin gegenüber ebenso viel Anstand zu wahren, obwohl sie zugegebenermaßen noch nie so gut ausgesehen hatte: Ihre Wangen waren von Alkohol und Gelächter gerötet, ihr rotblondes Haar glänzte im Schein der goldenen Kuppel über ihnen. Sie beugte sich vor, um etwas vom Boden aufzuheben. Der Opal baumelte vor ihrem tiefen Ausschnitt.

»Jetzt will ich das Parfüm mal ausprobieren«, sagte sie mit der kleinen lila Tüte in der Hand, die Strikes bei Liberty erworbenes Geburtstagsgeschenk enthielt.

Sie öffnete die Schleife und zog das rechteckige, cremefarbene Fläschchen aus seiner Zellophanverpackung. Dann sprühte sie ein klein wenig auf jedes Handgelenk und – Strike zwang sich dazu, woanders hinzusehen – in den Ausschnitt.

Sie hielt sich das Handgelenk vor die Nase. »Ganz großartig. Vielen Dank.«

Ein Hauch waberte zu ihm herüber: Obwohl sein Geruchssinn unter dem langjährigen Tabakkonsum gelitten hatte, nahm er Rosenduft und darunter eine Moschusnote wahr, die ihn an von der Sonne gewärmte nackte Haut denken ließ.

Die nächste Runde kam.

»Das Wasser hat sie wohl vergessen«, sagte Robin und nahm einen Schluck von ihrem Manhattan. »Das ist jetzt aber der letzte. Ich bin die High Heels nicht mehr gewöhnt und will nicht mitten im Ritz auf die Schnauze fallen.«

»Ich ruf dir ein Taxi.«

»Du hast schon genug ausgegeben.«

»Zur Abwechslung geht’s uns finanziell ganz gut«, sagte Strike.

»Ich weiß … ist das nicht toll?« Robin seufzte. »Wir haben Geld auf der Bank und jede Menge Aufträge … Strike, wir haben’s geschafft«, sagte sie mit einem strahlenden Lächeln, und er strahlte zurück.

»Ja, wer hätte das gedacht.«

»Ich schon«, sagte Robin.

»Als wir uns kennengelernt haben, war ich kurz vor dem Ruin, hatte nur einen Klienten und habe auf einer Campingliege in meinem Büro geschlafen.«

»Na und? Dass du nicht aufgegeben hast, hat mir sehr imponiert«, sagte Robin. »Außerdem wusste ich ja, dass du dein Handwerk verstehst.«

»Ach ja? Woher denn?«

»Ich hab dir dabei zugesehen.«

»Weißt du noch, wie du mir und John Bristow an deinem ersten Tag Kaffee und Kekse gebracht hast?«, fragte Strike. »Ich wusste beim besten Willen nicht, wo du das Zeug aufgetrieben hast. Das war wie ein Zaubertrick.«

Robin lachte. »Ich hab einfach nur den Typen eine Etage tiefer gefragt.«

»Und du hast ›wir‹ gesagt. ›Ich dachte mir, wenn wir unserem Klienten schon Kaffee anbieten, sollten wir ihm auch wirklich einen bringen.‹«

»Du und dein außergewöhnliches Gedächtnis«, sagte Robin schwer beeindruckt, weil er sich den exakten Wortlaut gemerkt hatte.

»Na ja, du … also, du bist ja auch eine außergewöhnliche Person«, sagte Strike. Er hob sein beinahe leeres Glas. »Auf die Detektei Strike und Ellacott. Und alles Gute zum Dreißigsten.«

Robin ließ ihr Glas gegen seines klirren und leerte es. Dabei streifte ihr Blick ihre Uhr. »Ach du Scheiße, schon so spät? Ich muss um fünf Uhr aufstehen und den Freund von Miss Jones observieren.«

»Ja, stimmt«, grunzte Strike, der gerne noch ein paar Stunden auf seinem bequemen Stuhl im goldenen Licht der Bar gesessen und den gelegentlichen Hauch von Rose und Moschus geschnuppert hätte. Er winkte der Kellnerin.

Wie befürchtet konnte Robin auf dem Weg durch die Bar auf den hohen Absätzen nur mühsam das Gleichgewicht halten, und die Garderobenmarke aus den Tiefen ihrer Handtasche zu fischen dauerte auch viel länger als gedacht.

»Kannst du das mal bitte halten?« Sie hielt Strike die Tüte mit dem Parfüm hin.

Strike musste ihr in den Mantel helfen.

»Ich bin definitiv ziemlich betrunken«, murmelte Robin, nahm die kleine lila Tüte mit dem Parfüm wieder an sich und unterstrich diese Feststellung, indem sie über den runden roten Teppich auf dem Marmorboden der Lobby stolperte und zur Seite wegrutschte. Strike fing sie auf und führte sie, die Hand um ihre Hüfte gelegt, aus dem Hotel. Um weitere Missgeschicke zu vermeiden, nahm er dabei nicht die Drehtür, sondern einen der flankierenden Eingänge.

»Tut mir leid«, sagte Robin, während sie vorsichtig die Treppe vor dem Ritz hinuntergingen. Strikes Arm lag noch immer um ihre Hüfte. Sie genoss das Gefühl seines massigen, warmen Körpers an ihrer Seite: Weitaus öfter war sie es gewesen, die ihn gestützt hatte, weil ihm der Stumpf seines rechten Beines nach einer leichtsinnigen Überbeanspruchung den Dienst versagt hatte. Er zog sie so fest an sich, dass ihr Kopf beinahe auf seiner Brust ruhte. Durch den vertrauten, abgestandenen Zigarettengeruch hindurch nahm sie das Aftershave wahr, das er zu diesem besonderen Anlass aufgelegt hatte.

»Da«, sagte Strike und deutete auf ein schwarzes Taxi, das langsam auf sie zurollte.

»Strike.« Robin legte den Kopf in den Nacken, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Sein Arm lag immer noch um ihre Hüfte.

Sie wollte sich bei ihm für den wundervollen Abend bedanken, doch als sich ihre Blicke trafen, brachte sie kein Wort heraus. Für einen Sekundenbruchteil verschwamm alles um sie herum. Als befänden sie sich im Auge eines Tornados, der die brummenden Autos und vorbeiziehenden Lichter, die Passanten und den mit Wolken gesprenkelten Himmel wie in Zeitlupe um sie kreisen ließ. Nur die Berührung und der Duft des anderen waren real. Strike blickte sie an. In diesem Moment fiel die feste Entschlossenheit von fast fünf Jahren von ihm ab, und er senkte beinahe unmerklich den Kopf, sodass sich sein Mund ein winziges Stück dem ihren näherte.

Unwillkürlich veränderte sich der Ausdruck auf Robins Gesicht von Freude zu Angst. Er bemerkte es, richtete sich wieder auf, und noch bevor sie so richtig verstanden hatten, was gerade passiert war, holte sie das röhrende Motorrad eines Kurierfahrers ins Hier und Jetzt zurück. Der Wirbelsturm hatte sich wieder gelegt. Strike führte Robin zum Taxi, öffnete ihr die Tür. Sie fiel auf die harte Sitzbank.

»Gute Nacht«, rief er noch in den Wagen, dann fiel die Tür zu, und das Taxi fuhr los, noch bevor sich die verdatterte Robin im Klaren darüber war, ob sie nun Schock, Erleichterung oder Bedauern empfand.

2

Vom ew’gen Leben spreche ich mit dir,Mein eigen’ Herz, du tiefster Teil von mir!

MARIA JANE JEWSBURYTo My Own Heart

Für Robin folgten auf den Abend im Ritz unruhige und angespannte Tage. Sie war sich vollkommen im Klaren darüber, dass Strike eine stumme Frage gestellt hatte, auf die sie ihm mit einem ebenso stummen »Nein« geantwortet hatte. Dabei hatten Überraschung, Bourbon und Wermut dafür gesorgt, dass es ziemlich deutlich ausgefallen war. Seitdem war Strike spürbar auf Distanz gegangen, legte eine etwas gezwungen wirkende Heiterkeit an den Tag und vermied konsequent alle persönlichen Gesprächsthemen. Die Mauer, die sie in den fünf Jahren ihrer Zusammenarbeit langsam abgetragen hatten, ragte aufs Neue zwischen ihnen auf. Robin befürchtete, Strike tief verletzt zu haben, und sie wusste auch, dass dazu bei einem so selbstbestimmten und souveränen Mann wie ihm eine Menge nötig war.

Strike machte sich unterdessen schwere Vorwürfe. Was hatte ihn zu einer so törichten Handlung mit ungewissem Ausgang bewogen? Die Erkenntnis, dass eine Beziehung mit seiner Geschäftspartnerin unmöglich war, hatte ihn doch schon vor Monaten ereilt. Sie verbrachten viel Zeit zusammen und waren als gleichberechtigte Inhaber der Detektei auch geschäftlich miteinander verbunden. Ihre Freundschaft war ihm zu wichtig, um sie aufs Spiel zu setzen. Warum also hatte er im goldenen Schimmer dieser sündhaft teuren Cocktails alle guten Vorsätze über Bord geworfen und sich hinreißen lassen?

Zu den Selbstvorwürfen gesellten sich noch unangenehmere Gefühle. Strike wurde nur selten von einer Frau zurückgewiesen, da er über eine außergewöhnliche Menschenkenntnis verfügte und sich erst aus der Deckung wagte, wenn er sich sicher war, dass seine Avancen von Erfolg gekrönt sein würden. Doch so wie Robin hatte noch keine Frau auf ihn reagiert: mit Entsetzen und – wie Strike in besonders finsteren Augenblicken glaubte – Abscheu. Trotz seiner krummen Nase, dem Übergewicht, dem fehlenden Bein und der dichten dunklen Locken, die bereits seine Schulkameraden mit Schamhaar verglichen hatten, war es ihm stets gelungen, bei den hübschesten Frauen zu landen. Seine männlichen Bekannten, denen Strikes Sexappeal ein Rätsel war, hatten des Öfteren ihrem Neid oder ihrem Erstaunen über sein erfülltes Sexleben Ausdruck verliehen. War er deshalb aus Überheblichkeit der Illusion verfallen, dass die Anziehungskraft, die er auf seine Verflossenen ausgeübt hatte, niemals schwand, auch wenn sein morgendlicher Husten immer schlimmer wurde und sich die ersten grauen Haare im dunkelbraunen Schopf zeigten?

Schlimmer noch war die Vorstellung, dass er Robins Gefühle jahrelang komplett missverstanden hatte. Er war davon ausgegangen, dass ihr Unbehagen in Situationen, in denen sie sich körperlich oder emotional nahe gewesen waren, genau wie bei ihm auf dem festen Entschluss gründete, der Versuchung nicht nachzugeben. Von allen Ereignissen, die er sich in den Tagen nach der stummen Zurückweisung seines Kusses in Erinnerung rief und die seiner Meinung nach Beweis ihrer gegenseitigen Zuneigung waren, beschäftigte ihn eines ganz besonders: Sie hatte Matthew mitten in ihrem Hochzeitstanz allein auf der Tanzfläche stehen lassen, um ihm hinterherzulaufen. Sie hatten sich am oberen Ende der Hoteltreppe umarmt, und als er sie im Hochzeitskleid in den Armen gehalten hatte, hätte er schwören können, denselben Gedanken in ihrem Kopf zu hören, der auch den seinen vollständig ausfüllte: Laufen wir einfach davon und scheren wir uns nicht um die Konsequenzen. Hatte er sich das alles nur eingebildet?

Vielleicht. Vielleicht war Robin ja nur deshalb von der Tanzfläche gerannt, weil sie London und ihre Arbeit nicht hatte aufgeben wollen. Vielleicht war er Mentor und Freund für sie, aber nichts weiter.

In dieser aufgewühlten, finsteren Stimmung beging Strike seinen vierzigsten Geburtstag. Nick und Ilsa, die schon Robins Feier organisiert hatten, kümmerten sich um ein dem Anlass angemessenes Lokal.

Bei dieser Gelegenheit lernte Robin auch Dave Polworth kennen, Strikes ältesten Freund aus Cornwall. Strike hatte einst vorhergesagt, dass sie ihn nicht würde ausstehen können, und er behielt recht. Polworth war ein kleiner, mitteilsamer Mann, der jeden Aspekt des Großstadtlebens mit einer negativen Bemerkung bedachte und die anwesenden Frauen inklusive der sie bedienenden Kellnerin als »Tussis« bezeichnete. Robin, die Strike gegenüber am anderen Ende des Tisches platziert worden war, unterhielt sich den Großteil des Abends pflichtschuldig mit Polworths Frau Penny, die wenn nicht über ihre beiden Kinder, dann darüber sprach, wie teuer alles in London war und was ihr Ehemann für ein Trottel sei.

Robin hatte für Strike eine Testpressung von Tom Waits’ Debütalbum Closing Time aufgetrieben. Waits war sein Lieblingsmusiker, und der Ausdruck von aufrichtiger Überraschung und Freude auf Strikes Gesicht, als er ihr Geschenk auspackte, war für sie der schönste Moment des Abends. Als er sich bedankte, glaubte sie, etwas von der früheren Wärme zu spüren, und hoffte, dass die Schallplatte die Botschaft übermittelte, dass eine Frau, die ihn widerwärtig fand, wohl kaum so viel Zeit und Mühe darauf verwandt hätte, derart sorgfältig ein Geschenk auszusuchen, das ihm auch wirklich gefiel. Sie ahnte nicht, dass sich Strike währenddessen insgeheim fragte, ob Robin ihn und den vierundsechzigjährigen Waits für Altersgenossen hielt.

Eine Woche nach Strikes Geburtstag nahm Andy Hutchins, der freie Mitarbeiter, der am längsten für das Detektivbüro tätig war, seinen Hut. Das kam nicht überraschend: Seine Multiple Sklerose befand sich zwar in Remission, der anstrengende Job forderte dennoch einen zu hohen Tribut. Die Detektei spendierte eine Abschiedsparty in einem Pub. Alle kamen – bis auf Sam Barclay, der andere freie Mitarbeiter. Er hatte den Kürzeren gezogen und beschattete eine Zielperson im West End.

Während Strike und Hutchins an einem Ende des Tisches miteinander fachsimpelten, unterhielt sich Robin am anderen mit dem jüngsten Neuzugang der Detektei: Michelle Greenstreet, eine ehemalige Polizistin aus Manchester, die darauf bestand, von allen Midge genannt zu werden. Sie war groß, schlank und durchtrainiert, hatte kurzes, zurückgegeltes dunkles Haar und hellgraue Augen. Als sich die Fitnessfanatikerin einmal nach einem im obersten Regal stehenden Ordner gestreckt hatte, hatte der Anblick ihres Sixpacks zwar leichte Selbstzweifel in Robin aufkommen lassen, aber sie mochte Midges direkte Art und die Tatsache, dass sie Robin für voll nahm, obwohl sie als einzige Ermittlerin weder bei der Polizei noch beim Militär gewesen war. Und nun vertraute Midge ihr sogar an, dass der Hauptgrund für ihren Umzug nach London die Trennung von ihrer Freundin gewesen war.

»War deine Ex auch Polizistin?«

»Ach, woher. Die hat doch nie länger als ein paar Monate am Stück gearbeitet«, sagte Midge mit mehr als nur einer Spur Verbitterung. »Sie hält sich für ein unentdecktes Genie und wird ganz sicher bald einen Bestseller schreiben oder ein Bild malen, mit dem sie den Turner Prize gewinnt. Ich hab mir den ganzen Tag den Arsch aufgerissen, damit wir die Rechnungen bezahlen konnten, und sie hat daheim rumgesessen und im Scheißinternet gesurft. Als ich ihr Datingprofil auf Zoosk gesehen habe, war’s endgültig aus.«

»Oje, das tut mir leid«, sagte Robin. »Meine Ehe war zu Ende, als ich einen Brillantohrstecker in unserem Bett gefunden habe.«

»Ja, das hat mir Vanessa schon erzählt«, sagte Midge, die sich auf Empfehlung der mit Robin befreundeten Polizistin bei der Detektei beworben hatte. »Und sie hat auch gesagt, dass du ihn noch nicht mal behalten hast, du dumme Nuss.«

»Ich an deiner Stelle hätte ihn ja verkauft«, krächzte Pat Chauncey unvermittelt in die Unterhaltung hinein. Pat war siebenundfünfzig und hatte schuhcremeschwarzes Haar, Zähne wie altes Elfenbein und eine Stimme wie Sandpapier. Außerhalb des Büros rauchte sie Kette, am Schreibtisch sog sie unablässig an ihrer elektronischen Zigarette. »Mir hat mal eine die Unterhose von meinem ersten Mann mit der Post geschickt. Dreist, oder?«

»Ernsthaft?«, fragte Midge.

»Allerdings«, knurrte Pat.

»Wie hast du reagiert?«, fragte Robin.

»Ich hab sie an die Haustür gehängt, sodass er sie gleich gesehen hat, wie er von der Arbeit nach Hause gekommen ist«, sagte Pat und nahm einen tiefen Zug von der E-Zigarette. »Außerdem habe ich ihr etwas zurückgeschickt, das sie bestimmt niemals vergessen hat.«

»Was denn?«, fragten Robin und Midge wie aus einem Mund.

»Ich sage nur so viel: Auf einen Toast lässt es sich nicht so einfach streichen.«

Das laute Gelächter der drei Frauen erregte Strikes und Hutchins’ Aufmerksamkeit. Strike sah zu Robin hinüber, die seinen Blick grinsend erwiderte. Als er sich wieder abwandte, war er so gut gelaunt wie seit einer ganzen Weile nicht.

Andys Weggang bedeutete einmal mehr eine zusätzliche Last für die Detektei, da derzeit mehrere zeitintensive Fälle parallel bearbeitet werden mussten. Beim ersten und langwierigsten Fall sollten sie im Auftrag der Klientin, der sie den Codenamen »Miss Jones« verpasst hatten, belastendes Material über ihren Ex-Freund zusammentragen. Die gut aussehende Brünette, die Strike in einer Weise nachstellte, die schon als peinlich zu bezeichnen war, focht gerade einen erbitterten Streit um das Sorgerecht für ihre kleine Tochter aus. Der Selbstbewusstseinsschub, den ihm ihr energisches Werben verschaffte, erhielt jedoch durch die für seinen Geschmack völlig unattraktive Mischung aus Anspruchshaltung und Notgeilheit einen empfindlichen Dämpfer.

Der zweite Klient war auch der reichste: Ein russisch-amerikanischer Milliardär, der zwischen Moskau, New York und London hin- und herpendelte. Vor Kurzem waren mehrere äußerst wertvolle Gegenstände aus seinem Haus in der South Audley Street verschwunden. Die Alarmanlage war nicht ausgelöst worden, weshalb der Milliardär seinen in London ansässigen Stiefsohn in Verdacht hatte. Er wollte den jungen Mann auf frischer Tat ertappen, ohne dass die Polizei oder seine Frau – die ihren feierwütigen und arbeitslosen Sprössling für ein verkanntes Genie hielt – etwas mitbekam. Die Detektive hatten überall im Haus Überwachungskameras versteckt, außerdem wurde der Stiefsohn, der intern unter dem Codenamen »Finger« firmierte, für den Fall, dass er versuchte, das gestohlene Fabergé-Schmuckkästchen oder die hellenistische Büste Alexanders des Großen zu verkaufen, pausenlos beschattet.

Der letzte Fall war nach Robins Dafürhalten besonders widerwärtig. Die bekannte Auslandskorrespondentin eines amerikanischen Nachrichtensenders hatte nach drei Jahren ihre Beziehung zu einem ebenso erfolgreichen TV-Produzenten – Codename: »Groomer« – beendet. Kurz nach der recht hässlichen Trennung hatte die Journalistin herausgefunden, dass ihr Ex immer noch Kontakt zu ihrer siebzehnjährigen Tochter hielt, die Midge »Legs« getauft hatte. Die großgewachsene, schlanke und langmähnige Blondine war wegen ihrer bekannten Mutter sowie einiger Modeljobs regelmäßig in den Klatschspalten vertreten. Noch hatten sie keinen Intimverkehr zwischen Legs und Groomer beobachten können, die Körpersprache während ihrer geheimen Treffen ließ jedoch beim besten Willen nicht auf ein Vater-Tochter-Verhältnis schließen. Die Wut, Angst und der Argwohn, mit dem die Mutter auf die Situation reagierte, vergifteten zusehends die Beziehung zu ihrer Tochter.

Zur allgemeinen Erleichterung seiner nach Andys Weggang unter der zusätzlichen Arbeit ächzenden Mitarbeiter gelang es Strike, einen Ex-Beamten der Metropolitan Police namens Dev Shah von einem konkurrierenden Detektivbüro abzuwerben. Zwischen Strike und Mitch Patterson, dem Inhaber besagter Detektei, herrschte böses Blut, seit Patterson Strike hatte beschatten lassen. Als Shah die Frage »Warum wollen Sie Patterson Inc. verlassen?« mit »Weil ich keine Lust mehr habe, für diese Arschlöcher zu arbeiten« beantwortete, stellte ihn Strike auf der Stelle ein.

Genau wie Barclay war auch Shah verheiratet und war vor Kurzem Vater geworden. Er war etwas kleiner als seine beiden männlichen Kollegen und hatte so dichte Wimpern, dass Robin anfangs dachte, sie wären falsch. Alle konnten Shah auf Anhieb gut leiden: Strike, weil Shah über eine schnelle Auffassungsgabe verfügte und seine Aufzeichnungen gründlich und systematisch führte; Robin, weil sie seinen trockenen Humor und seine fehlende – wie sie es insgeheim bezeichnete – »männliche Arschigkeit« sympathisch fand; Barclay und Midge, weil Shah sich von Anfang an als Teamplayer ohne Geltungsdrang präsentierte; und Pat, weil er – wie sie Robin, als diese eines Freitags ihre Spesenquittungen einreichte, mit krächzender Stimme verriet – »sich sogar vor Imran Khan nicht zu verstecken braucht, oder? Diese Augen!«

»Ja, sehr hübsch«, sagte Robin geistesabwesend, während sie die Quittungen zählte. Pat hatte die letzten zwölf Monate vor der gesamten Belegschaft die Hoffnung kundgetan, Robin möge doch dem Charme eines inzwischen ausgeschiedenen freien Mitarbeiters erliegen, der zwar gut ausgesehen, sie aber auch fortwährend belästigt hatte. Von daher war Robin sehr erleichtert darüber, dass Dev verheiratet war.

Sie machte so viele Überstunden, dass sie sogar die Wohnungssuche vorerst auf Eis gelegt hatte. Trotzdem meldete sie sich freiwillig, um während der Weihnachtstage das Haus des Milliardärs in der South Audley Street zu observieren. So hatte sie einen Vorwand, um nicht zu ihren Eltern nach Masham fahren zu müssen, wo ganz bestimmt Matthew und seine neue Frau Sarah mit ihrem Neugeborenen – Geschlecht noch unbekannt – auf jenen vertrauten Straßen paradieren würden, auf denen Robin einst als Teenager Hand in Hand mit ihrem Ex-Mann flaniert war. Ihre Eltern waren selbstverständlich enttäuscht, und auch Strike nahm ihr Angebot nur widerwillig an.

»Schon gut«, sagte Robin, machte aber keine Anstalten, ihre Gründe dafür darzulegen. »Ich bleibe lieber in London. Und du hast ja schon das letzte Weihnachten verpasst.«

Robin verspürte eine wachsende geistige und körperliche Erschöpfung. Sie hatte zwei Jahre lang – in denen sie zusätzlich eine Trennung und die darauffolgende Scheidung durchgestanden hatte – beinahe ununterbrochen gearbeitet. Die neuerliche Reserviertheit zwischen ihr und Strike lag wie ein Schatten auf ihrem Gemüt, und obwohl sie gut auf Masham verzichten konnte, war die Vorstellung, die Feiertage durchzuarbeiten, zugegebenermaßen sehr deprimierend.

Dann rief Mitte Dezember Robins Lieblingscousine Katie an und lud sie spontan über Silvester zu einem Skiurlaub ein. Ein Pärchen war abgesprungen, weil die Frau schwanger geworden war. Das Chalet war bereits bezahlt, Robin musste nur für den Hin- und Rückflug aufkommen. Sie hatte noch nie auf Skiern gestanden, doch da sich Katie und ihr Mann mit dem Wintersport abwechseln wollten, um sich um ihren dreijährigen Sohn zu kümmern, würde sie immer jemanden haben, mit dem sie sich unterhalten konnte, wenn sie genug davon hatte, auf dem Idiotenhügel auf die Nase zu fallen. Robin erhoffte sich von der Reise, etwas Abstand und Ruhe zu gewinnen, was ihr in London nicht möglich war. Erst nachdem sie die Einladung angenommen hatte, erfuhr sie, dass außer Katie, ihrem Mann und einigen gemeinsamen Freunden aus Masham auch Hugh »Axeman« Jacks mit von der Partie war.

Strike teilte sie lediglich mit, dass sie wegen eines Skiurlaubs über Neujahr ein paar zusätzliche freie Tage brauchte. Strike, dem nur zu deutlich bewusst war, dass sie eine weitaus längere Auszeit verdient hatte, erhob keine Einwände und wünschte ihr eine gute Reise.

3

Ein Blick, so weinfarben und funkelndWie deiner, macht die Männer trunken …

EMILY PFEIFFERA Rhyme for the Time

Am achtundzwanzigsten Dezember beging der Ex-Freund von Miss Jones, der wochenlang ein scheinbar unbescholtenes Leben geführt hatte, einen groben Fehler, indem er vor Dev Shahs Augen eine große Menge Kokain kaufte und im Beisein zweier Damen eines Escortservices konsumierte, bevor er diese dann mit zu sich nach Hause in Islington nahm. Die hocherfreute Miss Jones ließ es sich nicht nehmen, persönlich im Büro zu erscheinen und Shahs Bilder zu begutachten. Danach versuchte sie, Strike zu umarmen. Dieser schob sie sanft, aber bestimmt von sich, was sie ihm jedoch nicht übel nahm – im Gegenteil ließ ihn die Zurückweisung in ihren Augen noch attraktiver erscheinen. Als sie die letzte Rechnung beglich, bestand sie darauf, Strike auf die Wange zu küssen, und bevor sie in einer Wolke aus Chanel No. 5 abrauschte, ließ sie ihn ganz unverblümt wissen, dass sie ihm einen Gefallen schuldig sei, den er jederzeit einlösen könne.

Am folgenden Tag wurde die Mutter im Groomer-Fall nach Indonesien beordert, um dort über einen Flugzeugabsturz zu berichten. Vor ihrer Abreise rief sie Strike an und informierte ihn darüber, dass ihre Tochter mit der Familie einer Schulfreundin im berühmten Londoner Nachtclub Annabel’s ins neue Jahr feiern wollte. Sie war überzeugt davon, dass Groomer sich dort mit ihrer Tochter treffen würde, und verlangte, dass die Detektei Mitarbeiter im Club platzierte.

Strike, der so ziemlich jeden anderen Menschen lieber um eine Gefälligkeit gebeten hätte, rief Miss Jones an, damit sie Strike und Midge als ihre Gäste in den Club schleuste. Strike entschied sich nicht nur deshalb für Midge, weil sie Legs im Notfall auf die Toilette folgen konnte, sondern auch damit Miss Jones nicht auf die Idee kam, er hätte das Ganze nur arrangiert, um sie ins Bett zu bekommen.

Eine etwas gefühlskalte Erleichterung erfüllte ihn, als ihn Miss Jones zwei Stunden vor dem geplanten Treffen anrief und ihm eröffnete, dass ihre kleine Tochter Fieber hatte.

»… und meine verdammte Nanny ist krank, und meine Eltern sind auf Mustique. Also bleibt es an mir hängen«, sagte sie verärgert. »Aber gehen Sie nur hin, ich habe Sie beide auf die Gästeliste setzen lassen.«

»Vielen Dank«, sagte er. »Hoffentlich geht es Ihrer Tochter bald besser.«

Er legte auf, bevor Miss Jones ein weiteres Rendezvous vorschlagen konnte.

Um elf Uhr abends saß er Midge, die einen dunkelroten Samtsmoking trug, im Keller des Clubs am Berkeley Square an einem Tisch zwischen zwei mit Spiegeln verkleideten Säulen gegenüber. Über ihnen schwebten Hunderte goldener Heliumballons, an denen glänzende Bänder hingen. Die siebzehnjährige Zielperson saß ein paar Tische weiter bei der Familie ihrer Schulfreundin. Immer wieder sah sie mit einer Miene, die zwischen erwartungsfroh und nervös changierte, zum Eingang hinüber. Da Handys im Annabel’s nicht erlaubt waren, musste sich der Teenager zur Informationsgewinnung allein auf seine Sinne verlassen, was zu sichtlich wachsender Frustration führte.

»Du wirst beobachtet«, teilte Midge Strike leise mit. »Fünf Uhr, ein Tisch mit acht Personen.«

Strike sah sie sofort: Ein Mann und eine Frau hatten sich umgedreht und starrten Strike an. Das lange Haar der Frau hatte Robins rotgoldene Farbe, das schwarze Kleid schmiegte sich eng an ihren Körper, und die Riemen ihrer Stilettos schlängelten sich bis zu den Knien hinauf um ihre glatten braunen Beine. Der geckenhafte Mann trug einen Brokatsmoking und eine grellbunte Krawatte. Irgendwie kam er Strike bekannt vor, wenn er auch auf Anhieb nicht wusste, woher.

»Vielleicht kennen sie dich aus der Zeitung«, sagte Midge.

»Hoffentlich nicht, sonst bin ich meinen Job los«, knurrte Strike.

Das Foto, das die Zeitungen am häufigsten abdruckten, stammte noch aus Militärzeiten und zeigte einen jüngeren und erheblich schlankeren Strike mit kürzeren Haaren. Wenn er vor Gericht aussagen musste, ließ er sich vorher einen Vollbart wachsen, was bei ihm gottlob nicht lange dauerte.

Strike beobachtete das Spiegelbild der beiden in einer der Säulen. Sie hatten die Köpfe zusammengesteckt und unterhielten sich. Die Frau sah wirklich sehr gut aus. Im Gegensatz zu den meisten Anwesenden waren keine Spuren kosmetischer Veränderung in ihrem Gesicht zu erkennen: Ihre Stirn legte sich in Falten, wenn sie die Augenbrauen hob, und sie hatte auch keine unnatürlich vollen Lippen. Strike schätzte sie auf etwa Mitte dreißig, womit sie noch zu jung war, um sich den chirurgischen Eingriffen zu unterziehen, die das Gesicht der ältesten Dame an ihrem Tisch zu einer befremdlichen Maske hatten erstarren lassen.

Neben Strike und Midge dozierte ein korpulenter Russe vor seiner viel jüngeren Begleiterin über Tannhäuser. »… aber Mezdrich hat es modernisiert«, sagte er. »Bei ihm erscheint Jesus in einem Film, der eine Orgie in Venus’ Höhle zeigt …«

»Jesus?«

»Da. Das hat der Kirche nicht gefallen, und jetzt wird Mezdrich gefeuert«, schloss der Russe betrübt und hob das Champagnerglas an die Lippen. »Er ist nicht eingeknickt, und das wird ihm früher oder später zum Verhängnis werden.«

»Legs setzt sich in Bewegung«, sagte Strike, als der Teenager zusammen mit den anderen aus der Gruppe aufstand. Die Straußenfederborte an ihrem Minikleid bauschte sich.

»Die gehen tanzen«, vermutete Midge.

Und sie hatte recht. Zehn Minuten später saßen Strike und Midge in einer Nische neben der Tanzfläche, von der aus sie die Siebzehnjährige direkt im Blick hatten. Beim Tanzen wurde deutlich, dass ihre Absätze wohl etwas zu hoch waren. Nach wie vor huschte ihr Blick regelmäßig zum Eingang hinüber.

»Wie sich Robin wohl auf Skiern anstellt?«, rief Midge, als die ersten Takte von Uptown Funk durch den Raum dröhnten. »Ein Kumpel von mir hat sich das Schlüsselbein gebrochen, als er es zum ersten Mal versucht hat. Fährst du Ski?«

»Nein«, sagte Strike.

»Zermatt ist ganz hübsch«, sagte Midge laut und dann noch etwas, das Strike nicht richtig verstand.

»Was?«, fragte er.

»Ich hab mich gefragt, ob sie sich wohl abschleppen lässt. Die Gelegenheit wär günstig, Silvester und so weiter …«

Legs bedeutete ihrer Schulfreundin, dass sie genug hatte, verließ die Tanzfläche, schnappte sich ihr Abendtäschchen und zwängte sich durch die Menge zum Ausgang.

»Sie will bestimmt aufs Klo, damit sie an ihr Handy kann«, sagte Midge und nahm die Verfolgung auf.

Strike blieb allein neben einem riesigen Stuck-Bodhisattwa in der Nische sitzen. Das alkoholfreie Bier in der Flasche in seiner Hand war bereits warm. Auf den Sofas neben ihm drängten sich beschwipste Menschen und unterhielten sich schreiend über die Musik hinweg. Strike hatte gerade die Krawatte gelockert und den obersten Hemdknopf geöffnet, als er sah, wie der Mann im Brokatjackett, über Beine und Handtaschen stolpernd, auf ihn zukam. Jetzt endlich erkannte er ihn: Es war Valentine Longcaster, ein Stiefbruder seiner Ex-Verlobten Charlotte.

»Lang nicht gesehen«, rief Valentine.

»Ja«, sagte Strike und schüttelte die dargebotene Hand. »Wie geht’s?«

Valentine wischte sich den langen, schweißnassen Pony aus dem Gesicht. Darunter kamen Augen mit stark erweiterten Pupillen zum Vorschein. »Ganz gut«, rief er über den dröhnenden Bass. »Kann mich nicht beschweren.« Strike bemerkte eine winzige Spur weißen Pulvers in einem seiner Nasenlöcher. »Bist du geschäftlich oder privat hier?«

»Privat«, log Strike.

Valentine rief etwas Unverständliches. Strike glaubte jedoch, den Namen von Charlottes Ehemann Jago Ross zu verstehen.

»Was?«, fragte er mit finsterer Miene.

»Jago will dich namentlich nennen und als Scheidungsgrund angeben, dass du ein Verhältnis mit Charlotte hast.«

»Na, dann viel Erfolg!«, brüllte Strike zurück. »Ich habe sie seit Jahren nicht gesehen.«

»Da behauptet Jago was anderes!«, schrie Valentine. »Er hat auf ihrem alten Handy ein Nacktfoto entdeckt, das sie dir geschickt hat.«

Scheiße.

Valentine hielt sich am Bodhisattwa fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Seine Begleitung mit dem rotgoldenen Haar beobachtete sie von der Tanzfläche aus.

Valentine folgte Strikes Blick. »Das ist Madeline!«, brüllte er ihm ins Ohr. »Sie findet dich übrigens ziemlich sexy.« Valentine lachte schrill. Strike trank schweigend sein Bier, bis der jüngere Mann zu dem Schluss kam, dass sich kein weiterer Nutzen aus der Nähe zu Strike ziehen ließ, sich mit einem ironischen Salut verabschiedete und davontaumelte. In diesem Augenblick erschien Legs am Rand der Tanzfläche und brach mit flatternden Straußenfedern auf einem Samthocker zu einem Häufchen Elend zusammen.

»Damenklo«, bestätigte Midge, als sie ein paar Minuten später wieder zu Strike stieß. »Aber ich glaube nicht, dass sie dort Empfang hatte.«

»Sehr gut«, sagte Strike mitleidlos.

»Anscheinend hat er sich angekündigt.«

»Sieht ganz so aus.«

Strike nahm noch einen Schluck von seinem warmen Bier. »Wie viele Leute sind denn mit Robin zum Skifahren?«

»Fünf, glaube ich!«, schrie Midge zurück. »Zwei Pärchen und ein Typ.«

»Aha«, sagte Strike und nickte, als würde ihn das nur peripher interessieren.

»Anscheinend wollen sie sie mit ihm verkuppeln«, sagte Midge. »Hat sie mir vor Weihnachten erzählt. Er heißt Hugh Jacks«, rief Midge und sah Strike erwartungsvoll an. »Huge Axe.«

»Aha«, sagte Strike mit einem gezwungenen Lächeln.

»Ja. Die dicke Axt. Haha. Man sollte doch meinen«, rief sie ihm ins Ohr, »dass sich die Eltern die Namen, die sie ihren Kindern geben wollen, zumindest einmal laut vorsagen.«

Strike nickte und ließ dabei den Teenager, der sich gerade die Nase mit dem Handrücken abwischte, nicht aus den Augen.

Es war Viertel vor zwölf. Wenn sie Glück hatten, würde die Familie der Schulfreundin die Zielperson, nachdem sie das neue Jahr eingeläutet hatten, mit zu sich nach Chelsea nehmen. Besagte Freundin kam zurück und zerrte Legs wieder auf die Tanzfläche.

Um zehn vor zwölf ging Legs ein weiteres Mal in Richtung Damentoilette. Midge folgte ihr umgehend. Strikes Stumpf schmerzte, und er hätte sich gerne hingesetzt, doch auf allen freien Plätzen lagen Taschen und Jacken, die er nicht beiseiteschieben wollte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich an dem riesigen Bodhisattwa abzustützen. Das Bier hatte er inzwischen ausgetrunken.

»Aha, ein Silvestermuffel?«, fragte eine Stimme, die nach Londoner Arbeiterklasse klang.

Es war die Frau mit dem rotgoldenen Haar. Sie war etwas aufgewühlt, und ihre Wangen waren rot vom Tanzen. Inzwischen waren alle aufgestanden und drängten auf die viel zu kleine Tanzfläche. In der allgemeinen vormitternächtlichen Aufregung hatte er sie nicht bemerkt.

»Könnte man sagen«, antwortete er.

Sie war sehr hübsch und ganz eindeutig high, konnte aber noch klar und deutlich sprechen. Mehrere dünne Goldketten hingen um ihren schlanken Hals, das trägerlose Kleid schmiegte sich eng an ihre Brüste, und sie lief ständig Gefahr, den Inhalt ihrer zur Hälfte geleerten Champagnerflöte zu verschütten.

»Geht mir ganz ähnlich. Ein furchtbares Silvester!«, schrie sie ihm ins Ohr. Ihr East-End-Akzent war eine erfrischende Abwechslung zur feinen Artikulation der Oberschicht. »Sie sind Cormoran Strike, nicht wahr? Das hat zumindest Valentine behauptet.«

»Stimmt«, sagte er. »Und Sie sind …?«

»Madeline Courson-Miles. Sie sind doch nicht im Dienst, oder?«

»Nein«, sagte er unwahrheitsgemäß, hatte es aber weitaus weniger eilig, sie loszuwerden, als es bei Valentine der Fall gewesen war. »Was ist so schlimm an diesem Silvester?«

»Gigi Cazenove.«

»Wie bitte?«

»Gigi Cazenove«, sagte sie etwas lauter und beugte sich vor. Ihr Atem kitzelte sein Ohr. »Die Sängerin?«, erklärte sie, als Strike sie verständnislos ansah. »Sie war eine Kundin von mir. Man hat sie heute Vormittag erhängt aufgefunden.«

»Mist«, sagte Strike.

»Ja«, pflichtete ihm Madeline bei. »Sie war gerade mal dreiundzwanzig.« Sie schlürfte mit ernster Miene Champagner. »Ich bin noch nie einem Privatdetektiv begegnet«, rief sie ihm ins Ohr.

»Das glauben Sie vielleicht«, sagte Strike. Sie lachte. »Was machen Sie so?«

»Ich bin Schmuckdesignerin«, rief sie mit einem nachsichtigen Lächeln, das Strike verriet, dass die meisten Menschen mit ihrem Namen etwas anfangen konnten.

Die warmen Körper drängten sich auf der Tanzfläche. Viele der Feiernden trugen glitzernde Partyhütchen. Strike sah den dicken Russen, der über Tannhäuser gesprochen hatte, schweißgebadet und mit wenig Taktgefühl zu Clean Bandits Rather Be hüpfen.

Seine Gedanken wanderten zu Robin, die gerade irgendwo in den Alpen Urlaub machte. Vielleicht war sie in diesem Augenblick betrunken vom Glühwein und tanzte mit dem frisch Geschiedenen, mit dem sie ihre Bekannten unbedingt verkuppeln wollten. Er erinnerte sich an ihren Gesichtsausdruck, als er sich vorgebeugt hatte, um sie zu küssen.

It’s easy being with you, sang Jess Glynne.

Sacred simplicity,

As long as we’re together,

There’s no place I’d rather be …[1]

»Ladies und Gentlemen, noch eine Minute bis 2015«, rief der DJ. Madeline Courson-Miles sah zu Strike auf, leerte ihre Champagnerflöte und beugte sich vor.

»Gehört die große Frau im Smoking zu Ihnen?«

»Eine Bekannte«, sagte Strike. »Wir wussten heute Abend beide nicht so recht, wohin.«

»Also macht es ihr nichts aus, wenn ich Sie um Mitternacht küsse?«, rief Madeline. Ihre Stimme summte in seinem Ohr.

Er blickte auf ihr hübsches, freundliches Gesicht mit den warmen grünbraunen Augen herab. Das rotgoldene Haar floss über ihre nackten Schultern.

»Ihr nicht«, sagte Strike mit einem leichten Schmunzeln.

»Aber Ihnen?«

»Macht euch bereit!«, brüllte der DJ.

»Sind Sie verheiratet?«, fragte Strike.

»Geschieden«, antwortete Madeline.

»Haben Sie einen Freund?«

»Nein.«

»Zehn …«

»Wenn das so ist«, sagte Cormoran Strike und stellte die leere Bierflasche ab.

»Acht …«

Madeline beugte sich vor, um ihr Glas auf einem Tisch abzustellen, erwischte aber nur die Kante. Die Champagnerflöte fiel auf den Teppichboden. Achselzuckend richtete sie sich wieder auf.

»Sechs … fünf …«

Sie schlang die Arme um seinen Hals. Er legte die Arme um ihre Hüfte. Sie war dünner als Robin: Er spürte ihre Rippen durch das enge Kleid. Das Verlangen in ihren Augen war Balsam für seine Seele. Es ist Neujahr, also scheiß drauf.

»… drei … zwei … eins …«

Sie drückte sich an ihn. Ihre Hände wühlten in seinem Haar, ihre Zunge war in seinem Mund. Überall um sie herum war Geschrei und Applaus. Sie lösten sich erst voneinander, als die ersten Takte von Auld Lang Syne gegrölt wurden. Strike sah sich um. Weder Midge noch Legs waren irgendwo zu sehen.

»Ich kann nicht mehr lange bleiben, aber ich will deine Nummer«, rief er.

»Dann gib mir dein Handy.«

Sie speicherte die Nummer ein und gab ihm das Telefon zurück. Dann zwinkerte sie ihm zu, drehte sich um und verschwand in der Menge.

Midge tauchte eine Viertelstunde später wieder auf, und auch Legs gesellte sich wieder zu ihrer Schulfreundin. Ihre Wimperntusche war verschmiert.

»Sie hat verzweifelt nach einer Stelle gesucht, wo sie Empfang hat!«, schrie ihm Midge ins Ohr. »Dann ist sie wieder aufs Klo und hat geheult wie ein Schlosshund.«

»Was für ein Jammer«, sagte Strike.

»Ist das Lippenstift?« Midge starrte ihn an.

Er wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab.

»Eine alte Bekannte meiner Mutter«, sagte er. »Na dann – ein frohes 2015.«

»Gleichfalls«, sagte Midge und hielt ihm die Hand hin. Strike schüttelte sie, dann ließ er den Blick über die feiernde Menge schweifen. Ballons wurden durch die Gegend geworfen, Glitzer explodierte aus Konfettikanonen. »Ich hab den Jahreswechsel noch nie auf einem Klo verbracht!«, schrie ihm Midge ins Ohr. »Hoffentlich ist das kein schlechtes Omen.«

4

So schlaf geduldig, wie’s die Rose tut.Auf frischen Schnee die Schritte setz mit Mut,Der Winter ist des Winters Zweck.

HELEN JACKSONJanuary

Alles in allem verbrachte Robin einen schönen Urlaub in Zermatt. Sie hatte ganz vergessen, wie erholsam es war, acht Stunden am Stück zu schlafen. Sie genoss das Essen, das Skifahren und die Gesellschaft ihrer alten Freunde aus Masham. Selbst als ihr Katie mit besorgter Miene die Nachricht überbrachte, dass Sarah – und der neugeborene Sohn – tatsächlich über Weihnachten bei Matthew in Masham gewesen waren, geriet sie zu Katies Erleichterung nicht aus der Fassung.

»Sie haben ihn William genannt«, sagte Katie. »Wir sind ihnen eines Abends im Bay Horse über den Weg gelaufen. Matthews Tante hat babygesittet. Diese Sarah ist ja unausstehlich. So eine eingebildete Kuh.«

»Tja, ich kann sie auch nicht besonders gut leiden«, sagte Robin. Gott sei Dank hatte sie Weihnachten nicht in Masham verbracht: Eine Begegnung wäre wohl unvermeidlich gewesen. Mit etwas Glück waren sie nächstes Jahr bei Sarahs Eltern, sodass es gar nicht erst zu einem zufälligen Treffen kommen konnte.

Von ihrem Zimmer im Chalet hatte sie einen Ausblick auf das schneebedeckte Matterhorn, das in den hellblauen Himmel ragte wie ein gigantischer Reißzahn. Je nach Sonnenstand wechselte der pyramidenförmige Berg die Farbe von gold nach pfirsichfarben und von tintenblau nach violett. Beim Betrachten des leuchtenden Bergmassivs kam Robin ihrem Vorhaben, Abstand und Ruhe zu gewinnen, noch am nächsten.

Der Urlaub hatte nur einen Schönheitsfehler: Hugh Jacks. Der Pharmazeut war ein paar Jahre älter als Robin, sah mit seinem gepflegten blonden Bart, den breiten Schultern und den großen blauen Augen wohl ganz gut aus und war auch einigermaßen sympathisch. Doch Robin ahnte schnell, dass sie es mit einem Jammerlappen zu tun hatte. Egal worum sich die Unterhaltung drehte, früher oder später kam er auf seine Scheidung zu sprechen, die ihn offenbar wie aus heiterem Himmel getroffen hatte. Nach sechs Ehejahren hatte ihm seine Frau eröffnet, schon seit geraumer Zeit unglücklich zu sein, hatte ihre Koffer gepackt und war gegangen. Hugh hatte Robin die Geschichte in den ersten paar Urlaubstagen zweimal in aller Ausführlichkeit erzählt. Nach jener zweiten Litanei, die beinahe wortgleich mit der ersten war, vermied sie es nach Möglichkeit, beim Abendessen neben ihm zu sitzen. Leider schien er diesen Wink nicht zu verstehen. Er machte sich weiter an sie heran und bat sie – in einem Tonfall, als litten sie beide an derselben tödlichen Krankheit – um Einzelheiten aus ihrer eigenen gescheiterten Ehe. Robin versuchte ihn mit dem Hinweis, dass andere Mütter auch schöne Töchter hätten, und dem persönlichen Eingeständnis, dass sie sich jetzt viel freier fühlte, aufzumuntern. Hugh gratulierte ihr mit etwas weniger Trübsal in den wässrig blauen Augen zu ihrer Entschlossenheit, während sie befürchtete, dass er ihre Freude über die unbeschwerte Unabhängigkeit als unausgesprochene Einladung verstand.