Brandfährte - Rose Gerdts - E-Book

Brandfährte E-Book

Rose Gerdts

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein brisanter Fall von Stalking im Bremer Stadtteil Findorff: Bei einem Feuer in einem Mehrfamilienhaus verbrennt eine alleinstehende junge Frau in ihrer Wohnung. Alles weist auf einen Unfall hin - gäbe es da nicht die hochgesicherte Eingangstür. Brandexperte Manfred Rüttger bittet Frank Steenhoff von der Bremer Mordkommission um Hilfe. Schnell wird den Ermittlern klar, dass sich das Opfer vor seinem Tod monatelang zu Hause verschanzt hatte. Vor wem hatte die junge Frau eine so panische Angst? Auf der Suche nach dem Unbekannten wird Steenhoff selbst zum Gejagten. «‹Brandfährte› ist ein kriminalistisches Meisterwerk. Rose Gerdts-Schiffler ist eine Expertin auf dem Gebiet kriminalpolizeilicher Arbeit und beweist einmal mehr ihre hohe fachliche Kompetenz.» (Stephan Rusch, Stalkingexperte)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 393

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Rose Gerdts

Brandfährte

Kriminalroman

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. KapitelDank
[zur Inhaltsübersicht]

1

Die Katze war alt. Aber ihre Bewegungen waren immer noch geschmeidig. Sie machte einen Buckel, streckte sich und sprang auf den verfilzten Flokati im Wohnzimmer. Sanft strich sie der schlafenden Frau im Lehnsessel um die Beine.

Erst als das Tier leise maunzte, wurde Maike wach. Sie brauchte einen Moment, um zu sich zu kommen. Nach den Zwischenfällen der letzten Tage hatte sie beschlossen, im Wohnzimmer zu übernachten. Hier war es ruhiger, kein Motorengeheule, kein Gegröle von betrunkenen Nachtschwärmern aus der Kneipe gegenüber.

Maike schob die Decke beiseite, klopfte auf ihren Oberschenkel und schaute die Katze zärtlich an.

«Komm, Tessa, komm her!»

Sie hörte das leise Schnurren des Tieres, doch diesmal sprang die Katze nicht auf ihren Schoß. Energisch rieb sie den Kopf an Maikes Unterschenkel. Das Maunzen wurde lauter.

«Du hast wohl Hunger, Süße.»

Suchend schaute Maike sich in ihrem vollgestellten Wohnzimmer um. Auf dem Boden standen Kartons in unterschiedlicher Größe, mit abgepacktem Brot, Konservendosen und Geschirr. Der Toaster hatte einen neuen Platz im Bücherregal gefunden, neben den Marmeladegläsern und dem Honig. Um mehr Abstellfläche zu gewinnen, hatte Maike ihre Bücher in zwei Reihen ins Regal geschoben. Auf dem Fensterbrett stand ein Wasserkocher, direkt daneben eine Sammlung exotischer Teesorten. Ihre Freunde hatte Maike früher gern mit neuen Tees überrascht. Aber das war lange her. Schon seit Wochen lud sie niemanden mehr zu sich nach Hause ein. Die letzte Besucherin war ihre Mutter.

Eines Sonnabendnachmittags stand sie unangemeldet vor der Tür und klingelte minutenlang. Erst als ihre Mutter klopfte und laut nach ihr rief, öffnete Maike hastig. Sie gab vor, geschlafen zu haben. Dabei öffnete sie schon lange nicht mehr, wenn jemand klingelte. Erst recht nicht, wenn es drängend und unnachgiebig geschah.

Die Katze schnupperte an ihrem leeren Futternapf und miaute klagend. Unwillig stellte Maike fest, dass sie im Wohnzimmer kein Futter mehr stehen hatte. Sie würde in die Küche gehen müssen. Draußen war es noch dunkel. Keine gute Voraussetzung, um den zum Hinterhof gelegenen Teil der Wohnung zu verlassen. Seufzend löschte Maike die Deckenlampe. Dann ging sie in die Knie und öffnete vorsichtig die Tür zum Flur. Ein blasser Lichtstrahl fiel auf den Boden. Irritiert schaute Maike sich um. Das Wohnzimmer lag im Dunkeln. Aber der Nachbar aus der gegenüberliegenden Wohnung war schon aufgestanden. Ein Schimmer seines hell erleuchteten Bades reichte bis in ihr Wohnzimmer. Schnell schloss Maike die Tür wieder und zog die karierten Vorhänge zu. Jetzt konnte kein Lichtstrahl mehr aus der Nachbarwohnung in ihr Zimmer fallen. Wieder ging sie in die Knie und kroch auf die Tür zu. Ihre rechte Hand lag auf der Klinke. Sie zögerte. Als sie Tessas Schnurren neben sich hörte, drückte sie die Klinke hinunter und zog die Tür auf. Auf dem schmalen Flur war es stockfinster.

Maike lauschte angespannt in Richtung Eingangstür. Doch in dem Mehrfamilienhaus war alles still. Es war Sonntag, und die meisten schliefen noch. Vorsichtig öffnete sie die Küchentür. Das Rollo war heruntergezogen, aber an den Seiten drang ein dünner Streifen Licht von draußen in die Küche.

Wo hatte sie gestern Nachmittag das Katzenfutter abgestellt? Ihre Augen suchten die ausgeräumten Holzregale über dem Tisch ab. Nichts. In alter Gewohnheit musste sie das Katzenfutter tagsüber in den Kühlschrank gestellt haben. Sie verfluchte ihre Unvorsichtigkeit. Die Kühlschrankbeleuchtung würde sie verraten.

Darauf wartete er doch nur. Ein winziges Lebenszeichen von ihr, und alles würde von vorne beginnen. Langsam richtete Maike sich auf und zog das Rollo wenige Zentimeter zu sich. Die Straße war leer. Die beiden Geschäfte gegenüber waren geschlossen. Rollgitter sicherten die Eingänge. Systematisch suchte sie die Schatten zwischen den geparkten Autos ab. Nichts.

Einen kurzen Augenblick lang fixierte sie den Eingang zur Gastwirtschaft. Hatte sich unter dem schmalen Vordach nicht etwas bewegt? Ein Windstoß wirbelte eine Plastiktüte herum. Erleichtert ließ Maike das Rollo los.

«Er ist nicht da», hörte sie sich selber leise sagen.

Plötzlich kam Maike sich unendlich albern vor. Was war aus ihr geworden? Sie führte Selbstgespräche im Flüsterton. Seit Wochen mied sie ihre Küche und in letzter Zeit auch das Schlafzimmer, die beide zur Straße lagen. Das Haus verließ sie nur noch, wenn sie zur Arbeit musste. Wenn sie so weitermachte, würde sie noch verrückt.

Wieder kontrollierte sie die Straße. Eine junge Radfahrerin in einem weißen Regencape kam vorbei. Ein Lieferwagen fuhr durch eine Pfütze, und ein kleiner Wasserschwall traf die Frau. Aus ihrer dunklen Küche beobachtete Maike, wie die Radfahrerin wütend die Faust schüttelte. Sie schleuderte dem Lieferwagen laute Flüche hinterher. Dann beschleunigte sie mit kräftigen Tritten ihre Fahrt, als hoffte sie, den rücksichtslosen Fahrer an der nächsten Ampel einzuholen und ihn zur Rede zu stellen.

Maike beneidete die Frau um ihre Wut.

Sich nichts gefallen lassen. Sich zur Wehr setzen, wenn es nötig war, und andere in ihre Grenzen verweisen. Früher galt auch sie als selbstbewusst und durchsetzungsfähig. Sie war um die halbe Welt gereist, manchmal ganz allein. Und jetzt? Seit einer Weile konnte schon der kurze Weg zum Bäcker für sie zur Angstpartie werden.

 

Vor drei Wochen hatte er in der Schlange plötzlich hinter ihr gestanden. Ihre überreizten Sinne, die überall Gefahr vermuteten, hatten sie an jenem Morgen gewarnt. Ruckartig drehte sie sich um. Er stand direkt an der Tür. Sechs, sieben Kunden trennten sie noch voneinander. Dieser Blick, sehnsüchtig und triumphierend zugleich.

Bei dem Gedanken an ihren Verfolger musste Maike einen Würgereiz unterdrücken. Fluchtartig verließ sie an jenem Morgen die Bäckerei. Nach Atem ringend rannte sie nach Hause und stürmte das Treppenhaus hinauf, bis in den zweiten Stock. Erst als sie alle Sicherheitsschlösser verriegelt hatte, kam sie zur Ruhe.

In der Praxis meldete sie sich krank. Die Kollegin glaubte ihr nicht. Das spürte sie sofort am Telefon. Aber es war ihr egal. In den Augen der anderen Arzthelferinnen war sie eine Simulantin. Eine, die sich auf Kosten der anderen einen schönen Tag machte. Dabei saß sie den ganzen Tag zu Hause und hoffte, dass es endlich aufhörte und er das Interesse an ihr verlöre.

Ihre Wohnung war zur Fluchtburg geworden. Hier konnte er sie nicht mit seinen irren Liebesbeteuerungen quälen. Dafür hatte sie gesorgt. Nachdem er vor zwei Monaten auch ihre neue Geheimnummer herausgefunden hatte, zog sie regelmäßig das Kabel aus der Steckdose. Ihr Handy war meistens ausgeschaltet, und ihre E-Mails blieben ungelesen.

Alle Brücken waren hochgezogen.

 

Anfangs hatte sie seine Liebesbeteuerungen noch gelesen. Es faszinierte sie sogar, dass ihr jemand so verfallen war, ausgerechnet ihr. Sie war Anfang 30 und nicht besonders schlank. Sie war nicht die Frau, nach der sich die Männer auf der Straße umdrehten. Und dann tauchte im Frühsommer plötzlich dieser Typ auf. Ein Mann wie aus einem Katalog: markante Gesichtszüge, lässiger Gang. Einer, der weiß, dass er auf Frauen wirkt. Er bestürmte sie mit Anrufen, schwor ihr, sie immer auf Händen zu tragen und sie nie wieder aus seinem Herzen zu verbannen. Wie das klang! Kitschig. Übertrieben. Sie mochte ihn nicht, obwohl ihr sein Interesse in den ersten Wochen schmeichelte. Doch seine drängende Art wurde ihr schon nach kurzer Zeit lästig. Sie mailte ihm, dass sie nicht interessiert sei und keine Beziehung mit ihm wolle. Jede ihre E-Mails löste eine Flut von Antworten aus. Schließlich reagierte sie gar nicht mehr. Und dann war eines Sonntagmorgens die gegenüberliegende Hauswand in orangefarbener Schrift besprüht: «Maike, meine große Liebe!»

Als er das nächste Mal anrief, machte sie ihm wütend klar, dass er sie gefälligst in Ruhe lassen solle. Er zeigte sich einsichtig und bat um ein letztes Treffen.

«Ich will nur noch einmal mit dir reden. Bitte. Das kannst du mir nicht abschlagen.»

Zwei Tage später trafen sie sich abends in einem Restaurant in Findorff. Er hatte sich so gesetzt, dass er die Tür genau im Visier hatte. Maike spürte seinen saugenden Blick sofort, als sie das Restaurant betrat. Sie zwang sich, auf seinen Tisch zuzugehen.

«Hallo», begrüßte sie ihn kühl und setzte sich, ohne ihre Jacke auszuziehen. Er sprang sofort auf. «Warte, ich helf dir», sagte er liebenswürdig und ging um den Tisch herum, um ihr die Jacke abzunehmen.

«Danke, nicht nötig.» Zehn Minuten, höchstens eine Viertelstunde wollte sie ihm geben, um ein für alle Mal zu begreifen, dass sie nie ein Liebespaar werden würden. Sie begann, sich in ihre warme Felljacke zu verkriechen.

Er lächelte sie an. «Was möchtest du trinken? Weißwein? Oder lieber Rotwein?»

«Ich nehme ein Wasser», entgegnete Maike schroff. «Hör zu, ich …»

Doch er unterbrach sie sofort. «Ich hab uns für diesen besonderen Abend ein Fischmenü bestellt. Du isst doch so gern Seeteufel.»

Entgeistert schaute Maike ihn an. Woher wusste er, dass sie für ihr Leben gerne Fisch aß?

«Ich … ich will nichts essen. Und ich hab auch nicht viel Zeit.» Maike versuchte ihrer Stimme Festigkeit zu geben, so wie sie es zu Hause vor dem Spiegel trainiert hatte. Einen Moment lang schien es ihr, als würde sein Lächeln gefrieren. Doch zu ihrer großen Erleichterung machte er ihr keine Szene.

«Ich weiß, ich hab dich in letzter Zeit etwas bedrängt», räumte er ein. «Aber so eine starke Verbundenheit habe ich noch nie mit einer Frau gefühlt. Du und ich – das ist etwas Besonderes, etwas ganz Wertvolles.» Er legte sanft, aber bestimmt seine Hand auf ihren Arm, damit sie ihn nicht unterbrechen konnte, und sprach weiter.

«Ich weiß, du bist noch nicht so weit. Dein Exfreund hat dich schwer enttäuscht. Betrogen zu werden, noch dazu mit einer Arbeitskollegin, das tut weh. Das verstehe ich.»

Maike wurde kalt. Woher wusste er, dass Alexander sie vor einem Jahr so gemein abserviert hatte? Eines Abends eröffnete Alexander ihr völlig unvermittelt, dass Schluss sei. Drei Tage später stand er nach Feierabend an der Ecke gegenüber der Praxis und wartete. Doch nicht auf sie, sondern auf Silke, ihre Kollegin. An jenem Abend dachte sie in ihrer Verzweiflung daran, vor einen Zug zu springen. Doch es fehlte ihr der Mut. Sie weinte nächtelang und zog sich von allen Freunden zurück.

Ja, sie war allein. Aber nicht so sehr, dass sie um jeden Preis eine neue Beziehung eingegangen wäre. Sie holte tief Luft, um ihre sechs Sätze zu sagen, die sie sich Wort für Wort zurechtgelegt hatte.

Als sie geendet hatte, schwieg er und schaute sie tiefbekümmert an. «Okay. Ich habe verstanden. Aber dann lass uns jedenfalls Freunde bleiben.» Dabei hatte er so traurig geklungen, dass sie ihm diese Bitte nicht abschlagen mochte. Zwei Stunden später verabschiedeten sie sich.

Am Montag der darauffolgenden Woche waren alle vier Reifen ihres Autos zerstochen. Weinend lief sie zu ihrem Rad, das wie immer am Zaun vor ihrem Wohnhaus angekettet war. Dort sah sie, dass der Sattel aufgeschlitzt und der Vorderreifen platt war. Zitternd fuhr sie mit dem Taxi zur Arbeit. In der Mittagspause erstattete sie Anzeige. Der Wachhabende wirkte wenig interessiert, als sie angab, einen Bekannten zu verdächtigen. Sie vertiefte die Sache nicht weiter. Sie würde es ja doch nie beweisen können.

Sie handelte selbst dann nicht, als am Abend ein Brief von ihm in der Post lag. «Meine liebe Maike. Auch mich hat es in dieser Nacht getroffen. Lass uns unsere Kräfte bündeln, um den Kerl zu schnappen.» Sie zerriss den Brief. Was bewies er schon?

Fortan parkte sie zwei Häuserblocks von ihrer Wohnung entfernt und ging den Rest zu Fuß. Sie trug ihr Rad jeden Abend in den Keller. In seine Mails und Briefe mischte sich ein aggressiver Ton. Maike ertappte sich dabei, dass sie von ihrem Küchenfenster aus die Straße nach ihm absuchte, bevor sie das Haus verließ. Im Supermarkt stand er plötzlich neben ihr an der Käsetheke; in der rechten Hand ein Messer, an dem noch das Preisschild baumelte. «Ich krieg dich, du Schlampe.» Es war nicht mehr als ein leises, drohendes Zischen. Aber Maike erstarrte vor Angst. Dann lächelte er sie an und ging. Immer wieder rief sie sich die Szene in Erinnerung, und irgendwann fragte sie sich, ob sie sich die Drohung nur eingebildet hatte.

 

Maike hörte, wie jemand im Laufschritt die drei Stufen zu ihrem Hauseingang nahm. Dann klapperte der Briefschlitz. Vorsichtig sah sie aus dem Fenster. Der Zeitungsausträger. Sie seufzte erleichtert. Sie musste daran denken, wie sie den Sonntagmorgen früher immer genossen hatte. Die Zeitung, ein Milchkaffee im Bett und die Vorhänge offen, sodass die Sonne in ihr Zimmer scheinen konnte. Wie weit das weg war.

Sie spürte, wie der Ärger in ihr hochkroch. Mit einem Satz war sie an der Tür und lief barfuß und im Schlafanzug die zwei Stockwerke hinunter zum Hauseingang. Sie kannte ihre Mitbewohner. Um diese Zeit schliefen die meisten noch. Selbst die alte Frau ein Stockwerk unter ihr würde erst in einer halben Stunde mit dem Hund rausgehen. Maike griff sich die drei Tageszeitungen, die der Austräger gebracht hatte, als sie ein Geräusch im Treppenhaus hörte. Einen Moment lauschte sie angestrengt. Doch es blieb still. Während sie die Treppen zu ihrer Wohnung hinaufstieg, las sie die Schlagzeilen auf der Titelseite und legte die zwei anderen Zeitungen gedankenverloren vor die Türen ihrer Nachbarn.

Noch immer in ihre Lektüre vertieft, ging sie zurück in ihre Wohnung. Mit dem rechten Bein stieß sie die Tür hinter sich zu. Anschließend schloss sie mehrmals von innen ab und legte auch den eisernen Querriegel vor. Dann ging sie in ihre kleine Küche, um sich Kaffeewasser aufzusetzen.

Was sie auf dem Küchentisch sah, ließ sie erstarren: Auf dem bunten Bastuntersatz stand ein Strauß frischer Feuerlilien.

«Die habe ich extra für dich besorgt. Sollte eine kleine Überraschung sein», sagte eine Männerstimme hinter ihr. «Ich hoffe, sie ist mir gelungen.»

Maike fuhr herum. Der kräftige Mann füllte den kleinen Hausflur ganz aus. Er musterte sie schamlos und schien sich an ihrem Schrecken zu weiden.

«Wie wäre es mit einem gemeinsamen Frühstück? Hm?» Er holte eine Tüte mit Brötchen hinter seinem Rücken hervor und legte sie zu den Blumen. Dabei wäre er fast auf die Katze getreten, die von ihrem Stuhl gesprungen war. Ärgerlich verpasste er dem Tier einen Tritt. «Hau ab, du Mistvieh!» Er traf die Katze mit voller Wucht am Bauch. Tessas Aufheulen riss Maike aus ihrer Erstarrung. Die Angst war wie weggeblasen. Sie fühlte nur noch unbändige Wut.

«Was fällt dir ein, hier einzudringen! Ich will nicht mit dir frühstücken. Ich will dich auch nicht mehr sehen!», schrie sie. «Wenn du nicht sofort verschwindest, dann ruf ich die Polizei.» Sie griff die Lilien, riss das Küchenfenster auf und warf die Blumen in hohem Bogen aus dem Fenster. «Und deine Scheißlilien will ich auch nicht!»

Ein paar Sekunden lang schaute sie den Blütenköpfen voller Genugtuung nach. Sie bildeten auf dem kleinen Hinterhof einen Halbkreis. Triumphierend drehte Maike sich um.

Als sie in seine Augen sah, wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte.

[zur Inhaltsübersicht]

2

Die Löschfahrzeuge der Feuerwehr waren noch mehrere Straßenzüge entfernt, doch das durchdringende Heulen der Sirenen wurde mit jeder Sekunde stärker. Aus der Ferne beobachtete er die Menschentraube auf der Straße vor dem Mehrfamilienhaus.

Mit einem Knall zerbarst die Fensterscheibe des Badezimmers. Ein Ruck ging durch die Zuschauer. Angstvoll zeigten sie auf das Fenster in der zweiten Etage des Hauses. Sekundenschnell verzehrten die Flammen die herauswehende Gardine. Ein paar glühende Fetzen wehten in den Vorgarten und erloschen zwischen zwei Buchsbäumen.

Voller Genugtuung sog er den Brandgeruch ein. Bis zum Eintreffen der Löschfahrzeuge würde das Feuer die gesamte Wohnung zerstört haben. Im Schlafzimmer würden die Helfer eine Leiche finden. Oder das, was Hitze und Feuer am Ende von einem Menschen übrig lassen: ein schwarzes, verkohltes Etwas, auf den ersten Blick kaum zu unterscheiden von dem herumliegenden Brandschutt. Die Brandsachermittler der Polizei würden keine Spuren finden. Dafür hatte er gesorgt. Er wusste, worauf er achten musste. Alles würde nach einem Unfall aussehen. Wie oft passierte es schließlich, dass jemand mit einer brennenden Zigarette einschlief und dabei Bett oder Sofa in Brand setzte. Die Rauchgase machten das Opfer bewusstlos oder lähmten es. Es gab Fälle, in denen Menschen ihren Feuertod bei vollem Bewusstsein erlebt hatten.

Als er Maikes Wohnung verließ, lebte sie noch. Er hatte ihr das Kissen nach einem kurzen Kampf nur so lange aufs Gesicht gedrückt, bis sie das Bewusstsein verlor. Bei einer möglichen Obduktion würde der Gerichtsmediziner feststellen, dass das Opfer Rauchgase eingeatmet hatte und daran gestorben war. Eine Brandleiche, in deren Lungen sich kein Kohlenmonoxid befand, hätte sofort die Mordkommission auf den Plan gerufen.

Er wusste, was er tat. Aber vorhin hätte er fast einen Fehler begangen. Bei dem Gedanken daran schnaubte er wütend.

Maike war Raucherin. Wieder etwas, was sie gemeinsam hatten. Sie rauchten sogar dieselbe Sorte. Als er keine Zigaretten in ihrer Wohnung fand, nahm er seine eigenen aus der Jackentasche und legte die Schachtel neben den Aschenbecher auf ihr Bett. Die Flammen würden sowieso alles verschlingen.

Die Bettdecke, unter der sie besinnungslos lag, brannte schon an einer Ecke, als er es sich noch einmal anders überlegte. Er durfte kein Risiko eingehen. Tatsächlich fand er doch noch eine angebrochene Schachtel auf dem Wohnzimmertisch. Das Zimmer machte einen chaotischen Eindruck. Unaufgeräumt, irgendwie ungemütlich. Es passte nicht zu ihr. Er fügte diese Beobachtung gedanklich den Hunderten von Details hinzu, die er inzwischen über sie wusste. Aber im Augenblick hatte er keine Zeit, sich darüber weiter den Kopf zu zerbrechen. Jeden Moment könnte der Brand von Nachbarn bemerkt werden.

Er lauschte an der Tür zum Hausflur. Alles im Treppenhaus war ruhig. Leise öffnete er die Tür. Dabei zog er sich seinen Pullover über die Hand, um keine Abdrücke an der Klinke zu hinterlassen. Aus dem Schlafzimmer quoll bereits dichter schwarzer Rauch, als er unbemerkt auf die Straße trat und langsam, die Hände in den Hosentaschen, davonschlenderte.

Der erste Löschwagen bog um die Ecke, als er gerade zur Bushaltestelle ging. Während er sein Ticket löste, überholte ein Streifenwagen zwei Autos und raste zum Brandort. Er setzte sich direkt hinter den Busfahrer und kämpfte gegen eine plötzlich aufkommende Trauer an. Er hatte sie geliebt. Nein, das beschrieb es nicht. Er hätte alles für sie getan. Sie umsorgt, beschützt, verehrt. Sie hätten perfekt zusammengepasst. Wenn sie es denn zugelassen hätte.

Seit ihrer ersten Begegnung war keine Stunde vergangen, in der er nicht an sie gedacht hatte. Er hatte heimlich Fotos von ihr geschossen und sie vergrößert.

Maike, wie sie auf dem Rad zur Arbeit fuhr, wie sie auf dem Wochenmarkt Äpfel kaufte und dabei die Händlerin anlachte. Maike, wie sie mit einer Freundin vor dem Kino am Marktplatz stand oder mit einer Tüte Brötchen über die Straße ging.

Am liebsten war ihm das Bild, auf dem Maike direkt in die Kamera schaute. Ein verwunderter, neugieriger Blick. Auf ihrem Gesicht schien ein Lächeln zu liegen. Deutlich war ihr Grübchen auf der rechten Wange zu sehen. Er hatte den Schnappschuss auf DIN A3 vergrößert, ihn kopiert und im Bad, auf dem Flur und im Schlafzimmer aufgehängt. Wie oft hatte er das Gesicht gestreichelt und es zu deuten versucht. Je nachdem aus welchem Winkel der Wohnung er das Foto anschaute, entdeckte er Neugierde, Sehnsucht oder ein flehentliches Bitten. Nach einigen Wochen fühlte er tief in sich, dass sie ihn auch begehrte. Aber sie war eine Meisterin darin, ihre Gefühle zu verbergen, sie in Schroffheit und Ablehnung zu kleiden. Sie waren füreinander geschaffen. Aber manche Menschen brauchten wohl einen Führer, um zu ihrem Lebensglück zu finden. Sie war es wert, dass er um ihre gemeinsame Zukunft kämpfte. So hatte er es wochenlang, monatelang hingenommen, wenn sie ihn vor den Kopf stieß, seine zahllosen E-Mails und SMS nicht beantwortete oder ihn aus dem Wartezimmer der Praxis warf. Aber Maikes Versuche, sich gegen ihre Liebe zu wehren, hatten ihn von Woche zu Woche mehr ausgelaugt. In einer nächtlichen Wutattacke zerstach er alle vier Reifen ihres Autos. Er schlitzte ihren Fahrradsattel auf. Er schämte sich später dafür, aber warum musste sie auch ihr Glück so mit Füßen treten?

In den zurückliegenden Wochen bekam er sie nur noch selten zu Gesicht. Zu Hause in ihrer Wohnung blieben die beiden Zimmer, die zur Straße lagen, abends immer unbeleuchtet. Aus Sorge um sie passte er eines Nachts Maikes Nachbarin ab.

Jeden Tag ging die alte Frau um 23 Uhr ein letztes Mal mit ihrem Hund vor die Tür. Genau 15 Minuten später kehrte sie von ihrem Spaziergang zurück. Die Frau hatte die Angewohnheit, die Haustür für ihren kurzen Gang um den Straßenblock nicht abzuschließen. Sie ließ die automatisch zuschwingende Tür einfach ins Schloss fallen. Im Schatten eines Busches, dicht an die Hauswand gepresst, wartete er den richtigen Moment ab und schlüpfte in den Hausflur, bevor sich die Tür hinter ihm wieder schloss. Die nächsten zehn Minuten verbrachte er lauschend vor Maikes Wohnungstür. Manchmal hörte er sie gedämpft sprechen oder husten. Kurz bevor die alte Nachbarin mit ihrem Hund zurückkehrte, verschwand er. Gewissenhaft schloss die Frau die Haustür nach ihrem Spaziergang wieder ab. Zweimal. So, wie sie es auf der jüngsten Eigentümerversammlung auf Drängen der jungen Frau aus dem zweiten Stock beschlossen hatten.

 

Der Bus fuhr plötzlich rechts ran und stoppte abrupt. Zwei weitere Löschzüge fuhren mit hoher Geschwindigkeit vorbei.

 

Sie hatte den Bogen überspannt. Irgendwann erträgt auch die größte Liebe keine Zurückweisung mehr. Tag und Nacht hatte er um sie gekämpft. Irgendwann lebte er nur noch für sie und konnte kaum mehr arbeiten. Er hatte sich nach ihr verzehrt. Jetzt verzehrten die Flammen sie.

Während er aus dem Fenster schaute, spürte er, wie sich Erleichterung in ihm breitmachte. Alle schmerzvollen Gedanken würde er hinter sich lassen. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich leicht und entspannt. Der ständige Druck, Maike morgens oder abends zu verpassen, nicht die richtigen Worte zu finden oder zu früh aufzugeben, war wie weggeblasen.

Im Vorbeifahren sah er, wie sich ein Junge auf dem Bürgersteig an seinen Mischlingshund schmiegte und lächelte.

[zur Inhaltsübersicht]

3

Ungläubig starrte Frank Steenhoff in die Kaffeedose neben seinem Schreibtisch. Leer. Dabei hatte er sie erst vor einer Woche aufgefüllt. Vermutlich hatten sich in seiner Abwesenheit wieder seine Kollegen aus dem Nachbarzimmer bedient. Jetzt konnte er sehen, woher er um diese Uhrzeit eine Tasse Kaffee bekam.

Genervt riss Steenhoff die Schreibtischschubladen auf. Vielleicht hatte er noch irgendwo ein Glas Instantkaffee stehen. Doch er fand nur eine halbe Tafel Schokolade und eine Packung Brühwürfel. Sein Blick fiel auf den Schreibtisch gegenüber. Vielleicht hatte er dort Glück.

Steenhoff zog gerade die unterste Schublade auf, als die Bürotür aufging. Eine schlanke junge Frau schaute ihn verwundert an. «Kann ich dir irgendwie behilflich sein?»

Die Stimme klang freundlich, aber Steenhoff sah, wie die feingeschwungene linke Augenbraue der Frau sich um ein paar Millimeter nach oben zog.

Peinlich berührt seufzte Steenhoff. «Entschuldige, Navideh, dass ich in deinem Schreibtisch rumwühle. Mein Kaffee ist alle. Und ich dachte, du hättest vielleicht noch irgendwo ein Depot für alle Fälle.»

Navideh sah ihn spöttisch an. «Und so was schimpft sich Kriminalist. Seit einem Jahr sitzen wir zusammen, und du weißt immer noch nicht, dass ich nur Tee trinke. Deine Beobachtungsgabe sparst du dir wohl für unsere Kundschaft auf?»

Steenhoff wollte etwas erwidern, schluckte die Antwort aber hinunter. Tatsächlich hatte er bislang über keinen seiner Kollegen in der Mordkommission so viel nachgedacht wie über Navideh Petersen. Navideh war gebürtige Perserin und als Kind mit ihrer Familie vor dem Mullah-Regime nach Deutschland geflüchtet. Mit 19 hatte sie einen Bremer Jurastudenten geheiratet, um der Enge ihrer Familie zu entfliehen. Doch nach wenigen Jahren ließ sie sich wieder scheiden. Den deutschen Nachnamen ihres Exmannes behielt sie, aber das Interesse an Männern hatte sie ganz offensichtlich verloren. Seit vier Jahren lebte sie mit einer Frau zusammen. Die Tatsache, dass die hübsche Kollegin von Männern nichts wissen wollte, schien manchen Ermittler aus dem 1. Kommissariat zu reizen. Doch Petersen ging auf keinen der vielen Flirtversuche ein und blieb immer eine Spur distanziert. Steenhoff hatte sich an dem Balzgehabe nie beteiligt. Vielleicht war das der Grund, warum Navideh das Büro gern mit ihm teilte. Sie waren in der Vergangenheit schon oft aneinandergeraten, aber er schätzte ihre hellwache, engagierte Art, an einen Fall heranzugehen, und ihre Verlässlichkeit.

Vor einem Jahr hatten sie wochenlang einen sadistischen Serienmörder gejagt. Die dramatische Festnahme des Täters hätte Steenhoff wohl kaum unverletzt überstanden, wenn Navideh Petersen nicht darauf bestanden hätte, ihn in der Nacht auf die Jugendfarm zu begleiten. Er schob die Gedanken an den Fall beiseite. Immer wieder kam die Erinnerung an die grausigen Details hoch. Wahrscheinlich lag es daran, dass seine Tochter Marie damals … Nein. Verdammt. Er wollte nicht mehr daran denken. Nicht jetzt. Am besten gar nicht mehr.

Steenhoff spürte, wie Petersen ihn musterte.

«Du wirkst ja völlig verloren, ohne deinen Kaffee.»

Navideh schloss die Tür hinter sich, zog ihre braune Lederjacke aus und warf sie über ihren Stuhl. «Ich werde uns jetzt einen persischen Tee aufbrühen, der uns durch die Nacht bringt.»

Kurz darauf kam Petersen mit dem Wasserkocher ins Büro zurück. Sie gab eine Handvoll Teeblätter und ein paar Kräuter in ihre silberne Kanne, die sie extra von zu Hause mitgebracht hatte, und goss das Wasser in hohem Bogen aus dem Kocher in das Gefäß. Interessiert beobachtete Steenhoff ihre Handgriffe, die in ihrer Konzentriertheit an ein altes Ritual erinnerten. Petersen hatte ihm den Rücken zugedreht, während sie mit dem Tee beschäftigt war. Das eng anliegende T-Shirt und die Jeans betonten ihre sportliche Figur. Er zwang sich, wieder in seine Akten zu schauen, und seufzte unbewusst. Petersen, die es gehört hatte, reagierte prompt. «Der Tee ist ja gleich fertig. Nur noch zwei, drei Minuten, und er hat genug gezogen.»

Sie holte sich eine Akte aus dem Schrank und schien gezielt eine Passage zu suchen. Nach ein paar Minuten unterbrach sie ihr Aktenstudium und stellte Steenhoff eine Tasse auf den Schreibtisch.

«Danke», sagte er. Ein zarter Duft von Minze stieg ihm in die Nase. Unwillig nippte er an dem heißen Getränk. Er wollte Kaffee und keinen Tee. Wer auch immer so unverschämt gewesen war, seinen Kaffee auszutrinken, würde morgen von ihm ein paar Takte zu hören kriegen. Demonstrativ schaute er auf die Uhr. «Sag mal, Navideh, weißt du eigentlich, wie spät es ist?»

«20 Uhr. Aber soviel ich sehe, bist du ja auch noch hier.»

«Ich habe Mordbereitschaft und gehe um 22 Uhr nach Hause», sagte Steenhoff bestimmt.

«Dann bin ich hier auch weg», kündigte Petersen an. «Aber mir kam zu Hause ein Gedanke zu unseren Raubüberfällen, und Vanessa ist für zwei Tage zu ihren Eltern gefahren. Da bin ich noch mal zurück ins Büro.»

Interessiert schaute Steenhoff sie an. «Was für ein Gedanke?»

«Gleich. Lass mich erst die Stelle in der Akte finden. Dann erzähl ich es dir.» Langsam blätterte Petersen das letzte Drittel der Seiten durch.

 

Seit drei Wochen saßen sie an einer ungewöhnlichen Raubserie. Eigentlich kein Fall für die Mordermittler. Doch die näheren Umstände deuteten darauf hin, dass die Täter für ein paar Euro notfalls auch töten würden. Zwei schwerverletzte Menschen an fünf Tatorten gingen bereits auf ihr Konto. Steenhoff zweifelte nicht daran, dass die Männer zu allem bereit waren.

Das Duo ging immer nach demselben Schema vor. Sie hatten es auf die Filialen einer großen Drogeriekette abgesehen. Die Bedingungen waren günstig. Nachmittags, wenn die angelieferte Ware schon in die Regale verteilt war, hielt sich oft nur eine Verkäuferin in der Filiale auf. Und obwohl die Drogerien fast alle an Hauptverkehrsstraßen mit viel Laufkundschaft lagen, riskierten es die beiden Räuber, die Geschäfte am helllichten Tag auszurauben. Einer von ihnen ging hinein, spähte den Tatort aus und gab vermutlich per Handy das Signal, wann sein Komplize das Geschäft betreten sollte. Der Maskierte verschenkte keine Sekunde. Mit ein paar Schritten war er bei der Verkäuferin, richtete seinen Revolver auf ihren Kopf und sagte nur drei Worte: «Geld! Los, los!»

Der bislang letzte Überfall fand im früheren Arbeiterviertel Gröpelingen statt. Die 24-jährige Verkäuferin konnte sich vor Angst kaum rühren. Während einer der Männer die Scheine in eine Tüte packte, fing sie plötzlich an, hysterisch zu schreien. Der Bewaffnete reagierte sofort. Unter einem massiven Schlag mit dem Revolverknauf sackte die Frau blutüberströmt zusammen. Ohne sich um das Opfer zu kümmern, sammelten die Männer das Kleingeld ein und verließen ruhig und unmaskiert das Geschäft. Am Eingang liefen sie einem sechsjährigen Jungen in die Arme. Das Kind fand das besinnungslose Opfer und rannte weinend zum Gemüsegeschäft seiner Mutter.

Sieben Minuten später hielt der Notarztwagen vor der Drogerie, kurz darauf auch der Streifenwagen. Da der kleine Junge noch immer unter Schock stand und keine Personenbeschreibung abgeben konnte, blieb die Fahndung nach den Männern erfolglos. Zehn Tage zuvor hatte es eine Filiale im Süden Bremens, in Kattenturm, getroffen. Doch da hatten sich die Täter verrechnet. Die Angestellte war nicht allein. In einem kleinen Raum im hinteren Teil des Ladens ging der zuständige Bezirksleiter stichprobenartig die Umsätze der vergangenen Wochen durch.

Matthias Schomek hatte einen Verdacht, als er an diesem Montagnachmittag die Ausdrucke mit den Umsätzen des Geschäftes an der Kattenturmer Heerstraße mit denen aus Filialen in der näheren Umgebung verglich. Tatsächlich waren die Umsätze seit rund sechs Wochen stetig rückläufig. Er sah durch die Glastür und beobachtete Ingeborg Clausen, wie sie Spülmittel in die Regale räumte. Eine Kundin sprach die Verkäuferin an und wurde unwirsch abgefertigt. Ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, zeigte Ingeborg Clausen nur kurz hinter sich. Matthias Schomek sah, wie die Kundin wütend in die angegebene Richtung ging und konzentriert ein Regal von oben bis unten mit den Augen absuchte. Schließlich zuckte sie hilflos mit den Achseln und rief der Verkäuferin etwas zu. Empört registrierte der Bezirksleiter, dass seine Mitarbeiterin auch jetzt nicht ihre Arbeit unterbrach. Am liebsten wäre er in den Verkaufsraum gegangen und hätte der Kundin persönlich geholfen. Aber es war nicht sein Stil, die Verkäuferinnen vor den Kunden zu maßregeln. Und mit Ingeborg Clausen würde er sowieso ein ernstes Wort zu reden haben.

Die Zahlenreihen verrieten Schomek, dass die Geschäfte seit Ingeborg Clausens Einstellung deutlich schlechter liefen. Er selber hatte ihr vor mehreren anderen Bewerberinnen den Vorzug gegeben. Ihre zupackende Art hatte ihm gefallen. Aber sie schien wenig Gespür im Umgang mit Kunden zu haben.

Ein Rumpeln ließ Schomek hochschrecken. Fassungslos sah er, wie ein maskierter Mann mehrere Packungen Kaffee vom obersten Regal hinunterstieß. Drohend hielt er eine Waffe auf Ingeborg Clausen gerichtet. Doch die ließ sich nicht einschüchtern. «Verpiss dich! Bei mir zieht die Masche nicht!», schrie sie. Ein zweiter Mann tauchte auf. Auch er war maskiert. Seine Faust traf Ingeborg Clausen unterhalb des linken Auges. Die Verkäuferin taumelte rückwärts und versuchte vergeblich, sich an einem Regal festzuhalten.

Mit einem Ruck riss Matthias Schomek die Tür zum Verkaufsraum auf. Der Bewaffnete wirbelte herum. Noch immer war der Bezirksleiter weit genug entfernt, dass beide Täter hätten fliehen können. Doch der Unbekannte richtete seine Pistole auf Schomek und schoss. Der erste Schuss traf den großen Mann an der Schulter. Der heftige Schmerz ließ ihn taumeln. Die zweite Kugel traf seine Hüfte. Der Schütze vergewisserte sich, dass der Mann außer Gefecht gesetzt war, und gab seinem Komplizen ein Zeichen. Dieser riss Ingeborg Clausen hoch, hielt ihr ein Messer vor das Gesicht und forderte sie auf, die Kasse zu öffnen. Die 50-jährige Frau hatte jede Gegenwehr aufgegeben. Sie öffnete hastig die Kasse, griff die Scheine und warf sie in die Tüte, die der Mann ihr hinhielt. Sekunden später waren die Männer verschwunden.

Ingeborg Clausen alarmierte sofort die Polizei und stürzte dann zu Schomek. Beherzt versorgte sie die stark blutende Wunde. Obwohl sie am Rande eines Nervenzusammenbruchs war, versuchte sie beruhigend auf ihren Vorgesetzten einzureden. «Gleich wird alles gut. Der Notarzt muss jede Minute hier sein, Chef», hörte sie sich selber sagen. Schomeks Atem ging immer flacher. Als Ingeborg Clausen endlich in der Ferne das Martinshorn hörte, hätte sie schwören können, bereits eine halbe Stunde gewartet zu haben. Tatsächlich waren keine neun Minuten vergangen.

 

«Na also», sagte Petersen und zeigte auf die Passage, die sie zum wiederholten Male gelesen hatte. Steenhoff war gerade dabei, einen Bericht über einen Leichenfund im Grünzug der Neustadt zu verfassen. Interessiert unterbrach er seine Arbeit.

«Hast du dir mal die Summen angeguckt, die unser Duo im Durchschnitt erbeutet hat? Zwischen 1500 und 1800 Euro», sagte sie, und ihre Stimme klang triumphierend.

«Und?», fragte Steenhoff gespannt.

«Dafür erschieße ich doch keinen Menschen und riskiere eine lange Haftstrafe.»

«Unsere beiden offenbar doch», sagte Steenhoff.

«Aber wir sind uns einig, dass es sich bei der Vorgehensweise nicht um Junkies handeln kann», erwiderte Petersen und fuhr fort, ohne Steenhoffs Antwort abzuwarten. «Außerdem waren alle Zeugen sicher, dass es sich bei den Tätern um Männer zwischen 25 und 40 handelt.»

Steenhoff nickte. «Okay. Mach weiter.»

«Das heißt, unsere übliche multikulturelle jugendliche Klientel scheidet schon mal aus.» Steenhoff antwortete nicht, was Petersen als Ermunterung verstand weiterzureden.

«Ich sage dir, dahinter steckt eine gutorganisierte Bande. Und es würde mich nicht wundern, wenn wir eines Tages auf dieselben osteuropäischen Typen träfen wie bei den bundesweiten Überfällen auf Juweliere.»

Nachdenklich nahm Steenhoff einen Schluck aus seiner Tasse und verzog das Gesicht. Als Petersen erneut in ihren Akten blätterte, goss er den Tee in den großen Benjamini, der ihre Schreibtische trennte.

Erleichtert stellte er fest, dass seine Kollegin die heimliche Entsorgungsaktion nicht bemerkt hatte.

«In der Tat spricht einiges für deine These», fuhr Steenhoff fort. «Diese gnadenlose Brutalität kenne ich eigentlich nur von Verbrechern, die entweder aus Bürgerkriegsgebieten kommen oder als junge Männer in der russischen Armee Dienst geschoben haben.»

Unbewusst griff er zur Tasse und stellte sie im selben Moment wieder ab. Petersen stand sofort auf, griff ihre silberne Kanne und füllte großzügig nach. «Du wirst noch zum Teetrinker», stellte sie befriedigt fest. Steenhoff stieß einen stummen Fluch aus. «Halte dich nicht zurück. Ich koch uns gleich noch eine neue Kanne. Persischer Tee inspiriert», verkündete Petersen, goss den Rest in ihre Tasse und verließ das Büro, um den Wasserkocher wieder aufzufüllen.

Dankbar stellte Steenhoff fest, dass der Benjamini auch die zweite Tasse Minztee klaglos in sich aufsog.

«Was außerdem für deine Theorie spricht, ist die Tatsache, dass unsere beiden immer nur drei Worte sprechen», setzte Steenhoff den Dialog fort, als seine Kollegin wieder zur Tür hereinkam. «Egal was passiert oder wie dramatisch sich eine Situation entwickelt – sie bleiben bei ‹Geld! Los, los›. Ansonsten scheinen sie sich blind zu verstehen. Nie gibt es Streit um die Vorgehensweise.»

«So gehen nur gut eingespielte Serientäter vor», sagte Petersen.

«Und deswegen werden sie weitermachen», spielte Steenhoff ihr den Ball grimmig zurück. «Aber diesmal werden wir sie erwarten.» Vor Überraschung verschluckte sich Petersen an ihrem frisch aufgebrühten Tee.

«Sag mal, Frank, weißt du, wie viele Filialen die in Bremen haben?»

«Ja, 31», erwiderte Steenhoff trocken.

«Wie sollen wir die alle überwachen?»

Statt einer Antwort warf Steenhoff ihr einen Schnellhefter mit einer 20-seitigen Analyse auf den Schreibtisch.

«Ich habe unsere Fallanalytiker gebeten, systematisch nach Gemeinsamkeiten der vergangenen fünf Fälle zu suchen und eine Prognose abzugeben, welche Filialen in Zukunft in Frage kommen.»

Er machte eine kleine Pause. «Die Kollegen gehen von drei bis vier Geschäften aus. Alle liegen gegenüber von Parkplätzen oder unbebauten Grundstücken, sodass sie nicht direkt einzusehen sind. Da die Räuber nie morgens oder mittags kommen, können wir unsere Observation auf wenige Stunden am Tag beschränken.» Steenhoff lehnte sich zurück.

«Ich werde gleich morgen mit Thorsten Marx vom MEK sprechen. Die sollen uns mal ein paar Tage unter die Arme greifen.» Petersen fasste sich in ihre langen gewellten Haare und drehte sie zu einem Zopf, der aus für Steenhoff unerklärlichen Gründen ohne Haarnadel am Hinterkopf hielt. Ihr Schweigen breitete sich unangenehm in dem kleinen Büro aus. Es war Steenhoff, der als Erster nachgab. «Also, was ist los, Navideh?»

Petersen räusperte sich. «Nun, ich frage mich, warum wir eigentlich zu zweit an dem Fall arbeiten, wenn du schon alles allein im Griff hast.»

Bevor Steenhoff etwas erwidern konnte, griff sie sich ihre Lederjacke. An der Tür drehte sie sich noch einmal um.

«Ach ja. Die Minzeblätter in deinem Benjamini solltest du eingraben. Wer weiß, vielleicht wirkt persischer Tee ja auch auf Topfpflanzen inspirierend.»

[zur Inhaltsübersicht]

4

Wütend schlug Steenhoff auf seine Schreibtischunterlage. Petersen beherrschte die Kunst, treffsicher verbale Ohrfeigen auszuteilen. Mit einem männlichen Kollegen hätte es einen handfesten Streit gegeben, sachlich und ohne Nachspiel. Aber mit einer Frau war es schwieriger, Meinungsverschiedenheiten auszutragen. Er schaute aus dem Fenster und sah Petersen auf ihrem Mountainbike davonfahren. ‹Vielleicht habe ich auch einfach weniger Übung darin›, dachte er.

Tatsächlich gab es seit einigen Jahren immer wieder sogenannte Durchläuferinnen in der Mordkommission. Aber nur wenige Frauen hielten es längere Zeit bei ihnen aus. Steenhoff und seine Kollegen nahmen an, dass der Job für Frauen einfach zu belastend war. Ständig hatten sie es mit Leichen zu tun, mit grausigen Tatorten und Schicksalen, die unter die Haut gingen. Wer beim 1. Kommissariat arbeitete, brauchte Einfühlungsvermögen. Man musste Zeugen zum Reden bringen, Angehörigen Todesnachrichten übermitteln. Aber um nachts trotzdem ruhig schlafen zu können, durfte man die Arbeit nicht zu nah an sich heranlassen. Steenhoff musste schmunzeln, als er an den Tag dachte, an dem eine junge Kripobeamtin mit dem langjährigen Irrglauben der Männer im 1. K aufräumte.

«Frauen fürchten sich nicht vor Tod und Blutlachen, sonst gäbe es ja wohl kaum so viele Ärztinnen und Krankenschwestern», hatte sie eines Morgens nach einer Diskussion angemerkt. «Das Problem bei euch ist, dass man bei einem Kapitaldelikt nicht einfach um 18 Uhr nach Hause gehen kann, um seinen Kindern die Brote zu schmieren und die Gutenachtgeschichte vorzulesen. Die Arbeit im 1. K ist einfach absolut familienfeindlich.»

«Aber die meisten Kollegen haben doch Familie», wandte ein jüngerer Beamter ein. Die Kripobeamtin schaute ihn amüsiert an und meinte: «Ein paar mehr engagierte Hausmänner auf dem Heiratsmarkt, und ihr hättet hier auch mehr Kolleginnen.» Navideh war eine Ausnahme. Sie lebte seit vier Jahren mit Vanessa zusammen, und Kinder waren für beide kein Thema. Außerdem wusste Steenhoff, dass sie die Arbeit im 1. K mochte und sich nicht vorstellen konnte, in einer anderen Abteilung zu arbeiten. Seit gut einem Jahr teilten sie das kleine Büro im Dachgeschoss des Polizeipräsidiums, und Steenhoff hatte keinen Anlass, an ihrem Engagement zu zweifeln. Er nahm sich vor, Petersen am nächsten Morgen zu erklären, warum er sie nicht früher über die geplante Observation hatte informieren können. Die Fallanalytiker hatten ihre Einschätzung schließlich erst am frühen Nachmittag bei ihm abgegeben. Zu dem Zeitpunkt war Petersen noch bei dem angeschossenen Zeugen im Krankenhaus gewesen.

Sie hätte sich ja auch nicht gleich so aufregen müssen. Missmutig warf Steenhoff einen Kuli auf den Schreibtisch und wandte sich wieder seinem Computer zu. Der Bericht über die Drogentote musste noch fertig werden, und morgen, wenn Kollege Michael Wessel «Mordbereitschaft» hatte, konnte Steenhoff mit Petersen an der Raubserie Weiterarbeiten.

Gegen 22.30 Uhr machte er sich endlich auf den Heimweg ins Moor. Mit seiner Frau Ira und der 16-jährigen Tochter Marie bewohnte Steenhoff einen ausgebauten Resthof. Obwohl sie schon seit Jahren auf dem Land lebten, fühlten sich alle drei als Städter. Marie ging in Bremen zur Schule, Steenhoff arbeitete bei der Bremer Polizei und war genau wie Ira in der Stadt aufgewachsen.

Als er in die dunkle Hofeinfahrt einbog, sah er den unbeleuchteten Raum über dem Wohnzimmer. Wehmut erfasste ihn. Seit vier Wochen war Marie nun in Neuseeland. Elf Monate würde er seine Tochter nicht sehen. Elf Monate. Fast ein ganzes Jahr. Immer noch rebellierte er innerlich gegen diesen Schüleraustausch. Dabei war er durchaus der Meinung, dass junge Leute möglichst viel von der Welt sehen sollten. Aber seit der furchtbaren Nacht auf der Jugendfarm, in der er Marie um Haaresbreite verloren hätte, lebte er in ständiger Angst um sie.

Wenn sie nachts mit ihren Freundinnen aus der Disco kam, bestand er darauf, dass er selbst und kein anderer Vater die Gruppe abholte. Außerdem hatte Steenhoff Marie ein neues Handy geschenkt. Zwei-, dreimal am Tag rief er sie unter irgendeinem Vorwand an. Ira fiel es leichter loszulassen, und sie machte ihm Vorwürfe wegen seines «Kontrollzwangs», wie sie es nannte. «Du musst dich von den schlimmen Bildern auf der Jugendfarm lösen oder deine Angst um Marie mit professioneller Hilfe bearbeiten, wenn du es allein nicht schaffst», meinte Ira. Steenhoff hielt schroff dagegen, er habe keine übertriebene Sorge um Marie, er wolle schließlich nur wissen, wo sie sich aufhalte. «Das geht doch jedem Vater so. Das ist doch ganz normal», fügte er noch hinzu. «Aber du möchtest am liebsten einen hohen Zaun um deine Tochter ziehen», erwiderte Ira.

Dann überraschte Marie sie beide mit ihrem Wunsch, für ein Jahr als Austauschschülerin nach Neuseeland zu gehen.

Ira war begeistert und traurig zugleich. Im Gegensatz zu Steenhoff konnte sie ihre widersprüchlichen Gefühle gleich in Worte fassen. Noch am selben Abend überwogen bei Ira die positiven Gedanken. Gemeinsam surften Mutter und Tochter im Internet und informierten sich über Wellington. Steenhoff fühlte sich ausgeschlossen. Außerdem hatte er Angst um Marie.

«Wieso gleich ein ganzes Jahr und wieso ans andere Ende der Welt?», fragte er, als sie in der Nacht Maries Entschluss besprachen.

«Ich glaube, das ist ihre Art, Abstand zu bekommen», erwiderte Ira. «Vielleicht haben wir sie auch zu sehr eingeengt mit unserer Fürsorge.»

Steenhoff wusste, dass Ira recht hatte. Aber er konnte es sich nicht verzeihen, seine Tochter in so große Gefahr gebracht zu haben.

 

Am nächsten Morgen begrüßte Petersen ihn so höflich distanziert, dass es ihn Überwindung kostete, ihr zu erklären, warum er ihr nicht früher von seinen Observationsplänen berichtet hatte. Zu seiner Überraschung musterte sie ihn einen Augenblick und ließ sich dann seufzend in ihren Bürostuhl zurückfallen. «Okay. Wenn das so ist, muss ich mich wohl in aller Form bei dir entschuldigen.»

Im selben Atemzug beugte sie sich zu ihrer Tasche und holte ein Päckchen «Münchhausen Kaffee» heraus.

«Der ist doch nicht etwa für mich?» Steenhoff schaute sie verblüfft an.

«Ich kann ihn auch gerne an die Kollegen im Nachbarzimmer weiterreichen», sagte Petersen und grinste. Steenhoff schüttelte energisch den Kopf und nahm ihr das Päckchen aus der Hand. «Woher weißt du, dass ich diesen Kaffee so gern trinke?»

«Na ja, ab und an telefonierst du mit deiner Frau, und ich kann trotz dieses wuchernden Monsterbaumes zwischen uns nicht verhindern, gelegentlich mitzuhören. Neulich ging es um den angeblich besten Kaffee der Welt, den ‹Münchhausen Kaffee›. Ira hatte aber gerade vier Pfund fairgehandelten Kaffee aus dem Eine-Welt-Laden im Viertel geholt, und du warst wenig begeistert.» Steenhoff zuckte mit den Achseln. «Du hast recht. Was Kaffee betrifft, kann ich ziemlich anspruchsvoll sein.»

Petersen wollte etwas erwidern, als Steenhoffs Telefon klingelte. Nachdem er aufgelegt hatte, wirkte er zufrieden. «Das war Thorsten Marx vom MEK. Die werden uns ab Ende der Woche für zehn Tage drei Filialen abnehmen und sie observieren. Eine vierte Filiale übernehmen wir vom 1. K.»

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er zur Tür. «Ich sage Bernd Tewes Bescheid, damit er uns seinen Segen gibt.»

«Aber es ist doch längst alles entschieden», sagte Petersen trocken.

«Stimmt.» Steenhoff lächelte verschmitzt und verschwand im Flur.

Als er eine Stunde später wiederkam, war seine gute Stimmung wie weggeblasen. Unter seinem Arm klemmte ein Aktenordner. Aufgebracht warf er die Unterlagen auf seinen Schreibtisch. «Tewes hat wohl Angst, dass wir mit einem Fall nicht ausgelastet sind. Ich soll mir jetzt auch noch den Kram hier von den Brandermittlern angucken.»

«Was für einen Kram?» Interessiert sah Petersen von ihrem Bildschirm auf.

«Ach, irgend so ein Brand, bei dem jemand mit einer Zigarette im Bett eingeschlafen ist.» Steenhoff schnaubte wütend.

«Und was ist mit der geplanten Observation und der Raubserie?»

«Na, die sollen wir natürlich weiter bearbeiten. Bei den Observationen sollen uns noch Wessel und Steffen Wagner unterstützen. Aber Tewes bat mich, doch mal einen ‹kurzen Blick› in die Akte zu werfen. Wenn nicht Rüttger den Fall als Sachbearbeiter in den Händen gehabt hätte und angeblich ebenfalls meine Meinung dazu hören wollte, hätte ich das glatt abgelehnt.»

Im selben Moment klopfte es, und Steenhoffs Kollege Manfred Rüttger aus der Brandermittlung stand in der Tür. Sein Blick fiel sofort auf den blauen Aktenordner auf Steenhoffs Schreibtisch. Rüttger wirkte verlegen.

«Ach, wie ich sehe, hat dir Tewes den Fall schon gegeben? Tut mir leid, Frank. Ich wollte mit dir sprechen, bevor dir der Chef noch mehr Arbeit aufbrummt.»

«Komm doch rein, Manfred», begrüßte Petersen ihn freundlich und rückte einen Stuhl von der Wand in die Mitte des Raums. Rüttger schenkte ihr einen dankbaren Blick und ließ sich schwer auf den Stuhl fallen.

‹Er hat zugenommen›, dachte Steenhoff. ‹Wahrscheinlich isst er zu unregelmäßig.› Anfang des Jahres war Rüttgers Frau nach einer Unterleibsoperation gestorben. Die Tochter studierte in Marburg, und Steenhoff wusste, dass Rüttger oft allein zu Hause war. Er mochte den etwas behäbig wirkenden Kollegen. Tatsächlich kannte er kaum jemanden, sich selber eingeschlossen, der an Zeugen so unvoreingenommen heranging wie Rüttger. Seine respektvolle Art anderen Menschen gegenüber hatte Rüttger schon oft bei schwierigen Vernehmungen geholfen.

Petersen bot dem Kollegen unterdessen die obligatorische Tasse Tee an, die Rüttger, ein eingefleischter Kaffeetrinker, zu Steenhoffs großem Erstaunen dankbar annahm.

‹Es tut ihm gut, ein wenig umsorgt zu werden›, stellte Steenhoff fest. Rüttger war jetzt 53. Sechs Jahre älter als Steenhoff und schon Witwer.

Verstohlen beobachtete Steenhoff seinen langjährigen Kollegen. Über die Gewalttäter, die sie manchmal wochenlang jagten, wussten sie oft mehr als über die eigenen Kollegen. Steenhoff nahm sich vor, Rüttger in den nächsten Tagen zum Bier einzuladen. Doch jetzt interessierte ihn erst einmal, was der Brandermittler eigentlich von ihm wollte.

«Also, Manfred, was ist los?»

Rüttger stellte die Tasse Tee auf Petersens Schreibtisch ab und kam sofort zur Sache. «Frank, ich habe eine Brandleiche in Findorff, die mir keine Ruhe lässt. Bormann ist anderer Meinung und findet, ich stecke unnötig viel Zeit in den Fall. Vielleicht hat er recht, aber …» Er zögerte einen Augenblick und sah Steenhoff dann direkt an. «Ich würde dir gerne einmal den Tatort, ich meine natürlich den Brandort, zeigen und deine Meinung dazu hören.»

«Du weißt, dass ich von Brandursachenermittlung herzlich wenig verstehe», wandte Steenhoff ein.

Rüttger nickte. «Ja. Ich weiß. Aber dafür verstehst du viel von Tötungsdelikten.»

Steenhoff sah ihn fragend an. «Du glaubst, dass der Brand nur gelegt wurde, um ein Verbrechen zu verdecken?»

Rüttger zuckte mit den Achseln. «Kann sein, dass ich mich täusche und Bormann recht hat, aber es gibt da ein paar Dinge, die ich dir gerne zeigen würde.»

Steenhoff griff sich seine schwarze Lederjacke, die über der Stuhllehne hing, und nickte Rüttger zu.

«Okay. Lass uns fahren.»

«Jetzt?»

«Ab übermorgen hab ich keine Zeit mehr. Da sitze ich in irgendwelchen mattgelb gestrichenen Hinterzimmern von Drogeriefilialen und warte auf unser Räuberduo. Lass uns lieber gleich fahren.»

Rüttger stand erleichtert auf. Im Hinausgehen drehte er sich noch einmal um. «Danke für den köstlichen Tee, Navideh.»

 

Rüttgers Tasse war noch halb voll. Er hatte kaum etwas getrunken. Seufzend stand Petersen auf und goss den Rest in den Benjamini. Gierig sog die trockene Erde die Flüssigkeit auf. «Wenigstens du magst persischen Tee», murmelte Petersen.

[zur Inhaltsübersicht]

5

«Wir nehmen am besten unseren Tatortwagen», schlug Rüttger vor, während sie auf den Fahrstuhl warteten. «Da sind Overalls drin und Einmalanzüge. Wenn wir die nicht benutzen, riecht man abends, als hätte man den ganzen Tag am Lagerfeuer gestanden.»