Ehrenhüter - Rose Gerdts - E-Book

Ehrenhüter E-Book

Rose Gerdts

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Beschreibung

Ihre Tochter ist tot. Doch sie trauern nur um ihre Ehre. An dem U-Boot-Bunker in Bremen wird ein türkisches Mädchen tot aufgefunden. Ein heikler Fall. Denn vor zehn Jahren wurde hier bereits ein ähnlicher Mord begangen. Damals war das Opfer eine junge Kurdin, die sich in den falschen Mann verliebt hatte. Sollte auch diesmal auf blutige Weise die Familienehre gerettet werden? Wie sich herausstellt, war die ermordete Nilgün von einem deutschen Mitschüler schwanger. Eine Schande! Die Familie mauert und verschließt sich der Polizei. Nur die iranisch-deutsche Kommissarin Navideh Petersen findet einen Zugang zu den in Verbitterung erstarrten Angehörigen. Doch auch sie ahnt nicht, dass ein weiteres Menschenleben in Gefahr ist. «Packend und bewegend – ‹Ehrenhüter› lässt einen nicht mehr los.» (Radio Bremen) «Eine mitreißende Geschichte. Spannend erzählt und mit Witz an den richtigen Stellen.» (Financial Times Deutschland)

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Rose Gerdts

Ehrenhüter

Kriminalroman

Über dieses Buch

Ihre Tochter ist tot. Doch sie trauern nur um ihre Ehre.

An dem-Bunker in Bremen wird ein türkisches Mädchen tot aufgefunden. Ein heikler Fall. Denn vor zehn Jahren wurde hier bereits ein ähnlicher Mord begangen. Damals war das Opfer eine junge Kurdin, die sich in den falschen Mann verliebt hatte. Sollte auch diesmal auf blutige Weise die Familienehre gerettet werden?

Wie sich herausstellt, war die ermordete Nilgün von einem deutschen Mitschüler schwanger. Eine Schande! Die Familie mauert und verschließt sich der Polizei. Nur die iranisch-deutsche Kommissarin Navideh Petersen findet einen Zugang zu den in Verbitterung erstarrten Angehörigen.

Doch auch sie ahnt nicht, dass ein weiteres Menschenleben in Gefahr ist.

 

«Packend und bewegend – ‹Ehrenhüter› lässt einen nicht mehr los.» (Radio Bremen)

 

«Eine mitreißende Geschichte. Spannend erzählt und mit Witz an den richtigen Stellen.» (Financial Times Deutschland)

Vita

Rose Gerdts-Schiffler, 1960 geboren, ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet seit über 20 Jahren für den Weser-Kurier in Bremen als Polizei- und Gerichtsreporterin. Regelmäßig begleitet die Journalistin große Schwurgerichtsprozesse. Einer ihrer Schwerpunkte sind Kriminalitätsphänomene und deren Ursachen. Rose Gerdts-Schiffler ist verheiratet und Mutter zweier Söhne. Zusammen mit ihrer Familie lebt sie in Bremen.

 

Weitere Veröffentlichung:

Schattenschmerz

Einige der geschilderten Szenen und der dargestellten Personen orientieren sich an tatsächlichen Begebenheiten, doch der Roman ist rein fiktiv. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Und diejenigen sollen sich keusch halten, die zu keiner Ehe finden, bis Allah sie durch seine Gunst von ihrer Not befreit hat …

(Sure 24:33)

01

Nilgün umklammerte den Riemen ihres Rucksackes. Die Chemiebücher wogen schwer. Aber sie spürte nicht, wie sich Nacken und Schultern durch das Gewicht langsam verhärteten. Ungeduldig starrte sie die Hauptstraße hinauf in die Richtung, aus der die Bahn kommen sollte.

Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Die Bahn hatte schon zwei Minuten Verspätung. Ein schlechtes Omen.

Nilgün atmete heftig aus. Unsinn! Jetzt fing sie schon genauso an wie ihre Tante, die überall böse Vorzeichen ausmachte und danach ihr Leben ausrichtete – und das ihrer Kinder. Selbst ihre Anne machte sich über die Tante lustig. Unwillig schob Nilgün den Gedanken an ihre Mutter weg. Jetzt nur nicht an Mama denken! Wenn die wüsste, wofür ihre Tochter sich nach einer qualvollen Woche entschieden hatte! Wenn sie nur eine Ahnung hätte, was sie an diesem Nachmittag vorhatte …

Ihre Anne würde weinen, schreien und die eigene Tochter im Haus einsperren. Nilgün verbot sich weiterzudenken. Nichts wäre mehr so wie früher. Nichts.

Die ahnungslose Mutter hatte Nilgün zum Abschied umarmt und ihr einen flüchtigen Kuss auf das halblange schwarze Haar gegeben. «Pass gut auf, meine kluge Tochter, pass gut auf dich auf.» Dann schickte sie Nilgün noch ein Lächeln hinterher und schloss die Tür.

Langsam war Nilgün die Treppe hinuntergegangen. Das Geländer war an vielen Stellen abgestoßen und zerkratzt. Die stumpfgelbe Tapete, die schon seit Jahren keinen frischen Anstrich mehr bekommen hatte, rollte sich an den Ecken auf. Vor den Eingangstüren der Nachbarn lagen Dutzende von Schuhen. Ein Dreirad, an dem eine Pedale fehlte, versperrte ihr den Weg. Genervt schob Nilgün es beiseite. Die Sonne, die durch das matte Fensterglas schien, wärmte das Treppenhaus. Aber Nilgün spürte die Wärme nicht. Die Stimme ihrer Mutter, in der so viel Stolz mitgeschwungen hatte, klang ihr noch in den Ohren.

Auch die Gespräche der Leute an der Straßenbahnhaltestelle drangen nur aus weiter Ferne zu ihr durch. Die Männer und Frauen warteten auf dieselbe Bahn, wohnten im selben Stadtteil und kauften im selben Supermarkt ein. Aber tatsächlich lebten sie auf einem anderen Planeten als Nilgün und ihre Familie. Nur gelegentlich, in der Schule oder auf der Arbeit, überschnitten sich die Umlaufbahnen. Danach kehrte jeder wieder zu sich nach Hause zurück. In sein eigenes Universum. Aber sie, Nilgün, kannte beide Leben. Das der Deutschen und das der Türken.

 

Wie jeden Montag traf sich die Chemie-AG nachmittags am Gymnasium. Diese Zeit bedeutete drei Stunden Freiheit für Nilgün. Ein Vorgeschmack auf das Leben, wie sie es später einmal führen wollte. Dann, wenn sie studieren und in einer anderen Stadt leben würde. Weit weg von ihrer Familie. Am besten im Osten, wo niemand sie kannte.

Die Bahn hielt direkt mit den Türen vor ihr. Nilgün fand einen Sitzplatz und lehnte den Kopf an das Fenster. Die schäbigen kleinen Reihenhäuser an der Straße glitten an ihr vorbei, aber sie beachtete die Umgebung nicht. Nilgün dachte an ihre Eltern, ihre Brüder, ihre Onkel und Tanten, die vielen Cousins und Cousinen. Heute Abend würde eine andere Nilgün nach Hause zurückkehren. Bei dem Gedanken daran schlug ihr Herz schneller. Es würde schwer werden. Der Vater würde toben. Aber was hatten ihre Eltern für eine Wahl? Letztlich müssten sie ihre Entscheidung akzeptieren.

Nilgün griff in ihre Jackentasche, holte das Handy heraus und schaltete es auf lautlos. Sobald sie in der Schule war, erwartete niemand aus der Familie, dass sie erreichbar war. Für drei Stunden durfte sie ihr Universum verlassen. Drei Stunden am Montag und ein Nachmittag zum gemeinsamen Lernen mit Freundinnen am Wochenende. Die Schule war ihre Insel. Unerreichbar für die anderen.

Schon immer hatte Nilgün Ausflüchte benutzt und Ausreden erfunden. Mal blitzschnelle Notlügen, mal ausgefeilte, verschlungene Geschichten. Sie war in ihnen zu Hause, so als gäbe es zwei Wirklichkeiten. Ihre eigene und die, die ihre Eltern hören wollten. Ein schlechtes Gewissen hatte sie deswegen nicht. Was sollte sie machen? Sie war ein Mädchen. Ein türkisches Mädchen.

Ihre älteren Brüder fragte niemand, wohin sie gingen oder wann sie wieder nach Hause kämen. Murat hatte sogar seit einem Vierteljahr eine deutsche Freundin. Natürlich würde er sie niemals heiraten. Sie war schließlich eine «Ungläubige». Aber die Freundin rief sogar manchmal bei ihnen zu Hause an und verlangte, Murat zu sprechen. Das erste Mal hatte der Vater den Mund zusammengepresst und das Telefon wortlos an seinen Ältesten weitergereicht. Murat tat so, als bemerke er den Widerwillen seines Vaters nicht. Er konnte es sich leisten. Er war der Erstgeborene. Dann kamen Osman, Nilgün und schließlich ihre kleine Schwester Saliha.

Nilgün war die Einzige aus ihrer früheren Grundschulklasse, die den Sprung auf eines der Bremer Innenstadt-Gymnasien schaffte. Und sie hatte nie Schwierigkeiten gehabt, sich gegen ihre deutschen Mitschüler zu behaupten.

Ihre Anne bewunderte sie dafür, wie sie sich durch die vielen Bücher in ihrem Zimmer «hindurchfraß». Ja, das war das Wort, das ihre Mutter immer benutzte: «Du frisst die vielen Wörter in dich hinein.» Sie selbst hatte erst in Deutschland lesen und schreiben gelernt. Ihr Vater hatte sie nie in die Schule geschickt. Denn es stand von Anfang an fest, dass sie mit 14 den fünf Jahre älteren Cousin Kemal heiraten würde. Und so war Nilgüns Mutter zu Hause geblieben, anstatt zur Schule zu gehen, und hatte sich auf ihre Pflichten als Ehefrau vorbereitet. Sie lernte kochen und das Feld bestellen und vor allem – gehorchen. Gehorsam, so meinte ihr Vater, lernte sie am besten zu Hause.

Aber Besma war wissbegierig. Eine Cousine brachte ihr am späten Nachmittag, wenn sie aus der Schule kam, während der Feldarbeit die ersten Buchstaben und das Rechnen bei. Heimlich natürlich.

Doch richtig schreiben lernte Nilgüns Mutter erst Jahre später in Deutschland.

«Großartig» hatte die Deutschlehrerin unter das erste fehlerfreie kleine Diktat geschrieben. Besma zeigte es den Kindern mittags voller Stolz und machte ihnen ohne viele Worte klar, dass sie sich Ähnliches von ihnen erhoffte. Besonders von ihren Mädchen, Nilgün und Saliha.

«Das Wissen wird euch schützen», wiederholte sie immer wieder. Nilgün fragte nie, was die Mutter damit meinte. Sie verstand auch so. Und sie wurde eine gute Schülerin. Die beste in ihrer Grundschulklasse. Und jetzt ging sie als Erste in der Familie aufs Gymnasium.

Noch immer spürte Nilgün den flüchtigen Kuss ihrer Mutter auf den Haaren. Sie hatte ihre Anne, wie sie die Mutter häufig auf Türkisch nannten, verraten. Ihren Vater, ihre Brüder, ihre kleine Schwester Saliha, aber vor allem die Mutter. Tränen stiegen in ihr hoch. Sie würde weiter lernen, jetzt erst recht.

Am Hauptbahnhof stieg Nilgün um. Sie musste nicht lange auf ihre Anschlussbahn warten. Minuten später kam sie zur Haltestelle ihrer Schule. Doch Nilgün blieb sitzen und fuhr an dem Gebäude vorbei. Die Chemie-AG würde heute ohne sie stattfinden. So wie seit einem Dreivierteljahr. Niemand würde ihr Fehlen bemerken, denn sie hatte sich nie in der Arbeitsgruppe angemeldet.

 

Zwei Stationen später stieg Nilgün aus. Sie schaute sich einmal flüchtig um und bog nach wenigen Metern von der Hauptstraße in eine gepflegte Wohnstraße ein. Kleine, liebevoll bepflanzte Grünstreifen trennten Radweg und Bürgersteig. Die großen Einfamilienhäuser stammten aus den Anfängen des vergangenen Jahrhunderts. In Nilgüns Augen glichen sie herrschaftlichen Wohnsitzen. Jedes Kind hatte ein eigenes Zimmer. Manche sogar ein eigenes Bad. Nilgün dagegen teilte sich ihr Zimmer mit Saliha. Bevor sie die Welt ihrer deutschen Mitschüler vom Gymnasium kennenlernte, hätte sie sich so viel Platz für ein einzelnes Kind nicht vorstellen können. Ihre türkischen Freundinnen schliefen alle mit ihren Geschwistern in einem Zimmer. Eine Bekannte hatte ihren Schlafplatz sogar jahrelang hinter einem Vorhang in einer Ecke des Wohnzimmers gehabt. Nilgün beneidete sie damals um diesen Platz, weil sie bis spätabends heimlich mit fernsehen konnte.

Nilgün ging an zwei Frauen vorbei, die von ihren Rädern abgestiegen waren und sich angeregt unterhielten. Die Straße machte einen kleinen Bogen, dann sah sie endlich die große Magnolie vor dem Hauseingang. Ihr Herz begann heftiger zu schlagen. Wie jeden Montag. Sie hatte eine SMS geschrieben, um ihr Kommen anzukündigen. Endlich würden sie reden können. Endlich könnte Nilgün ihre Gedanken und Ängste mit jemandem teilen. Hier war sie sicher.

Mit großen Schritten nahm sie die Sandsteintreppe und drückte auf die Klingel. Ungeduldig wartete sie darauf, dass sich jemand der Tür näherte. Doch im Haus blieb alles ruhig. Nilgün drückte erneut auf den Klingelknopf. Irgendwo im Haus wurde eine Tür geöffnet. Sie hörte, wie jemand aus der Küche über das Parkett auf die Haustür zuging.

Es war Montagnachmittag. Jetzt würde alles gut werden. Ein Strahlen legte sich auf Nilgüns Gesicht. Doch es erstarb, als die Tür mit einem Ruck aufging. Vor Verblüffung bekam Nilgün kein Wort heraus.

«Hallo. Schön, dich mal wieder zu sehen, Nilgün. Komm rein.»

Romans Vater sah sie mit einem offenen Lächeln an, deutete eine Verbeugung an und machte eine einladende Handbewegung.

Nilgün zögerte.

Sie sollte umkehren. Irgendetwas musste dazwischengekommen sein. Etwas Wichtiges. Noch nie in den vergangenen Monaten war ihre Verabredung am Montagnachmittag geplatzt. Es würde auch diesmal klappen. Sicher gab es nur eine kleine Verzögerung.

Wie zur Bestätigung sagte der Mann freundlich: «Roman kommt sicher gleich. Er muss nur seine Mutter mit dem Taxi vom Zahnarzt abholen. Meine Frau fühlte sich nach der Behandlung etwas wackelig.»

Nilgün machte noch immer keine Anstalten, etwas zu sagen. Was auch? Dass gerade heute jede Minute so kostbar sei, dass der Mann seinen Sohn anrufen und Roman sofort kommen müsse? Nein, sie durfte jetzt nicht die Fassung verlieren.

«Das tut mir leid für Ihre Frau», brachte Nilgün mühsam heraus.

Romans Vater zuckte unbekümmert mit den Schultern: «Ich glaube, es ist halb so schlimm. Ich hätte sie auch selbst abgeholt, aber ich warte auf einen dringenden Anruf. Komm doch rein, ich hab gerade einen Tee gekocht. Trinkst du einen mit?»

Nilgün sah sich noch einmal um. Niemand war auf der Straße. Auch die beiden Frauen, die sich auf dem Bürgersteig unterhalten hatten, waren verschwunden.

Sie befahl sich, ins Haus zu gehen. Sie durfte nicht unhöflich sein. Er meinte es nett. Bei den Deutschen herrschten andere Regeln als in ihrer Familie. Undenkbar, dass ihr Vater ein fremdes Mädchen zu einer Tasse Tee in seine Wohnung einladen würde. Ein Mann und ein Mädchen allein in einer Wohnung! Keine ihrer Freundinnen würde so etwas wagen. Aber auch keiner der türkischen Väter, die sie kannte, würde eine Freundin seiner Tochter bewirten.

Nilgün versuchte zu lächeln. Sie und Roman würden nachher reden. Sie musste nur noch wenige Minuten warten.

Romans Vater nahm ihr die Jacke ab und zeigte auf die mit einem tiefroten Teppich ausgelegte Treppe, die zu Romans Zimmer hinaufführte. «Tee und etwas Gebäck stehen in meinem Arbeitszimmer im ersten Stock. Wenn es dir nichts ausmacht, geh doch schon mal vor. Ich hol nur noch schnell eine Tasse für dich.»

Gleich würde er kommen. Dann würden sie eine Lösung finden. Alles würde gut werden.

Erleichtert ging Nilgün die Treppe hinauf.

02

Navideh Petersen zwang sich ruhig zu bleiben. Eine gefühlte Ewigkeit stand sie nun schon vor dem Käsewagen auf dem kleinen Bauernmarkt im Steintor. Unruhig schaute sie auf ihre Uhr. Aber der Kunde vor ihr schien sie gar nicht wahrzunehmen. Genüsslich probierte er sich vom Appenzeller bis zum Ziegen-Gouda durch das reiche Angebot. Das eine oder andere Stück ließ er sich einpacken, aber die meisten Käsesorten fand er entweder zu mild oder zu würzig.

«Dürfte ich den Ziegenkäse noch einmal probieren?» Der Mann deutete auf ein Stück am untersten Ende der Auslage. Vergeblich beugte sich die Verkäuferin vor, um an den Käse heranzukommen. So sehr sie sich auch streckte, sie kriegte die gewünschte Ziegenrolle nicht zu fassen. «Dafür bin ich zu klein. Da muss ich mal eben zu Ihnen rauskommen und die Glasscheibe öffnen», kündigte sie fröhlich an.

Navideh Petersen stieß einen stummen Fluch aus. In einer halben Stunde musste sie ihren Dienst im Polizeipräsidium in der Vahr antreten. Wenn sie schnell fuhr und auf ihrem Rad die Ampeln auch mal bei Tiefgelb nahm, würde sie es in 20 Minuten schaffen. In Gedanken ging sie ihre Einkaufsliste durch. Die Lebensmittel fürs Wochenende und die Zutaten für das geplante Abendessen hatte sie bereits eingekauft. Nur der Bio-Käse für den Nachtisch fehlte noch.

Die Verkäuferin war inzwischen wieder in ihren Wagen zurückgekehrt. Umständlich packte sie den Käse in aller Seelenruhe in ein Stück Wachspapier ein. «Darf es noch etwas sein?», wandte sie sich wieder an ihren Kunden.

Navideh Petersen bedachte die junge Frau mit einem empörten Blick.

Der Mann zögerte und vertiefte sich erneut in die Auslage. Doch offenbar fand er nicht, wonach er suchte. «Haben Sie auch Bio-Eier?»

«Ja, vom Wörtedammhof im St.-Jürgensland.»

«Und wann war Legezeit?»

«Warten Sie, da muss ich mal eben gucken.»

Der Mann drehte sich mit einem entschuldigenden Lächeln zu Navideh um. «Ich hoffe, Sie haben es nicht eilig?» Doch bevor Navideh etwas entgegnen konnte, hatte er sich schon wieder abgewandt. «Sind das wirklich Bio-Eier? Ich hab neulich in der Zeitung gelesen, dass Woche für Woche Zigtausende von Eiern in Deutschland falsch deklariert werden.»

Er ist bösartig, dachte Navideh, durch und durch bösartig.

Seine weichen Gesichtszüge erinnerten sie an einen Sadisten, den sie und ihre Kollegen vor zwei, drei Jahren festgenommen hatten. Der Mann hatte wie der unscheinbare Nachbar von nebenan gewirkt. Tatsächlich verbarg sich hinter seinem harmlosen rundlichen Gesicht aber ein skrupelloser Mörder.

Erneut musterte Navideh den Kunden verstohlen. Wahrscheinlich ist das seine übliche Nummer, um in Stimmung zu kommen, dachte sie und sah sich nach möglichen Verbündeten um. Frauen mit wenig Zeit, die sich mit ihr auf den Mann stürzen und ihn mit seinen gerade erworbenen Käsestücken bewerfen würden. Aber hinter ihr standen nur zwei ins Gespräch vertiefte Studentinnen. Beide strahlten eine große Gelassenheit aus.

Die würden doch nicht mal merken, wenn die Verkäuferin vor ihrer Nase den Verkaufswagen abbauen würde, dachte Navideh gehässig.

Wie erwartet, hatte der leise Verdacht der Falschdeklarierung die Bio-Verkäuferin schwer getroffen. Wortreich beteuerte sie, dass der Bauernhof im St.-Jürgensland regelmäßig überprüft werde. «Sonst würden wir deren Produkte auch nicht abnehmen», merkte sie säuerlich an. Als sie schließlich in einer Schublade nach einem Faltblatt zertifizierter Bio-Höfe kramte, gab Navideh auf.

Sie griff sich ihren vollgepackten Rucksack und lief zum Supermarkt, der ein paar hundert Meter entfernt an der Hauptstraße lag. Die beiden jungen Frauen rückten auf und nahmen ihren Platz ein, ohne ihren Weggang überhaupt zu bemerken.

Der Verkäufer an der Käsetheke des Supermarktes drehte sich gerade zu ihr um, als Navidehs Handy in der Jackentasche klingelte. Umständlich fummelte sie es heraus und warf dem Mann einen entschuldigenden Blick zu.

«Hallo Navideh. Bist du schon auf dem Weg ins Präsidium?», fragte Werner Müller, der Leiter des Kriminaldauerdienstes.

«Nein. Ich bin noch beim Einkaufen. Warum?»

«Frank und Michael holen dich gleich zu Hause ab. Wir haben einen Leichenfund am Bunker Valentin in Farge. Möglicherweise ein Gewaltdelikt.»

«Männlich? Weiblich?» Navideh zögerte, bevor sie weiterfragte. «Alter?»

«Eine Frau. Vermutlich noch relativ jung. Mehr weiß ich nicht. Kann ich Frank sagen, dass du gleich zu Hause bist?»

«Ja.»

«Die beiden werden in zehn Minuten bei dir sein.»

Navideh Petersen steckte ihr Handy in den Rucksack. Seufzend entschied sie sich für ein tiefgekühltes Fertigdessert. Wenn sie Pech hatte, und es handelte sich nicht um einen Selbstmord, konnte sie das geplante Abendessen sowieso vergessen. Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als sie über sich selbst erschrak. Ein Leben war ausgelöscht. So oder so würde für die Angehörigen eine Welt zusammenbrechen. Und sie dachte an ihr persisches Abendessen!

Es war nicht das erste Mal, dass Navideh feststellte, wie die Arbeit in der Mordkommission sie veränderte. Sie wollte nicht so werden wie einige der älteren Kollegen, die sich die Schicksale hinter den «Leichensachen» mit Sarkasmus vom Leib hielten.

«Man muss offenbleiben für den Schmerz und die Verzweiflung, die jeder gewaltsame Tod bei den Angehörigen auslöst», hatte sie zu Frank Steenhoff einmal gesagt. «Sonst merkt man nicht, wenn einem etwas vorgespielt wird.» Was sie dabei verschwieg, war der Gedanke, dass sie sich vor sich selbst fürchten würde, sollte sie eines Tages vor einer Leiche stehen und nichts mehr empfinden.

Frank Steenhoff, mit dem sie seit Beginn ihrer Arbeit bei der Mordkommission in Bremen das Büro teilte, gab ihr zwar recht. Aber er hatte auch Einwände. «Man muss empfinden können, ohne sich von den Gefühlen mitreißen zu lassen. Distanz zum Fall, zum Opfer und zu den Angehörigen ist genauso wichtig wie Einfühlungsvermögen bei der Vernehmung. Letztlich müssen wir alle aufpassen, dass uns die vielen Toten in unserem Job nicht den Spaß am eigenen Leben nehmen.»

Bislang war Navideh die Gratwanderung immer gelungen.

Während sie ihr Fahrrad aufschloss und eilig in ihre kleine Wohnstraße zurückfuhr, erlaubte sie sich zu hoffen, dass sie am Sonntag wie geplant Khoresch-e Bademdschan, eine Auberginen-Lamm-Pfanne, würde kochen können. Sie hatte so lange gezögert die Einladung auszusprechen. Ihre Vorfreude auf den Abend hatte mit dem Tod der Unbekannten nichts zu tun. Frank hatte recht, sie musste sogar Freude am eigenen Leben haben, selbst, wenn sie gleich vor dem Leichnam einer jungen Frau stehen würde.

Kurz vor der Ampel bog Navideh vom Fahrradweg auf die Straße und überquerte vor den Autos die Kreuzung. Um ein Haar wäre sie mit dem Reifen in das Schienenbett der Straßenbahn geraten. Sie riss ihr Rad nach links und hoffte inständig, dass das Auto hinter ihr ausreichend Abstand halten möge. Haarscharf fuhr der Wagen an ihr vorbei. Aus dem Augenwinkel sah Navideh, wie die Frau am Lenkrad sich wütend an die Stirn tippte. Kurz darauf bog sie in eine Seitenstraße ab. Ein Müllwagen kam ihr entgegen und nahm die gesamte mit Kopfsteinpflaster ausgelegte schmale Fahrbahn ein. Navideh wich auf den Bürgersteig aus und umrundete gekonnt einige Mülltonnen. Wenige Minuten später schulterte sie ihr Rad mit geübtem Griff, schloss die Haustür auf und stellte es im Wohnungsflur ab. Es war zu riskant, das Rad an den Zaun anzuketten. Ständig wechselten die Räder in Bremen die Besitzer. Selbst eine eigens eingerichtete «Ermittlungsgruppe Rad» hatte die Diebstahlzahlen nicht entscheidend senken können. Es gab zu viele Junkies mit Geldnot und zu viele Radfahrer, die sich zwar ein teures Gefährt, aber nicht das entsprechende Schloss dazu leisteten.

‹Vanessa hätte darauf bestanden, dass ich das Rad in den Keller schleppe.› Der Gedanke an ihre Exfreundin löste immer noch einen leisen Schmerz in ihr aus. Vor einem Vierteljahr hatten sie sich getrennt. Drei Jahre waren sie ein Paar gewesen. Keine von beiden hatte den Wunsch geäußert, gut befreundet bleiben zu wollen. Mit Vanessa geht es nur ganz oder gar nicht, dachte Navideh und räumte noch schnell die Lebensmittel in den Kühlschrank. Sie steckte sich ein paar Schokoriegel und eine kleine Flasche Wasser in die Tasche und zog sich ihre Jacke über. Im Hinausgehen warf sie einen flüchtigen Blick in den Spiegel. Mit ihren langen dunklen Haaren und den Jeans sah sie eher aus wie eine Studentin als wie eine Kriminaloberkommissarin.

Mit den Haaren muss dringend was passieren, dachte Navideh, während sie ihre Haustür abschloss.

Sie musste nicht lange warten. Schon von weitem erkannte sie den metallicblauen Audi, der in ihre Straße einbog. Steenhoff saß am Steuer, neben ihm ein zweiter Mann. Sie gab den Kollegen ein Handzeichen.

 

«Da steht sie ja, unsere schöne Kollegin.» Michael Wessel pfiff leise durch die Zähne.

Frank Steenhoff erwiderte nichts. Er stoppte das Fahrzeug so, dass Navideh Petersen direkt in den Fond des Wagens einsteigen konnte.

«Danke fürs Abholen.»

«Frank und ich hätten dich lieber zum Tanzen abgeholt als zu einer Leichenbesichtigung», sagte Wessel und grinste. Navideh meinte im Rückspiegel zu erkennen, wie Steenhoff die Augen verdrehte. Doch Wessel hatte sich Petersen zugewandt und beachtete Steenhoff gar nicht. «Ich hab gehört, Navideh, du weilst auch wieder unter den Singles?»

«Vanessa und ich haben uns getrennt, wenn du das meinst», antwortete Navideh knapp.

«Diese Neuigkeit wird die Männerwelt begeistern», sagte Wessel und lachte dreist.

«Michael …», setzte Steenhoff an, und sein Ton klang eine Spur schärfer als sonst. Doch Navideh unterbrach ihn. «Was erwartet uns am Fundort? Wisst ihr schon etwas?» Von der Seite sah sie, wie sich Wessels Gesichtsmuskeln anspannten. Steenhoff räusperte sich.

«Die Leiche ist direkt beim U-Boot-Bunker Valentin hinterm Deich entdeckt worden», erklärte er, und etwas in seiner Stimme ließ sie aufhorchen.

«Ja, und?»

«Der Körper lag auf dem Bauch. Mit dem Gesicht im Gras», fügte Wessel hinzu, als würde dies alles erklären.

«Nach der Beschreibung der beiden Beamten, die als Erste am Fundort waren, soll das Opfer ausländisch aussehen», ergänzte Steenhoff. Dann verstummte er und schien sich ganz auf den Verkehr zu konzentrieren.

Navideh verstand immer noch nicht. Ungeduldig lehnte sie sich zu den beiden Männern nach vorne. «Könnt ihr bitte mal Klartext sprechen?»

Wessel antwortete mit einer Gegenfrage. «Seit wann bist du bei der Polizei, Navideh?»

«Das war vor ihrer Zeit», gab Steenhoff zu bedenken, ohne Navidehs Antwort abzuwarten.

«Vielleicht ist es gar nicht schlecht, wenn zumindest einer von uns ganz unvoreingenommen an die Sache rangeht», erwiderte Wessel.

«Jetzt reicht’s.» Energisch schlug Navideh mit der flachen Hand gegen Wessels Kopfstütze. «Entweder ihr spuckt jetzt aus, was in euren Köpfen abläuft, oder ihr setzt mich an der nächsten Bank am Weserdeich ab. Dann recherchiere ich mit dem BlackBerry, was der U-Boot-Bunker für eine Geschichte hat. Oder noch besser, ich rufe mal im Archiv der Zeitung an und frage, was denen zu diesem Ort einfällt.»

Sie hatte versucht, ihrer Stimme einen drohenden Unterton zu geben. Zu ihrem Erstaunen verzog Steenhoff keine Miene. Er schien weit weg und in Gedanken versunken.

«Frank, was ist da am Bunker passiert?» Sie spürte, wie sie immer wütender wurde. Was sollte diese Geheimniskrämerei?

Steenhoff richtete sich gerade in seinem Sitz auf. «Der U-Boot-Bunker war schon einmal Schauplatz grausiger Morde.»

«Ja, ich weiß. Zwangsarbeiter mussten den Bunker bauen. Aber die Gräueltaten liegen doch schon mehr als 65 Jahre zurück.» Petersen war irritiert.

«Von diesen Morden rede ich nicht.»

«Sondern?»

«Im August 1999 wurde dort ein junges Paar von drei Männern getötet. Es war mit das Grausamste, was ich je gesehen habe.» Steenhoffs Stimme klang belegt. Wessel starrte aus dem Fenster, als erfordere der Verkehr von ihm als Beifahrer seine ganze Aufmerksamkeit.

«War das der …» Petersen suchte nach einem Begriff, den sie mal im Präsidium gehört hatte. «… der Bunker-Mord?»

Steenhoff nickte.

«Was ist damals passiert?»

«Die falschen Leute hatten sich ineinander verliebt», antwortete Wessel lakonisch.

Petersen unterdrückte eine ungeduldige Bemerkung und rückte auf die andere Seite der Rückbank, sodass sie Steenhoffs Gesicht besser sehen konnte.

«Bei dem Paar handelte es sich um junge Kurden. Sie war 18, er fünf Jahre älter», begann Steenhoff. «Abdullah hatte schon als Jugendlicher für die PKK in der Türkei gekämpft und gehörte zum Parteikader. Irgendwann wurde er so schwer verletzt, dass er im Rollstuhl sitzen musste. Die PKK schickte ihn nach Deutschland. Nach Bremen. Dort wurde er von Familie zu Familie gereicht und versorgt. Er war für die Kurden ein Held. Einer, der sein Leben für die Sache der PKK riskiert hatte.» Steenhoff überholte einen Wohnwagen, dann fuhr er fort. «Irgendwann kam er in Yasemins Familie. Auch dort wurde er wie ein Märtyrer gefeiert. Trotz seiner Jugend verehrten und respektierten auch die älteren Männer ihn als ehemaligen Kämpfer – bis Yasemin sich in ihn verliebte.»

«Und er sich in sie», warf Wessel ein.

«Ja, und er sich in sie. Damit war die Katastrophe vorprogrammiert.»

«Aber er war doch angeblich so anerkannt und beliebt?» Navideh verstand nicht, warum die Beziehung kompliziert sein sollte.

«Das stimmt», sagte Steenhoff. «Aber erstens war er ein Krüppel und nicht der Ehemann, den sich Yasemins Eltern für ihre Tochter wünschten. Und zweitens gehörte Abdullah der PKK an. Er durfte als Kämpfer nicht einfach heiraten und eine Familie gründen. Nicht ohne Zustimmung der Partei.» Steenhoff räusperte sich. «Um es kurz zu machen: Die beiden zogen gegen den Willen von Yasemins Eltern und der Partei zusammen. Das war ihr Todesurteil. Im August 1999 wurden sie unter einem Vorwand von drei Männern abgeholt. Nach einem Zwischenstopp in einer anderen Wohnung auf dem Land fuhren sie nachts weiter. Ziel war der Bunker Valentin. Dort zerrten sie Yasemin unter vorgehaltener Pistole aus dem Wagen und schleiften sie Richtung Weser. Zwei der Männer drückten ihr Gesicht so lange in den Schlick, bis sie nicht mehr atmete.»

Angewidert verzog Navideh das Gesicht.

«Ein schrecklicher Tod», sagte Steenhoff. «Aber kein Vergleich zu den Qualen, die Abdullah erwarteten. Der junge Mann war aus dem Wagen gerobbt und musste hilflos mit ansehen, wie die Männer seine Geliebte über den Deich wegführten. Er konnte ja nicht laufen. Als die Männer ohne die Frau wieder zurückkamen, fing er an zu schreien. Sie stießen ihn vor den Wagen und fuhren so lange über den gelähmten Mann, bis er sich nicht mehr rührte. Aber er war noch immer nicht tot. Der Rädelsführer holte daraufhin einen Radmutterschlüssel aus dem Kofferraum des Wagens und schlug damit immer wieder auf den Kopf des Opfers ein. Als die Männer sicher waren, dass Abdullah tot war, fuhren sie nach Hause. Am nächsten Morgen fand ein Spaziergänger vom nahe gelegenen Campingplatz die entstellte Leiche.»

Niemand im Auto sagte etwas.

Navideh versuchte, sich die grausige Szene bildlich vorzustellen. An der Stelle, als der Wagen auf den schreienden Mann am Boden zufuhr, brach sie ab. «Ihr habt die Typen gefasst, richtig?»

«Ja. Aber die eigentlichen Auftraggeber sind abgetaucht. Die laufen bis heute frei rum.»

«Wie viele Jahre haben sie bekommen?»

Wessel schnaubte verächtlich. «Die sind wegen Totschlags und nicht wegen Mordes verurteilt worden. Der Staatsanwalt hatte noch Revision beantragt und wollte sie lebenslang hinter Gitter bringen. Aber am Ende kamen für den einen nur elf, für die anderen beiden 15 Jahre heraus. Geradezu lächerlich für diese Tat! Niedere Beweggründe und die besondere Grausamkeit der Tat wurden nicht gelten gelassen, da die Typen angeblich selbst unter Druck gesetzt worden waren.»

Jetzt mischte sich Steenhoff wieder in das Gespräch ein. «Laut dem Vorsitzenden Richter sind die Beweggründe für diese Tat für uns Deutsche nicht nachvollziehbar. Es sei fast …, ach ja, jetzt hab ich’s wieder, es sei beinahe anmaßend, ihre Beweggründe zu bewerten. Schließlich hätten die über Jahrzehnte erlittenen Grausamkeiten durch das türkische Militär den Volkscharakter der Kurden geformt.»

«Dass du dir so etwas merken kannst!» Wessel sah ihn verblüfft an.

«Diese Urteilsbegründung werde ich nie vergessen.»

«Verständlich. Das ist doch ein Freifahrtschein für jeden vermeintlich kulturell begründeten Mord!» Navideh war empört.

Sie musste an ihre Eltern denken, die mit ihren beiden kleinen Kindern der religiösen Diktatur des Mullah-Regimes im Iran entkommen waren. Ihr Vater hatte sich all die Jahre von Landsleuten verfolgt und beobachtet gefühlt. Ob das begründet war, hatte sie nie herausgefunden. Wenn ihr Vater aber aufgrund seiner liberalen politischen Überzeugungen von Anhängern des Regimes in Deutschland getötet worden wäre und ein Richter hätte für den Täter auch noch Verständnis gezeigt, dann …

Navideh ließ den Gedanken fallen. Sie wollte nicht länger über ihre Familie nachdenken, die schon seit Jahren zerstört war. Zuerst starb ihr Vater. Und dann entdeckte ihr Bruder, dass sie nach ihrer Scheidung von Marten Petersen eine Beziehung mit einer Frau angefangen hatte. In den Augen ihres Bruders gab es kaum eine größere Schande für die Familie. Eine Schande, die er auszulöschen versuchte, indem er Navideh eines Abends halb totschlug und Vanessa zu vergewaltigen versuchte … Plötzlich sah Navideh alles wieder vor sich. Wie sie mit letzter Kraft zur Garderobe gekrochen war, wo ihre Dienstpistole lag. Dann der Schuss. Der erste, mit dem sie einen Menschen traf. Ihren eigenen Bruder.

Sie versuchte, sich wieder auf die Arbeit zu konzentrieren. «Wie nah liegen die Tatorte beieinander?»

Steenhoff räusperte sich. «Ein Kollege der Schutzpolizei, der damals den Tatort mit gesichert hat, sagte uns, der aktuelle Fundort sei in unmittelbarer Nähe der Stelle, wo sie damals die Frau im Schlick fanden.»

«Vielleicht nur ein blöder Zufall?», wandte Navideh ein. Ihre Stimme klang skeptisch.

«Man hat schon Pferde kotzen sehen, aber an solche Zufälle glaube ich nicht», antwortete Wessel.

«Also wieder eine Strafaktion unter Kurden?» Petersen sah fragend von einem zum anderen.

Steenhoff zuckte mit der Schulter. «Noch wissen wir nichts über das Opfer. Aber der Fundort ist bemerkenswert.»

03

Der Wagen passierte eine kleine Fleischerei, eine Apotheke und mehrere reetgedeckte Bauernhäuser. Hier, weit im Norden der Stadt, hatte Bremen nichts von einer pulsierenden Großstadt.

Steenhoff bog von der Rekumer Straße nach links in eine ruhige Wohnstraße ein. Die Vorgärten waren von niedrigen Mäuerchen umgeben, die Rasenflächen akkurat gestutzt, und Blumenbeete säumten die Grundstücksgrenzen. Doch die gepflegte kleinbürgerliche Atmosphäre hatte keine Chance gegen das übermächtige Bauwerk, das sich wie ein drohender Schatten hinter den Häusern erhob.

«Das ist ja unglaublich!»

Fassungslos starrte Navideh Petersen von ihrer Rückbank an Steenhoff und Wessel vorbei auf den Bunker, der am Ende der Straße lag. Schon aus der Entfernung erzeugte der gigantische graue Betonblock eine bedrückende Endzeitstimmung. Ein Streifenwagen stand quer auf der Straße. Einige der Anwohner umringten eine junge Polizistin und zeigten in Richtung Weserdeich. Ihr Kollege kam misstrauisch auf Steenhoffs Wagen zu und machte mit der Hand ein Stoppzeichen. Steenhoff wechselte ein paar Worte mit dem Beamten. Dann fuhren sie weiter.

«Wie können die Leute nur neben so etwas leben?», fragte Navideh in die Stille des Wagens hinein.

Dieselbe Frage hatte sich Steenhoff gestellt, als er damals für kurze Zeit in der Ermittlungsgruppe «Bunker» mitarbeitete. Innerhalb weniger Wochen hatten sie gleich mehrere Sokos gründen müssen, weil ein grausames Verbrechen nach dem anderen die Polizei in Atem hielt.

«Die Leute, die hier schon lange wohnen, haben uns damals erzählt, dass sie den Bunker gar nicht mehr sehen», antwortete Steenhoff. «Der Mensch ist eben in der Lage, vieles auszublenden.»

Navideh schüttelte ungläubig den Kopf. «Wisst ihr, wie groß das Ding ist?»

«Wenn ich mich richtig erinnere, ist der Bunker Valentin 33 Meter hoch und über 400 Meter lang. An seiner breitesten Stelle misst er knapp hundert Meter», dozierte Steenhoff. «Die Betonwände sollen bis zu sieben Meter dick sein. Das Erstaunlichste sind aber die Wasserbecken im Innern. Die sind angeblich 16 Meter tief.»

«Woher weißt du das alles?», erkundigte sich Wessel verwundert.

«Ich habe Monate nach dem Doppelmord an einer Führung durch den Klotz teilgenommen. Ich sage euch, es gibt keinen schrecklicheren Ort in Bremen als dieses Monstrum.»

Schweigend fuhren sie an der Ostseite des Bunkers vorbei. Hundert Meter weiter erkannte Steenhoff den Wagen der Spurensicherer. Ein Leichenwagen und ein zweiter Streifenwagen parkten direkt daneben. Zwei Männer standen rauchend beieinander.

«In dem Bunker sollten U-Boote aus Fertigteilen endmontiert werden.» Steenhoff nahm den Faden wieder auf. «Alle 56 Stunden wollten die Nazis ein neues U-Boot vom Stapel laufen lassen. Zum Bau des Bunkers hatten sie Tausende von Gefangenen eingesetzt. Viele der Zwangsarbeiter haben die Arbeit nicht überlebt. Ganz in der Nähe wurden später Massengräber gefunden. Aber wie viele Menschen hier starben, weiß niemand genau. Jedenfalls war der U-Boot-Bunker zu 90 Prozent fertig, als ihn die Engländer in den letzten Kriegstagen bombardierten.»

Er hielt neben dem Leichenwagen auf einem kleinen provisorischen Parkplatz, wo der Feldweg einen scharfen Knick nach links machte. Ein Polizist begrüßte sie knapp und führte sie über einen niedrigen Deich in eine Art Bucht. Eigentlich idyllisch hier, dachte Steenhoff. Keine Wolke war am blauen Himmel zu sehen, Vögel zwitscherten. Auf der Weser bemerkte er ein tief im Wasser liegendes Binnenschiff, das langsam flussabwärts fuhr. Bis auf die Vogelstimmen und das entfernte Tuckern des Schiffsmotors herrschte Stille.

Mit jedem Schritt, den Steenhoff auf den Tatort zuging, stieg seine Anspannung. Direkt hinter ihm folgten Wessel und Petersen. Der Beamte zeigte auf einen von der Spurensicherung markierten Trampelpfad durch das Deichvorland. Wer zum Leichenfundort wollte, musste diesen Weg nehmen, um nicht versehentlich weitere Spuren zu legen oder vorhandene zu zerstören.

Zwei Männer in weißen Einmalanzügen krochen auf allen vieren vorsichtig auf dem Boden herum. An der Statur erkannte Steenhoff den Leiter der Tatortgruppe, Gerhard Marlowski, sowie den Rechtsmediziner Bernd Brückner.

«Na, seid ihr auch schon aufgestanden?» Marlowski warf den Ankömmlingen einen abschätzigen Blick zu, richtete sich unbeholfen auf und nickte den Kollegen mürrisch zu. «Wir hatten schon Sorge, dass die Presse den Fall löst, bevor ihr die erste Aktennotiz anfertigt.» Er deutete auf ein paar Bäume, von denen nur die grünen Kronen über den Deich schauten. «Die Kollegen mussten den Tatort weiträumig absperren. Aber vorhin ist schon wieder ein Fotograf durch die Absperrung gekommen und hat Bilder gemacht. Ich hasse diese Open-Air-Veranstaltungen. Wird Zeit, dass die Leiche in die Rechtsmedizin kommt. Aber die Herren und Damen von der Mordkommission brauchen ja mal wieder ein bisschen länger, bis sie zum Tatort finden.»

Steenhoff ließ die übellaunige Tirade ruhig über sich ergehen. Marlowski leistete gute Arbeit mit seinen Leuten. Aber als Kollege war er oft nur schwer zu ertragen. Er fand immer etwas, worüber er sich ärgern konnte. Seine bevorzugte Zielscheibe waren Journalisten und die Ermittler von der Mordkommission. Einmal waren Steenhoff und er deshalb heftig aneinandergeraten. Direkt an einem Leichenfundort, vor mehreren Beamten und dem Rechtsmediziner hatten sie sich gegenseitig beschimpft. Keiner hatte nachgegeben oder sich später entschuldigt.

Steenhoff musterte den in seinem Einmalanzug schwitzenden Marlowski. «Ich weiß gar nicht, was du hast. Bei so herrlichem Wetter draußen arbeiten zu dürfen. Darum würden dich viele im Präsidium beneiden», sagte er ironisch. Dann wurde er wieder ernst. Er schob sich an Marlowski vorbei und betrachtete den Leichnam. Ohne Zweifel handelte es sich um eine junge Frau, vielleicht sogar um eine Jugendliche. Zumindest schloss er das aus der zierlichen Statur der Unbekannten und ihrer Kleidung. Die Tote hatte halblange schwarze Haare. Ihr Körper lag auf dem Bauch. Das Gesicht war in die feuchte, dunkle Erde gedrückt und kaum noch zu erkennen. Marder und Vögel hatten das Fleisch an ihrer linken Hand weggefressen. Am rechten Bein war die Hose etwas hochgeschoben. Schrumpelige, helle Waschhaut kam zum Vorschein, die sich an einer Stelle bereits leicht ablöste. Steenhoff schätzte, dass das Opfer bereits mehrere Tage an dem Fundort lag.

«Kannst du schon etwas sagen über die Todesursache?», wandte er sich an Bernd Brückner, der gerade seine Einmalhandschuhe auszog.

Brückner zuckte mit den Achseln. «Natürlich nichts Endgültiges, aber zumindest kann ich schon jetzt sagen, dass ihr Genick gebrochen ist. Weitere Verletzungen sind so nicht zu erkennen. Ich weiß mehr, wenn ich sie obduziert habe.»

«Und seit wann liegt sie hier?»

«Ich denke, ein paar Tage. Ihre Bauchhaut hat sich von den Bakterien im Magen bereits grün verfärbt, und die Leichenflecken sind nicht mehr wegzudrücken.»

«Habt ihr Hinweise, dass der Fundort auch der Tatort war?», wollte Wessel wissen.

«Das können wir ausschließen», antwortete Marlowski. «Auf dem Weg hierher hätten euch eigentlich auf den letzten Metern Schleifspuren auffallen müssen. Aber wahrscheinlich hattet ihr eher Augen für die schöne Aussicht als für den Boden.»

«Okay, Winnetou, dann zeig doch mal, was ihr für Spuren gefunden habt», erwiderte Wessel spöttisch.

Marlowski warf ihm einen zornigen Blick zu und ging ein paar Schritte auf dem markierten Pfad in Richtung Deich. «Hier seht ihr die Fußabdrücke des mutmaßlichen Täters. Sie gehen mehrere Zentimeter tief in den Boden. Wir haben sie schon ausgegossen.» Er schob die drei Ermittler unsanft beiseite und näherte sich wieder der Leiche. «Und hier seht ihr dieselben Abdrücke nochmal im Boden. Diesmal deutlich weniger tief. Außerdem befinden sich an den Schuhen des Opfers Erdreste. Vermutlich hat er die Leiche bis hierher getragen. Dann wurde sie ihm zu schwer, und er hat sie die letzten 15 Meter über den Boden geschleift.»

Navideh Petersen runzelte die Stirn. Es kostete sie sichtbar Überwindung, den knurrigen Kollegen anzusprechen: «Aber warum hat er sie nicht einfach abgelegt, als sie ihm zu schwer wurde? Das macht doch keinen Unterschied, ob er die Leiche hier zurücklässt oder 15 Meter näher am Deich.»

Über Marlowskis Gesicht huschte die Andeutung eines Lächelns. «Bravo. Gute Frage. Ich sehe, die Oberkommissarin denkt mit. Aber die Antwort müsst ihr finden. Das ist euer Job.»

«Wie alt schätzt du das Opfer, Bernd?», wandte sich Navideh an den Rechtsmediziner, der direkt neben Marlowski stand.

«Zwischen 14 und 20, vermute ich.» Brückner warf einen Blick auf das Gesicht der jungen Frau, das der Tod so furchtbar entstellt hatte. «Älter wird sie kaum sein.»

Navideh holte ihr Handy heraus, ging ein paar Schritte abseits und wählte die Nummer des Vermisstensachbearbeiters. Süßlicher Verwesungsgeruch stieg ihr in die Nase. Sie musste gegen einen heftigen Würgreiz ankämpfen und suchte noch ein paar Meter mehr Abstand, während sie mit ihrem Kollegen telefonierte. Kurz darauf stand sie wieder neben Steenhoff und Marlowski. Die beiden schienen gegen den Leichengeruch völlig unempfindlich zu sein.

Erwartungsvoll sah Steenhoff sie an. Aber Petersen schüttelte den Kopf. «Es ist niemand als vermisst gemeldet, auf den die Beschreibung passt.»

Steenhoff holte ein Paar Einmalhandschuhe heraus, zog sie über und ging vor der Leiche in die Hocke. Der Arm lag in einer kleinen Bodenvertiefung. Behutsam hob er die linke Hand der Frau an. Sie trug eine Uhr mit einer goldenen Einfassung. Der Zeiger war um zwei Uhr stehengeblieben.

«Vermutlich hat es in der Nacht, als sie hierhergebracht wurde, geregnet», hörte er Marlowski hinter sich sagen. «Die Hand mit der Uhr lag in der feuchten Erde oder in einer kleinen Pfütze.»

Steenhoff entgegnete nichts. Aufmerksam studierte er die Fingernägel der Toten. «Navideh, schau dir das mal an.» Er spürte, wie seine junge Kollegin direkt hinter ihm in die Knie ging und die Hand der Toten betrachtete.

«Sie hat sehr gepflegte Fingernägel. Und die Ringe scheinen aus echtem Gold zu sein.»

«Das Opfer trägt am rechten Handgelenk auch noch einen goldenen Armreif», mischte sich Bernd Brückner ein. «Und einen Ohrring mit einem herzförmigen Anhänger. Den zweiten haben wir noch nicht gefunden.»

«Um Geld ging es hier also nicht», stellte Wessel trocken fest.

Marlowski holte einen durchsichtigen Beutel aus einer Kiste, in dem etwas Silbernes in der Sonne aufblitzte. «Diesen Schlüssel haben wir bei ihr gefunden. Sieht aus wie der Schlüssel zu einem Fahrradschloss, vielleicht auch zu einem Schließfach. Sonst trug sie nichts bei sich, womit man auf ihre Identität schließen könnte.»

Erstaunt sah er Navideh Petersen nach. Sie hatte sich entfernt und ihre Jacke auf der Hälfte des Weges zwischen dem Leichenfundort und dem Deich ins Gras gelegt. Mit federnden Schritten erklomm sie die Deichkrone und ging langsam ein paar Schritte auf und ab, ohne die Männer aus den Augen zu lassen.

«Was macht denn eure Hübsche da?», erkundigte sich Marlowski neugierig.

Steenhoff drehte sich um und sah, wie Petersen auf dem schmalen Fußweg des Deiches in Richtung Parkplatz lief. Sie hielt den Kopf gesenkt, so als suche sie mit den Augen den Boden ab. Ihre nachlässig zum Zopf geflochtenen Haare hatten sich gelöst. Eine Windböe fuhr ihr durch das Haar, das sich gleich darauf wieder sanft um ihre Schultern legte.

Bewundernd betrachtete Marlowski die schlanke, hochgewachsene Statur auf dem Deich. «Ihr Ermittler seid zu beneiden. Zu den Spurensicherern will so schnell keine Kollegin. Zumindest nicht so eine.»

«Navideh will auch nur bei Frank sitzen», sagte Wessel und versuchte ein gequältes Lachen.

Steenhoff ging nicht auf Wessels Bemerkung ein. Seit Navideh Petersen damals in sein Büro gezogen war und sie sich gemeinsam mit einem wuchernden Ficus Benjamini den kleinen Raum unterm Dach teilten, gab ihr enges Verhältnis immer wieder Raum für Spekulationen. Dabei wussten alle, dass Navideh Petersen früher mit einem Deutschen verheiratet gewesen war, danach aber mit einer Frau zusammenlebte. Einige der Kollegen fühlten sich durch ihre lesbische Neigung angespornt, noch intensiver um ihre Gunst zu werben. Doch für die meisten alleinstehenden Beamten und die notorischen Schürzenjäger im Präsidium war Navideh nicht mehr interessant, als bekannt wurde, dass sie eine Frau liebte.

Vor ein paar Monaten nun hatten Navideh und Vanessa sich getrennt. Steenhoff hatte im Präsidium kein Wort darüber verloren. Auch Navideh vermied es, über ihr Privatleben zu sprechen. Steenhoff wusste, dass sie alles tat, um sich möglichst unauffällig unter ihren meist männlichen Kollegen zu bewegen. Er hatte sie all die Jahre immer nur in Jeans und T-Shirt gesehen. Röcke oder hochhackige Schuhe trug sie nie. Dennoch zog Navideh Petersen mit ihren ebenmäßigen Gesichtszügen, den auffälligen braunen Augen und ihrer Größe von einsdreiundachtzig stets alle Blicke auf sich. Ein Umstand, den sie nach eigenen Worten hasste. Navideh Petersen verbarg sich hinter ihrer kühlen Art. Nur einigen wenigen Kollegen gegenüber wagte sie, sich auch anders zu zeigen.

Michael Wessel umwarb sie hartnäckig und hatte ihr sogar mehrfach angeboten, das Büro mit ihm zu teilen. Er hatte viele gute Gründe angeführt: Sein Zimmer, das auf der Ostseite lag, würde sich im Sommer nicht so unerträglich aufheizen. Außerdem lag es weit weg von der Eingangstür. Klingelte beispielsweise ein zur Vernehmung bestellter Zeuge an der Tür der Dienststelle, mussten oft Petersen oder Steenhoff aufstehen und für ihre Kollegen öffnen. Schließlich hatte Wessel sogar die düsteren Bilder von Emil Nolde in Steenhoffs Büro als Argument angeführt. Doch Petersen hatte dankend abgelehnt und stattdessen ein eigenes Bild von Nolde an ihrer Wandseite des Büros aufgehängt. Für Wessel war dies damals ein weiterer Beweis für seinen Eindruck, dass zwischen der neuen Kollegin und Steenhoff mehr als nur Sympathie bestand. Steenhoff nahm Wessels Mutmaßungen zur Kenntnis, kommentierte sie aber nie. Navideh und er waren Kollegen. Mehr nicht. Das hatte er auch Ira gesagt, die nach dem ersten Zusammentreffen mit der Neuen ihre Befürchtungen offen ausgesprochen hatte. Danach hatte seine Frau nie wieder gefragt.

Ira hatte Navideh Petersen nach dem Vorfall auf der Jugendfarm vor gut zwei Jahren für immer in ihr Herz geschlossen. Ohne Navideh hätte ein Serienmörder damals ihre Familie zerstört.

Steenhoff spürte, wie seine Brust enger wurde. Er hatte schon lange nicht mehr an die Jugendfarm gedacht. Aber die Bilder kamen immer wieder hoch. Doch es gelang ihm, die Gedanken an Hans Bilg wegzuschieben. Der Mann saß in einer hochgesicherten Klinik für psychisch kranke Straftäter. Seine Ärzte hatten Steenhoff versichert, dass er als unheilbar galt und wohl nie wieder in die Freiheit entlassen würde. Er konnte seiner Tochter nichts mehr tun.

Steenhoffs Blick streifte den Leichnam der jungen Frau. Und, wenn Bilg es je wagen würde, dachte er, dann …

«Frank? Ist alles okay?» Navideh Petersen stand vor ihm und musterte ihn besorgt.

«Klar.» Steenhoff räusperte sich. «Hast du auf dem Deich was gefunden?»

«Nein, eigentlich nicht.»

«Was meinst du mit ‹eigentlich›?»

«Ich hatte meine Jacke dort vorne ins Gras gelegt. Jeder, der auf dem Deich spazieren geht, würde das Kleidungsstück sofort sehen. Und auch die Tote. Sie hat schließlich ein rotes T-Shirt an. Ich vermute, dass jemand wollte, dass sie gefunden wird. Sonst hätte er sie doch vergraben oder in einem See versenkt. Aber …»

«Aber warum macht der Täter sich dann so viel Mühe und schleppt sie über das ganze Deichvorland in Richtung Weser?», beendete Steenhoff ihren Gedanken.

Petersen nickte bestätigend.

Mit einem Ruck drehte sich Steenhoff um und ging zu Marlowski. «Du und deine Leute, ihr habt doch schon mal hier gearbeitet.»

Marlowski schaute überrascht hoch. «Nein, ich war noch nie zuvor hier.» Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. «Du spielst auf das kurdische Paar an, das hier in der Nähe ermordet wurde.»

«Ja.»

«Tut mir leid. Ich hatte damals Urlaub. Aber was willst du wissen?»

«Wo genau lag im August 1999 die Leiche der Kurdin?»

Anstatt zu antworten, zeigte Marlowski auf einen ebenfalls mit einem weißen Schutzanzug bekleideten Kollegen mittleren Alters, der jetzt mit einem schweren Metallkoffer vom Tatortwagen auf sie zukam. Es war Jörg Sehlers, und Steenhoff stellte ihm dieselbe Frage.

Sehlers sah sich prüfend um, so als vergleiche er die grünen Baumkronen, den Deich und die Bucht in seinem inneren Koordinatensystem. Mühsam unterdrückte Steenhoff seine Anspannung, bis Sehlers endlich zu einem Ergebnis kam.

Er streckte den Arm aus und zeigte auf eine leichte Vertiefung vor sich im Schlick. «Das Mädchen lag dort. Genau dort.»

Navideh Petersen spürte, wie ihr ein eisiger Hauch über den Rücken lief. Yasemin, die junge Kurdin, war keine zehn Meter von der Stelle, an der die Unbekannte lag, ermordet worden.

04

Die Obduktion hatte länger gedauert als erwartet. Bernd Brückner war für seine Gründlichkeit bekannt, doch diesmal wirkte er auf Steenhoff nicht konzentriert, sondern eher angespannt. Ohne dass Steenhoff ihn darum gebeten hätte, kündigte Brückner jeden seiner Arbeitsschritte an, beschrieb die einzelnen Schnitte, die er an der Leiche vornahm, und jedes Organ, das er dem eingefallenen Körper mit der hellen, dünnen Waschhaut entnahm. Steenhoff machte sich währenddessen Notizen.

Brückner hatte gerade die Gliedmaßen vermessen, als er Steenhoff das erste Mal direkt ansah. «Bei der Toten handelt es sich wie vermutet nicht um eine erwachsene Frau, sondern um ein Mädchen. Sie ist zwischen 14 und 18, höchstens. Die genaue Altersbestimmung sollen die Hamburger machen. Aber ihr Zungenbein ist noch nicht verknöchert. Außerdem trägt sie eine Hose, die unter Jugendlichen sehr populär ist.» Seine Stimme klang vorwurfsvoll.

«Was ist? Was denkst du?», fragte Steenhoff den Rechtsmediziner.

Brückner, den keine Brandleiche und keine noch so alte Wasserleiche erschüttern konnten, wirkte bedrückt. Er richtete sich auf und trat einen Schritt vom Obduktionstisch zurück. Nachdenklich schaute er auf das tote Mädchen.

«Jemand muss sie doch vermissen. Warum steht sie nicht in unserer Datei?»

Eine wichtige Frage, dachte Petersen. Aber bis jetzt hatten sie keine vernünftige Antwort darauf. «Kannst du schon sagen, wie lange sie tot ist?»

«Vier, fünf Tage. Länger nicht.» Brückner räusperte sich. «Weißt du Frank, meine Tochter ist vergangene Woche 14 geworden. Ich sterbe schon tausend Tode, wenn sie abends mal später als verabredet nach Hause kommt. Ich sage dir, spätestens nach fünf Stunden wäre die Hundestaffel unterwegs und der Hubschrauber in der Luft.»

Steenhoff stimmte ihm zu. Auch er hatte oft Angst um seine Marie. Schon einige Male hatte er nachts die Krankenhäuser abtelefoniert, wenn seine Tochter sich nach einem Diskobesuch verspätete und nicht ans Handy ging. Dabei hatte er es immer geschafft, das Ausmaß seiner Besorgnis vor ihr zu verheimlichen. Aber Ira konnte er nichts vormachen. Sie hatte ihn mehr als einmal ermahnt und ihn an seine eigene Jugend erinnert. «Warst du früher immer pünktlich zu Hause? Ich nicht. Und erzähl mir nicht, Else und Willi waren immer bis drei Uhr morgens wach, um auf dich zu warten.» Steenhoff selbst lag meistens wach, bis er endlich den Schlüssel im Schloss hörte.

Er betrachtete den Leichnam vor sich. Vielleicht ist sie illegal in Deutschland und hat hier als Prostituierte gearbeitet?, dachte er. Aber im selben Moment verwarf er den Gedanken wieder. Die jungen Osteuropäerinnen, die in Bremen heimlich anschaffen gingen, trugen keinen Goldschmuck. Das galt auch für Drogenabhängige. Für eine Osteuropäerin war das Mädchen außerdem zu dunkel. Nein, die Tote kam aus geordneten Verhältnissen. Aber warum hatte dann niemand ihr Verschwinden gemeldet?

Mitten in der Obduktion vibrierte plötzlich Steenhoffs Handy in seiner Jackentasche. Er schaut auf sein Display und erkannte die Nummer von Navideh Petersen. Eilig wandte er sich vom Obduktionstisch ab und nahm das Gespräch entgegen.

«Ja, Navideh?»

«Wir waren gerade an der damaligen Adresse von Yasemins Familie. Du weißt schon, am Niedersachsendamm. Die wohnen da nicht mehr.»

Steenhoff spürte, wie die Spannung in ihm stieg. «Wo leben sie jetzt?»

«Die türkischen Nachbarn behaupten, sie seien schon vor Jahren nach Berlin gezogen. Angeblich sind sie nach dem Tod ihrer Tochter und nach dem Gerichtsprozess nie wieder nach Bremen zurückgekommen. Wir haben mit der Nachbarfamilie gesprochen. Der Mann sprach gut Deutsch und war auch auskunftsfreudig.»

«Findet raus, wo sie in Berlin leben. Wir müssen die so schnell wie möglich befragen. Bislang ist die Familie unser wichtigster Ansatzpunkt.»

Sie verabredeten, noch am Abend die Medien einzuschalten. Sie mussten wissen, wer das Mädchen vom Bunker Valentin war.

Als Steenhoff zurück zum Obduktionstisch ging, war ihm sofort klar, dass Brückner etwas Neues entdeckt haben musste. Der Rechtsmediziner war so tief in seine Arbeit versunken, dass er ihn gar nicht bemerkte.

Steenhoff konnte geduldig sein. Doch bei einem Morddelikt waren die ersten 24 Stunden von besonderer Bedeutung. Bei den meisten Kapitalverbrechen bekamen sie innerhalb dieser kurzen Zeitspanne heraus, wer für den Tod des Opfers verantwortlich war. Dann galt es nur noch, die Tatverdächtigen zu einem Geständnis zu bewegen oder die Indizienkette so dicht zu machen, dass kein Anwalt sie vor Gericht aufbrechen konnte. So wie im Falle eines früheren Kollegen, der seine eigene Frau getötet und den Leichnam zerstückelt hatte. Der Beamte stand von Anfang an unter Verdacht. Doch erst nach Monaten akribischer Ermittlungen hatte ein kleines Team der Mordermittler genug gerichtsverwertbare Beweise zusammengetragen, um den Mann zu überführen.

«Was gibt es, Bernd?» Steenhoff wandte sich mit mühsam unterdrückter Anspannung an Brückner.

Der Rechtsmediziner schreckte hoch. «Wir haben es nicht mit einem Opfer zu tun, sondern mit zweien.»

Steenhoff stutzte. «Du meinst …?»

«Ja, sie war schwanger», unterbrach ihn Brückner. «Im dritten Monat.» Der Mediziner stemmte seine Fäuste in die Wirbelsäule und spannte seinen Körper an, sodass es leise knackte. Erleichtert fiel Brückner wieder in sich zusammen.

Steenhoff wusste, dass der Rechtsmediziner ständig über Verspannungen und Rückenschmerzen klagte. Doch er ging nicht auf Brückners Leiden ein. «Bist du dir mit dem Schwangerschaftsmonat sicher?»

Brückner sah ihn erstaunt an. «Natürlich, sonst hätte ich es dir doch nicht gesagt.» Er deute auf die Haut an den Handgelenken. «Jemand muss sie festgehalten haben. Sie hat Hämatome in den unteren Hautschichten.» Er gab seinem Assistenten ein Zeichen weiterzumachen und zog seine Handschuhe aus. «Ich brauche eine kurze Pause. Kommst du mit vor die Tür?»

Brückner holte eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug aus seiner Jackentasche und ging mit großen Schritten auf die Eingangstür der Rechtsmedizin zu. Noch im Laufen steckte er sich eine Zigarette in den Mund. Als sie aus dem Gebäude traten, sah Steenhoff zwei Angestellte, die in einer windgeschützten Ecke des Hofes standen und rauchten. Brückner grüßte die Männer und stellte sich abseits von ihnen in die andere Ecke. Gedankenverloren hielt er Steenhoff die Zigarettenschachtel hin, doch der schüttelte ungeduldig den Kopf.

Brückner wirkte verlegen. «Ach, entschuldige, du rauchst ja nicht.» Gierig zog er an seiner Zigarette und nahm den Gesprächsfaden wieder auf. «Jetzt wisst ihr zwar noch nicht, wer das Mädchen ist, aber ihr habt schon mal ein denkbares Mordmotiv. Vermutlich passte jemandem ihre Schwangerschaft nicht.»

«Wie kommst du auf Mord? Bislang war nur die Rede von einem Genickbruch.»