Schattenschmerz - Rose Gerdts - E-Book

Schattenschmerz E-Book

Rose Gerdts

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Beschreibung

Bombenalarm Frühmorgens explodiert in einem Stadtpark in Bremen eine Bombe. Ein Gärtner stirbt, sein Kollege überlebt schwer verletzt. Während der Tatort geräumt wird, finden Polizisten in der Nähe eines Kindergartens eine entschärfte Landmine - eine Nachricht der Bombenleger. Zugleich drohen sie mit weiteren Anschlägen. Die Ermittler Frank Steenhoff und Navideh Petersen befürchten einen terroristischen Hintergrund. Fieberhaft versuchen sie den Attentätern zuvorzukommen. Als sie endlich das wahre Motiv hinter dem Anschlag erkennen, bekommt der Fall eine völlig neue Dimension ... «Authentisch, spannend und einzigartig in diesem Genre.» (Axel Petermann, Fallanalytiker und Autor des Bestsellers «Auf der Spur des Bösen»)

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Seitenzahl: 376

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Rose Gerdts

Schattenschmerz

Kriminalroman

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Prolog01. Kapitel02. Kapitel03. Kapitel04. Kapitel05. Kapitel06. Kapitel07. Kapitel08. Kapitel09. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitelnachwort
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Prolog

Seine feuchten Finger umklammerten das Lenkrad.

Die Knöchel der rechten Hand traten weiß hervor, als der Wagen in den Lichtschein einer Straßenlaterne eintauchte. Mechanisch betätigte er an der Kreuzung den Blinker und bog in die kleine Straße ab, die unter der Autobahn durchführte. Er war froh, die Siedlung mit den Reihenhäusern hinter sich zu lassen. Die Klinkerhäuschen mit ihren Blumenbeeten und Fahrradständern vor der Tür strahlten eine selbstsichere Behaglichkeit aus, deren Anblick er nicht ertragen konnte.

Vor ihm lag ein Tunnel, der unter der Autobahn hindurchführte. Er war schmal und nicht beleuchtet. Ihm schien es, als tauche er in ein schwarzes Loch ein. Ruckartig trat er auf die Bremse. Wie aus weiter Ferne drang das Geräusch der quietschenden Reifen zu ihm durch. Langsam ließ er die Scheibe an der Fahrerseite hinunter. Ein kühler Luftzug strich über sein Gesicht.

Über ihm, auf der Autobahn, näherte sich ein schweres Fahrzeug. Ein grollender Donner rollte über ihn hinweg. Dann war es wieder still.

Langsam wich die Anspannung aus seinem Körper. Nicht mehr lange, dann würde Ruhe sein. Er sehnte sich danach, nichts mehr entscheiden, nichts mehr denken, nichts mehr fühlen zu müssen.

Am Morgen hatte er seinen Cocker Spaniel zur Schwester gebracht und etwas von einem Vorstellungsgespräch im Rheinland gemurmelt. Die Schwester hatte es geglaubt und ihm Glück gewünscht. Ihre Einladung zum Kaffee hatte er ausgeschlagen und sich abrupt verabschiedet. Sie sollte nicht sehen, wie ihm Tränen die Sicht verschleierten. Bis ins Erdgeschoss des Treppenhauses hatte ihn das Bellen seines Hundes verfolgt.

Das war das Schlimmste gewesen: Lindas Gebell. Beinahe wäre er umgekehrt.

Aber er war nach Hause gefahren, hatte die restlichen Regale und Schränke ausgeräumt, die wenigen Bilder von den Wänden abgenommen und seine Sachen in beschriftete Kisten gepackt.

Als er die letzte, mit Büchern und CDs gefüllte Kiste auf die anderen wuchtete, fühlte er sich ruhiger. Niemand sollte sich mit seinen Sachen abmühen müssen. Er hatte schon lange kein Zuhause mehr. Es gab nur eine Adresse, wo er schlief und sich seit Monaten verkroch.

Vorsichtig tippte er das Gaspedal mit der Fußspitze an und ließ den Wagen ans Ende der Unterführung rollen. Vor ihm tat sich eine weite Wiesenlandschaft auf. Der Himmel war bewölkt. Nur ab und an fiel etwas Mondlicht auf die feuchten Felder und brachliegenden Äcker. Die einspurige Straße, die für landwirtschaftliche Fahrzeuge gebaut worden war, machte einen Bogen nach rechts und lief weiter parallel zur Autobahn. Nach 100 Metern parkte er sein Fahrzeug am Straßenrand und stieg aus.

Sein Pulschlag ging schneller. Mühsam schnappte er nach Luft. Der Druck auf der Brust war kaum auszuhalten. Vergeblich bemühte er sich, gleichmäßig zu atmen. Er wusste, was gleich kommen würde. Die Angst lauerte zwischen den Büschen. Gleich würde sie ihn von der Böschung anspringen, ihn packen und zu Boden drücken. Wie so oft schon. Dabei war er ganz nah am Ziel.

Er zwang sich, an etwas anderes zu denken. Fast glaubte er sich schon als Sieger über seine Dämonen, doch dann hörte er plötzlich wieder Lindas Gebell. Dieser verdammte Hund! Er sollte Ruhe geben. Die Schwester würde sich um ihn kümmern. Er hatte an alles gedacht. Kein Grund so zu kläffen.

Die Wut half ihm loszugehen.

Zwei Sattelzüge donnerten in dichtem Abstand in Richtung Hamburg. Plötzlich gaben seine Beine nach, er schwankte und sackte auf die Straße. Doch er widerstand dem Wunsch, sich zusammenzurollen, und kroch unter größter Kraftanstrengung ums Auto herum in Richtung Böschung. Stück für Stück schleppte er sich den nur wenige Meter hohen Wall hinauf.

Oben angekommen, brauchte er eine ganze Weile, um wieder ruhig atmen zu können. Langsam verebbte die Panikattacke.

Mühsam richtete er sich an der Leitplanke auf. Seine Kleidung hob sich dunkel von dem Metall ab. Wie in Zeitlupe stieg er hinüber und sah in der Ferne ein Licht mit hoher Geschwindigkeit auf sich zukommen. Er machte einen Schritt in Richtung Fahrbahn. Im selben Augenblick raste der Wagen hupend an ihm vorbei. Der Luftzug zerrte an der Kordel seiner dunkelbraunen Kapuze. Er sah nicht, dass das Fahrzeug in einiger Entfernung auf dem Standstreifen stehenblieb und jemand die Warnblinkanlage einschaltete.

Er hatte keinen Blick mehr für das, was um ihn herum geschah, was sich hinter seinem Rücken abspielte. Er bemerkte nicht, dass jemand auf ihn zurannte. Hörte nicht, dass man ihm etwas zurief. Er sah nur die runden, gelben Lichter und die Umrisse eines großen Lastwagens, der mit hoher Geschwindigkeit auf ihn zuraste.

Er schloss die Augen und zählte laut die Sekunden. «Sieben, sechs, fünf …» Die Erde unter seinen Füßen vibrierte. «… vier, drei …» Ohne die Augen zu öffnen, machte er einen großen Schritt auf die Fahrbahn. Dann breitete er die Arme aus, als wolle er das Geschoss umarmen. «… zwei, eins.»

Das Letzte, was er hörte, war ein langgezogener, verzweifelter Schrei.

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01

Navideh Petersen stützte sich mit beiden Händen auf der steinernen Brüstung der Terrasse ab und sog tief die salzige Meeresluft ein.

Die Aussicht von ihrer Ferienwohnung auf die weite Bucht zu ihren Füßen war überwältigend. Das blaugrüne Meer glitzerte in der Septembersonne. Parallel zum mallorquinischen Festland stemmte sich eine Yacht gegen die Wellen in Richtung Westen.

Ihr Blick folgte dem Schiff, schweifte nach links ab und blieb an dem Pinienwald hängen, der sich bis ans Meer vorwagte. Die Naturbucht wurde im Westen von einer felsigen kleinen Landzunge begrenzt. Dahinter, das hatte sie in einem Prospekt gelesen, lag eine weitere schmale Bucht, in der im Sommer abends immer einige Segler vor Anker gingen. An einem Berghang, hoch über dem Meer, meinte sie einen der typischen, uralten Wachtürme der Insel zu erkennen.

Navideh kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen. Aber der Berg war zu weit weg. Sie ging in ihre Wohnung zurück, holte sich ein Haarband aus dem Badezimmer und zog das Fernglas aus der Tasche, die direkt neben ihrem Bett stand. Dann kehrte sie auf die Terrasse zurück. Mit geübtem Griff band sie ihre schwarzen Haare zusammen, auf denen in der Morgensonne ein bläulicher Glanz lag.

Meter für Meter suchte Navideh durch das Fernglas die Kuppel des Berges ab. Tatsächlich! Sie hatte sich nicht getäuscht. Die Erhebung auf dem höchsten Punkt war ein Wachturm. Einer der über 80 Torres, die die Insel ab dem 16. Jahrhundert vor Überfällen von Piraten bewahren sollten.

Von dem Turm aus muss man einen phantastischen Blick haben, dachte Navideh und nahm sich vor, nach dem Frühstück die Erkundung ihres Urlaubsortes mit einer kleinen Bergbesteigung zu beginnen.

Auf nackten Füßen ging sie über die geflieste Terrasse in die Küche zurück und sah sich im Raum um. Die Vermieterin hatte ihr zur Begrüßung Obst und fünf Liter frisches Wasser hingestellt. In der Speisekammer entdeckte Navideh eine angebrochene Packung Kaffee von den Gästen, die am Mittag zuvor abgereist waren. Als sie genauer nachschaute, entdeckte sie auch noch eine Tüte Müsli, Marmelade, etwas Knäckebrot sowie ein paar Filtertüten. Den Einkauf für die kommenden Tage konnte sie also getrost auf den Nachmittag verschieben. Für ein Frühstück auf der Terrasse würde es reichen.

Wenige Minuten später trug sie ihr Tablett mit dem dampfenden Kaffeebecher nach draußen. Zwischen ihrer Wohnung und dem Meer lag nur ein felsiges, unbebautes Grundstück und eine schmale, hübsch gepflasterte Promenade. Dahinter brach der Fels steil ins Meer ab.

Wieder schweifte ihr Blick über die Bucht. Die Yacht war verschwunden, der Naturstrand im Westen noch menschenleer. Niemand schien so früh unterwegs zu sein. Bald wäre die Saison zu Ende. Schon jetzt hielten sich nur noch wenige Gäste in dem kleinen Ort auf. Unwillkürlich musste Navideh an Jorges denken. Noch vor kurzem wäre es ihr nicht in den Sinn gekommen, ohne ihren Freund in den Urlaub zu fahren. Aber seit er ihr im Spätsommer von seiner Idee erzählt hatte, für ein Jahr seines Medizinstudiums in die USA zu gehen, hatte sich ihr Verhältnis verändert. Vor allem, nachdem er damit herausgerückt war, dass er sich bereits um einen Platz an einer Universität beworben hatte.

«In den nächsten ein, zwei Wochen rechne ich mit einer Antwort aus Neuengland.» Als Jorges ihren erschrockenen Blick sah, beeilte er sich hinterherzuschieben: «Nur ganz wenige der Bewerber haben eine Chance, in die engere Auswahl zu kommen.»

An jenem Abend spürte Navideh, wie der Kloß im Hals immer größer wurde. Verzweifelt überlegte sie, wie sie ihre zentrale Frage formulieren könnte, ohne zu wütend oder verletzt zu wirken. Schließlich presste sie nur mühsam heraus: «Und was wird aus uns?»

Jorges schaute sie liebevoll an und nahm ihr Gesicht zärtlich in beide Hände. «Wir werden uns natürlich gegenseitig besuchen. Und in der Zwischenzeit kannst du endlich mal ungestört deine Kriminalfälle lösen. Ich liebe dich, Navideh! Du kannst mir glauben, die paar Monate ändern nichts für mich.»

Navideh hatte ihm geglaubt. Aber sie wusste nicht, ob die einsame Entscheidung, die Jorges getroffen hatte, nicht etwas für sie änderte.

Eine Woche später lag ein dicker Briefumschlag von der Brown University im Briefkasten. Jorges fiel ihr abends jubelnd um den Hals, als sie von der Arbeit nach Hause kam. Ihr Freund war völlig aus dem Häuschen. «Ich habe das Stipendium bekommen! Stell dir vor, sie haben es mir gegeben, ausgerechnet mir!»

Navideh hatte nie daran gezweifelt. Jorges’ Bewerbung las sich sehr überzeugend. Er hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er mit 17 Jahren von zu Hause ausgerissen war und seitdem hart für seine Ziele kämpfte. Er hatte sich als Jongleur in Südosteuropa herumgeschlagen, war schwer erkrankt und hatte nach seiner Genesung als Taxifahrer gejobbt, um sich eine Ausbildung als Krankenpfleger zu finanzieren. Das Studium ging er ähnlich engagiert an. Er wollte unbedingt Arzt werden. Amerikaner liebten solche Geschichten. Lebenswege voller Dramatik. Und auch Navideh hatte sich unter anderem deswegen in Jorges verliebt, weil er sich stets treu geblieben war und für seine Ideale kämpfte. Eines Tages wollte er nach Rumänien zurückkehren und dort medizinische Hilfe für Straßenkinder leisten.

Navideh seufzte und beobachtete fasziniert, wie sich die Wellen des Mittelmeers an einer winzigen, vorgelagerten Insel brachen. Sie konnte sich nicht sattsehen an den Wogen, die sich schäumend aufbäumten und den Fels sekundenlang verschlangen. Die Macht des Meeres beeindruckte sie – und sie machte ihr insgeheim Angst.

Das Wasser war unergründlich. Unberechenbar.

Gedankenverloren kramte sie in einem Stapel alter Frauenzeitschriften, den die Vormieter liegengelassen hatten. Ohne wirklich zu lesen, durchblätterte sie zwei Hefte. Zu ihrer Überraschung befand sich in dem Stapel auch eine ältere Ausgabe des Weser-Kuriers aus Bremen. Navideh schaute aufs Datum: Die Zeitung stammte aus dem Frühjahr. Die Schlagzeilen der internationalen Politik wurden von einem Anschlag in Pakistan beherrscht. Sie überflog den Artikel. Ein Selbstmordattentäter hatte ein Blutbad auf einem Marktplatz verübt. 22 Todesopfer, über achtzig Verletzte. Navideh las die Zahlen und hatte sie sofort wieder vergessen. Der Mittlere Osten war weit weg. Tatsächlich, dachte sie mit einem Anflug von schlechtem Gewissen, waren Länder wie Pakistan und auch Afghanistan für sie nichts anderes als Synonyme für die ewig selben deprimierenden Artikel über Unruheregionen dieser Welt.

Nach wenigen Minuten blätterte sie auf die Lokalseiten der Zeitung um und blieb an einem Gerichtsprozess hängen, der sich mit einem gewalttätigen Brüderpaar beschäftigte. Sie selbst war bei den Ermittlungen gegen die Männer mit eingebunden gewesen.

Ein weiterer Beitrag beschäftigte sich mit den vergeblichen Bemühungen einer Elterninitiative, Räume für ihre Kindergruppe zu finden. Die Bremer Bürgerschaft hatte einhellig beschlossen, künftig Kinderlärm gesetzlich nicht mehr mit Verkehrs- oder Gewerbelärm gleichzusetzen. Unbewusst schüttelte Navideh den Kopf. Sie lebte nun schon so lange in Deutschland und nicht mehr im Iran, aber es gab Momente, in denen sie noch immer staunte, über welche Selbstverständlichkeiten die Menschen in ihrer neuen Heimat sich stritten. Kinderlärm!

Sie überlegte, ob es für das Wort eine Übersetzung im Persischen gab. Vermutlich würden viele Iranerinnen gar nicht verstehen, warum die Elterninitiative solche Schwierigkeiten bei der Raumsuche hatte.

Auf der dritten Lokalseite stand eine kleine Notiz, dass ein 25-jähriger Mann auf der Autobahn A1 zwischen zwei Anschlussstellen nachts auf die Fahrbahn gelaufen war. Ein Lastwagen hatte den Mann überrollt. Er war noch am Unfallort gestorben. Ermittlungen der Verkehrspolizei ergaben, dass er seinen Suizid akribisch geplant und seine Möbel in der Wohnung zum Abtransport bereitgestellt hatte. Seinen Hund hatte er zuvor unter einem Vorwand bei der Schwester untergebracht. Navideh konnte sich nicht mehr an den Vorfall erinnern. Selbstmorde gab es jede Woche.

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02

Verstohlen musterte Frank Steenhoff seine Kollegin, die ihm gegenüber in dem winzigen Büro mit den Dachschrägen saß und die Unterlagen zu einem alten Mordfall las.

Der wuchernde Benjamini zwischen ihnen verdeckte nur einen Teil von ihr. Navideh Petersen hatte sich von ihrem Schreibtisch weggedreht und die Füße auf den Rand des Papierkorbs gelegt. Auf ihrem Schoß lag ein dicker Aktenordner, in den sie völlig vertieft schien. Bewundernd stellte Steenhoff zum wiederholten Male fest, dass seine Kollegin die langen Beine eines Models hatte. Wie auch ihre übrige Erscheinung im Präsidium immer wieder für begehrliche Blicke sorgte. Dabei gab sich Petersen betont leger. Auch heute trug sie einen flachen, modischen Turnschuh, Jeans sowie einen engsitzenden, leuchtend blauen Pullover. Der Teint, den sie von ihrer Kurzreise nach Mallorca mitgebracht hatte, schien perfekt zu ihrer Kleidung zu passen. Doch wie Steenhoff seine Kollegin einschätzte, hatte sie morgens nur in aller Eile etwas aus dem Kleiderschrank gezogen, was ihr erlaubte, möglichst bequem durch den Tag zu kommen.

Ohne aufzublicken, griff Petersen zum Teebecher, der auf ihrem Schreibtisch stand, und pustete gedankenverloren hinein. Dann nippte sie vorsichtig daran. Steenhoff sah sie aufmerksam an.

«Dein Tee ist kalt. Der dampft schon lange nicht mehr.»

Petersen sah kurz hoch, schien aber durch ihn hindurchzublicken. Kopfschüttelnd murmelte sie eine Antwort, die er nicht verstand, und machte sich mit dem Bleistift eine Notiz am rechten Rand der Seite.

Steenhoff wartete. Aber für Petersen schien das Gespräch schon wieder beendet. Er zuckte die Schultern und versuchte, sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren. Das Verhalten seiner jüngeren Kollegin irritierte ihn. Seit sie aus ihrem Urlaub zurückgekehrt war, schien Petersen zurückgezogen und nachdenklich. Nur kurz hatte sie Steenhoff erzählt, dass sie kreuz und quer über die Insel geradelt war und sich abends mit einem Stapel Bücher vergnügt hatte.

Wahrscheinlich habe ich sie wieder mal auf dem falschen Fuß erwischt, dachte Steenhoff. Seit vier Jahren teilten sie sich nun gemeinsam mit dem großen Benjamini das kleine Büro unterm Dach. Außer Manfred Rüttger, seinem langjährigen Kollegen von den Brandursachenermittlern, der manchmal bei ihnen in der Mordkommission aushalf, hätte er sich keinen besseren Partner als Navideh Petersen vorstellen können. Sie war intelligent, verlässlich und hatte oft ungewöhnliche Ideen – aber an manchen Tagen war sie ihm ein einziges Rätsel.

So wie heute.

Steenhoff beschloss, noch einen Anlauf zu wagen und ihr eine Brücke zu bauen. «Ich koche mir einen Kaffee, möchtest du noch einen frisch aufgegossenen, persischen Tee, Navideh?»

«Hm.»

«Hm, ja oder hm, nein», versuchte Steenhoff, sie aus der Reserve zu locken.

«Danke, nein.»

Irritiert bemerkte er, dass sie während ihres knappen Dialogs noch nicht einmal von ihrer Akte hochgeschaut hatte.

Verdammt, wenn er mal wieder in irgendein Fettnäpfchen getreten war, dann sollte sie es endlich sagen, anstatt zwischen den verstaubten Aktendeckeln eines ungelösten Mordfalls aus den achtziger Jahren zu schmollen.

«Und sonst geht es aber gut?», schob Steenhoff bissig hinterher.

Erstaunt sah ihn Petersen an. «Ist irgendetwas, Frank?»

«Das könnte ich dich fragen.» Steenhoff richtete sich auf und fixierte sie übertrieben streng. «Du kommst aus dem Urlaub zurück, wirfst ein paar magere Brocken zum Wetter und der Geographie der Insel ins Kommissariat und tauchst in deine Akte ab. Auf deiner Stirn steht ‹Nicht stören› mit einem dicken Ausrufezeichen dahinter. Und jetzt willst du noch nicht mal einen persischen Tee. Also, mit anderen Worten: Womit, werte Kollegin, habe ich so viel Missachtung verdient?»

Zu seiner Überraschung seufzte Petersen tief.

Er wartete.

«Ach, ich muss einfach oft darüber nachdenken, wie das so weitergehen soll.»

«Ganz einfach», nahm Steenhoff den Ball auf. «Wir werden hier gemeinsam sitzen, bis sie dich in fünf Jahren zur Kripochefin machen und du ein großes Einzelzimmer im ersten Stock des Polizeipräsidiums beziehen darfst. Aber eines ist hoffentlich klar: Für unseren Benjamini bekomme ich das alleinige Sorgerecht. Der Baum bleibt bei mir», sagte Steenhoff mit gespieltem Ernst.

Petersen schüttelte den Kopf. «Frank! Ich spreche nicht von uns, sondern von Jorges und mir.» Sie griff eine Büroklammer, die auf ihrem Tisch lag, und ließ sie zwischen ihren Fingern hin- und hergleiten. «Er will ausziehen.» Ihre schlanken Finger bogen die Klammer auseinander.

Steenhoff konnte nicht glauben, was er gerade gehört hatte. «Jorges will dich verlassen?»

«Nein», beschwichtigte Petersen ihn sofort. «Unsere Beziehung ist so weit okay.»

Steenhoff sah sie zweifelnd an.

«Aber Jorges hat das Angebot bekommen, für zwei Semester in die USA zu gehen. Da greift er natürlich zu.»

«Wieso natürlich? Schließlich lässt er dich hier zurück.»

Er verstand Jorges nicht. Eine Frau wie Navideh ließ man nicht monatelang allein. Im Präsidium gab es immer reichlich Männer, die um sie herumschwirrten. Petersen schien die Verehrer zwar nicht zu bemerken, aber er, Steenhoff, wusste genau, warum in ihrem kleinen Büro ständig Kollegen unter einem Vorwand vorbeischauten.

Petersens Stimme klang fast eine Spur mütterlich, als sie ihm antwortete: «Frank, ich kann doch mal ein paar Monate ohne Jorges auskommen. Deswegen ist doch nicht gleich unsere Beziehung gefährdet.»

«Und warum hockst du dann seit deiner Rückkehr so stumm und still auf deinem Bürostuhl? Du weigerst dich ja sogar, diesen gruseligen Tee zu trinken, den du sonst literweise in dich hineinschüttest!»

«Erstens finde ich den alten, ungelösten Fall, den mir Bernd Tewes auf den Tisch gelegt hat, spannend, und zweitens …» Sie machte eine Pause.

«Und zweitens?», half Steenhoff nach und sah sie aufmunternd an.

«Und zweitens habe ich den Eindruck, dass Jorges und ich besser miteinander auskommen, wenn wir nicht zusammen wohnen. Außerdem will ich aus der alten Wohnung in der Alexanderstraße raus. Denn irgendwie erinnert mich immer noch alles an die Zeit mit Vanessa. Außerdem kommt mir nachts oft mein Bruder in den Sinn … Du weißt schon.»

Steenhoff sah sie besorgt an. Er hatte gehofft, dass sie schon mehr Abstand zu dem Überfall bekommen hatte. Es war gleich zu Beginn ihrer Zusammenarbeit in der Mordkommission passiert.

Petersen hatte als junge Frau einen Bremer Jurastudenten geheiratet, um aus der Enge ihrer persischen Familie auszubrechen. Doch die Beziehung ging schnell in die Brüche. Sie ließ sich scheiden, behielt den deutschen Nachnamen und blieb so lange allein, bis sie sich zu ihrer eigenen Überraschung in eine Frau verliebte. Die Beziehung zu der lebenslustigen Vanessa hielt sie nicht nur ihrer Mutter und allen Arbeitskollegen gegenüber streng geheim, sondern auch gegenüber ihrem Bruder. Doch Mahmud wurde misstrauisch und lauerte den beiden Frauen auf. Eines Nachts hatte Navideh ihre Dienstpistole auf den eigenen Bruder richten müssen, um den Wahnsinnigen zu stoppen. Navideh und Vanessa hatten Monate gebraucht, um über den Vorfall hinwegzukommen. Dennoch hatte ihre Beziehung in jener Nacht erste tiefe Risse bekommen. Im darauffolgenden Jahr verließ Vanessa die gemeinsame Wohnung. Angeblich, weil Navideh als Ermittlerin nicht genug Zeit für die Beziehung hatte.

Steenhoff wusste, dass Petersen Monate später mit dem Straßenkünstler Jorges zusammengekommen war.

In den wenigen Jahren, in denen Steenhoff Petersen kennengelernt hatte, war das Leben seiner Kollegin wie eine Fahrt auf der Achterbahn verlaufen. Voller Höhen, Tiefen und Überschläge. Sein Leben mit Ira und ihrer inzwischen erwachsenen Tochter Marie kam ihm dagegen fast langweilig vor.

Petersen warf die verbogene Klammer auf ihre Schreibunterlage und sah Steenhoff direkt an. «Ich überlege die ganze Zeit, ob ich umziehen soll. Vielleicht mit einer Freundin zusammen.»

«Aber doch nicht etwa mit Judith? Dieser schrägen Fahrradhändlerin?», sagte Steenhoff warnend.

Petersen zog die linke, geschwungene Augenbraue hoch. «Erstens ist sie nicht schräg, sondern nur ein wenig eigen, und zweitens will ich nichts von ihr, falls du das denkst.»

Steenhoff hob abwehrend die Hand, als wolle er sagen, dass ihn dies nichts angehe.

Petersen zuckte die Schultern und reckte sich. Steenhoff stand auf.

«Jetzt, wo du wieder mit deinem Kollegen redest, erzähl mir doch mal, was du so spannend an dem alten Mordfall findest.»

Erleichtert, dass Steenhoff das Thema endlich fallenließ, reckte sich Petersen und suchte nach dem grünen Klebestreifen, den sie einige Seiten zuvor in die dicke Ermittlungsakte geklebt hatte.

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03

In der vorletzten Oktoberwoche zog Navideh Petersen um.

Mehrere Kollegen hatten sich sofort bereit erklärt, ihr zu helfen. Auch Steenhoffs Frau Ira hatte ursprünglich mit anpacken wollen. Doch dann musste sie für ein paar Tage auf die Insel Gozo, wo sie als Maklerin luxuriöser Ferienhäuser ein neues Objekt begutachtete. Anschließend wollte sie nach Portugal weiterfliegen. Ira hatte Petersen aber angeboten, ihr nach der Reise dabei zu helfen, Bilder aufzuhängen und neue Jalousien auszusuchen. Navideh war dankbar auf den Vorschlag eingegangen.

Ihre Freundin Judith hatte sich für eine Wohnung im Bremer Stadtteil Findorff entschieden. Das in den sechziger Jahren verklinkerte Haus gefiel Navideh aber überhaupt nicht. Verglichen mit dem Altbremer Haus, in dem sie erst mit Vanessa und dann mit Jorges gelebt hatte, wirkte es wenig einladend. Judith entschied sich trotzdem dafür.

Petersen studierte weiter die Anzeigen in der Zeitung. Doch nichts schien zu ihr zu passen. Die Einfamilienhäuser, die sie sich anschaute, waren für Paare mit Kindern geplant. Die leeren, unbelebten Räume hätten ihr permanent den Spiegel vorgehalten, dass sie künftig allein leben würde. Ein Kollege gab ihr schließlich den Tipp mit einer ausgebauten Dachgeschosswohnung in der Nähe des Weser-Stadions.

«Nicht ganz billig und auch etwas laut, aber dafür mit viel Charme», hatte ihr der Mann aus dem Betrugsdezernat vorgeschwärmt. Steenhoff, der sich am Abend mit seiner Frau im selben Stadtteil im Kino verabredet hatte, bot sich an, Petersen bei der Wohnungsbesichtigung zu begleiten.

Navideh war sofort begeistert. Die Villa lag am Osterdeich, der einstigen Prachtstraße, die aus der Altstadt hinausführte. Haus für Haus zeugte von dem Reichtum früherer Bremer Kaufmannsfamilien in den beiden letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Viele der Anwesen besaßen parkähnliche Vorgärten, in denen Rotbuchen mit mächtigen Baumkronen standen.

Petersen öffnete das mannshohe, eiserne Gartentor. Die im Jugendstil gehaltene Eingangstür war offenbar originalgetreu nachgebaut worden, besaß dafür aber moderne Sicherheitsschlösser, wie Navideh sofort erkannte. Auf ihr Klingeln öffnete eine ältere Frau, die sie freudig durch das Haus führte. Navideh schätzte sie auf Mitte 70.

Als sie über den Flur der ersten Etage gingen, drehte sie sich zu Petersen um. «Sie suchen also etwas für sich und Ihren Mann?» Ihr Blick streifte Steenhoff.

«Nein. Nur für mich. Das ist übrigens nicht mein Mann, sondern mein Kollege, Frank Steenhoff.»

Die alte Frau warf beiden einen fragenden Blick zu, sagte aber nichts weiter.

Die Wohnung bestand aus einem riesigen Wohnzimmer, das durch Dachschrägen und dicke Holzbalken unterteilt war, und einem kleinen Schlafzimmer. Zum Osterdeich ging ein quadratischer Balkon hinaus, um den sich eine gewaltige Glyzine rankte. Ihr gedrehter Stamm war uralt und schien mit dem Geländer verwachsen zu sein. Links vom Balkon konnte man die Tribünen des Weser-Stadions sehen. In rund 100 Meter Entfernung floss die Weser am Haus vorbei. Binnenschiffe und Ruderer waren auf dem Fluss unterwegs. «Das ist wirklich schön», sagte Navideh anerkennend. Steenhoff nickte. Nachdem sie einen Augenblick lang den Ausblick genossen hatten, drehte er sich zu der Frau um. «Dürften wir noch mal die Küche inspizieren?»

Die alte Frau zog erstaunt eine Augenbraue hoch. «Ein Mann, der gern kocht?»

«Ja. Ein neues Hobby von mir. Am liebsten orientalisch. Aber wenn ich ein finnisches Rezeptbuch geschenkt bekomme, dann koche ich von mariniertem Elch bis zum überbackenen Rentier einmal alles durch.»

Amüsiert ging die Frau voran.

«Seit wann stehst du denn am Herd?», erkundigte sich Petersen leise.

«Wenn du mich fragst, schon immer. Wenn du Ira fragst, nie. Tatsächlich habe ich aber zu meinem letzten Geburtstag ein Kochbuch von einer Bekannten bekommen und damit schon ein paar Volltreffer gelandet.»

Die Küche war ziemlich alt, aber perfekt in die Schrägen und Ecken eingepasst und nur durch einen Tresen aus Erlenholz vom Wohnzimmer abgetrennt. Als kurz die Sonne hinter den Wolken durchbrach, schien die gesamte Wohnung lichtdurchflutet. Erst jetzt bemerkte Petersen, dass eine Seite des Raumes von oben bis unten verglast war. So etwas hatte sie schon immer gesucht.

Begeistert drehte sie sich zu der Frau um: «Diese Wohnung ist ein Traum. Aber wo ist der Haken? So etwas geht doch sonst nur unter der Hand weg.»

«Mir muss der neue Mieter oder die neue Mieterin gefallen», antwortete die Frau direkt. «So ist es seit Jahren mit dem Eigentümer vereinbart.»

Steenhoff sprang Petersen bei: «Ich nehme an, Sie sind nicht mit Sonntagsbraten oder …», er suchte in seinem Gedächtnis nach einem traditionellen Bremer Gericht, «… Labskaus zu bestechen?»

Die Frau schüttelte den Kopf. Aber in ihren Augen blitzte der Schalk früherer Jahre. Ganz offensichtlich genoss sie es, die beiden Besucher einen Augenblick lang im Ungewissen zu lassen.

Im selben Moment hörten sie eine Stimme, die zaghaft rief. «Frau Asendorf? Sind Sie da oben?»

Bevor sie antworten konnte, stand auch schon eine etwa 40-jährige Frau in der Wohnung. Die Frau hatte perfekt frisierte braune Haare und trug dazu ein beiges Kostüm und beige Schuhe mit halbhohem Absatz und goldenen Schnallen. Am rechten Armgelenk baumelte ein goldenes Armband. Alles an der Frau schien zueinander zu passen – nur ihre Nervosität nicht.

«Frau Asendorf … Gott sei Dank sind Sie hier und nicht im Garten. Dieser komische Mann von letzter Woche ist wieder da. Sie wissen schon … Er verbuddelt gerade etwas bei der Rotbuche.»

Fragend sah Steenhoff die alte Frau an.

«Ein Drogenabhängiger, der unseren Vorgarten leider ab und an als Versteck für sein Rauschgift benutzt», erklärte Luise Asendorf gelassen. «In unserem bunten Viertel wird ja so viel gedealt. Darf ich vorstellen, das ist Alexandra Künnicke.»

 

Doch der Bankangestellten aus dem ersten Obergeschoss stand nicht der Sinn nach höflichen Vorstellungsrunden. Sie gab eine Nummer in ihr Handy ein und sagte aufgeregt: «Ich rufe die Polizei.»

«Nicht nötig. Die ist schon da», sagten Steenhoff und Petersen wie aus einem Munde. Petersen wollte schon loslaufen, als Steenhoff sie festhielt. «Ich übernehme das heute. Guck du dich hier weiter in Ruhe um.»

Er schob Luise Asendorf sanft beiseite, nickte ihr freundlich zu und lief die Treppe hinunter.

 

Noch am selben Abend unterzeichnete Petersen den Mietvertrag.

Seitdem pflegte sie gern im Präsidium zu erzählen, dass sie ihr neues Zuhause einem kleinen Drogendealer aus dem Ostertorviertel verdanke.

 

Am Umzugstag waren Frank Steenhoff und Manfred Rüttger die letzten Helfer, die sich spätabends verabschiedeten. Der Brandsachermittlern nahm sogar das Altglas der Feierabendbiere wieder mit. Als Petersen die Tür öffnete, wollte sie protestieren, doch Manfred Rüttger winkte in seiner freundlich-bedächtigen Art ab. «Nun gönn mir doch das schöne Gefühl, auch mal etwas gelöscht zu haben.»

Lachend schloss Navideh hinter ihnen die Tür und schritt langsam durch alle Räume ihrer neuen Wohnung. Noch waren alle Wände nackt. In einer Ecke hatten die Männer mehrere unausgepackte Kartons übereinandergestellt. Dennoch strahlte das Wohnzimmer mit seinen Schrägen, dem Balkon zur Weser und der Glasfront eine große Behaglichkeit aus.

Mein neues Zuhause, dachte sie feierlich. Im gleichen Moment wurde ihr klar, dass es das erste Mal war, dass sie seit der überstürzten Flucht mit ihrer Familie aus dem Iran so empfand. Sie fühlte sich in der Dachgeschosswohnung, als wäre sie nach all den Jahren endlich angekommen.

Merkwürdig, dachte Navideh irritiert, dabei ist Jorges gerade erst vor ein paar Tagen in die USA abgereist.

Alle Welt schien sie deshalb zu bedauern. Dabei ging es ihr nicht schlecht. Sie schickte Jorges noch eine SMS in die USA und freute sich auf die nächsten Tage, an denen sie freigenommen hatte, um ihre Wohnung einzurichten.

Die Kollegen würden gut ohne sie auskommen. Seit Wochen gab es kein größeres Verbrechen in Bremen. Auch die gewalttätigen, arabischen Clans schienen eine Pause eingelegt zu haben. Petersen dachte an Manfred Rüttger. Die Mordermittler hatten ihn, als sie nach getaner Arbeit mit einem Bier auf die neue Wohnung anstießen, mit seinen vielen Brandfällen pro Woche aufgezogen.

«Ich weiß gar nicht, was ihr wollt», hatte Rüttger gut gelaunt gekontert. «Ich stapfe mit meinen Kollegen immer nur durch Schutt und Asche und nicht wie ihr durch Blut.» Mit der Hand, in der er seine Bierflasche hielt, hatte er auf Steenhoff gezeigt. «Rein statistisch seid ihr längst überfällig. Irgendwann in den nächsten Wochen, Frank, wenn ich mein Feierabendbier genieße, kommt ihr nicht mehr aus den Stiefeln.»

Steenhoff hatte gelacht. Und auch Navideh Petersen konnte nicht ahnen, wie schnell Rüttger recht behalten würde.

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04

Tatsächlich schliefen sowohl Steenhoff als auch Petersen noch, als sich am frühen Morgen ein anonymer Anrufer bei der Einsatzzentrale der Feuerwehr meldete.

Keine Minute hatte der Unbekannte für seine Warnung benötigt. Dann brach die Verbindung ab. Der Notrufsprecher winkte sofort den Schichtleiter zu sich. Zweimal ließ sich sein Vorgesetzter das Band mit der schnarrenden Stimme vorspielen. Ungläubig lauschten die Männer in der Einsatzzentrale den Worten des Anrufers. Der Schichtleiter war der Erste, der sich wieder fasste. «Verbinde mich sofort mit dem Kriminaldauerdienst», befahl er seinem Kollegen.

 

Das sich drehende Licht der Streifenwagen tauchte die Bäume für Bruchteile von Sekunden in ein unwirkliches Blau.

Müde stand Martin Möller neben seinem Einsatzfahrzeug. Er fror.

Dreimal hatten seine Leute den Park an der schmalen Wohnstraße Neustadtscontrescarpe in den vergangenen zwei Stunden nach verdächtigen Objekten abgesucht. Aber außer illegal entsorgtem Müll in den Büschen fanden sie nichts.

Das hätte ich dem Polizeiführer vom Dienst gleich sagen können, dachte Möller wütend. Wenn sie sich von jedem besoffenen Anrufer so scheuchen ließen, würden sie nie zu ihrer eigentlichen Arbeit kommen. Aber die Kollegen vom höheren Dienst wussten es natürlich mal wieder besser. Sie mussten ja auch nicht frühmorgens bei Nieselregen Meter für Meter eines Parks absuchen.

Eine Bombe beim Kindergarten. So ein Quatsch! Missmutig beugte sich der stellvertretende Revierleiter ins Auto und griff zum Funkgerät. «Wir brechen den Einsatz ab. Sammelt die Absperrbänder ein. Und dann gibt es erst mal heißen Kaffee im Revier. Ich spendier für alle ein paar Brötchen.»

Möller sah auf die Uhr. Es war kurz nach sieben Uhr. Gegen acht würden die ersten Eltern ihre Sprösslinge in den nahe gelegenen Kindergarten bringen. Seine Kollegen mussten sich beeilen. Schließlich sollte niemand mitbekommen, dass in den vergangenen Stunden drei Streifenwagenbesatzungen den Spielplatz, die Bolzwiese und die Büsche nach einer Bombe abgesucht hatten. Möller wusste, wie schnell sich Hysterie breitmachen konnte. Hauptsache, die Presse würde keinen Wind von der Aktion bekommen. Je mehr öffentliche Beachtung ein Verrückter bekam, umso verlockender war es für ihn, die Einsatzkräfte eine weitere Nacht zu beschäftigen.

Am anderen Ende des Parks kam Bewegung auf. Ein Pritschenwagen zog einen Anhänger hinter sich her und näherte sich im Schritttempo einer Absperrung. Möller sah, wie zwei Beamte die Gärtner passieren ließen. Vermutlich wollten die Männer Bäume und Hecken beschneiden. Er dachte an seinen eigenen Garten. Bisher hatte er an den Wochenenden noch keine Zeit gefunden, ihn winterfest zu machen.

Nach wenigen Minuten hatten die Polizeibeamten alle Bänder abgenommen. Sie sehnten sich danach, sich aufzuwärmen und einen Kaffee zu trinken. Die ersten stiegen bereits wieder in ihre Fahrzeuge. Aus dem Augenwinkel sah Möller, wie der Pritschenwagen über den Rasen fuhr und im Halbkreis auf eine Baumreihe vorm Eingangstor des Kindergartens zusteuerte. Das Fahrzeug kam zum Stehen, und der Beifahrer stieg aus. Er dirigierte seinen Kollegen beim Rückwärtsfahren. Offenbar wollten sie mit dem Anhänger direkt zwischen einem relativ großen, auf dem Rasen liegenden Baumstamm und der Schaukel unter einer alten Kastanie hindurchfahren. Der letzte Sturm hatte einen Ast in mehreren Metern Höhe halb abgerissen. Höchste Zeit, ihn herunterzuholen.

Der Beifahrer fuchtelte mit den Händen. Von weitem hörte Möller, wie der Mann seinem Kollegen hinterm Steuer immer neue Kommandos zurief. Aber dem Fahrer gelang es nicht, ein paar Meter gerade nach hinten zu fahren, ohne dass der Anhänger zur Seite ausscherte. Schließlich gab er auf und fuhr im Halbkreis über die Wiese, um diesmal von vorne zwischen Schaukel und Baumstamm durchzufahren. Dabei streifte der linke hintere Reifen ein Schild auf der Wiese.

Der Knall der Explosion war ohrenbetäubend.

Später würde sich Möller wie in Zeitlupe an jedes einzelne Bild erinnern. Auch an die Druckwelle, die wütend an dem Fahrzeug der Gärtner rüttelte. Eine Seite des Anhängers zerbarst in Tausende Splitter, die wie Geschosse die Luft zersiebten. Eine unsichtbare Kraft hob den Anhänger drei, vier Meter vom Boden hoch und schleuderte ihn zurück auf den Rasen. Dunkle Erdbrocken spritzten auf. Wo eben noch ein Weg und die Beetumrandung waren, klaffte ein tiefer Krater im Boden. Die Fahrerkabine des kleinen Pritschenwagens stürzte zur Seite, überschlug sich und blieb auf dem Dach liegen. Einsam rollte einer der vorderen Reifen über den Rasen. Dann war es plötzlich still. Alles im Park schien den Atem anzuhalten.

Zitternd richtete sich Möller von seinem Sitz auf. Bei der lauten Detonation hatte sich sein Körper so stark zusammengezogen, dass sein ganzer Rücken verkrampft war. Steif stieg er aus dem Wagen. Seine rechte Hand fand tastend Halt am Dach des Fahrzeugs. Vergeblich versuchte Möller zu begreifen, was er vor sich sah.

Dies hatte nichts mit seiner Arbeit zu tun. Die Explosion gehörte in Bürgerkriege, aber nicht in sein Revier!

Der hintere Teil des Anhängers war zerfetzt. Überall lagen verbogene Holz- und Metallteile auf dem Rasen. Ein Trümmerfeld. Aber Möller fühlte nichts. Er starrte auf den Krater, ohne zu begreifen, was er sah. Tief in sich drin wusste er, dass er jetzt Befehle geben und das Chaos ordnen musste. Er war der stellvertretende Revierleiter. Wer, wenn nicht er, musste jetzt reagieren.

Doch Martin Möller blieb stehen und starrte nur weiter auf den zerstörten Anhänger und den umgestürzten Pritschenwagen.

Plötzlich rannte von links ein junger Polizeibeamter in sein Sichtfeld. Knapp 40 Meter trennten den Mann noch von dem Unglücksort. Ein zweiter Polizist folgte ihm in einigen Metern Abstand.

Endlich erwachte Möller aus seiner Erstarrung.

«Stopp! Bleibt sofort stehen!»

Die Männer gehorchten nur zögernd. Bereit, sofort wieder loszustürzen, um dem verletzten Arbeiter zu helfen. Erst jetzt hörte Möller, dass jemand schrie.

Mit aller Kraft brüllte Möller seine Befehle gegen die lauter werdenden Schmerzensschreie des Gärtners an. Aber in seinen Ohren klang es bloß wie ein schwaches Krächzen: «Keiner nähert sich dem Tatort! Oder ihr riskiert, alle selber in die Luft zu fliegen.»

Die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Die beiden Polizisten blieben wie angewurzelt stehen. Möller griff nach dem Funkgerät, das auf dem Beifahrersitz lag. Seine rechte Hand zitterte so stark, dass er Mühe hatte, es zu bedienen.

Sofort war der Notrufsprecher aus dem Lagezentrum dran.

Möller riss sich zusammen. «Im Park am Neustadtscontrescarpe ist eine Bombe hochgegangen. Direkt am Kindergarten. Vermutlich zwei Schwerverletzte. Wir brauchen Notarztwagen, Verstärkung und Delaborierer.» Er merkte nicht, dass er ins Funkgerät schrie. «Und, verdammt, beeilt euch!»

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05

Frank Steenhoff sah schon von weitem die Blaulichter. Er hatte seinen Wagen in einiger Entfernung stehengelassen und musste jetzt dem Notarztwagen ausweichen, der den Radweg durch den Park benutzte, um so schnell wie möglich zurück zur Hauptstraße zu kommen. Als das Fahrzeug auf gleicher Höhe war, fuhr es durch eine Pfütze. Steenhoff sprang zur Seite, aber die Schlammspritzer verteilten sich über seine Hose und die schwarze Lederjacke. Fluchend drehte er sich nach dem Einsatzfahrzeug um. Doch Steenhoff hatte keine Zeit, sich um seine verdreckte Kleidung zu kümmern. In der Ferne sah er zwei weitere Rettungsfahrzeuge. Vermutlich waren noch nicht alle Verletzten transportfähig.

An einer der Absperrungen nickte er einer jungen, zierlichen Beamtin zu, hielt das Absperrband hoch und wollte gerade darunter durchschlüpfen, als sie sich ihm in den Weg stellte. Energisch fuhr die Polizistin ihn an. «Sie können hier nicht durch. Der Park ist gesperrt!»

Steenhoff winkte ab. «Ich weiß. Ich bin ein Kollege. Mordkommission.»

Ohne die Frau weiter zu beachten, ging er auf die von Scheinwerfern beleuchtete Stelle im Park zu. Doch er kam nicht weit.

«Weisen Sie sich bitte aus», herrschte ihn die Beamtin an und baute sich erneut vor ihm auf. Langsam wurde sie lästig.

«Mensch, sperr die Ohren auf: Ich arbeite beim selben Verein wie du!»

Zwischen den Bäumen tauchte ein zweiter Beamter auf. Steenhoff kannte ihn aus früheren Einsätzen im Stadtteil.

«Lass gut sein, Sylvia», sagte der Mann. «Der ist von der Kripo.»

Steenhoff unterdrückte einen Fluch. Das Gespräch mit Ira hing ihm nach. Sie hatten wie vereinbart frühmorgens miteinander telefoniert. Sie wäre den ganzen Tag über eingespannt. Am Abend wollte sie mit einem Kunden essen gehen. Als er sich erkundigte, wann sie wieder nach Bremen zurückkommen würde, reagierte sie gereizt.

«Das habe ich dir jetzt schon dreimal erzählt, Frank. Ich werde noch gut zwei Wochen unterwegs sein. Wie ernst nimmst du eigentlich meine Arbeit? Ich habe den Eindruck, du hörst mir gar nicht richtig zu.»

Er wollte widersprechen. Aber Ira schien müde und nicht in Stimmung weiterzureden. Nach wenigen Minuten war ihr Gespräch beendet.

Kaum hatte Steenhoff aufgelegt, da klingelte es erneut. Ein junger Beamter des Kriminaldauerdienstes war dran. Seine Stimme zitterte leicht, als er Steenhoff über eine Explosion in einem Park in der Neustadt informierte. Steenhoff war sich sicher, dass der Mann von einem Blindgänger sprach, der hochgegangen war. Aber der Beamte blieb dabei. «Es sieht alles nach einem Anschlag aus, Frank. Außerdem ging vorher bei der Feuerwehr eine anonyme Bombendrohung ein.» Nach dem beunruhigenden Telefonat hatte Steenhoff sich schnell eine Hose und einen hellen Rollkragenpulli übergezogen und die erstbesten Schuhe aus dem Schrank gegriffen. Dann war er direkt in die Bremer Neustadt gefahren.

Steenhoff lief auf einen Polizeiwagen zu, der auf einem Weg im Park stand. Hinter sich hörte er, wie sich die junge Polizistin aufgebracht rechtfertigte. Beruhigend sprach ihr älterer Kollege auf sie ein. Ständig schienen neue Einsatzfahrzeuge vorzufahren. Steenhoff versuchte sich zu erinnern, was der Beamte vom Kriminaldauerdienst am Telefon noch gesagt hatte. Der Mann hatte von einem Schwerverletzten und einem Toten gesprochen. Drei seiner Kollegen aus dem Kommissariat seien bereits alarmiert.

Ein Bombenattentat? Etwas in Steenhoff weigerte sich, die Meldung zu glauben. Er tippte eher auf eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg. Fast jeden Monat stießen Arbeiter in Bremen bei Bauarbeiten auf die teuflischen Überbleibsel im Boden. Doch wie passte der Vorfall mit dem Anruf bei der Feuerwehr zusammen?

Der eigentliche Unfallort war durch ein weiteres rot-weißes Band abgesperrt. Steenhoff blieb stehen und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen.

Rund um das Trümmerfeld standen mehrere Polizeifahrzeuge. Bei einem der Wagen erkannte Steenhoff Hans Jakobeit vom 1. Kommissariat, der gemeinsam mit zwei Kollegen zusammenstand und sich Notizen machte. Irritiert stellte Steenhoff fest, dass in den anderen Autos mehrere Polizisten in Einmal-Anzügen saßen. Warum suchten sie nicht bereits den Boden Zentimeter für Zentimeter nach Spuren ab?

«Gut, dass du da bist, Frank!»

Steenhoff drehte sich um und sah in das angespannte Gesicht von Joachim Ewerts. Der Ermittler war ein Hüne von Mann, aber gesundheitlich alles andere als robust. Im vergangenen Jahr hatte Ewerts sich so häufig krankgemeldet, dass eigentlich niemand mehr mit ihm rechnete, sobald es ernst wurde.

«Was machst du denn hier?»

«Der Dauerdienst hat mich alarmiert», antwortete Ewerts beleidigt.

Steenhoff ging nicht weiter auf seinen Ton ein und deutete mit dem Kopf in Richtung des zersplitterten Anhängers. «Wieso machen sich die Spurensicherer nicht an die Arbeit? Ist es ihnen zu kalt?»

«Nein, zu gefährlich. Hier könnten noch weitere Bomben versteckt sein. Die Delaborierer müssen erst alles absuchen. Beete, Spielplatz, Rasen …»

«Also kein Blindgänger, der hochgegangen ist?»

Ewerts schüttelte den Kopf. Mit seinen braunen Augen erinnerte er Steenhoff an einen früheren Schulkameraden, der nahe am Wasser gebaut hatte und deswegen häufig gehänselt wurde. Mit seiner weichen Art hatte Ewerts in der Vergangenheit aber schon manchen verängstigten Zeugen zum Reden gebracht. Trotzdem arbeitete Steenhoff nicht gern mit ihm zusammen.

«Wisst ihr, wo Navideh steckt?»

Ewerts zuckte mit der Schulter. «Die Jungs hatten ihre Aktion gerade abgebrochen», sinnierte er und schnäuzte sich kräftig. «Sie wollten zurück aufs Revier, als ein Gärtner über die Bombe fährt.»

«Was ist mit ihm?»

«Kopfverletzungen und mehrere Rippenbrüche. Den zweiten Gärtner hat es aber richtig erwischt. Martin Möller vom Revier Neustadt erzählte, dass die Explosion den hinteren Teil seines Anhängers förmlich zerrissen hat. Die Teile sind wie Geschosse durch den Park geflogen. Eins muss sich dem Mann in die Brust gebohrt haben. Er war auf der Stelle tot.»

Ewerts suchte nach einem neuen Taschentuch in seiner Jacke. Seine rote Nase verhieß nichts Gutes. Steenhoff ging davon aus, dass er sich noch am selben Tag krankmelden würde.

«Das ist doch pervers, Frank. Völlig abgedreht. Ein paar Stunden später, und die Kinder …»

«Um was für eine Bombe handelte es sich?», unterbrach ihn Steenhoff.

«Keine Ahnung. Steht noch nicht fest.»

Steenhoff klopfte Ewerts auf die Schultern und ging zu einem Streifenwagen nahe der Absperrung. Martin Möller stand beim Auto und schüttelte den Kopf. Eine Frau hatte ihm eine Hand auf den Oberarm gelegt und sprach leise auf ihn ein. Als Steenhoff näher kam, erkannte er die Notärztin wieder, die in der vergangenen Woche nach einer Messerstecherei vor einer Discothek einem Mann Erste Hilfe geleistet hatte.

«Auch schon wieder im Dienst?», begrüßte er die Ärztin.

«Nein. Ich habe heute frei. Aber ich wohne hier in der Nähe und hab den furchtbaren Knall gehört. Da bin ich natürlich hin und wollte helfen.»

Steenhoff nickte abwesend. Er war in Gedanken schon bei Martin Möller. Der Polizist sah blass aus. Aber er konnte Steenhoff präzise beschreiben, wie sie frühmorgens systematisch den Park nach verdächtigen Taschen, Kartons oder Ähnlichem abgesucht hatten.

«Da war nichts. Absolut nichts. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer», beteuerte Möller.

«Trotzdem ist die Bombe hochgegangen.»

Ratlos zuckte Möller mit der Schulter. «Vielleicht so ein ferngezündetes Ding. Wie bei den Attentaten der Mafia. Oder bei El Kaida.» Als er Steenhoffs skeptischen Blick bemerkte, stieg sofort der Ärger in ihm hoch. «Was weiß ich denn! Das ist schließlich euer Job. Ihr müsst herausfinden, wer uns hier in die Luft sprengen wollte. Wir sind ja nur die Idioten, die nachts die Parks mit Taschenlampen nach Bomben absuchen.»

Vergeblich versuchte Möller, seine Emotionen wieder in den Griff zu bekommen. Mit voller Kraft trat er mit dem rechten Bein gegen den Vorderreifen des Einsatzwagens. Steenhoff musterte ihn verstohlen. Der Einsatzleiter stand unter Schock. Doch das würde er sich niemals eingestehen. So kamen sie nicht weiter.

«Du hast recht, Martin. Das ist unser Job. Und ich bin froh, dass euch nichts passiert ist.»

Möller erwiderte nichts, sondern ließ sich von der Ärztin sanft, aber bestimmt in den Wagen setzen.

In dem Moment räusperte sich jemand hinter Steenhoff.

«Können Sie unseren Zuschauern erklären, was heute früh hier explodiert ist und warum ein Mann sterben musste?» Steenhoff wirbelte herum und schaute direkt in die Linse einer Filmkamera. Der Reporter hielt ihm das Mikrophon so dicht vors Gesicht, dass er unwillkürlich zurückwich.

«War es ein Attentat, dem die beiden Männer zum Opfer fielen?», drängte der Mann Steenhoff zu einer Antwort und trat noch einen Schritt näher auf ihn zu. Er schien ihm dabei das Mikro fast in den Mund stoßen zu wollen.

«Ich zähle bis drei, dann sind Sie verschwunden», drohte Steenhoff.

Aber der junge Reporter ließ sich nicht so schnell beeindrucken. «Die Feuerwehr soll angeblich gewarnt worden sein. Warum hat die Polizei den Park trotzdem wieder freigegeben?»

Bevor Steenhoff reagieren konnte, sprang Möller aus dem Wagen und stürzte auf den Reporter zu. Er versuchte, ihm das Mikrophon zu entreißen. Sofort griff Steenhoff ein. Er packte die Filmkamera, drückte mit der Schulter seinen aufgebrachten Kollegen beiseite und brüllte den Mann an: «Verschwinden Sie endlich!»

Widerstrebend lenkte der Reporter ein und verzog sich mit seinem Kameramann. Möller ließ sich erschöpft auf die Rückbank des Autos sinken.

Auf der anderen Seite der Absperrung erkannte Steenhoff einen Beamten, der bei den Delaborierern arbeitete. Mit wenigen Schritten war er bei ihm.

«Wie lange braucht ihr noch, um den Tatort nach weiteren Sprengsätzen abzusuchen?»

Der Beamte zuckte mit den Schultern. «Gegen Mittag können wir vermutlich mehr sagen.»

Steenhoff sah sich um. Joachim Ewerts und seine Kollegin Frederike Balzer befragten gerade einen der Polizisten, der am frühen Morgen Zeuge der Explosion geworden war. Steenhoff trat zu ihnen und unterbrach sie.

«Wisst ihr, wo Navideh steckt?»

«Vermutlich richtet sie noch ihre Wohnung hübsch ein und hat noch gar nichts mitbekommen.» Frederike Balzers Stimme klang spitz.

Steenhoff ging nicht weiter auf sie ein. Erst jetzt fiel ihm ein, dass sich Petersen freigenommen hatte. Doch ihre neue Wohnung musste warten. Sie brauchten jetzt jeden Ermittler.

«Macht ihr hier weiter», sagte er. «Ich fahre zur Feuerwehr und höre das Band mit dem anonymen Anrufer ab. Zwischendurch versuche ich, Navideh zu erreichen.»

Am Parkeingang hielt eine Polizistin das Absperrband hoch, sodass er sich nicht bücken musste. Es war die energische junge Frau, die ihn für einen neugierigen Passanten oder Reporter gehalten hatte. Einen Moment lang überlegte er, ob er sich bei der Frau entschuldigen sollte. Aber sie schaute in eine andere Richtung.