Bretonische Kälte - Sanni Aran - E-Book

Bretonische Kälte E-Book

Sanni Aran

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Beschreibung

Es ist Winter und Eiseskälte liegt über der Bretagne, wo seltsame Dinge geschehen. Eine Frau auf der Flucht. Eine Tote ohne Namen. Es ist kalt in der Bretagne, eiskalt, als Kommissarin Julie Roche mit ihrem Team an einen Tatort gerufen wird. Eine junge Frau wurde ermordet. Wer war sie? Auf der Suche nach der Identität der unbekannten Toten führt der Weg der Ermittler bis in die Provence, wo der Täter ihnen stets einen Schritt voraus ist.

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SANNI ARAN

BRETONISCHE KÄLTE

ambiente-krimis

Buch

Es ist Winter und Eiseskälte liegt über der Bretagne,

wo seltsame Dinge geschehen.

Eine Frau auf der Flucht. Eine Tote ohne Namen.

Es ist kalt in der Bretagne, eiskalt, als Kommissarin Julie Roche mit ihrem Team an einen Tatort gerufen wird. Eine junge Frau wurde ermordet. Wer war sie? Auf der Suche nach der Identität der unbekannten Toten führt der Weg der Ermittler bis in die Provence, wo der Täter ihnen stets einen Schritt voraus ist.

Autorin

Die Autorin, die sich hinter dem Pseudonym Sanni Aran verbirgt, ist Reisejournalistin und hat unter ihrem bürgerlichen Namen bereits zahlreiche Bücher verfasst. Mit commissaire Julie Roche schickt sie eine außergewöhnliche Frau in der Bretagne auf Ermittlungstour.

Sanni Aran

Bretonische Kälte

Commissaire Julie Roches dritter Fall

Ein Bretagne-Krimi

ambiente-krimis

ambiente-krimis, Michael Heinhold Am Feilnbacher Bahnhof 10 83043 Bad Aibling Erste Auflage 2019Copyright © 2019 by ambiente-krimis Alle Rechte vorbehalten e-book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck Umschlagfoto: Michael Heinhold

ISBN der e-book-Ausgabe: 978-3-945503-23-2

Der Mensch hat nicht ein und dasselbe Leben. Er hat viele Leben hintereinander und das ist die Ursache seines Unglücks.

François René de Chateaubriand

Prolog

Ihr Körper fühlte sich schwer und taub an. Unter sich spürte sie nur kalten Schlamm und einige spitze Steine, die sich in ihren Rücken bohrten. Kleine, eisige Wellen schwappten träge gegen ihren Kopf. Über sie hinweg fegte ein starker Wind, der salzige Luft mit sich brachte.

Sie stöhnte laut auf vor Schmerzen, als sie mühsam versuchte ihren Kopf zu heben. Jede Bewegung jagte ein Stechen durch ihren Körper, der bis in Arme und Beine ausstrahlte. Kraftlos schloss sie wieder die Augen. Wo war sie nur? Wie war sie an diesen Ort gekommen? Oder – und diese Frage quälte sie noch mehr – warum zur Hölle konnte sie sich an nichts erinnern?

Wieder traf sie eine Welle. Diesmal spülte ihr das Wasser etwas weiter über den Kopf. Sie erstarrte. Lauschte. Versuchte vergeblich eine Uhrzeit zu bestimmen. Es war Nacht. Wenn sie die Augen öffnete, umgab sie nur Dunkelheit. Über ihr war der Nachthimmel, eine tiefschwarze Kuppel ohne Sterne. Der Mond war nicht zu sehen. War es die Flut, die kam? Wieder klatschte eine Ladung Wasser an Land, umspülte sie. „Scheiße!“ Seit vielen Jahren lebte sie am Meer, an der bretonischen Küste in Saint Malo. Deshalb wusste sie, dass die Wassermassen mit der Flut immer drängender und schneller kommen würden, dass sie diesen Flecken sandiger Erde, auf dem sie lag, bald komplett überschwemmen würde. Sie hustete, als ihr Salzwasser in den geöffneten Mund gelangte. Vergessen waren die drängenden Fragen, die sie soeben noch gequält hatten. Sie waren einer grausamen Gewissheit gewichen, die sie wie ein Schlag traf: Wenn sie nicht bald von hier fortkam, würde sie diese eiskalte, bretonische Nacht nicht überleben.

Kapitel 1

Bretagne

Die Sonne stahl sich heimlich durch die Ritzen der Jalousien, die das kleine Zimmer in dem unscheinbaren Hotel verdunkelten. Der Tag war noch ganz jung und kein Geräusch drang durch das geschlossene Fenster herein. Fast war es, als wäre das kleine Dörfchen in einen tiefen Dornröschenschlaf versunken ohne jemals wieder daraus zu erwachen. Morgane rieb sich die Augen. Mit schweren Lidern ließ sie ihren Blick durch das geschmacklos eingerichtete Zimmer wandern. Die Wände waren mit fliederfarbenen Tapeten beklebt, eine Lampe, deren Schirm mit gelbem Stoff bezogen war, baumelte von der Holzdecke. Außer einem Tisch, einer Kommode und dem Bett, in dem sie gerade lag, war der Raum leer.

Morgane spürte, wie eine unangenehme Übelkeit sich langsam von ihrem Magen nach oben arbeitete. Ein saurer Geschmack schoss ihr in den Mund und sie begann zu würgen. Nur knapp schaffte sie es auf die Toilette und erbrach sich dort. Durch das gekippte Toilettenfenster drang leiser Vogelgesang, als sie ihren Kopf schwer auf die Klobrille sinken ließ. Die Übelkeit war einer tiefen Hoffnungslosigkeit gewichen. Wohin sollte sie nur gehen? Man würde sie überall finden. Die Bretagne war klein. Und für einen Flug nach Übersee reichte ihr knappes Budget nicht. Ihre Kreditkarten hatte sie genauso wie ihren Pass in Saint-Malo zurückgelassen. Sie hatte nur das Bündel Geldscheine, das sie eilig eingesteckt hatte, bevor sie in ihren kleinen, klapprigen Renault gesprungen war, um zu verschwinden. Sie war aus der Stadt gerast, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter ihr her und hatte erst angehalten, als sie sich in sicherer Entfernung zu ihm gewähnt hatte. Aber gab es überhaupt eine sichere Entfernung? Würde sie sich jemals wieder sicher fühlen?

Morgane erhob sich und trat an das Waschbecken? Der Blick in den schmutzigen Spiegel ließ sie zurückfahren. Ihre Augen waren trüb, dunkle Balken liefen darunter entlang. Das bleiche Gesicht, das sie anstarrte, hatte so gar nichts mit der Frau zu tun, die sie einmal gewesen war. Mit zittrigen Fingern drehte sie den Wasserhahn ganz heiß auf und hielt ihre Hände darunter. Dampf stieg auf und legte sich auf das billige Spiegelmosaik. Der Seifenspender war fast leer, doch Morgan hörte nicht auf, den Sprühkopf wieder und wieder zu drücken, die billige nach künstlichen Aromen riechende Seife auf ihre Hände zu reiben und diese erneut unter das siedend heiße Wasser zu halten.

Als sie den Wasserhahn wieder zugedreht und sich die Hände abgetrocknet hatte, atmete sie tief durch. In der Ferne hörte sie Kirchenglocken. Es musste schon sechs Uhr sein. Zeit für sie, aufzubrechen. Hastig warf sie ihr weniges Hab und Gut in ihre zerschlissene Reisetasche. Ein langer anstrengender Tag lag vor ihr.

***

Eigentlich war alles wie immer. Leise vernahm sie das Klackern der Computertastatur, auf die sous-commissaire Lisa Baélec einhämmerte. Samuel Lemarc der neue Kollege, der bei ihrem letzten Fall aus dem Süden zu ihrem Team dazugestoßen war, war in die Mittagspause verschwunden. An der Tür rauschten immer wieder Stimmen vorbei. Ihr Blick wanderte zum Fenster, das leicht geöffnet war. Eine kalte Brise fegte von draußen herein. Es war Dezember und die Kälte hatte Saint-Malo fest im Griff. Die gutgelaunte Stimme der Wetterfee des lokalen Radiosenders hatte ihr eine deprimierende Prognose ins Ohr gezwitschert, als sie am Morgen in die Arbeit gefahren war. Es würde noch kälter werden. Mit dem Ostwind würden die Temperaturen unter Null sinken. Vielleicht könnten sich die Bretonen sogar auf etwas Schnee freuen. Commissaire Julie Roche seufzte. Sie mochte die Kälte nicht und Schnee konnte sie schon gar nicht gebrauchen. In ihrer Wohnung, die an der Strandpromenade lag, waren die Fenster undicht und es war ihr, als drängen Frost und Nebel direkt in ihr Wohnzimmer. Alles wirkte klamm und eiskalt. Zu allem Überfluss funktionierte die marode Heizung nicht und so erfuhr Julie zum ersten Mal in ihrem Leben was es bedeutete richtig zu frieren.

Ganz anders in ihrem Kommissariat. Die Räume in der Mordkommission, der brigade criminelle, deren Chefin sie war, waren überheizt. Es war so warm, dass ihre Mitarbeiterin Lisa das Fenster geöffnet hatte. Julie erhob sich und schloss es. Lisa hob den Kopf und blickte sie fragend an.

„Wirst du krank?“

Julie schüttelte den Kopf. „Mir ist kalt. Friert denn hier sonst keiner außer mir? Samuel ist doch eigentlich die milden südfranzösischen Winter gewohnt. Und dennoch scheint ihm dieses Scheißwetter nichts auszumachen.“

„Redet Ihr über mich?“

Samuel steckte den Kopf zur Tür herein und musterte seine beiden Kolleginnen. Er war ein hübscher Kerl, dunkelhaarig mit großen, braunen Augen und einem verschmitzten Lächeln, das seine Lippen stets umspielte. Im Präsidium war er beliebt, aber bei Julie, seiner direkten Vorgesetzten, hatte er noch nicht punkten können. Zu tief saß bei ihr der Stachel, dass er Yanick Le Guel, ihren ehemaligen Kollegen und besten Freund, ersetzt hatte. Die beiden Männer hatten einfach ihre Posten getauscht und Yanick saß nun im lauen Süden und trank wahrscheinlich gerade einen Ricard in der Bar, während seine bretonischen Kollegen im fernen Saint-Malo froren. Das war aber nicht der einzige Grund, warum Julie mit einem gewissen Unbehagen an ihn dachte. Die beiden waren sich im vergangenen Jahr nähergekommen und Yanicks Entschluss, die Bretagne Hals über Kopf zu verlassen, hatte sicherlich mit ihrem Verhalten ihm gegenüber zu tun gehabt. Sie wischte diese unangenehmen Gedanken bei Seite und wandte sich Samuel zu. Anfangs hatte sie ihn schlicht ignoriert. Sie hatte keinen Grund gesehen, diesen provenzalischen Schönling in ihr Team aufzunehmen. Sie kamen hier gut alleine zurecht. Aber ihre obersten Chefs in Paris hatten das so entschieden. Und mit der Zeit hatte sie ihn akzeptiert. Was noch lange nicht hieß, dass sie ihn mochte. Irgendetwas an ihm machte sie misstrauisch. Aber vielleicht war sie inzwischen einfach nur paranoid. Wundern würde es sie nicht, nach allem, was in den letzten Jahren vorgefallen war.

Mit einem lauten Seufzer tauchte Julie wieder aus ihren Gedanken auf und zuckte mit den Schultern.

„So ein spannendes Gesprächsthema bist du nicht, Samuel. Aber wenn du es unbedingt wissen willst: Wir sprachen über das Wetter!“ Mit diesen Worten ließ sie ihn links liegen und verschanzte sich hinter ihrem Schreibtisch, der mit Aktenbergen beladen war. In den vergangenen Monaten war kein interessanter Fall bei Ihnen gelandet. Saint-Malo schien in einen tiefen Winterschlaf verfallen zu sein und selbst die Gauner und Ganoven wagten sich bei der Eiseskälte wohl nicht vor die Tür. Ihr sollte es nur recht sein, hatte sie doch immer noch gewaltig an ihrem letzten großen Fall zu nagen, der ihr auch persönlich kräftig an die Substanz gegangen war. Tempi passati. Momentan beschäftige sich ihr Team nur mit Kavaliersdelikten, kleineren Bagatellfällen, die in Windeseile aufgeklärt und ad acta gelegt werden konnten. Um nicht untätig herumzusitzen, hatte es sich die eifrige Lisa zur Aufgabe gemacht, alte, ungeklärte Mordfälle aus dem Keller nach oben ans Tageslicht zu befördern, um sie nochmals zu überprüfen. So verbrachten sie ihre Tage im warmen Büro, tranken starken Kaffee und ackerten sich durch Papierberge. Lisa, eine etwas forsche, aber liebenswerte Deutsch-Französin, hatte auf einem großen Whiteboard alle alten Fälle, die sie bereits gesichtet hatte, aufgelistet. Ihre Genauigkeit und ihr Fleiß hielten das kleine Team zusammen und brachten eine Struktur hinein, die Julie nicht zu geben vermochte. Obwohl sie die Abteilung leitete, galt sie als chaotisch und so manch ein Kollege verstand nicht, wie sie sich auf ihrer Position halten konnte. Julie war das egal. Sie wusste, dass sie das Gesprächsthema Nummer 1 im Präsidium war. Sollten sich doch die alten Spießer das Maul über sie zerreißen.

Entgegen ihrer Gewohnheit erwischte sich Julie in letzter Zeit immer öfter dabei, dass sie schon am frühen Nachmittag den Laptop abschaltete, sich von ihren Kollegen mit einem Kopfnicken verabschiedete und in einen frühen Feierabend startete. Das hatte einerseits damit zu tun, dass sie sich immer noch nicht an die Anwesenheit Samuels gewöhnt hatte. Zum anderen hing es mit ihrer neuen Dienstagnachmittagsbeschäftigung zusammen. Eigentlich konnte sie es immer noch nicht fassen, was sie da tat. Was hatte sie nur geritten, als sie sich vor einigen Monaten von Yanick dazu hatte überreden lassen, einen ersten Termin zu vereinbaren? Mit einer gehörigen Portion Widerwillen war sie damals zu dem schlichten Ärztehaus in der Innenstadt gefahren, der festen Überzeugung, sich das ganze nur einmal unverbindlich anzuschauen. Diesem ersten Mal waren viele weitere Male gefolgt, und inzwischen konnte sie sich gar nicht mehr vorstellen, auf diesen wöchentlichen Pflichttermin zu verzichten.

Sie warf einen Blick auf die Uhr. Sie musste los, wenn sie nicht zu spät kommen wollte.

***

„Wie fühlen Sie sich heute?“

Der ältere Herr, der ihr gegenübersaß, musterte sie freundlich. Er trug einen etwas altmodischen Cordanzug. Ein leichter Dreitagebart zeichnete Schatten auf seine Wangen. Das Haar war grau und in Wellen zurückgekämmt, was die ausgeprägten Geheimratsecken noch zusätzlich betonte. Am Anfang war er Julie nicht sympathisch gewesen. Sie hatte sich völlig fehl am Platz gefühlt, als sie das erste Mal docteur Coups Praxis betreten hatte. Aber irgendetwas hatte er in ihr berührt, das ihre ganze mühsam aufgebaute innere Schutzmauer zum Einsturz gebracht hatte. Sie hatte dem Psychiater alles erzählt, die ganze dunkle Wahrheit, die sie seit Jahren mit sich herumschleppte. Und er hatte es sich emotionslos angehört und ab und zu mit dem Kopf genickt. Wissend, als ob er so etwas nicht zum ersten Mal hörte. Irgendwie hatte ihr diese Gleichgültigkeit gutgetan, hatte die Erinnerungen an ihren richtigen Platz verwiesen, dorthin, wohin sie eigentlich gehörten, nämlich in die Vergangenheit. Schließlich hatte sie eingesehen, dass es nur einen Weg gab, mit ihrer Vergangenheit abzuschließen. So war sie in die Redaktion eines beliebten Magazins marschiert und hatte dem verdutzten Chefredakteur alles erzählt. Dass ihr Vater, ein angesehener Kriminalkommissar und Regionalheld weit über die Grenzen von Saint-Malo hinaus, in Wirklichkeit ein Gauner gewesen war, der nicht einmal davor zurückgeschreckt hatte, die Waffe gegen seine eigene Tochter zu richten. Gierig hatte der Journalist ihren Worten gelauscht und sich Unmengen an Notizen gemacht. Wenige Wochen später erschien eine Sonderausgabe, deren Cover ihr Bild zierte. Für einige Zeit war das Thema in allen Medien gewesen und Julie hatte unzählige Einladungen zu Talkshows bekommen, die sie aber allesamt abgelehnt hatte. Vielmehr hatte sie sich zurückgezogen und sich nur mit Lisa, ihrer engsten Vertrauten, getroffen. Inzwischen war zwar Gras über die Sache gewachsen, jedenfalls was die Reaktionen der Medien betrafen, in Polizeikreisen war Julies Beichte aber immer noch ein großes Thema, das auch eine polizeiliche Ermittlung nach sich zog. Schließlich wog Julies Vorwurf schwer, dass ihr inzwischen verstorbener Vater, Hauptkommissar Roche, zusammen mit seinem Partner in Drogengeschäfte verwickelt gewesen sein sollte und in diesem Zusammenhang sogar einen Mord begangen haben sollte. Kollegen auf dem Präsidium, die mit dem Fall betraut waren, schwiegen jedoch beharrlich, sobald Julie das Büro betrat. Und eigentlich war sie froh darüber. Sollte der Fall weitere Kreise ziehen, würde sie ohnehin nochmals offiziell befragt werden.

„Madame Roche?“

Julie fuhr auf. Sie war völlig in Gedanken versunken gewesen und hatte darüber den Psychologen völlig vergessen.

„Wie bitte?“ Mit einer entschuldigenden Geste richtete sie sich auf und blickte dem Mann mit einem zurückhaltenden Lächeln an.

„Ich wollte wissen, wie es Ihnen heute geht?“, wiederholte der seine Frage geduldig. Julie zuckte mit den Achseln.

„Es geht. Die Nächte sind schlecht.“

Sie suchte nach weiteren Worten, um ihre Gefühle zu beschreiben, fand aber keine. Also schwieg sie. Sollte sie ihm von ihren Träumen berichten? Dass ihr Vater sie immer noch jede Nacht heimsuchte? Ihr einfach keine Ruhe ließ? Sie entschied sich dagegen.

„Machen Sie denn regelmäßig ihre Übungen?“, hakte er nach und konnte sich ein resigniertes Seufzen nicht verkneifen. Ehrlich schüttelte Julie den Kopf und dachte an die Übungen, die er ihr gezeigt hatte.

„Damit können Sie garantiert besser schlafen“, hatte er ihr versprochen und ihr genau erklärt, wie sie ihre Muskelgruppen anspannen und dann wieder lockerlassen sollte, um bei negativen Gedanken wieder entspannter zu werden. Es hatte nichts gebracht. Ein, zweimal hatte sie es versucht, hatte dann aber bald wieder das Handtuch geworfen.

Der Psychologe verschränkte die Finger ineinander und sah sie eindringlich an.

„Wir können nur dann eine Verbesserung ihres seelischen Zustandes erreichen, wenn Sie mitarbeiten“, sagte er und in seiner Stimme klang ein strenger Unterton mit. Julie nickte. Sie wusste, dass sie an sich arbeiten musste. Allein die Tatsache, dass sie hier jede Woche saß, war ein großer Fortschritt. Alles andere brauchte noch Zeit.

„Wir sehen uns nächste Woche wieder, Madame Roche.“ Der Psychologe erhob sich und streckte ihr zum Abschied die Hand entgegen. Julie nahm sie und spürte die trockene, kühle Haut des alten Mannes. Mit einem Ruck erhob sie sich vom Sofa und verließ den Behandlungsraum.

Noch eine Sitzung geschafft! In Gedanken klopfte sie sich anerkennend auf die Schulter. Sie kam voran. Wenn auch nur in kleinen, zaghaften Schritten, aber es ging vorwärts.

***

„Leider reicht Ihr Guthaben nicht aus!“, drang eine eintönige Stimme aus dem Lautsprecher des Handys. Morgane schloss verzweifelt die Augen. Hatte sich die ganze Welt gegen sie verschworen? Wütend pfefferte sie das alte Prepaidhandy neben sich auf die Wiese, auf der sie saß. Der Tag neigte sich bereits seinem Ende zu. Ihre Beine schmerzten. Sie musste stundenlang gelaufen sein. Müde kramte sie die Landkarte aus ihrer Tasche und studierte den letzten Wegabschnitt. Bald müsste sie ihr Ziel, einen kleinen Ort an der Küste, erreicht haben. Dort würde sie sich mit Vorräten eindecken und dann zur ferme laufen. Besorgt blickte sie nach Westen. Die Sonne würde bald untergehen. Sie musste sich beeilen.

„Es ist wunderschön dort. Die ferme, ein typisches bretonisches Bauernhaus, gehört meiner Großtante, aber wir sind dort immer willkommen!“, konnte sie die fröhliche Stimme ihrer Freundin Anni hören. Das kleine Anwesen am Meer, wo diese immer ihre Ferien als Kind verbracht hatte, hatte sich in Morganes Ohren stets wie das Paradies angehört. Aber irgendwie hatten sie es in all den Jahren ihrer Freundschaft nicht geschafft, gemeinsam dorthin zu fahren. Morgane hatte aus all den Erzählungen ein festes Bild im Kopf und war gespannt, das Haus in Kürze in wirklich zu sehen.

Kapitel 2

Bretagne

Am nächsten Tag kam es ihr noch kälter vor. War das überhaupt möglich? Frierend zog Julie die Jacke fester um sich und beeilte sich, ihr Auto aufzusperren. Sie war spät dran. Nachdem sie länger als gewöhnlich geschlafen hatte, hatte sie sich ein ausführliches Frühstück gegönnt, das sie mit einem Café au lait und einer Zigarette krönte. Eile war ohnehin nicht angesagt. Lisa, die bereits seit halb sieben in der Früh an ihrem Platz im Büro saß, hatte ihr eine Nachricht geschickt, dass es eigentlich nicht viel zu tun gäbe und dass Julie gerne einen Tag daheimbleiben könne. Kurz hatte sie darüber nachgedacht, hatte die Idee dann aber wieder verworfen. Ein ganzer Tag ohne Arbeit bedeutete zu viel Zeit zum Nachdenken und Grübeln. Und so kam es, dass sie jetzt frierend in ihrem Auto saß und entgeistert auf ihre Windschutzscheibe starrte. War das eine feine Eisschicht? Sie konnte sich nicht erinnern, jemals die Autoscheibe von Eis befreit zu haben. Sie wusste, dass Lisa ihr erzählt hatte, dass man dort, wo sie herkam, im Winter jeden Morgen kratzen musste, bevor man losfahren konnte. Ein Albtraum. Verzweifelt begann Julie in ihrem Handschuhfach zu kramen, um ein passendes Werkszeug zu finden. Dabei schaltete sie das Radio an und erwischte gerade die Ansagerin, die die Wetteraussichten vorlas.

Saint-Malo – zieh dich warm an. Denn es wird noch kälter werden. Nachdem wir heute zum ersten Mal in diesem Winter die Nullgradgrenze unterschritten haben, wird das Thermometer in den nächsten Tagen noch weiter fallen. Wir erwarten bis zu minus fünf Grad, dazu kommen eisige Winde, die vor allem die Küstenstädte treffen werden. Wer noch keine Winterreifen hat, sollte schleunigst zur nächsten Werkstatt fahren. Das wars von mir. Ich gebe ab zu den Kollegen vom Verkehrsfunk!

„Merde! Merde! Merde!“, fluchte Julie, als sie aus dem Wagen stieg und mit einer Behelfslösung, einer alten Chanson-CD, ungeschickt an der Windschutzscheibe herumkratzte. Wenigsten hatte sie keinen Zeitdruck, beruhigte sie sich. Als sie endlich wieder im Auto saß, war ihr eiskalt. Sie betrachtete ihre Hände. Durch die Kälte waren sie rot und voller kleiner Falten. Sie musste sich unbedingt Handschuhe besorgen.

***

Das Haus war bei Weitem nicht so groß, wie Anni immer behauptet hatte, aber es erfüllte seinen Hauptzweck: es lag recht einsam, mindestens eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt vom nächsten Dorf. Sie blickte sich in der kleinen Wohnküche um. Der rechteckige Raum war liebevoll eingerichtet. Ein großer, massiver Holztisch in der Mitte ließ vermuten, dass hier lange, gemütliche Familienabende verbracht worden waren. Der alte Ofen schien noch aus dem letzten Jahrtausend zu kommen. Der Herd musste befeuert werden und es gab kein warmes Wasser. Trotzdem fühlte sich Morgane seltsam wohl und geborgen. Als sie gestern angekommen war, war es schon längst dunkel gewesen. Bei ihrer letzten Rast hatte sie nicht erwartet, dass es noch so lange dauern würde, aber nachdem sie das kleine Dorf passiert hatte, war der Weg steinig und holprig geworden und hatte über eine steile Klippe geführt. Es hatte ihr alle Konzentration abgefordert, sich auf den Weg zu konzentrieren. Und trotzdem: Immer wieder war sie stehengeblieben, hatte sich umgedreht und nervös an ihrer Tasche herumgenestelt. Was, wenn etwas herausgefallen war, das sie verriet und ihnen den Weg zu ihr wies? Obwohl sie wusste, dass es falsch war – es wurde bereits dunkel und es war eisig kalt – war sie mehrmals an diesem Abend wieder umgedreht und hatte Teile des Pfades wieder und wieder abgelaufen. Sie hatte nichts gefunden, keine Spuren, die auf sie hinwiesen. Und dennoch hatte sie sich die ganze Zeit unwohl gefühlt. Was, wenn sie doch irgendwo etwas hatte fallen lassen? Vielleicht hatte sie es in der Dunkelheit nicht gesehen? Sie musste den Weg nochmals ablaufen bei Tageslicht. Sicherheitshalber.

Sie verließ die Wohnküche und stieg die enge Stiege aus grob gemauerten Natursteinen in den ersten Stock hinauf. Dort gab es zwei kleine Räume, in denen Betten standen. Sie suchte sich das kleinere als Schlafzimmer aus, da es zwei Fenster hatte – eines aufs Meer hinaus und eines auf die schier endlose Heidelandschaft. Von hier aus konnte sie weite Teile des Pfades erkennen, den sie gekommen war. So wäre sie in der Lage, einen unerwünschten Besucher frühzeitig zu entdecken. Viel mehr gab es nicht zu sehen.

Sie kehrte zurück in die Wohnküche im Erdgeschoß. Durch eine Bodenluke konnte man in einen engen Kellerraum klettern, der feucht und kalt war. Vermutlich war das früher die Speisekammer gewesen, denn Morgane entdeckte noch einige abgelaufene Konservendosen. Vor dem Haus gab es ein Toilettenhäuschen und einen kleinen Schuppen, in dem vermodertes Holz gestapelt war. Sie war sich nicht sicher, ob es zu gebrauchen war, schließlich hatte Anni ihr bei ihrem letzten Treffen erzählt, dass die ferme seit Jahren leer stand. Trotzdem – sie würde es versuchen. Ansonsten müsste sie einen Strand finden, wo man Treibholz sammeln konnte. Ultima ratio. Eigentlich hatte sie nicht vor, das Haus mehr als nötig zu verlassen. Da sie kaum noch Vorräte hatte, würde ihr nichts anderes übrigbleiben, als morgen in das Dorf zu gehen und einzukaufen. Sie hatte gesehen, dass es einen kleinen Supermarkt gab. Dort würde sie sich mit ausreichend Konserven und Getränken eindecken, so dass es für eine Weile reiche würde.

Provence

Die Sonne hatte sich zwischen den dichten Wolken hervorgekämpft und wärmte die wenigen Menschen, die vor der kleinen Bar saßen, einen café oder Ricard tranken und rauchten. „Merde, il fait froid“, schimpfte ein alter, zahnloser Mann und zog hastig an seiner in Maispapier eingewickelten Zigarette. Die verglaste Holztür öffnete sich und ein junger Mann, der ein Tablett auf seiner Handfläche balancierte, trat heraus. Sein Gesicht war trotz des winterlichen Wetters von der provenzalischen Sonne gebräunt. Vermutlich hatte er als Saisonarbeiter bei der Olivenernte mitgeschuftet und dabei kräftig Sonne abgekommen. Nun trat er an einen runden Tisch und stellte einen Ricard und eine mit Wasser gefüllte Glaskaraffe vor den alten Mann. Der nickte, immer noch düster dreinblickend, und goss die gelbe Flüssigkeit mit Wasser auf.

Durch die Glastür beäugte er den flackernden Fernseher, der über dem Tresen hing. Es liefen Nachrichten. Eine Reporterin, eingewickelt in einen dicken Wollschal, stand an einem langen Strand. Wind zerzauste ihr Haar. Unten lief eine sich ständig wiederholende Einblendung als Schriftzug vorbei: Wintereinbruch in der Bretagne. Die Polizei warnt vor glatten Straßen und Temperaturen unter null Grad.

„Regardez ça“, brummte der alte Mann, warf seinen noch glühenden Zigarettenstummel weg und zog sogleich eine neue aus der Packung.

„Die frieren sich da oben im Norden den Arsch ab. Hier ist es zwar auch nicht warm, aber so mies dran sind wir Gott sei Dank noch nicht.“

Der Kellner nickte freundlich in seine Richtung.

„Da hast du Recht, Jerome. Aber allzu lange hält man es hier draußen auch nicht aus. Ich geh mal wieder rein. Ruf mich, wenn du noch etwas brauchst!“ Damit verschwand er im Inneren der Bar.

„Ist der alte Jerome schon wieder betrunken? So früh am Morgen? Du solltest ihm nichts mehr geben, Philippe!“ Der Keller lächelte dem dunkelhaarigen Mann zu, der an der Theke gelehnt stand und einen Café au lait schlürfte. Dazu verspeiste er ein Croissant.

„Er wird gar nicht mehr nüchtern“, antwortete Philippe. „Und wenn ich es ihm nicht gebe, dann torkelt er in eine der anderen Bars und betrinkt sich dort. Welchen Unterschied macht das schon? Hier kann ich wenigstens auf ihn aufpassen und ihn abends heimbegleiten, wenn er es nicht mehr alleine schafft!“

Yanick lächelte seinem Freund zu. Seit er in dem kleinen Ort Bartavelle, etwa eine Stunde von Marseille entfernt, lebte, nahm er jeden Morgen sein Frühstück in der Bar von Philippe ein. Hier gab es einigermaßen guten Kaffee, auch wenn er nicht an den, den seine ehemalige bretonische Kollegin Lisa stets gekocht hatte, heranreichen konnte. Niemals. Aber Philippe war eine angenehme Gesellschaft und er erlaubte Yanick sein eigenes Frühstück mitzubringen und in der Bar zu verzehren. So hatte sich mit den Monaten ein Ritual eingeschlichen. Jeden Morgen wurde er gegen sechs Uhr von Gigi geweckt. Den Labrador hatte er von seinem Vermieter, einem alten Südfranzosen, der aufgrund seiner zahlreichen Gebrechen in ein Altenheim ziehen musste, übernommen. Auch Gigi war alt und hörte schlecht, aber er war eine treue Seele und inzwischen sein bester Freund. Er wusste, dass das armselig klang, aber so war es nun mal. Mit seinem Entschluss, die Bretagne zu verlassen, hatte er auch seine besten Freunde zurückgelassen. Hier war er ein Fremder und es würde noch dauern, bis er seinen Platz in der Dorfgemeinschaft gefunden hatte. Seine Croissants kaufte er in der kleinen Bäckerei am Platz, verspeiste diese nebst Kaffee bei Philippe und lief dann Tag für Tag in das kleine Polizeipräsidium des Ortes, wo er den Posten des sous-commissaire übernommen hatte. Er fühlte sich wohl dort. Die Kollegen waren entspannt, durchwegs männlich, und kaum war Feierabend, spazierte er zurück nach Hause. Die Routine tat ihm gut. Der Abstand zu seinem alten Leben tat ihm gut. Der Abstand zu Julie. Er dachte oft an sie, viel zu oft. Gleichzeitig wusste er aber, dass ihr Leben zu verkorkst war, als dass er darin seinen Platz hätte finden können. Sie war eine einzige Katastrophe. Anfangs hatte er das auf eine gewisse Art und Weise charmant gefunden. Inzwischen wusste er, dass sie ihm nicht guttat. Sie hatte sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt, hatte ihm Hoffnungen gemacht, die sie nicht erfüllen konnte, und hatte schließlich das Fass zum Überlaufen gebracht, als sie zuerst mit seinem besten Freund geschlafen und diesen dann wegen Mordes verhaftet hatte. Sie hatte Yanick von den finalen Ermittlungen ausgeschlossen und dabei den Chef heraus hängenlassen. Damit hatte sie eine Grenze überschritten. Und mit seinem Abgang hatte er diese Grenze wieder neu gezogen. Er hatte einen Schlussstrich unter Julie Roche gezogen. Und das war gut so!

Bretagne

Julie spürte sofort, als sie das Kommissariat betrat, dass etwas passiert war. Im Vorzimmer standen zwei Streifenpolizisten und warteten. Schon bevor sie ihr Büro betrat, konnte sie Lisa Befehle ins Telefon bellen hören.

„Wissen wir, wer es ist? Wo genau? Schicken Sie mir einen Lageplan aufs Handy. Ist Moulin schon unterwegs?“

Julie trat an ihren Schreibtisch und griff sich die Kaffeetasse, die mit dampfendem Espresso gefüllt war.

„Was ist passiert?“

Samuel räusperte sich.

„Unbekannte Frauenleiche. Ein Zimmermädchen hat sie in der Früh im Hôtel de la Plage an der Promenade entdeckt.“

„Wissen wir schon mehr?“

„Nein!“, Lisa hatte den Hörer aufgelegt und drehte sich nun zu ihren Kollegen. „Moulin ist unterwegs und die Streifenpolizisten bewachen alles. Wir sollten uns beeilen!“

Zehn Minuten später hielten sie vor einem mondänen Hotel direkt an der Strandpromenade. An der großen gläsernen Drehtür warteten bereits Polizisten, die Julie und ihr Team durch das Foyer zum Aufzug geleiteten. Der gesamte Eingangsbereich war wie leergefegt.

„Wo sind die ganzen Gäste?“, fragte Julie. „Es ist halb zehn. Frühstückszeit. Das Foyer sollte doch voll sein!“

Ein junger Polizist antwortete: „Auf Anweisung des Hoteldirektors werden alle Gäste über einen Umweg in den Frühstückssaal geführt, damit die Polizei ungestört arbeiten kann.“

„Haben Sie das Personal angewiesen, dass niemand das Hotel verlassen darf? Vom Zimmermädchen bis zum Hotelgast muss jeder für Befragungen verfügbar sein!“

Der Polizist nickte. „Selbstverständlich. Wir haben auch den Tatort sorgfältig abgesperrt und darauf geachtet, dass wir keine Spuren verwischen oder neue erzeugen. Alles nach Lehrbuch!“ Er zwinkerte Julie zu. Er musste frisch von der Polizeischule gekommen sein, so bemüht wie er sich gab.

Mit dem Aufzug fuhren sie in den 5. Stock.

„Hier oben befinden sich die Suiten“, berichtete der Polizist. „Wir haben die Leiche in der Suite de la Plage