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Ein toter Koch, ein Luxusrestaurant in einer alten Burg am Meer und viele Verdächtige - Julie Roche ist zurück und ermittelt in einem spannenden Mordfall! Ein bekannter Koch wird tot aufgefunden. Julie und ihr Team werden zum Tatort gerufen und merken schnell: hier hat jemand nachgeholfen. Die Ermittler stochern im beruflichen und privaten Umfeld des Toten und finden heraus, dass er viele Feinde hatte. Liegt der Grund für seine Ermordung in der Vergangenheit? Wird Julie den Täter aufhalten, bevor er weitere Morde verübt? Neben den kraftzehrenden Ermittlungen läuft es auch privat nicht rund für Julie, denn plötzlich steht ihr Exmann vor der Tür und träumt von einem Neuanfang. Wird Julie ihm noch eine Chance geben?
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Seitenzahl: 242
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SANNI ARAN
BRETONISCHE ZERWÜRFNISSE
ambiente-krimis
Buch
Ein toter Koch, ein Luxusrestaurant in einer alten Burg am Meer und viele Verdächtige – Julie Roche ist zurück und ermittelt in einem spannenden Mordfall!
Ein bekannter Koch wird tot aufgefunden. Julie und ihr Team werden zum Tatort gerufen und merken schnell: hier hat jemand nachgeholfen. Die Ermittler stochern im beruflichen und privaten Umfeld des Toten und finden heraus, dass er viele Feinde hatte. Liegt der Grund für seine Ermordung in der Vergangenheit? Wird Julie den Täter aufhalten, bevor er weitere Morde verübt?
Neben den kraftzehrenden Ermittlungen läuft es auch privat nicht rund für Julie, denn plötzlich steht ihr Exmann vor der Tür und träumt von einem Neuanfang. Wird Julie ihm noch eine Chance geben?
Autorin
Die Autorin, die sich hinter dem Pseudonym Sanni Aran verbirgt, ist Reisejournalistin und hat unter ihrem bürgerlichen Namen bereits zahlreiche Bücher verfasst. Mit commissaire Julie Roche schickt sie eine außergewöhnliche Frau in der Bretagne auf Ermittlungstour.
Sanni Aran
Bretonische Zerwürfnisse
Commissaire Julie Roches vierter Fall
Ein Bretagne-Krimi
ambiente-krimis
Dieser Roman ist reine Fiktion. Den erdachten Ort, in dem die Geschichte spielt, das Château Chevalier, gibt es nicht. Die Personen, die mitspielen, sind frei erfunden und orientieren sich in keiner Weise an lebenden Vorbildern. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.
ambiente-krimis,
Michael Heinhold
Am Feilnbacher Bahnhof 10
83043 Bad Aibling
Erste Auflage 2021
Copyright © 2021 by ambiente-krimis
Alle Rechte vorbehalten
e-book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
Umschlagfoto: Michael Heinhold
ISBN der E-Book-Ausgabe: 978-3-945503-31-7
Wenn man bei den Sorgen der Männer tief genug gräbt, kommt immer eine Frau zum Vorschein.
Samstag
Ihr schwarzes, langes Haar fiel sorgsam gekämmt über ihren geraden Rücken. Ihr klangen immer noch die Worte ihrer Mutter in den Ohren. ‚Halte dich gerade! Strahle Erhabenheit aus!‘ Und so drückte sie ihren Rücken noch weiter durch und saß kerzengerade mit erhobenem Kopf da und ihre Mundwinkel verzogen sich leicht zu einem Lächeln, nicht zu stark, um zu verhindern, dass die kleinen Fältchen, die sie in den letzten Jahren heimgesucht hatten, sich um ihren Mund ausbreiteten.
Sie wusste, dass sie schön war. Viele Männer hatten es ihr bereits gesagt. Sie hatte die Bewunderung und Hingabe in ihren Augen gesehen und es genossen. Ihr seidiges, volles Haar, die gerade Nase, der schlanke, schmale Hals und die hohen Wangenknochen. Und bis auf die kleinen Falten, die sich nun langsam in ihrem Gesicht bemerkbar machten, hatte das Alter noch wenig Spuren bei ihr hinterlassen. Bald fünfundvierzig. Das war aber nur eine Zahl. Eine Ziffernfolge, die sie zu ignorieren versuchte. Wenn man ihr Alter auf Ende dreißig schätzte, was oftmals vorkam, vermied sie es tunlichst, den Fehler zu verbessern.
Der Dirigent betrat die Bühne und der Applaus hob an. Das Theater war gut besetzt, nur in den hintersten Rängen waren noch einige wenige Plätze frei. Er verbeugte sich erst vor dem Publikum und dann vor seinem Orchester, bevor die Lichter gedimmt wurden. Sie umschlang den Hals des Cellos mit der linken Hand und griff den Bogen. Dann schloss sie ihre Augen. Sie brauchte nicht dem Tanz des Taktstockes folgen. Sie spürte die Musik in sich.
***
Samuel gähnte und deutete auf einen freien Tisch am Fenster. Es hatte lange gedauert, bis seine Vorgesetzte, commissaire Julie Roche, ihn überredet hatte, sie auf dieses Konzert zu begleiten. Klassik? Er stand eher auf Rockmusik aus den 70er Jahren. Aber sie hatte nicht aufgehört, ihn zu bitten und schließlich hatte er zugesagt. Er hatte nie verstanden, warum Julie die Karten nicht einfach hatte verfallen lassen. Sie hatte diese im letzten Winter als Weihnachtsgeschenk für ihre Freundin und Kollegin Lisa gekauft. Die war auf tragische Weise während eines Polizeieinsatzes gestorben. Seitdem war fast ein Jahr vergangen und Samuel beobachtete mit Sorge, wie sehr Julie unter dem Verlust litt. Sie hatte sich in die Arbeit gestürzt und ihn, Samuel, mit sich gerissen. Zu tun gab es genug. Seit Lisas Tod waren sie unterbesetzt. Für ihre Stelle hatte man noch keinen Nachfolger gefunden. Das traf das kleine Team besonders hart, da Lisa diejenige gewesen war, die alles zusammengehalten hatte. Sie hatte ihrer chaotischen Chefin und dem provenzalischen Lebemann Samuel den Arbeitstag durchgeplant, hatte Struktur in die Arbeit gebracht und gleichzeitig das Team zusammengehalten. Ohne Lisa fehlte der Fels in der Brandung.
Sie setzten sich an den kleinen Nischentisch am Fenster und studierten die Speisekarte.
„Mir reicht ein Bier!“ Samuel legte das Menü beiseite und Julie nickte zustimmend.
„Und? Konnte ich dich zur Klassik bekehren?“
Samuel lachte. Eine schwarze Locke löste sich aus seinem Haar und fiel ihm in die Stirn.
„Ich denke nicht. Ich habe ehrlich gesagt mehr einen Blick für die hübschen Streicherinnen und die attraktive Pianistin gehabt als ein Ohr für die Musik!“
Julie lächelte. Das Orchester hatte eine hohe Frauenquote aufgewiesen und einige der Musikerinnen waren tatsächlich sehr gutaussehend gewesen in ihren langen schwarzen Abendkleidern.
„Du alter Schwerenöter“, neckte sie Samuel.
Der Kellner brachte das Bier und die beiden prosteten sich zu.
„Auf Lisa“, flüstere Julie und spürte schon wieder einen Schwung Tränen, der sie zu überschwemmen drohte. Sie atmete tief durch und wollte einen Schluck trinken, als sie ein Glas laut zersplittern hörte. Darauf folgte ein wütendes Rufen. Alarmiert blickte sie auf.
„Ich habe alles für dich gemacht, für uns. Und du hast alles weggeschmissen. Also hör auf, mir Vorwürfe zu machen!“
Ein Mann um die Fünfzig war von seinem Platz aufgesprungen und hatte wohl dabei sein Rotweinglas umgestoßen, das auf den Steinboden gefallen war. Sein Gegenüber, eine dunkelhaarige, auffallend schöne Frau, war einige Schritte zurückgewichen und starrte ihn nun mit hasserfülltem Blick an. Immer mehr Kellner näherten sich der Szene und Samuel erkannte einen Journalisten des Lokalblattes, der sich mit seiner Kamera nach vorne drängte.
Die Frau warf einen nervösen Blick in die Runde, setzte aber sofort ein trauriges, betretenes Gesicht auf, als der Journalist ein Foto schoss. Das Blitzlicht erhellte kurz die ganze Szenerie und das Gemurmel erstarb. Alle Augen waren auf die beiden Streitenden gerichtet, die, wie auf einer Bühne, den Blicken und der Aufmerksamkeit aller ausgesetzt waren. Dann ertönte ein Rufen und ein Mann in Anzug mit Krawatte und zurückgegelten Haaren marschierte resolut auf die beiden zu. Er ergriff den Mann, der zuvor geschrien hatte, am Arm und herrschte ihn an:
„Solch ein Verhalten dulde ich nicht in meinem Restaurant. Du gehst jetzt und lässt dich hier so schnell nicht mehr blicken!“
Ein Ruck ging durch den Körper des Mannes. Er erschien aus seiner Starre zu erwachen, nickte nur kurz unterwürfig mit dem Kopf und eilte dann auf den Ausgang zu. Der Anzugträger, Samuel hielt ihn für den Restaurantmanager, eilte auf die dunkelhaarige Frau zu und nahm sie für einen kurzen Moment in den Arm.
„Alles okay, Édith, ma chère?“
Die Frau nickte, flüsterte dem Manager kurz etwas ins Ohr und verließ dann schnell, aber mit würdevollem Gang das Restaurant. Die Kellner beeilten sich die Scherben aufzukehren und die Rotweinflecken wegzuwischen. Die Gäste widmeten sich wieder ihrem Essen und ihren Gesprächen. Julie runzelte die Stirn.
„War die Frau nicht die Cellistin aus dem Orchester?“
Samuel nickte.
„Ja, da hast du recht. Sie ist mir aufgefallen, weil sie die ganze Zeit nicht als Teil der Gruppe wirkte. Vielmehr hatte ich den Eindruck, sie wäre der geheime Star des Orchesters und alle würden nur nach ihrer Pfeife und nicht nach der des Dirigenten tanzen!“
„Ging mir ähnlich!“
Julie trank einen Schluck Bier.
„Das war doch ein ereignisreicher Abend – ein Konzert und anschließend ein Ehedrama! Besser als das allabendliche Fernsehprogramm. Jetzt bestellen wir uns noch einen Calvados und dann fahren wir nach Hause, denn morgen möchte ich früh im Büro sein!“
Samuel nickte. Es war schon spät und beide hatten es sich angewöhnt, bereits mit den ersten Sonnenstrahlen an ihren Schreibtischen zu sitzen. Der Winter war in diesem Jahr milder als im letzten, trotzdem dachte er gelegentlich mit Sehnsucht an sein Zuhause, die Provence, zurück. Dort war es auch im Winter angenehm warm. Besonders sehnte er sich nach der Hitze im Sommer, die auch nachts nicht nachließ, nach den entspannten Vormittagen in Bars, und er vermisste die Gerüche, wenn die Sonne mittags hart auf den trockenen Boden brannte und eine Duftwolke aus Thymian, Rosmarin, wildem Fenchel und Lavendel in der Luft schwebte. Hier in der Bretagne waren die Temperaturen zwar immer gemäßigt, für ihn fühlte es sich aber stets kühl an. Der Atlantik war wild und gnadenlos, die Gezeiten bestimmten den Tagesablauf und die starken, salzigen Westwinde fegten regelmäßig über das Land.
„Los geht’s!“
Julies Worte rissen ihn aus seinen Gedanken. Sie steckte ihren Geldbeutel ein und sagte:
„Du bist eingeladen. Aber nur, wenn du morgen früh Croissants mitbringst!“
Dienstagfrüh – drei Tage später
Es war kalt. Eiskalt. Sein Blick schweifte über den unruhigen Ozean. Oft hatte er die Fischer bewundert, die sich trotz des heftigen Wellengangs und der starken Winde Morgen für Morgen hinauswagten. Von seinem Fenster aus hatte er die kleinen Lichtpunkte in der Dunkelheit gesehen, die sich langsam über das Wasser bewegten. Und in solchen Momenten, ganz allein in seinem Raum, hatte er sich vorgestellt, wie es wäre, ein Fischer zu sein. Den ganzen Stress und Druck von sich zu schütteln und in den Tag hinein zu leben. Morgens mit müden Augen und einer Thermoskanne voll starkem Kaffee in das Boot zu steigen und loszufahren, immer den Launen der Natur ausgeliefert. Oft hatte er beobachtet, wie die Fischer dann morgens wieder in die Häfen einfuhren, die Netze voller frischem Fang, den sie dann entweder direkt vom Boot aus verkauften oder an die vielen Restaurants auslieferten. Gegen Mittag saßen sie dann müde, aber zufrieden in den Hafenbars, vor sich das erste Glas Wein oder einen Kaffee und schienen glücklich. Zumindest kam es ihm immer so vor.
Er wusste, dass er das Fischerleben idealisierte. Es war harte Arbeit. Wenn ihnen das Wetter einen Strich durch die Rechnung machte, wenn Sturm ein Auslaufen der Boote verhinderte, mussten sie finanzielle Einbußen verkraften. Die Konkurrenz war groß. Nein, es war kein leichtes Leben, aber er war sich sicher, dass es besser war als das seine. Alles war besser als das Leben, das er führte. Der Wind blies nun stärker und zerzauste sein dunkles, lockiges Haar. Er kramte eine Packung Zigaretten hervor und steckte sich eine in den Mund. Dann zückte er das Feuerzeug und schütze die Flamme mit der anderen Hand vor dem Wind. Immer wieder erlosch sie, aber schließlich gelang es und er zog gierig an der Zigarette. Wie oft schon hatte er sich vorgenommen mit dem Rauchen aufzuhören. Aber es hatte nie funktioniert.
Jeden Morgen wachte er noch vor Sonnenaufgang auf, zog sich an und ging auf die Schlossmauer, die direkt auf die Klippen gebaut war und einen atemberaubenden Blick auf den weiten Atlantik bot. Dort oben, völlig allein mit sich und den Geräuschen des heraufziehenden Tages, rauchte er und blickte in die Ferne. Abends, wenn er sich ins Bett legte, freute er sich schon auf diesen Moment, der ihn nach dem Aufwachen erwartete. Es war ein Ritual, aber er brauchte es. Es gab ihm Halt und Kraft, um die Tage durchzustehen.
Er inhalierte tief, behielt den Rauch für einen Moment in der Lunge und blies ihn dann in die salzige Luft, die ihn sofort aufs Meer hinaustrug. Draußen auf dem Wasser blitzte ein Licht auf, verlosch aber sogleich wieder. Sicher ein Fischer, der sich ebenfalls gerade eine Zigarette entzündet hatte, dachte er lächelnd. Er stützte sich mit beiden Ellenbogen auf die Kante der Mauer und beugte seinen Körper etwas darüber, um besser sehen zu können. Tatsächlich meinte er draußen auf den Wellen einen dunklen Schatten sich auf und ab bewegen zu sehen. Er schnippte seine Zigarette über die Kante und folgte dem glühenden Punkt, wie er die Klippen hinabtanzte und schließlich in der Dunkelheit verschwand. Gerade als er sich aufrichten wollte, spürte er, dass sich ihm etwas schmerzhaft in den Rücken bohrte. Er versuchte sich umzudrehen, war aber vor Schreck wie gelähmt. Er holte Luft, um zu schreien, aber es entkam ihm nur ein leises Röcheln. Leise, zischende Worte flüsterten ihm zu, was er zu tun hatte, während sich der Lauf der Pistole noch fester in seinen Rücken drückte. Die Gewissheit, dass sein Ende hier und jetzt gekommen war, überkam ihn wie ein Schlag. Zitternd kletterte er auf die steinerne Brüstung. Seine starren Finger suchten Vorsprünge im Stein, an denen er sich festhalten könnte.
„Bitte nicht“, stieß er heiser hervor. Ein leises Lachen, wie aus weiter Ferne, dann sah er plötzlich tausende leuchtende Punkte auf den Wellen tanzen. Der Brüstung unter seinen Füßen verschwand und er schwebte hinab.
Pierre zog die dunkelgrüne Wachsjacke fester um seinen Oberkörper und zog hastig an der Zigarette. Der Wind war heute unerträglich kalt und fast bereute er, dass er entgegen aller Warnungen aufs Meer hinausgefahren war. Schon gestern Abend hatten alle Sender im Radio und im Fernsehen einen heftigen Sturm angekündigt und seine Frau Yvonne hatte ihn bekniet, nicht zu fahren, aber was wusste die schon? Wenn er nicht genug fing, stimmte die Kasse nicht. Und die machte ihm derzeit zu schaffen. Seit seine Tochter Évelyne in Paris studierte, blieb am Ende des Monats nichts übrig. Er verstand nicht, was das sollte. Schon den Besuch des lycée hatte er für überflüssig gehalten. Reichte es nicht, Lesen, Schreiben und Rechnen zu können, um im Leben klarzukommen? Er hatte nie mehr gebraucht. Aber er hatte sich von seiner Alten bequatschen lassen. Wie immer war er eingeknickt. Aber ein Studium der Kunstwissenschaften in Paris? Er hatte gemeint, sich verhört zu haben, als Évelyne dieses Thema zur Sprache gebracht hatte. Warum wollte sie nicht wie die Söhne seines besten Freundes Luc in der Fischfabrik arbeiten? Warum musste es für sie und ihre Mutter immer nur das Beste vom Besten sein? Er verfluchte sich, dass er nicht sturer gewesen war. Dass er, wie immer, nachgegeben hatte.
Und jetzt bekam er daheim Ärger, weil er bei Wind und Wetter aufs Meer hinausfuhr. Weil er gezwungen war, dies zu tun, um die Wohnung in Paris und das ganze Geld für die sinnlosen wissenschaftlichen Fachwälzer zu verdienen. Yvonnes magerer Zuverdienst half wenig. Sie jobbte an drei Vormittagen in der Woche in einer Bäckerei, aber was sie dort verdiente, war ein Witz. Er war es, der mit seiner Fischerei den Laden am Laufen hielt. Deshalb war er in aller Frühe aufgestanden und hatte sich eine Thermoskanne mit starkem, schwarzem Kaffee, ein belegtes Baguette und seinen Flachmann, der mit billigem Calvados gefüllt war, eingepackt. Es war nicht leicht gewesen, das kleine Fischerboot aus dem engen Hafen zu navigieren, während ihm der Sturm die Haare zerzauste.
***
Pierre zog den Flachmann hervor und nahm einen Schluck. Mit einer müden Handbewegung schüttelte er die Flasche, sie war fast leer. Scheiße. Und er musste noch etwas durchhalten. Der Fang war bisher bescheiden und er hatte mit mehreren Restaurants der Umgebung Verträge, die er einhalten musste. Seine Augen fingen ein kurzes Leuchten, ein Aufblitzen ein. Er blickte angestrengt in die Richtung des Lichtschimmers und erkannte einen großen Schatten, der sich in den Nachthimmel auftürmte. Er wusste nun, wo er war. Das Château Chevalier ragte wie eine trotzige Festung vor ihm auf. So wenig einladend und rau der Steinberg von außen wirkte, so beliebt war er von innen. Cathérine Chevalier, eine Sterneköchin aus Paris, führte dort seit einigen Jahren ein hochgelobtes Restaurant. Das wusste Pierre so genau, da er gelegentlich Fisch dorthin lieferte. Nicht immer, denn das Haus hatte seinen festen Lieferanten, aber wenn der mal ausfiel, sprang Pierre ein. Die Chefin hatte er dabei zwar nur selten gesehen, aber der poissonnier, Christophe, war ein netter Kerl. Er hatte ihm stets einen Kaffee angeboten und ihn für seinen hochwertigen Fang gelobt. Dann war er an dem kleinen Personaltisch im hintersten Eck der großen Küche gesessen und hatte den Angestellten beim Arbeiten zugesehen und dabei den heißen Kaffee geschlürft. Die Küche des Restaurants war mit Sicherheit doppelt so groß wie Pierres Wohnung. Die Arbeitsbereiche waren sorgfältig aufgeteilt, jeder wusste genau, was seine Aufgaben waren, jeder Handgriff saß. Bei seinen seltenen Besuchen im Château hatte Pierre an den tiefen Spülbecken und den riesigen Spülmaschinen auch Bekannte aus dem Ort entdeckt. Er wusste, dass einige Hausfrauen hier das Familienbudget aufbesserten, indem sie im Restaurant spülten, Kartoffeln schälten oder nach Geschäftsschluss putzen. Charlotte Bonniéc, die Tochter eines guten Freundes, machte hier sogar eine Ausbildung. Pierre fragte sich, wie sie an diesen begehrten Platz gekommen war. Schließlich war es weit über die Grenzen des Châteaus hinaus bekannt, dass madame Chevalier sogar bei ihren Auszubildenden hohe Maßstäbe anlegte. Und diese erfüllte Charlotte sicherlich nicht. Sie war in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, der Vater, Éric, war ein Fischer, die Mutter arbeitete im örtlichen Supermarkt. Charlotte hatte vorletztes Jahr die erste Sekundarstufe im collège mit guten Noten abgeschlossen, und war gewillt gewesen, das lycée zu besuchen. Plötzlich hatte sie sich aber umentschlossen und hatte eine Ausbildung im Supermarkt, in dem ihre Mutter arbeitete, begonnen. Pierre war sich sicher, dass Éric dies bestimmt hatte. Er hatte nicht denselben Fehler wie er selbst, Pierre, gemacht, der nun für die teure Ausbildung seiner Tochter blechen musste. Nach eineinhalb Jahren hatte Charlotte dann aber die Ausbildung unerwartet abgebrochen und hatte im Château angefangen. Pierre kannte die ganze Geschichte, da er gelegentlich ein Bier mit Éric in der Bar trank. Und immer, wenn er in der Küche saß und den Angestellten des Châteaus beim Spülen, Gemüseschneiden oder Saucen anrühren zusah, beneidete er Éric um seine Durchsetzungskraft. Charlotte lag ihrem Vater nun nicht mehr auf der Tasche und lernte dennoch einen anständigen Beruf. So sollte es sein.
Das Boot schwankte gefährlich, als es von einer hohen Welle erfasst wurde. Erschrocken hielt sich Pierre an der Reling fest und spürte, wie sein Magen zu rebellieren begann. Obwohl er Zeit seines Lebens aufs Meer hinausfuhr, war er immer noch nicht resistent gegen Sturm und Wind. Kurz meinte er, sich übergeben zu müssen und streckte den Kopf nach vorne, als er plötzlich einen Schatten durch die Luft fliegen sah. Er richtete sich auf und kniff die Augen zusammen. Ja, er hatte sich nicht getäuscht. Von der Mauer der Festung des Château Chevalier flog etwas Großes mit schneller Geschwindigkeit auf das Wasser zu, prallte dann auf den schroffen Felsen auf und rutschte einige Meter abwärts, bis es ein Steinblock kurz über dem wild schäumenden Meer stoppte. Pierres Blick wanderte die Klippen hinauf zur Brüstung. Kurz, nur aus dem Augenwinkel, meinte er dort einen Schatten auszumachen, der sich für einen schnellen Moment über die Mauer lehnte und dann verschwand.
Verwirrt verharrte Pierre. Seine Hand tastete wieder zum Flachmann. War er betrunken? Was war da soeben geschehen? Von welchem Schattenspiel war er hier Zeuge geworden? Pierre zog sein Handy hervor. Kein Netz. Er musste schnell zurück zum Hafen. Denn er war sich sicher: Der Schatten, der vor seinen Augen die Klippen hinabgestürzt war, war ein Mensch gewesen.
***
Sylvain O’Sullivan schob sich das rötlich-blonde Haar unter die dicke Mütze und atmete tief durch. Als um fünf in der Früh sein Telefon geklingelt hatte, war er gerade in der Tiefschlafphase gewesen. Er war so jäh und unerwartet aus seinem Traum gerissen worden, dass er sich zuerst hatte bewusst machen müssen, wo er sich überhaupt befand. Dann hatte er die ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge von Anne gehört, hatte die salzige Brise gerochen, die der Wind durch das geöffnete Fenster ins Schlafzimmer blies und plötzlich hatte er gewusst, wo er war. Saint-Malo. Bretagne. Nachdem Anne ein genervtes Grunzen von sich gegeben hatte, hatte er schnell nach dem bimmelnden Handy gegriffen und nun stand er hier.
Die Sonne ging langsam auf und tauchte das bewegte Meer in rötliches Licht. Neben ihm standen commissaire Julie Roche und capitaine Samuel Lemarc. Beide blickten angestrengt über die Brüstung hinab auf die Klippen, wo zwei Polizisten mit Unterstützung der hiesigen Feuerwehr und einem Sanitäter eine Leiche bargen. Sie lag auf einem breiten Felsen, der von den Wellen heftig umspült wurde. Von hier oben konnte man nur die Beine und den Oberkörper sehen. Der Hals und der Kopf hingen ins Wasser. Sylvain blickte sich um. Sie standen auf einem gepflasterten Platz, der von einer dicken steinernen Brüstung begrenzt war. Direkt dahinter fielen die Klippen schroff ins Meer hinab. Hinter ihnen ragte das Château Chevalier auf. Über eine spektakuläre Zugbrücke hatten sie das Areal betreten und waren über den Burghof gelaufen. Der Wind hatte ihnen die Haare zerzaust und verzweifelt hatte Sylvain alle Jackentaschen nach einer Mütze durchsucht. Schließlich war es Julie gewesen, die ihm eine gereicht hatte. Eigentlich fühlte er sich wohl. Seine Entscheidung aufs französische Festland zum Arbeiten zu ziehen und nicht, so wie seine Eltern es von ihm erwartet hatten, nach London zu gehen, um Karriere bei Scotland Yard zu machen, hatte er bisher noch nicht bereut. Aufgewachsen war er auf der kleinen Kanalinsel Guernsey und es war ihm nicht schwergefallen, von dort wegzugehen. Jeder kannte jeden und als junger Mensch waren die Möglichkeiten, die man hatte, sehr überschaubar. Aber der Kontrast zwischen der kleinen, beschaulichen Insel und der riesigen britischen Hauptstadt erschien ihm dann doch zu groß. So hatte es ihn in die andere Richtung, in die Bretagne, verschlagen. Hier hatte er seine Ausbildung gemacht und führte nun als Streifenpolizist ein zufriedenes Leben. Seine Freundin Anne war ihm von der Kanalinsel gefolgt. Sie studierte noch Wirtschaft in Rennes, würde aber bald ihren Abschluss machen. Er spürte, dass es sie weitertrieb. In ihrer Branche war Veränderung entscheidend. Letzte Woche hatte sie nebenbei eine Praktikumsstelle in Dublin erwähnt, die ihr angeboten worden war. Das hatte ihm einen Stich versetzt. Er wollte nicht fort von hier und insgeheim wusste er, dass er sie würde ziehen lassen müssen. Er würde sie nicht begleiten. Die kleine Stadtwohnung in Saint-Malo würde er sich auch ohne ihren finanziellen Beitrag weiter leisten können und vielleicht konnte er sie ja mal in Dublin besuchen.
Ein Ruf riss ihn aus seinen Gedanken.
***
„Sie ziehen ihn jetzt raus!“
Julie trat einen Schritt zurück und blickte gedankenverloren auf das Meer hinaus. Ihr Tag hatte früh begonnen und würde lange dauern. Es war eiskalt. Sylvain, der junge Streifenpolizist, zitterte neben ihr und rieb unablässig die kalten Hände aneinander. Allein Samuel wirkte entspannt.
„Wer hat ihn entdeckt?“, fragte Julie.
„Pierre …!“ Samuel blätterte in seinem kleinen Notizbuch.
„Ich habe keinen Nachnamen notiert. Ein Fischer, der hier ständig in diesen Gewässern unterwegs ist. Behauptet, er hat gesehen, wie der Mann gefallen ist. Er wird gleich hier sein, damit wir ihn befragen können. Denkt Ihr, wir bekommen Kaffee? Das ist doch ein Restaurant!“
Julie zuckte mit den Schultern und wandte sich an den Kollegen von der Streife.
„Wissen wir schon etwas über den Tatort?“
O’Sullivan nickte und scrollte einen Text auf seinem Smartphone entlang, während er die Informationen, die er zusammengetragen hatte, mit den Kollegen teilte.
„Das Château stammt aus dem 14.Jahrhundert. Seit vielen Jahrzehnten ist es schon in Privatbesitz. Bis vor fünf Jahren gehörte es einer alten Dame, madame Villeneuf. Sie hat sich lange gesträubt, es zu verkaufen, obwohl ihre finanzielle Lage, glaubt man den Gerüchten, desaströs war. Schließlich ist sie dann aber doch eingeknickt, warum wissen wir nicht, und hat den Kasten an Cathérine Chevalier verkauft, die das Anwesen dann zu dem gemacht hat, was es jetzt ist, ein schickes Sternelokal.“
„Warum sie wohl genau dieses Schloss ausgewählt hat?“, wunderte sich Julie. „Es gibt so viele Burgen und Schlösser in der Bretagne, die leichter zu erreichen und nicht so …“ sie suchte nach den richtigen Worten, „… so karg und schroff sind!“
Samuel nickte zustimmend.
„Du hast recht. Es wirkt alles nicht besonders einladend hier. Die grauen, hohen Mauern, die Brandung, die hart gegen die Klippen prallt. Aber vielleicht macht genau das den Reiz aus?“
Er blickte fragend in die Runde.
O’Sullivan meldete sich zu Wort.
„Nach meinen Recherchen läuft der Laden richtig gut. Vielleicht ist es gerade diese ursprüngliche Naturgewalt, die die Leute interessiert. Schicke Restaurants in schönen, gepflegten Gegenden gibt es doch en masse. Das hier ist etwas Besonderes. Außerdem ist die Küche mehrfach ausgezeichnet und wird in allen Gourmetreiseführern hoch gelobt. Ich schicke euch eine Zusammenfassung aller Informationen, die ich gesammelt habe als E-Mail!“
Julie schmunzelte. Sie kannte den jungen Polizisten noch nicht lange, aber sein Übereifer und seine Begeisterung beeindruckten sie. Sie hatte im Büro gehört, dass er sich gegen eine Laufbahn bei Scotland Yard entschieden hatte und stattdessen die Stelle in Saint-Malo angenommen hatte. Was ihn wohl zu diesem Schritt bewogen hatte? Ihr Handy piepste mehrmals und ein kleiner Briefumschlag leuchtete auf dem Display auf. O’Sullivan hatte ihr nicht nur eine Zusammenfassung aller bereits gesammelter Informationen geschickt, sondern auch einen Lageplan des Schlosses. Der Karte entnahm sie, dass sich neben mehreren Wehrtürmen, dem Hauptgebäude sowie verschiedenen Nebengebäuden auch ein Wald auf dem Gelände befand. Die dicken Festungsmauern umfassten die gesamte Innenanlage, die nur durch das große Tor zu erreichen war.
„Gute Arbeit!“, lobte sie den jungen Mann und drehte sich um, als jemand ihren Namen rief. Ein Mann in der Mitte seines Lebens, vom Wetter gegerbt, in einer grünen Wachsjacke und Regenstiefeln lief auf sie zu. Sein langes Haar hing vom Regen triefnass herab. Er streckte eine Hand aus, die Julie ergriff und schüttelte.
„Ich bin Pierre. Ihr Kollege hat mich zu Ihnen geschickt!“
Pierre – der Fischer, der den Sturz über die Klippen beobachtet hatte. Eine Alkoholfahne wehte von ihm herüber, als er erneut das Wort ergriff.
„Vielleicht hätte ich heute nicht rausfahren sollen. Scheiß Wetter. Und es soll noch mieser werden.“
Er zuckte mit den Schultern und atmete tief durch. Wieder streifte der Geruch nach Schnaps Julies Nase.
„Fahren Sie jeden Morgen in dieses Gebiet zum Fischen?“, fragte sie und rieb die klammen, kalten Hände aneinander.
Der Mann nickte und hustete trocken.
„Jeden verdammten Tag des Jahres. Ich liefere an viele Restaurants. Habe einen ziemlich guten Ruf!“
Nach Lob heischend blickte er in die Runde. Samuel lächelte ihn an.
„Ist Ihnen heute irgendetwas besonderes aufgefallen?“
Aufgeregt nickte der Fischer mit dem Kopf.
„Ja, ja!“, sagte er und räusperte sich mehrmals. Er schien erkältet. Kein Wunder bei dieser Eiseskälte.
„Ich fuhr da draußen mit meinem Boot. Die Fische bissen nicht. Das Meer ist heute zu aufgepeitscht, das treibt sie in tiefere Lagen. Als ich in Richtung der Burg blickte, sah ich plötzlich einen Schatten, der über die Mauer fiel und dann auf den Felsen aufschlug. Sofort dachte ich: Da ist jemand in den Tod gestürzt!“
Julie hatte sich, während der Fischer sprach, einige Notizen gemacht. Nun ergriff sie das Wort.
„Sie konnten nur Schatten erkennen. Woher wussten Sie dann, dass es ein Mensch war, der hier über die Mauer gefallen ist? Schließlich haben Sie das explizit gesagt, als Sie den Notruf abgaben!“
Pierre nickte aufgeregt.
„Es war eindeutig ein Mensch. Er fiel und der andere verschwand! Ich bin dann gleich losgefahren, weil hier draußen ja kein Netz ist und habe den Hafen angesteuert. Weil aber das Wetter so beschissen und auch noch mein Handy nass geworden war, bin ich bei Jacques in die Bar, der war gerade dabei aufzusperren, und habe die Polizei von dort angerufen! Dann …“
„Stopp!“, unterbrach ihn Samuel und warf Julie einen Blick zu.
„Was meinen Sie damit, dass der andere verschwand?“
„Na der andere Schatten verschwand!“
Verständnislos blickten die Polizisten den nach Schnaps riechenden Mann an.
„Der eine Schatten fiel über die Mauer und schlug auf die Felsen auf. Danach schaute ich sofort nach oben zur Mauer. Ein weiterer Schatten beugte sich darüber und verschwand dann!“
„Sind Sie sich sicher, dass Sie eine weitere Person oben auf der Mauer gesehen haben?“, bohrte Julie nach.
Der Fischer nickte.
„Sie können jetzt gehen! Aber bleiben Sie erreichbar. Wir werden sicher nochmals auf Sie zukommen!“, beendete Julie das Gespräch und wendete sich wieder zum Meer hin.
Als der Fischer gegangen war, sagte sie:
„Wenn das stimmt, dann haben wir es hier mit Mord zu tun!“
Samuel lenkte sofort ein.
„Erstens: Er war betrunken. Hast du seine Fahne gerochen? Und zweitens: Er hat niemanden wirklich gesehen und sprach nur von Schatten. Das ist zu unkonkret. Lasst uns mit der Chefin vom Château und allen Angestellten hier sprechen und abwarten, was die Gerichtsmedizin findet. Dann können wir unsere weitere Vorgehensweise planen!“
***
Cathérine Chevalier war eine hochgewachsene, schlanke Frau mit langen, blonden Haaren, die sie zu einer Hochfrisur aufgesteckt hatte. Auch wenn man ihr die Mitte ihres Lebens an den kleinen Fältchen rund um Augen und Mund ansah, wirkte sie noch jung und vital. Jetzt wanderten ihre blauen Augen beunruhigt zwischen den beiden Polizisten hin und her. Während Sylvain sich die Angestellten vorgenommen hatte, waren Julie und Samuel sofort zur Restaurantleiterin gegangen. Inzwischen wussten sie auch, mit wem sie es bei dem toten Mann zu tun hatten. Sein Name war Christophe Delamare und er war der poissonnier des Sternerestaurants. Der Pathologe, Dr.