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Alt, steinreich und ziemlich tot! Aufruhr im beschaulichen Provencestädtchen Bartavelle. Ein Bauunternehmen aus der Stadt errichtet eine luxuriöse Seniorenresidenz für wohlhabende Pensionäre aus aller Welt im schönen, unberührten Hinterland. Als dort einer der Bewohner ermordet aufgefunden wird, ist das kriminalistische Gespür von capitaine Yanik LeGuel gefordert. Der smarte Ermittler stößt in dem mondänen Rentnerparadies auf eine Mauer aus Schweigen. Als weitere Morde passieren, muss er alles auf eine Karte setzen, um den Mörder aufzuhalten.
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Seitenzahl: 221
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SANNI ARAN
TOD IN BARTAVELLE
Buch
Alt, steinreich und ziemlich tot!
Aufruhr im beschaulichen Provencestädtchen Bartavelle. Ein Bauunternehmen aus der Stadt errichtet eine luxuriöse Seniorenresidenz für wohlhabende Pensionäre aus aller Welt im schönen, unberührten Hinterland.
Als dort einer der Bewohner ermordet aufgefunden wird, ist das kriminalistische Gespür von capitaine Yanik LeGuel gefordert. Der smarte Ermittler stößt in dem mondänen Rentnerparadies auf eine Mauer aus Schweigen. Als weitere Morde passieren, muss er alles auf eine Karte setzen, um den Mörder aufzuhalten.
Autorin
Die Autorin, die sich hinter dem Pseudonym Sanni Aran verbirgt, ist Reisejournalistin und hat unter ihrem bürgerlichen Namen bereits zahlreiche Bücher verfasst. Mit capitaine de police Yanik LeGuel hat sie einen einfühlsamen Ermittler erschaffen, der nicht nur spannende Kriminalfälle löst, sondern dem Leser auch die liebenswerten Besonderheiten der Provenzalen und ihrer Landschaft nahe bringt.
Sanni Aran
TOD IN BARTAVELLE
Capitaine LeGuels erster Fall
Dieser Roman ist reine Fiktion. Den erdachten Ort, in dem die Geschichte spielt, Bartavelle, gibt es nicht. Sie brauchen also nicht nach ihm auf der Landkarte zu suchen.
Die Personen, die mitspielen, sind frei erfunden und orientieren sich in keiner Weise an lebenden Vorbildern.
Der Wahrheit nahe kommt allerdings die geschilderte provenzalische Atmosphäre.
ambiente-krimis,
Michael Heinhold
Am Feilnbacher Bahnhof 10
83043 Bad Aibling
Erste Auflage 2020
Copyright © 2020 by Sanni Aran
Alle Rechte vorbehalten
e-book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
Umschlagfoto: Michael Heinhold
ISBN der e-book-Ausgabe: 978-3-945503-27-0
ISBN der Taschenbuchausgabe: 978-3-945503-26-3
„Wir haben verlernt, die Augen auf etwas ruhen zu lassen.
Deshalb erkennen wir so wenig.“
1. Montag
Wie ein Schloss aus einem Märchen ragte der Prunkbau auf der colline de Bartavelle empor. Die Fassade war in einem sanften Cremeton gestrichen und wurde immer wieder von großen Flügelfenstern unterbrochen. Vor den Fenstern waren kleine, runde Steinbalkone angebracht, auf denen bunte Sonnenschirme viele verschiedene Farbtupfer setzten. Um das Gebäude herum war eine parkähnliche Anlage errichtet worden, die von einer hohen Steinmauer eingefasst war, um unliebsame Besucher fernzuhalten. Eine Terrasse lud mit vielen Teakholzmöbeln, kleinen gemütlichen Sitzgruppen und Liegestühlen zum Verweilen ein. Die gepflegte Rasenfläche wies, im Vergleich zu allen anderen Feldern und Wiesen in der Provence, die aufgrund der heißen Augustsonne völlig verdorrt waren, einen satten, gesunden Grünton auf. Oleanderbüsche säumten die ordentlich angelegten Kiespfade, die durch den Park führten.
Der Südhang, der zum kleinen Dorf Bartavelle hinabführte, war komplett abgeholzt worden. Anschließend hatte ein fleißiger Gärtner dort Oliventerrassen angelegt, die sich in exakter Symmetrie stufenweise den Hang hinab aneinanderreihten. Alles wirkte perfekt.
„Zu perfekt!“, kommentierte Yanik LeGuel das Anwesen und nahm das Fernglas, das er soeben noch vor die Augen gehalten hatte, herunter. Es war Sonntagfrüh und der junge Polizist, der seit einem Jahr als capitaine de police im Präsidium von Bartavelle arbeitete, befand sich auf einem morgendlichen Ausflug mit seinem Freund Arthur. Gemeinsam waren die beiden Männer durch die alten Steineichenwälder gestreift, die das Land um den Ort bedeckten. Arthur, der Jäger war und die Wälder betreute, nahm Yanik des Öfteren mit auf seine Streifzüge. Der Polizist hatte sich als aufmerksamer und interessierter Begleiter herausgestellt und seit einigen Monaten waren diese gemeinsamen Ausflüge in aller Frühe bereits zur Tradition geworden. Arthur kramte seine Thermoskanne aus dem Rucksack, schraubte sie auf und reichte sie Yanik. Der nahm einen Schluck und musste kräftig husten.
„Den Kaffee hast du aber mit reichlich Calvados gestreckt, mein Lieber“, lachte er und reichte die Kanne zurück.
Arthur nickte.
„Es ist Sonntag. Wir haben heute keine Verpflichtungen. Warum dann den Tag nicht mit einem richtigen café-calva beginnen?“
Arthur verstaute die Kanne zurück in seinem Rucksack und zog ein Baguette, etwas Käse und eine Salami hervor.
„Lass uns erst einmal frühstücken, bevor wir weitergehen. Ich möchte noch die westlichen Hänge überprüfen. Ich hoffe, dass die Baumaßnahmen der dortigen Wildpopulation nicht geschadet haben!“
Nachdem die beiden ihre Brotzeit verspeist und alles zusammengepackt hatten, machten sie sich wieder auf den Weg. Der Aufstieg über die Westhänge war beschwerlich, denn dieser Teil der collines war nicht wie die anderen Hänge von Forst-und Wanderwegen durchzogen. Dadurch hatten sich über die letzten Jahrzehnte hier auch die Wildbestände sowie die ganze Flora störungsfrei entwickeln können. Schilder wiesen Besucher, die sich in diese Wildnis wagten, daraufhin, dass man keine Abfälle hinterlassen durfte und sich leise verhalten musste. Das Jagdverbot in diesem Teil verstand sich von selbst. Die sich über 250Hektar erstreckenden Hänge waren so zu einem Tummelplatz für Wildschweine, Rehe, Kaninchen und allerhand Insekten geworden. Arthur war von der Stadt als Zuständiger für dieses Naturschutzgebiet angestellt worden und kam dieser Aufgaben mit großer Ambition nach. Umso wütender war er gewesen, als vor drei Jahren ein Bauunternehmen aus Saint-Tropez einen Bauantrag am Marseiller Bauamt eingereicht hatte, mit Plänen für eine mondäne Seniorenresidenz auf der Kuppe der colline de Bartavelle. Schnell hatte sich im Ort eine Gruppe rund um den jungen Jäger gebildet, die versucht hatte, den Bau und somit die Zerstörung der unberührten Natur auf dem Hügel zu verhindern. Leider ohne Erfolg. Der Antrag wurde durchgewunken und schon wenige Wochen später waren die ersten Bagger den Südhang hinaufgeschnauft. Dann war alles sehr schnell gegangen. Innerhalb von zwei Jahren waren Gebäude und Parkanlage fertiggestellt. Damals war Yanik gerade nach Bartavelle gezogen. Aber er war zu diesem Zeitpunkt so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass er den dörfischen Aufschrei um die Seniorenresidenz nicht wahrgenommen hatte. Erst als zu Beginn dieses Sommers die ersten schwerreichen Millionäre in das Prunkschloss eingezogen waren und gelegentlich mit ihren teuren Autos durch den Ortskern rasten, hatte Yanik die Residenz und all ihre Gegner wahrgenommen. Anfangs hatte ihn das Ganze noch kaltgelassen und er hatte auf Arthurs wütende Schimpftiraden nur erwidert, dass es ja auch noch die beiden anderen Hügel gebe, die colline de l’estelle, die sich im Westen des Ortes befand und deren Felswand schroff zum Dorf abfiel, und die colline de sanglier im Osten. Er hatte gar nicht verstehen können, wie sich seine Freunde aus dem Dorf so in dieses Thema hatten hineinsteigern können. Das hatte sich inzwischen geändert. Die colline, ehemals ein wildes Stück Land in der Provence, war zu einem Schickimicki-Berg verkommen, auf dem sich der alternde Jetset tummelte. Es gab dort einen eigenen Kinosaal, mehrere Fitnessstudios, eine mondäne Dachterrassenbar sowie einen exklusiven Wellnessbereich. Die Residenz verfügte über eine angeschlossene geriatrische Fachklinik und es hieß, die Ärzte seien die Besten auf diesem Gebiet. Yanik konnte das nicht beurteilen, aber er musste an die kleine maison de retraite denken, die sich am Ortsrand befand und in der der alte Jerôme wohnte. In diesem Altenheim mussten sich die Rentner zu zweit oder zu dritt kleine Zimmer teilen und der einzige Aufenthaltsraum hatte seit einem Wasserschaden vor einem Jahr Schimmelflecken an der Wand. Kein Wunder, dass vieux Jerôme mehr Pastis trank, als ihm guttat.
Arthur legte den Zeigefinger auf den Mund und signalisierte Yanik leise stehenzubleiben. Zwischen den Bäumen erkannten sie ein Wildschwein mit seinen beiden Frischlingen. Mit ihren Schnauzen gruben sie in der trockenen Erde. Der laute Schrei eines Vogels ließ sie aus ihrem meditativen Fressritual aufschrecken und innerhalb weniger Sekunden waren sie zwischen den Bäumen verschwunden.
„Lass uns langsam nach Hause gehen“, schlug Arthur vor und machte eine ausladende Bewegung über das Land.
„Hier schaut alles ganz gut aus.“
Sie nahmen den gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren. Die Hitze hatte zugenommen und auch wenn die Bäume Schatten spendeten, lief Yanik der Schweiß über das Gesicht. Kein Windhauch strich heute über das Land und die Hitze würde sich bei ihrer Rückkehr bereits zwischen den hohen Schluchten der alten Stadthäuser in Bartavelle gesammelt haben. Es würde Yaniks erster Sommer in der Provence werden. Im letzten Jahr hatte er seine Heimat, die Bretagne, verlassen, und war in dieses ruhige, idyllische Städtchen im Süden Frankreichs gezogen. Er hatte es nie bereut. Doch vor dem heißen Sommer graute es ihm. Arthur ging voraus, aber der Weg war nun weniger beschwerlich, zumal er stetig bergab ging. Yanik summte leise eine Melodie vor sich hin und starrte auf seine Schuhspitzen, während er dem Geräusch von Arthurs Schritten und dem nur schwach ausgetrampelten Pfad zu seinen Füßen folgte. Plötzlich knallte er auf Arthur, der abrupt stehengeblieben war. Kurz kam der ins Straucheln, fing sich dann aber und schaffte es auch noch mit einem kräftigen Griff nach hinten Yanik vor einem Sturz zu bewahren. Als die beiden wieder fest auf dem Boden standen, erkannte Yanik den Grund für Arthurs unerwartetes Abbremsen. Vor ihnen stand eine alte, knorrige Steineiche. Ihre Äste verzweigten sich weitläufig und um ihren Stamm rankten sich Brombeerzweige, die bereits Früchte trugen. Aber nicht das erweckte Yaniks Aufmerksamkeit. Es war etwas anderes. Am Fuße des Baumes saß, in sich zusammengefallen, eine hagere Gestalt. Der Kopf war auf die Brust gesunken, die weißen Haare standen wirr vom Kopf ab. Der Körper steckte in einem blau-weiß karierten Schlafanzug, über die Füße waren nur Pantoffeln gestülpt. Nicht zu übersehen war das getrocknete Blut auf dem Kopf der Person, das auf dem harten Untergrund des Waldbodens eine kleine Pfütze gebildet hatte.
***
„Die Spurensicherung ist aus Marseille angerückt. Ich habe noch etwa eine Stunde am Fundort der Leiche verbracht, dann bin ich hierhergekommen.“
Yanik ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder. Das Büro, das er sich mit seinem Chef, commissaire Mathis Choucroute, teilte, war nicht besonders groß. Eine Notlösung, hatte man ihm gesagt, als er hierhergekommen war und seine Stelle angetreten hatte. Das Hauptgebäude der police nationale in Marseille hatte einer Prüfung durch das Bauamt nicht standgehalten und musste von Grund auf saniert werden. Alle Abteilungen waren quer über die Stadt oder auf das Umland verteilt worden. Die Bauarbeiten kamen nur zäh voran und Yanik vermutete, dass es noch Monate, wenn nicht sogar Jahre dauern könnte, bis sie zurück in die Hafenstadt würden ziehen können. Das Büro in Bartavelle verdankte er seinem Chef commissaire Mathis Choucroute. Der hatte kurzerhand bei der Verwaltung in Marseille einen Antrag gestellt, und hatte es tatsächlich geschafft, dass sein Büro in seinem Wohnort unterkam. Der Bürgermeister hatte dazu Räumlichkeiten freigegeben und war sicherlich froh behaupten zu dürfen, dass sein kleines, beschauliches Nest nun eine Zweigstelle der police nationale beherbergte.
Das Büro befand sich im oberen Teil des Städtchens, an einem kleinen mit Platanen gesäumten Platz direkt unter der herabstürzenden Felsmauer, der falaise. Von seinem Platz aus konnte Yanik durch das Fenster direkt auf die schroffe Felsmauer blicken. Am Anfang hatte ihn dieser Anblick noch verschreckt. Oftmals hatte er sich ausgemalt, wie die Wand bei starken Regenfällen abrutschen und direkt in seinem Büro landen könnte. Aber inzwischen hatte er sich an den majestätischen Anblick gewöhnt. Mathis Schreibtisch befand sich direkt neben der Tür. Yanik war dankbar, dass ihm der Fensterplatz überlassen worden war. Er verbrachte deutlich mehr Zeit im Büro als sein Chef, der gerne lange ausschlief und früh in den Feierabend startete. Der Raum hatte eine niedrige Decke, die durch massive Holzbalken gestützt wurde. Die Planken des Fußbodens bestanden aus dem gleichen Holz und knarzten bei jedem Schritt. Das kleine Team wurde von der schüchternen Clara vervollständigt, die für wenige Stunden am Vormittag die anfallenden Büroarbeiten und das Kaffeekochen übernahm. Insgesamt war es eine sehr beschauliche Arbeit, bis Yanik heute früh auf die Leiche gestoßen war.
„Und du meinst, es war ein Rentner aus der Residenz?“, holte ihn Mathis aus seinen Gedanken.
„Sicher kann ich das noch nicht sagen, aber es war ein älterer Herr in einem schicken Seidenschlafanzug. Das legt doch diese Vermutung nahe, oder? Ich habe schon versucht einen Termin mit der Geschäftsführerin der Residenz zu bekommen, aber deren Sekretärin ist, gelinde gesagt, sehr zurückhaltend.“
Mathis kratzte sich an seinem immer schütterer werdenden Haarkranz. Ihn umgab eine großväterliche Aura, wie er so mit seinem fürsorglichen Blick, den Lachfältchen um die Augen und der von seiner Frau Mireille sicherlich selbst gestrickten Wollweste vor Yanik stand. Der wunderte sich:
„Wie kannst du nur bei dieser Hitze eine Wollweste tragen?“, fragte er den väterlichen Freund verständnislos.
Der grinste:
„Sonst redet meine Mireille nicht mehr mit mir. Ihr Laden läuft in dieser Saison nicht so gut. Anscheinend bestellen sich die meisten ihre Haushaltswaren lieber über das Internet oder fahren in die großen, anonymen Einkaufsmärkte im Industriegebiet bei Draguignan, anstatt bei ihr einzukaufen. Dabei bekommt man nirgendwo einen besseren Service, da kannst du dir sicher sein. Auf jeden Fall hat sie viel Zeit und nun hat sie das Stricken für sich entdeckt. Ständig läuft sie mit ihrem Strickzeug herum und sogar ihre Haare bindet sie nicht mehr mit einem Haarband zusammen, sondern steckt sie mit einer Stricknadel hoch. Dauernd bekomme ich neue Kleidungsstücke, die nicht in diese Jahreszeit passen. Aber das kann man ihr nicht erklären. Du kennst ja meine Mireille, sie ist besonders. Daher ziehe ich das Zeug an, bis ich in der Arbeit bin und dann – weg damit!“
Er streifte die Weste ab und schleuderte sie in die Ecke.
„Übrigens lädt Mireille heute zum Abendessen ein. Es gibt Lammbraten mit Rosmarinkartoffeln und hinterher ihre berühmte tarte tartin. Sie meint, dann hast du kein Heimweh.“
Etwas wehmütig dachte Yanik daran, wie seine Mutter in der fernen Bretagne immer eine tarte tartin für ihn gebacken hatte. Dieses traditionelle französische Dessert galt als Geheimtipp und schon bei dem Gedanken daran lief ihm das Wasser im Mund zusammen.
„Passt halb acht?“
Yanik nickte. Er freute sich schon darauf. Die meisten Abende verbrachte er allein mit seinem Labrador Gigi zuhause. Zwar hatte er inzwischen zwei sehr gute Freunde in Bartavelle gefunden, den Jäger Arthur und Marc, der eine Bar im Ort besaß, aber dennoch fühlte er sich von Zeit zu Zeit etwas einsam.
„Ich bringe ein paar Flaschen Rosé von unserer coopérative mit!“, schlug er vor und Mathis nickte begeistert.
Das Telefon unterbrach ihr Gespräch. Mathis hob ab. Er lauschte konzentriert, bedankte sich dann und legte wieder auf.
„Das war docteur Petit von der Gerichtsmedizin in Marseille. Er hat soeben die Leiche auf den Tisch bekommen und hat sie gleich wiedererkannt. Er sagt, bei dem Toten handelt es sich um einen bekannten deutschen Industriellen, der in Saint-Tropez eine Villa besitzt. Er hat mehrmals über ihn in den lokalen Boulevardblättern gelesen.“
Yanik musste schmunzeln.
„Unser Herr Doktor liest also diese Lektüre? Das hätte ich aber nicht von ihm erwartet.“
„Ich denke, das geht eher auf seine Frau Margo zurück. Sie hat eine Schwäche für Klatsch und Tratsch. Niemals darf man ihr etwas Persönliches erzählen, sonst weiß am nächsten Tag das ganze Département davon. Einmal hat ihr Mireille bei einem Abendessen von einer Magen-Darm-Grippe berichtet, die uns eine Woche zuvor heimgesucht hatte. Als ich einige Tage später in die Gerichtsmedizin kam, bemitleidete mich jeder für meinen hartnäckigen Durchfall!“
Yanik musste lachen.
„Gut zu wissen. Dann werde ich alle meine unappetitlichen Krankheiten lieber für mich behalten!“
„Besser so!“, nickte Mathis.
„Auf jeden Fall heißt unsere Leiche Leonhard Grün und kommt ursprünglich aus München. Er ist seit einigen Jahren in Pension und hat sein Firmengeflecht an den Filius überschrieben. Versuche bitte mehr über ihn herauszubekommen. Ich fahre solange nach Marseille und schaue Petit über die Schulter! Laut Petit ist Grün seit mindestens zwölf Stunden tot!“
***
Die Bar Chez Marc war wie immer um diese Zeit vollbesetzt. Aus der Küche drangen Dampfschwaden in den kleinen Ausschankraum. Yves, der Koch, war gut beschäftigt. Heute stand Daube à la Provence, ein typisches regionales Fleischgericht auf der Tageskarte. Yanik ließ sich, nachdem er gesehen hatte, dass auf der Terrasse kein einziger Platz mehr frei war, am Tresen nieder und bestellte sich einen kleinen Kaffee. Sein Freund Marc, der die Bar betrieb, schwitzte.
„Heute ist mal wieder die Hölle los und die neue Servicekraft, die vor einer Stunde eigentlich anfangen sollte, hat fünf Minuten nach eigentlichem Dienstbeginn abgesagt. Sie hätte einen besser bezahlten Job angeboten bekommen und zwar in dieser Seniorenresidenz in der Küche! Soll sie doch die alten Knacker bekochen, aber dafür brennt es heute bei mir.“
Er schob ein voll beladenes Tablett mit Kaffeetassen auf die Theke und umrundete diese anschließend.
„Kannst du dir deinen Kaffee selbst machen?“, bat er Yanik und zeigte mit dem Kinn auf die Terrasse, wo mehrere Gäste bereits nach ihm winkten.
„Wenn du möchtest, übernehme ich den Ausschank für eine Stunde. Dann muss ich aber wieder ins Büro“, bot er an und Marc lächelte dankbar.
Während Yanik in den nächsten sechzig Minuten unzählige Kaffees aus der Espressomaschine laufen ließ, Pastis ausschenkte und in regelmäßigen Abständen dem alten, zahnlosen Jerôme sein Weinglas auffüllte, musste er daran denken, wie er Marc kennengelernt hatte. Damals hieß der noch Philippe und war sein erster Freund geworden, nachdem Yanik aus der Bretagne in den Midi versetzt worden war. Die beiden Männer hatten viel Zeit miteinander verbracht und Yanik fühlte sich dem smarten Barbesitzer sehr verbunden. Umso erschrockener war er, als er im letzten Winter im Rahmen einer Mordermittlung erfuhr, dass dieser nicht der war, der er vorgab zu sein. Aus lauter kleinen Mosaiksteinchen hatte Yanik zusammen mit seinem alten Team aus der Bretagne den Fall zusammengesetzt, um schließlich zu erkennen, dass Marc alias Phillipe unter falschem Namen im Rahmen eines Kronzeugenschutzprogrammes in Bartavelle lebte. Fast wäre die Tarnung aufgeflogen, als seine kleine Schwester Morgane vor ihren späteren Mördern zu ihm geflohen war. Der Fall und der Tod der Schwester hatten Marc schwer mitgenommen. Noch schwerer wog die Tatsache, dass er kurzzeitig selbst unter Mordverdacht gestanden hatte. Zum Glück hatte sich dieser schlimme Verdacht nicht bestätigt. Am Ende konnte er sogar das Schutzprogramm verlassen, da keine Bedrohung mehr für sein Leben bestand. Yanik seufzte. Es war ein schweres halbes Jahr für Marc gewesen, aber er hatte den Freund so oft, wie es ihm möglich war besucht und hatte versucht ihm eine Stütze zu sein.
„Die sagen, es gab eine Leiche“, grummelte Jerôme zwischen den wenigen verfaulten Zahnstummeln, die er noch im Mund hatte, hervor.
„Woher weißt du denn das schon wieder?“, fragte Yanik überrascht. Es war doch erst wenige Stunden her, dass er selbst die Leiche entdeckt hatte. Wie zur Hölle konnte der alte Tattergreis nun schon davon wissen?
„Merle, meine Pflegerin, hat es mir erzählt. Ihr Mann arbeitet als Koch in der Residenz und der hat sie angerufen.“
Yanik horchte auf. Es hatte noch keine offizielle Bestätigung des Toten gegeben. Er hatte lediglich versucht, die Leitung der Seniorenresidenz telefonisch zu erreichen, aber hatte keine Gründe für den Anruf genannt. Wie konnten die da oben davon wissen?
„Hat deine Merle auch einen Nachnamen?“
Jerôme nickte.
„Dubonnet. Merle Dubonnet. Sie ist mit Jacques verheiratet. Dem hat früher das kleine Bistro in der rue du roi gehört, aber als es Pleite ging, musste er sich etwas Neues suchen. Die Residenz zahlt wohl sehr gut.“
Yanik konnte sich an den kleinen, schüchternen Mann gut erinnern, der bis letzten Herbst das Bistro am Ortsrand betrieben hatte. Es hatte ihm leidgetan, dass es schließlich geschlossen werden musste. Das war sicherlich zu einem großen Teil den vielen, kleinen Restaurants geschuldet, die seit einiger Zeit wie die Pilze aus dem Boden schossen. Meist wurden sie nicht von Einheimischen betrieben, sondern von Rentnern, die in der Provence ihren Lebensabend genießen wollten, ohne aber dabei untätig herumzusitzen. Daher entstanden immer mehr kleine Lokale und Pensionen.
Yanik war so in seine Gedanken versunken, dass er gar nicht bemerkte, wie Jerôme weitersprach. Jäh wurde er in die Wirklichkeit zurückgeholt, als dieser ihn anpflaumte:
„Also, was denkst du? Oder hast du dazu keine Meinung, hä?“
Yanik rang nach Worten. Er hatte keine Ahnung worum es ging.
„Ich…also… Ich denke, dass…“
Zum Glück rettete ihn Marc, der soeben das Tablett auf den Tresen und seine Schürze ins Eck pfefferte.
„Zwei Minuten Pause. Ich brauche einen Kaffee!“
„Sind alle bedient?“
Er nickte. Dann schnappte er sich die Weißweinflasche und schenkte Jerôme nach.
„Dein neuer Kellner ist kein besonders aufmerksamer Zuhörer“, beschwerte der sich und blickte finster drein.
Yanik wollte soeben ansetzen zu erklären, dass er weit davon entfernt war, der neue Kellner zu sein, aber Jerôme fiel ihm sogleich ins Wort.
„Ich habe ihm gerade erklärt, dass es eine Schweinerei ist, dass Leute wie ich, die ihr Leben lang geschuftet haben, im Alter in Heimen versumpfen ohne Freuden, und die ganzen Reichen aus Saint-Tropez und dem Rest der Welt können ihren Lebensabend in einer sauteuren Fünfsterneresidenz verbringen, die mehr ein Luxushotel als ein Altenheim ist. Wo bleibt da die Gerechtigkeit?“
Seine Stimme hatte immer mehr an Lautstärke gewonnen. Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch.
„Du stellst es eben falsch an, Jerôme“, antwortete ihm Marc.
„Schnapp dir doch einfach eine der reichen Witwen aus der Residenz. Natürlich solltest du vorher einmal duschen und vielleicht einen Frisör und einen Fußpfleger konsultieren“, sein Blick wanderte zu Jerômes ungepflegten Füßen mit den eingewachsenen Zehennägeln, die in abgeschabten Sandalen steckten.
„Aber wenn du dich etwas auffrischst, steht dir noch eine blühende Zukunft bevor!“
Jerôme sah ihn missmutig an und brummelte:
„Denkst du, ich merke nicht, wenn sich jemand über mich lustig macht?“
Dann erhob er sich, klopfte auf den Tresen und ging mit den Worten:
„Ich zahle morgen!“
„Oder nie“, ergänzte Marc seufzend.
Er klopfte Yanik auf die Schulter.
„Danke dir für deine Hilfe. Jetzt schaffe ich es wieder allein. Magst du abends bei mir essen?“
Yanik schüttelte den Kopf.
„Mathis und Mireille haben mich eingeladen. Aber morgen gerne! Bis dann!“
Er schnappte sich sein Handy und spazierte aus der Bar. Die Hitze schien nochmals zugenommen zu haben, wenn das überhaupt möglich war. In der Luft lag ein Flirren und Yanik begann augenblicklich zu schwitzen.
***
Leonhard Grün war kein unbeschriebenes Blatt. Der Unternehmer war 1939 in München geboren und hatte dort in den sechziger Jahren ein erfolgreiches Unternehmen gegründet. Vor etwa zehn Jahren wurde der Betrieb von einem Skandal gebeutelt. Unlautere Methoden und die enge Zusammenarbeit mit einem Unternehmen, dem Geldwäsche vorgeworfen worden war, kratzten am guten Ruf. Es gab Verhaftungen und eine öffentlichkeitswirksame Gerichtsverhandlung. Allen anwesenden Journalisten war es ein Rätsel gewesen, wieso der Firmengründer und offensichtliche Hauptverantwortliche ungeschoren davonkam. Grün war als freier Mann aus dem Gericht spaziert und hatte auch noch hämisch in die Kameras gegrinst. Dennoch musste er sich den Folgen des Skandals stellen. Er gab seine Leitungsposition auf und übertrug diese auf seinen Sohn Vincent. Er selbst saß noch lange Jahre im Aufsichtsrat, von wo aus er mitmischte, bis er 2016 von einem schweren Schlaganfall gebeutelt auch diesen Posten endgültig räumen musste. Bis er in die Résidence in Bartavelle übersiedelt war, war er in einem Münchner Pflegeheim untergebracht. Yanik beschloss, so schnell wie möglich mit dem dortigen Heimleiter Kontakt aufzunehmen.
***
Yanik klingelte mehrfach und wartete dann. Das majestätische Tor aus fein geschwungenen Gitterstäbchen bewegte sich keinen Millimeter. Erneut drückte er ungeduldig auf den Klingelknopf. Schließlich knisterte es in der Gegensprechanlage und ein kleiner Kamerakopf, der auf einem der beiden Pfosten, die das schwere Eingangstor hielten, festgemacht war, schwenkte in seine Richtung.
„Yanik LeGuel, Polizei Bartavelle“, meldete er sich an und wartete weitere fünf Minuten, bis ein Jeep die lange Einfahrt hinabgefahren kam. Dem entstieg ein älterer Mann. Er schob einen beachtlichen Bauch vor sich her. Aus seiner kurzen Hose ragten zwei kräftige, beharrte Beine hervor. Auf dem Kopf trug er ein Käppi mit dem Logo der Residenz.
Schweigend öffnete er das Tor und zeigte auf seinen Jeep.
„Lassen Sie Ihr Auto hier stehen, ich werde Sie mitnehmen!“
Er schob Yanik am Rücken durch das Tor und ließ es laut zufallen. Kaum saßen die beiden im Wagen, brauste der namenlose Mann los.
Die Zufahrt zur Residenz war lang und schlängelte sich durch eine Mauer aus hohen, blühenden Oleandersträuchern. Was dahinter war, konnte Yanik nicht erkennen. Nach einer scharfen Kurve erschien das herrschaftliche Haus vor ihnen. Eine junge Frau trat aus der Tür und eilte auf das Auto zu. Sie trug ihre langen, schwarzen Haare zu einem strengen Zopf geflochten. Ihr schlanker Körper steckte in einem schicken, gut geschnittenen dunklen Kostüm. Sie trug dezentes Makeup und Perlenohrringe.
„Céline Martinez“, stellte sie sich vor. „Ich bin die Geschäftsführerin der Residenz. Bitte treten Sie ein!“
Sie ließ Yanik den Vortritt und er stieg über wenige Stufen zur breiten, verglasten Eingangstür auf. Innen erwartete ihn ein saalartiger Empfangsraum mit hohen Decken, von denen Leuchter herabhingen. Rechts entdeckte er eine ausgedehnte Sitzlandschaft sowie eine kleine Bar mit einer imposanten, silbernen Kaffeemaschine, links befand sich der Empfangstresen, hinter dem zwei junge Angestellte geschäftig mit Papieren herumwedelten.
„Beeindruckend!“, sagte Yanik und umfasste mit einer Geste die Empfangshalle. „So als würde man ein Luxushotel in Saint-Tropez betreten!“
Madame Martinez lächelte und entblößte eine Reihe gerader, schneeweißer Zähne.
„Unsere Kunden wünschen sich einen Lebensabend, während dem es ihnen an nichts fehlt. Ein gediegenes Ambiente gehört dazu!“ Sie räusperte sich.
„Unsere Wellnessoase umfasst 500Quadratmeter und hat einen Innen- und Außenbereich. Zudem haben wir zwei Restaurants, ein Bistro und mehrere Bars sowie eine Einkaufsstraße im Haus!“ Sie strahlte ein Verkäuferlächeln und Yanik konnte sich nur zu gut vorstellen, wie sie potenzielle Kunden durch das Prachtanwesen führte und dessen Vorzüge und Annehmlichkeiten anpries.
„Wie viele Rentner leben momentan in ihrem Altenheim?“, fragte Yanik und merkte sofort, dass seine Ausdrucksweise nicht erwünscht war. Auf der der sonst so makellos glatten Stirn der Dame bildete sich eine tiefe Längsfalte und sie antworte säuerlich:
„65Kunden bewohnen momentan fest unsere Anlage. Aber wir haben unzählige Anfragen, die natürlich immer sorgfältig geprüft werden!“
Sie waren während des Gesprächs weitergegangen und hatten nun die Aufzüge erreicht, die sich am Ende der Empfangshalle befanden. Madame Martinez bedeutete einem Angestellten in Portiersrobe, dass er einen Aufzug rufen solle. Kurz darauf betraten sie die Chefetage, die sich ganz oben im fünften Stock befand. Ein hochgewachsener Mann um die Vierzig mit grauen Strähnen im dunklen Haar und durchdringend blauen Augen trat Yanik entgegen.
„Bonjour. Ich bin Hermes Mandelieu, der Pressesprecher des Unternehmens. Sie hätten einen Termin vereinbaren sollen.“ Er zuckte kaum merklich mit den Schultern. Yanik spürte, wie er wütend wurde.
„Das habe ich mehrmals versucht“, stieß er hervor und besann sich dann. Was half es, sich mit diesen Schnöseln anzulegen. Also fügte er versöhnlich, aber bestimmt hinzu:
„Leider erlauben unsere Ermittlungen keinen weiteren Aufschub. Ein Gast aus Ihrer Einrichtung wurde ermordet aufgefunden. Es muss Ihnen doch klar sein, dass wir im Haus ermitteln müssen!“
Mandelieu zog die Mundwinkel zu einem Lächeln nach oben.
„Bien sûr, chèr monsieur le commissaire. Allerdings ist es uns ebenso wichtig, die Privatsphäre unserer Kunden zu wahren. Schließlich befinden diese sich hier, um einen ruhigen Lebensabend zu verbringen. Mord und Totschlag sollten da nicht auf der Tagesordnung stehen!“ Er lachte, als hätte er einen guten Witz gemacht, verstummte aber, als er sah, dass Yanik nicht mit einstimmte.