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Rilkes berühmte "Briefe an einen jungen Dichter" zum ersten Mal ergänzt um die Briefe von Franz Xaver Kappus. Mit zehn kurzen Briefen hat Rainer Maria Rilke in den Jahren 1903-1908 ungewöhnlich couragierte Ratschläge und Leitlinien für Kunstschaffende gegeben. Er selbst hat sie nicht veröffentlicht, doch Franz Kappus, der Adressat, hat sie 1929 nach dem Tod des Dichters herausgegeben und damit den Grundstein für ein Erfolgsbuch in vielen Ländern, Sprachen und Kulturen gelegt. Die "Briefe an einen jungen Dichter" sind das unentbehrliche gedruckte Brevier für Künstler und Kreative am entscheidenden Punkt ihrer Karriere geworden und bis heute geblieben, während sich Rilkes Brief-Manuskripte seit 1953 im Dunkel verloren haben. Nun sind die Briefe von Franz Kappus - bis auf das erste Schreiben - erstmals zugänglich geworden. Mit ihnen ist auch erkennbar, auf welche Fragen Rilke geantwortet hat, Fragen, die auch seine Briefe in neuem Licht erscheinen lassen. Sie haben ihre Aktualität nicht verloren und an Aussagekraft gewonnen.
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Seitenzahl: 182
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Rainer Maria Rilke
Briefe an einen jungen Dichter
Mit den Briefen von Franz Xaver Kappus
Herausgegeben vonErich Unglaub
Franz Xaver Kappus: Einleitung
1. Kappus an Rilke, Spätherbst 1902
2. Rilke an Kappus, 17. Februar 1903
3. Kappus an Rilke, 24. Februar 1903
4. Rilke an Kappus, 5. April 1903
5. Kappus an Rilke, 15. April 1903
6. Rilke an Kappus, 23. April 1903
7. Kappus an Rilke, 2. Mai 1903
8. Kappus an Rilke, 2. Juli 1903
9. Rilke an Kappus, 16. Juli 1903
10. Kappus an Rilke, 29. August 1903
11. Rilke an Kappus, 29. Oktober 1903
12. Kappus an Rilke, 28. November 1903
13. Rilke an Kappus, 23. Dezember 1903
14. Kappus an Rilke, 29. Februar 1904
15. Rilke an Kappus, 14. Mai 1904
16. Kappus an Rilke, 14. Juli 1904
17. Rilke an Kappus, 12. August 1904
18. Kappus an Rilke, 27. August 1904
19. Rilke an Kappus, 4. November 1904
20. Rilke an Kappus, 30. August 1908
21. Kappus an Rilke, 25. November 1908
22. Rilke an Kappus, am zweiten Weihnachtstage 1908
23. Kappus an Rilke, 5. Januar 1909
Gedichte von Franz Xaver Kappus
Feuilleton. Neujahrsnacht an der Grenzevon F. X. K.
Anmerkungen
Widmung in ein Buch
Erich Unglaub: Briefe wechseln
Editorische Notiz
Impressum
Einleitung
Im Spätherbst 1902 war es – da saß ich im Park der Militärakademie in Wiener-Neustadt unter uralten Kastanien und las in einem Buch. So sehr war ich in die Lektüre vertieft, daß ich kaum bemerkte, wie der einzige Nicht-Offizier unter unseren Professoren, der gelehrte und gütige Akademiepfarrer Horaček, sich zu mir gesellte. Er nahm mir den Band aus der Hand, betrachtete den Umschlag und schüttelte den Kopf. »Gedichte von Rainer Maria Rilke?« fragte er nachdenklich. Hier und dort blätterte er dann auf, überflog ein paar Verse, schaute sinnend ins Weite und nickte schließlich. »So ist aus dem Zögling René Rilke also ein Dichter geworden.«
Und ich erfuhr von dem schmalen, blassen Knaben, den seine Eltern vor länger als fünfzehn Jahren in die Militär-Unterrealschule in Sankt-Pölten gegeben hatten, damit er später Offizier werde. Damals hatte Horaček als Anstaltsgeistlicher dort gewirkt, und er entsann sich des ehemaligen Zöglings noch genau. Er schilderte ihn als einen stillen, ernsten, hochbefähigten Jungen, der sich gerne abseits hielt, den Zwang des Internatslebens geduldig ertrug und nach dem vierten Jahr mit den anderen in die Militär-Oberrealschule vorrückte, die sich in Mährisch-Weißkirchen befand. Dort freilich erwies sich seine Konstitution als nicht widerstandsfähig genug, weshalb ihn seine Eltern aus der Anstalt nahmen und daheim in Prag weiterstudieren ließen. Wie sich sein äußerer Lebensweg dann weiter gestaltet hatte, wußte Horaček nicht mehr zu berichten.
Franz Xaver Kappus (1883–1966), Radierung von Josef Fellner, ca. 1930
Nach all dem ist es wohl begreiflich, daß ich noch in derselben Stunde beschloß, meine dichterischen Versuche an Rainer Maria Rilke zu senden und ihn um sein Urteil zu bitten. Noch nicht zwanzigjährig und knapp an der Schwelle eines Berufes, den ich meinen Neigungen gerade entgegengesetzt empfand, hoffte ich, wenn überhaupt bei jemandem, so bei dem Dichter des Buches ›Mir zur Feier‹ Verständnis zu finden. Und ohne daß ich es eigentlich gewollt hatte, entstand zu meinen Versen ein Begleitbrief, in dem ich mich so rückhaltlos offenbarte wie nie zuvor und niemals nachher einem zweiten Menschen.
Viele Wochen vergingen, bis Antwort kam. Das blau gesiegelte Schreiben zeigte den Poststempel von Paris, wog schwer in der Hand und wies auf dem Umschlag dieselben klaren, schönen und sicheren Züge, in denen der Text von der ersten Zeile bis zur letzten hingesetzt war. Damit hob mein regelmäßiger Briefwechsel mit Rainer Maria Rilke an, der bis 1908 währte und dann allmählich versickerte, weil mich das Leben auf Gebiete abtrieb, vor denen des Dichters warme, zarte und rührende Sorge mich eben hatte bewahren wollen.
Doch das ist nicht wichtig. Allein wichtig sind die zehn Briefe, die hier folgen, wichtig für die Erkenntnis der Welt, in der Rainer Maria Rilke gelebt und geschaffen hat, und wichtig auch für viele Wachsende und Werdende von heute und morgen. Und wo ein Großer und Einmaliger spricht, haben die Kleinen zu schweigen.
Berlin, im Juni 1929 Franz Xaver Kappus
Wiener Neustadt, Spätherbst 1902
Der erste Brief ist nicht erhalten.
Paris, am 17. Februar 1903
Sehr geehrter Herr,
Ihr Brief hat mich erst vor einigen Tagen erreicht. Ich will Ihnen danken für sein großes und liebes Vertrauen. Ich kann kaum mehr. Ich kann nicht auf die Art Ihrer Verse eingehen; denn mir liegt jede kritische Absicht zu fern. Mit nichts kann man ein Kunst-Werk so wenig berühren als mit kritischen Worten: es kommt dabei immer auf mehr oder minder glückliche Mißverständnisse heraus. Die Dinge sind alle nicht so faßbar und sagbar, als man uns meistens glauben machen möchte; die meisten Ereignisse sind unsagbar, vollziehen sich in einem Raume, den nie ein Wort betreten hat, und unsagbarer als alles sind die Kunst-Werke, geheimnisvolle Existenzen, deren Leben neben dem unseren, das vergeht, dauert.
Wenn ich diese Notiz vorausschicke, darf ich Ihnen nur noch sagen, daß Ihre Verse keine eigene Art haben, wohl aber stille und verdeckte Ansätze zu Persönlichem. Am deutlichsten fühle ich das in dem letzten Gedicht ›Meine Seele‹. Da will etwas Eigenes zu Wort und Weise kommen. Und in dem schönen Gedicht ›An Leopardi‹ wächst vielleicht eine Art Verwandtschaft mit diesem Großen, Einsamen auf. Trotzdem sind die Gedichte noch nichts für sich, nichts Selbständiges, auch das letzte und das an Leopardi nicht. Ihr gütiger Brief, der sie begleitet hat, verfehlt nicht mir manchen Mangel zu erklären, den ich im Lesen Ihrer Verse fühlte, ohne ihn indessen namentlich nennen zu können.
Sie fragen, ob Ihre Verse gut sind. Sie fragen mich. Sie haben vorher andere gefragt. Sie senden sie an Zeitschriften. Sie vergleichen sie mit anderen Gedichten und Sie beunruhigen sich, wenn gewisse Redaktionen Ihre Versuche ablehnen. Nun (da Sie mir gestattet haben, Ihnen zu raten) bitte ich Sie, das alles aufzugeben. Sie sehen nach außen und das vor allem dürften Sie jetzt nicht tun. Niemand kann Ihnen raten und helfen, niemand. Es gibt nur ein einziges Mittel. Gehen Sie in sich. Erforschen Sie den Grund, der Sie schreiben heißt; prüfen Sie, ob er in der tiefsten Stelle Ihres Herzens seine Wurzeln ausstreckt, gestehen Sie sich ein, ob Sie sterben müßten, wenn es Ihnen versagt würde zu schreiben. Dieses vor allem: fragen Sie sich in der stillsten Stunde Ihrer Nacht: muß ich schreiben? Graben Sie in sich nach einer tiefen Antwort. Und wenn diese zustimmend lauten sollte, wenn Sie mit einem starken und einfachen »Ich muß« dieser ernsten Frage begegnen dürfen, dann bauen Sie Ihr Leben nach dieser Notwendigkeit; Ihr Leben bis hinein in seine gleichgültigste und geringste Stunde muß ein Zeichen und Zeugnis werden diesem Drange. Dann nähern Sie sich der Natur. Dann versuchen Sie, wie ein erster Mensch, zu sagen, was Sie sehen und erleben und lieben und verlieren. Schreiben Sie nicht Liebesgedichte; weichen Sie zuerst denjenigen Formen aus, die zu geläufig und gewöhnlich sind: sie sind die schwersten, denn es gehört eine große, ausgereifte Kraft dazu, Eigenes zu geben, wo sich gute und zum Teil glänzende Überlieferungen in Menge einstellen. Darum retten Sie sich vor den allgemeinen Motiven zu denen, die Ihnen Ihr eigener Alltag bietet; schildern Sie Ihre Traurigkeiten und Wünsche, die vorübergehenden Gedanken und den Glauben an irgendeine Schönheit – schildern Sie das alles mit inniger, stiller, demütiger Aufrichtigkeit und gebrauchen Sie um sich auszudrücken, die Dinge Ihrer Umgebung, die Bilder Ihrer Träume und die Gegenstände Ihrer Erinnerung. Wenn Ihr Alltag Ihnen arm scheint, klagen Sie ihn nicht an; klagen Sie sich an, sagen Sie sich, daß Sie nicht Dichter genug sind, seine Reichtümer zu rufen; denn für den Schaffenden gibt es keine Armut und keinen armen gleichgültigen Ort. Und wenn Sie selbst in einem Gefängnis wären, dessen Wände keines von den Geräuschen der Welt zu Ihren Sinnen kommen ließen – hätten Sie dann nicht immer noch Ihre Kindheit, diesen köstlichen, königlichen Reichtum, dieses Schatzhaus der Erinnerungen? Wenden Sie dorthin Ihre Aufmerksamkeit. Versuchen Sie die versunkenen Sensationen dieser weiten Vergangenheit zu heben; Ihre Persönlichkeit wird sich festigen, Ihre Einsamkeit wird sich erweitern und wird eine dämmernde Wohnung werden, daran der Lärm der anderen fern vorüber geht. – Und wenn aus dieser Wendung nach innen, aus dieser Versenkung in die eigene Welt Verse kommen, dann werden Sie nicht daran denken, jemanden zu fragen, ob es gute Verse sind. Sie werden auch nicht den Versuch machen, Zeitschriften für diese Arbeiten zu interessieren: denn Sie werden in ihnen Ihren lieben natürlichen Besitz, ein Stück und eine Stimme Ihres Lebens sehen. Ein Kunstwerk ist gut, wenn es aus Notwendigkeit entstand. In dieser Art seines Ursprungs liegt sein Urteil: es gibt kein anderes. Darum, sehr geehrter Herr, wußte ich Ihnen keinen Rat, als diesen: in sich zu gehen und die Tiefen zu prüfen, in denen Ihr Leben entspringt; an seiner Quelle werden Sie die Antwort auf die Frage finden, ob Sie schaffen müssen. Nehmen Sie sie wie sie klingt an, ohne daran zu deuten. Vielleicht erweist es sich, daß Sie berufen sind, Künstler zu sein. Dann nehmen Sie das Los auf sich und tragen Sie es, seine Last und seine Größe, ohne je nach dem Lohne zu fragen, der von außen kommen könnte. Denn der Schaffende muß eine Welt für sich sein und alles in sich finden und in der Natur, an die er sich angeschlossen hat.
Vielleicht aber müssen Sie auch nach diesem Abstieg in sich und Ihr Einsames darauf verzichten ein Dichter zu werden; (es genügt, wie gesagt, zu fühlen daß man ohne zu schreiben leben könnte, um es überhaupt nicht zu dürfen.) Aber auch dann ist diese Einkehr, um die ich Sie bitte, nicht vergebens gewesen. Ihr Leben wird auf jeden Fall von da ab eigene Wege finden, und daß es gute, reiche und weite sein mögen, das wünsche ich Ihnen mehr als ich sagen kann.
Was soll ich Ihnen noch sagen? Mir scheint alles betont nach seinem Recht; und schließlich wollte ich Ihnen ja auch nur raten, still und ernst durch Ihre Entwicklung durchzuwachsen; Sie können sie gar nicht heftiger stören, als wenn Sie nach außen sehen und von außen Antwort erwarten auf Fragen, die nur Ihr innerstes Gefühl in Ihrer leisesten Stunde vielleicht beantworten kann.
Es war mir eine Freude, in Ihrem Schreiben den Namen des Herrn Professor Horaček zu finden; ich bewahre diesem liebenswürdigen Gelehrten eine große Verehrung und eine durch die Jahre dauernde Dankbarkeit. Wollen Sie ihm, bitte, von dieser meiner Empfindung sagen; es ist sehr gütig, daß er meiner noch gedenkt und ich weiß es zu schätzen.
Die Verse, welche Sie mir freundlich vertrauen kamen, gebe ich Ihnen gleichzeitig wieder zurück. Und ich danke Ihnen nochmals für die Größe und Herzlichkeit Ihres Vertrauens, dessen ich mich durch diese aufrichtige, nach bestem Wissen gegebene Antwort, ein wenig würdiger zu machen suchte, als ich es, als ein Fremder, wirklich bin.
Mit aller Ergebenheit und Teilnahme:
Rainer Maria Rilke
Wiener Neustadt, 24. Februar 1903
Euer Hochwohlgeboren,
Hochgeehrter Herr!
Es wird mir schwer zu sagen, mit welchen Empfindungen ich Ihren gütigen, von wärmster Teilnahme erfüllten Brief gelesen – und wieder gelesen habe. Sie nehmen sich meiner in einer Weise an, die ich kaum verdiene und deren ich mich kaum würdig zu erweisen vermag. Aber danken darf ich Ihnen wohl für jedes Ihrer Worte, für jeden Ihrer Ratschläge. Wie oft habe ich, wenn ich einem oder dem anderen literarischer Größen meine dichterischen Versuche übersandte, an eine Beantwortung meiner Bitte gedacht, die etwas von der stillen Größe aufrichtigen Wohlwollens an sich hat, dessen schönste und gütigste Offenbarung mir erst durch Ihre teilnehmende Zeilen zuteil wurde!
Würde ich nicht fürchten, durch mein Schreiben Sie allzusehr zu belästigen, so möchte ich gerne zu meinen vorigen Mitteilungen noch einiges hinzufügen. Vielleicht vergeben Sie mir bei dem Gedanken, daß ich demjenigen gegenüber, der die geheimsten Regungen meiner Seele mit Worten ausgelöst hat, nicht ganz still sein kann über das, was mich in meinen bangsten Stunden bewegt, mit freudiger Hoffnung erfüllt und wieder niederschmettert.
Ich werde, wenn ich mich ganz versammelt habe, tief in meine Seele blicken und mich fragen: muß ich schreiben? Aber dann werden die Gedanken kommen, die sich wie Schwalben jagen, vor denen ich mich fürchte. Ich habe oft diese stillen Stunden, die ungerufen kommen und sich nach der Sonne sehnen, die ihnen so fern ist. Und dann, nach solchen Nächten stehe ich müd und hoffnungslos vor der letzten Consequenz meines Denkens: Wer bin ich? Woher? Wohin? Und dann entstehen Worte, halb unfreiwillig, wie Erlösungen. Ist das Notwendigkeit?
O, ich werde mich ganz nach Ihrem so überaus freundlichen Worte halten, den ich schätze und ehre wie die Worte meiner Mutter. Ich werde keine Liebesgedichte schreiben, nichts was an hergebrachten Motiven mir in den Weg kommt. Ob ich die Dinge aber wie ein erster Mensch werde sehen können – weiß ich nicht. Ich fürchte, kaum. Denn ich habe einen bösen Gast in meiner Seele sitzen, den ich ebenso fürchte, wie die dunklen Stunden, diese pendelnden Fragen zwischen Wahnsinn und Phantasie: die Ironie. Sie fegt meine keuschsten Träume unbarmherzig von dem Spiegel meiner Seele, ihr Fuß zertritt, was ich mir im mühsamen Kampfe an meinem Glauben an Liebe und Schönheit erworben. Im gewöhnlichen Leben beherrscht sie mich, aber in geweihten Stunden nehme ich den Kampf mit ihr auf und siege. Meine Kunst ist rein von ihr. Ebenso kann aber nie der Alltag das Gepräge meiner Kunst tragen. Eine reine Kunst, die frei vom Staube des Alltags ist, ist meine Sehnsucht. Ihre Worte, hochverehrter Herr, haben mir zum erstenmale dieses Zauberreich erschlossen. Schon darum wäre ich Ihnen zu ewigem Danke verpflichtet. Daneben ziehen mich freilich auch Heine und Wedekind an, denn in dem Hohlspiegel ihrer Kunst erkenne ich meine eigenen Züge, wie sie werden könnten, aber nicht werden dürfen!
Aber ich ermüde Sie.
Vielleicht erlauben Sie mir, daß ich in der Zukunft manchmal, wenn es zu heftig um meine Ohren saust, ein paar Worte oder ein paar Lieder an Sie sende und um einige Zeilen bitte, deren ruhige Abgeklärtheit, wie diesmal, meine Seele für Wochen hinaus hilfreich unterstützt und beruhigt. Ich habe vielleicht zuviel über mich berichtet, vielleicht hat mich auch die Reflexion auf Irrwege geführt. Bitte seien Sie nachsichtig mit mir. –
Der Herr Professor Horaček hat Ihren auf mich so wohltätigen Brief mit Freude gelesen. Er hat noch alle die Schreiben aufbewahrt, die Euer Hochwohlgeboren aus Mähr. Weisskirchen an ihn richteten. Er war so gütig, mir auf meine Bitte hin, alles ihm an Ihnen, hochgeehrter Herr, Erinnerliche mitzuteilen. Es war mir – offen gestanden – eine leise Genugtuung zu erfahren, daß Euer Hochwohlgeborenen auch einmal die pessimistische Skepsis und Ruhelosigkeit meiner Jahre empfunden haben, denn damit eröffnet sich mir die Aussicht, vielleicht nach langen und gewiß schweren Kämpfen auch einmal von dem Gipfel abgeklärten Künstlertums auf Welt und Menschen zu schauen. –
Zum Schlusse danke ich Ihnen nochmals von ganzem Herzen für Ihren Brief. Ich werde denselben noch sehr, sehr oft zur Hand nehmen und wie ein stilles Gebet auf mich wirken lassen.
Vielleicht erinnern sich Euer Hochwohlgeboren auch in Zukunft manchmal
Ihres
ewig dankschuldigen
Franz Kappus
Viareggio bei Pisa (Italien), am 5. April 1903
Sie müssen es mir verzeihen, lieber und geehrter Herr, daß ich Ihres Briefes vom 24. Februar erst heute dankbar gedenke: ich war die ganze Zeit leidend, nicht gerade krank, aber von einer influenza-artigen Mattigkeit bedrückt, die mich unfähig machte zu allem. Und schließlich, als es gar nicht anders werden wollte, fuhr ich an dieses südliche Meer, dessen Wohltun mir schon einmal geholfen hat. Aber ich bin noch nicht gesund, das Schreiben fällt mir schwer, und so müssen Sie diese wenigen Zeilen nehmen für mehr.
Natürlich müssen Sie wissen, daß Sie mich mit jedem Briefe immer erfreuen werden, und nur nachsichtig sein gegen die Antwort, die Sie vielleicht oft mit leeren Händen lassen wird; denn im Grunde, und gerade in den tiefsten und wichtigsten Dingen sind wir namenlos allein und damit einer dem andern raten oder gar helfen kann, muß viel geschehen, viel muß gelingen, eine ganze Konstellation von Dingen muß eintreffen, damit es einmal glückt.
Ich wollte Ihnen heute nur noch zwei Dinge sagen: Ironie:
Lassen Sie sich nicht von ihr beherrschen, besonders nicht in unschöpferischen Momenten. In schöpferischen versuchen Sie es, sich ihrer zu bedienen, als eines Mittels mehr, das Leben zu fassen. Rein gebraucht ist sie auch rein und man muß sich ihrer nicht schämen; und fühlen Sie sich ihr zu vertraut, fürchten Sie die wachsende Vertraulichkeit mit ihr, dann wenden Sie sich an große und ernste Gegenstände, vor denen sie klein und hilflos wird. Suchen Sie die Tiefe der Dinge: dort steigt Ironie nie hinab, – und wenn Sie so an den Rand des Großen führen, erproben Sie gleichzeitig, ob diese Auffassungsart einer Notwendigkeit Ihres Wesens entspringt. Denn unter dem Einfluß ernster Dinge wird sie entweder von Ihnen abfallen (wenn sie etwas Zufälliges ist) oder aber sie wird (so sie wirklich eingeboren Ihnen zugehört) erstarken zu einem ernsten Werkzeug und sich einordnen in die Reihe der Mittel, mit denen Sie Ihre Kunst werden bilden müssen.
Und das zweite, was ich Ihnen heute erzählen wollte ist dieses:
Von allen meinen Büchern sind mir nur wenige unentbehrlich und zwei sind sogar immer unter meinen Dingen, wo ich auch bin. Sie sind auch hier um mich: die Bibel, und die Bücher des großen dänischen Dichters Jens Peter Jacobsen. Es fällt mir ein, ob Sie seine Werke kennen. Sie können sich dieselben leicht verschaffen, denn ein Teil derselben ist in Reclams Universal-Bibliothek in sehr guter Übertragung erschienen. Verschaffen Sie sich das Bändchen ›Sechs Novellen‹ v. J. P. Jacobsen und seinen Roman: ›Niels Lyhne‹ und beginnen Sie des ersten Bändchens erste Novelle, welche ›Mogens‹ heißt. Eine Welt wird über Sie kommen, das Glück, der Reichtum, die unbegreifliche Größe einer Welt. Leben Sie eine Weile in diesen Büchern, lernen Sie davon, was Ihnen lernenswert scheint, aber vor allem lieben Sie sie. Diese Liebe wird Ihnen tausend und tausendmal vergolten werden und, wie Ihr Leben auch werden mag, – sie wird, ich bin dessen gewiß, durch das Gewebe Ihres Werdens gehen als einer von den wichtigsten Fäden unter allen Fäden Ihrer Erfahrungen, Enttäuschungen und Freuden.
Wenn ich sagen soll, von wem ich etwas über das Wesen des Schaffens, über seine Tiefe und Ewigkeit erfuhr, so sind es nur zwei Namen, die ich nennen kann: den Jacobsens, des großen, großen Dichters und den Auguste Rodins, des Bildhauers, der seinesgleichen nicht hat unter allen Künstlern, die heute leben.
Und alles Gelingen über Ihre Wege!
Ihr:
Rainer Maria Rilke
Temesvár, 15. April 1903
Hochgeehrter Herr!
Ihr gütiger Brief war mir die schönste Osterfreude. Leider kann ich Ihnen für Ihre vielen, freundlichen Worte nur meinen wärmsten Dank sagen, einen Dank, der aus meiner tiefsten Seele kommt.
Sehr betrübte mich die Nachricht, daß Sie körperlich leiden. Die laue Blütenluft des Südens wird Sie aber wieder gesund machen, Italien ist ja die ewige Wohltäterin der kranken Kinder des Nordens, die die Sonnensehnsucht im Herzen tragen.
Was Sie mir, hochgeehrter Herr, über die Ironie und ihr Verhältnis zum Leben und zur Kunst zu sagen so gütig waren, werde ich gewiß beachten. Es mag ja sein, daß sie nicht ein Teil von meinem Ich ist, sondern lediglich auf die überstürzte und kritiklose Vergötterung Heines zurückzuführen ist, dem bis vor wenigen Jahren meine bewundernde Verehrung galt. Seitdem ich aber gelernt habe, daß mir das Erlebnis, u. zw. das reinste und heiligste Erlebnis zum Kunstwerk werden darf, hat sich mein Enthusiasmus immer mehr abgekühlt, denn so bitter und sterbenstraurig kann es in keines Menschen Seele aussehen, auch wenn das Martyrium eines langen Siechtums sein Schaffen beeinflußt. Und so mag vielleicht etwas von Heine’s unheimlich-düsterer Weltauffassung an meiner, damals so überaus eindrucksfähigen Seele haften geblieben sein.
Wie ganz anders als Heine weiß Jacobsen seine Leiden dichterisch zu gestalten! Ich bin Ihnen, hochgeehrter Herr, zu dem größten Danke verpflichtet, daß Sie mich mit diesem Künstler bekannt gemacht haben. Ich habe bisher das Bändchen ›Sechs Novellen‹ gelesen und wohl auch miterlebt. Die Naivität und die psychologische Ausgestaltung seiner Motive hat mich zur Bewunderung gezwungen. Am tiefsten ist – glaube ich – Jacobsen in ›Mogens‹, am gewaltigsten in ›Die Pest in Bergamo‹. Und dann, in zweiter Linie ist er Maler, vielleicht noch größer als Dichter. Wie bei keinem anderen Künstler habe ich bei ihm empfunden, daß man mit seinen Gestalten leben, denken und fühlen muß, nicht aber bloß für sie hoffen oder fürchten. Die dem ›Niels Lyhne‹ vorausgeschickte ästhetisch-biographisch-kritische Einleitung hat mir in mancher Hinsicht die Augen geöffnet. Das Stimmungsbild ›Hier sollten Rosen stehen‹ hat aber auf mich ganz anders gewirkt, als der Verfasser jener Studie es beurteilt hat. Ich finde nichts von Manirismus darin. Was vielleicht so genannt werden könnte, hat auf mich durchaus den Eindruck des Einfachen, Naiven, Schönen gemacht. Doch vielleicht liegt diese Differenz an meiner Unreife.
Soweit ich bis heute Jacobsen kenne, hat er in mir das Bewußtsein geweckt, daß er bis an das Ende meines Lebens einer meiner teuersten und wertesten Gefährten bleiben wird. Er rührt an die tiefsten Fragen, und die Antwort klingt in leisen Untertönen mit, für wenige hörbar, für noch wenigere vielleicht verständlich. Das ist wohl auch der Grund, warum man seinen Namen seltener nennen hört, als den vergänglicher Tagesgrößen.
Ich weiß und hoffe, er wird mir den tiefsten und verborgensten Teil meines Selbst erklären. Und darum danke ich Ihnen noch einmal von ganzem Herzen dafür, daß Sie mich an diesen Großen, Stillen gewiesen haben. –