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**Ein verborgenes Schicksal, ein dunkler Fluch und eine tödliche Gabe** The Secret of Kingdoms Keylah lebt im Land Benoth, das zwischen zwei mächtigen Königreichen liegt. Allein die hohen Mauern der Siedlungen schützen die Menschen vor den Gefahren der dunklen Wälder. Aufgrund ihrer Fähigkeit, Gefahr zu spüren, wagt sich Keylah dennoch nach draußen. Doch dann muss sie plötzlich fliehen, als sie einer Verschwörung auf die Spur kommt. Dabei trifft sie auf den unnahbaren Einzelgänger Deven, ein Mann, der sie insgeheim fasziniert, vor dem sie sich jedoch fürchten sollte, da er zu den Ausgestoßenen gehört. Aber Keylah hat keine andere Wahl, als ihm zu vertrauen ... The Curse of Crows Naru wächst im prunkvollen Schloss eines mächtigen Königreichs auf. Es wäre ein beneidenswertes Dasein, wenn nicht ihre immer häufiger auftretenden unheilvollen Visionen wären. Derweil wird die Idylle des Königreichs durch mysteriöse Angriffe überschattet und es ist fast zu spät, als Naru begreift, wie ihre Visionen mit den Anschlägen zusammenhängen. Das Reich schwebt in größter Gefahr und um es zu retten, muss sie ihren vorherbestimmten Seelenverwandten finden … The Mystery of Shadows Neela lebt in dem gewaltigen Mitah-Gebirge, das sich als letzte Mauer zwischen den Ausgestoßenen in Benoth und dem feindlichen Königreich erhebt. Zusammen mit ihrem Volk ist sie für den Schutz der Bergkette verantwortlich. Neela ist eine der entschlossensten Kämpferinnen ihrer Generation – doch dann begegnet ihr Jayden, die eine Person, die ihrer todbringenden Nähe standhält. Trotz aller Hindernisse kommen sich die beiden näher, bis Jayden plötzlich verschwindet … Eine gefährliche Suche nach der eigenen Bestimmung und der großen Liebe. //Diese E-Box enthält folgende Romane: -- Band 1: The Secret of Kingdoms -- Band 2: The Curse of Crows -- Band 3: The Mystery of Shadows// Alle Bände der Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden und haben ein abgeschlossenes Ende. Dies ist die Wiederauflage der »In Between«-Trilogie von Kathrin Wandres.
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Impress Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH, Völckersstraße 14-20, 22765 Hamburg © der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2024 Text © Kathrin Wandres, 2018 Coverbild: Adodbe Stock / ©idealeksis / shutterstock. com / ©detchana wangkheeree / ©DONOT6_STUDIO / ©Nikolay_Alekhin / ©Golubovy / ©Viktor Romaniuk / ©Ukki Studio / ©Red Umbrella and Donkey / ©EAKARAT BUANOI / ©New Africa Covergestaltung der Einzelbände: Giessel Design ISBN 978-3-646-61120-5www.impressbooks.de
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Kathrin Wandres, geboren 1981, machte 2001 ihr Abitur in Tübingen und studierte bis 2003 in Stuttgart an der Fachhochschule für Technik Mathematik und Informatik. Von 2004 bis 2006 besuchte sie das Theologische Seminar Beröa, nahe Frankfurt. Mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie in Göppingen. Seit ihrer Kindheit liebt sie es, sich fremde Welten zu erdenken und in ihnen zu versinken.
Vita
Band 1: The Secret of Kingdoms
Band 2: The Curse of Crows
Band 3: The Mystery of Shadows
Impress
Die Macht der Gefühle
Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.
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Kathrin Wandres
The Secret of Kingdoms (Broken Crown 1)
**Ein verborgenes Schicksal**
Keylah lebt im Land Benoth, das zwischen zwei mächtigen Königreichen liegt. Allein die hohen Mauern der Siedlungen schützen die Menschen vor den Gefahren der dunklen Wälder. Aufgrund ihrer Fähigkeit, Gefahr zu spüren, wagt sich Keylah dennoch nach draußen. Doch dann muss sie plötzlich fliehen, als sie einer Verschwörung auf die Spur kommt. Verzweifelt macht sie sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit und der Wahrheit. Dabei trifft sie auf den unnahbaren Einzelgänger Deven, ein Mann, der sie insgeheim fasziniert, vor dem sie sich jedoch fürchten sollte, da er zu den Ausgestoßenen gehört. Aber Keylah hat keine andere Wahl, als ihm zu vertrauen, denn es steht nicht nur ihr eigenes Schicksal auf dem Spiel, sondern auch das der Königreiche …
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Danksagung
Die orangerote Sonne hing bereits bedrohlich tief am Himmel. Sie raste dem Horizont entgegen, als könnte sie es nicht erwarten, dieses Land zu verlassen, als hätte selbst sie Angst vor dem, was die Nacht mit sich bringt. Nur noch ein paar Minuten verblieben. Dann würde der Tag das Land Benoth verlassen und der Finsternis Platz gemacht haben. Ich wusste, mir blieb nicht mehr viel Zeit. Bis zur Ausgangssperre, die mit Einbruch der Dunkelheit beginnen würde, könnte ich es kaum bis nach Hause schaffen. Dennoch verharrte ich auf meinem Sitz und genoss die Ruhe hoch oben im Baum. Von hier aus wirkte der Wald kleiner, alles schien friedlicher und ungefährlicher. Ich fühlte mich dem Himmel nahe und das gab mir ein Stück Sicherheit. Und Freiheit. Es war »mein Baum«. Zumindest war er es, soweit ich zurückdenken konnte. Er erinnerte mich an meine Mutter. Oder an meine Vorstellung von ihr, denn bewusste Erinnerungen an sie hatte ich keine. Schon als kleines Kind war ich hierhergekommen. Der Baum war der größte in diesem Teil des Waldes und strahlte eine besondere Ruhe aus, als hätte er schon viel gesehen, ertragen, durchlitten. Seine Zweige erinnerten mich an offene Arme, die mich trösten und beschützen wollten. Etwas, das ich nie gekannt und erfahren hatte. Etwas, das ich von Menschen auch nicht wollte, denn Menschen waren unzuverlässig und unberechenbar. Irgendwann hatte ich angefangen, es mir auf meinem Baum einzurichten. Ich hatte kleine Baumhäuser gebaut, auch wenn man sie anfangs noch kaum so nennen konnte, und je älter ich wurde, desto weiter oben siedelte ich sie an. Ich erinnerte mich noch genau an den Triumph, als ich es endlich schaffte, mein Haus völlig im Baum verschwinden zu lassen, sodass es vom Boden aus nicht zu sehen war. Ich wurde zum Teil des Baumes. Es fühlte sich an, als hätte ich eine neue Welt geschaffen, meine Welt, unsichtbar und abgetrennt von allen anderen. Ich liebte die Vorstellung, dass es irgendwo noch eine andere Welt geben könnte, die nicht so dunkel, gefährlich und einsam war wie meine hier. Es war äußerst unwahrscheinlich, das wusste ich, aber ich trug die Hoffnung daran wie einen Schatz in meinem Herzen.
So wurde mein Baum der einzige Ort, an dem ich mich wirklich sicher fühlte. Und doch wusste ich, dass es eine Lüge war. Sicherheit war etwas, das in dieser Welt nicht existierte, weder am Tag und erst recht nicht in der Nacht. In ein paar Minuten würde dies zum gefährlichsten Ort im ganzen Land werden, genau wie alles draußen in den dunklen Wäldern. Niemand wollte nachts hier sein. Nach Sonnenuntergang trat die Ausgangssperre in Kraft, die es allen verbot, sich außerhalb der Dörfer aufzuhalten. Denn nur innerhalb dieser geschützten Dörfer war Leben, genauer gesagt Überleben, möglich, weshalb sie auch Lebensinseln genannt wurden. Mit hohen Mauern und Feuertürmen hofften die Menschen, die Gefahren der Wälder auszusperren. Und bemerkten gar nicht, dass sie sich damit selber einsperrten. Es war eine der ersten Regeln, die Kinder im Land Benoth lernten. »Die dunklen Wälder sind gefährlich!«, »Da draußen lauert der Tod!«, »Bei Dunkelheit erwachen die Wesen der Nacht!«. Diese Sätze wurden uns eingelöffelt wie Babybrei: »Eins, und noch eins, und noch eins für Oma …«. Sie hingen mir zum Hals raus. Einander die Freiheit rauben für ein vermeintliches Stück an Sicherheit? Das ergab für mich keinen Sinn.
Die Kronen der Bäume waren jetzt nur noch mit winzigen goldenen Kugeln vom Licht der untergehenden Sonne geschmückt. Ich spürte die näherkommende Dunkelheit wie eine Welle über das Land hereinströmen. Und dann spürte ich auch die Kälte. Sie kroch den Baum hinauf wie ein Ameisenvolk auf seiner Straße. Ich erschrak, als sich die Härchen meiner Arme aufstellten und meine Hände anfingen zu zittern. Ich hatte den Rückweg zu lang hinausgezögert. Jetzt war es zu spät und ich schalt mich selbst für meinen Leichtsinn. Schnell streifte ich meine schwarze Jacke über mein dunkles T-Shirt und zog mir die Kapuze tief ins Gesicht. Nur wenn man selbst zur Dunkelheit wurde, hatte man bei Nacht hier draußen eine Chance. Die Finsternis kam nun immer schneller. Unaufhaltsam verlor das Tageslicht mehr und mehr an Kraft. »Wo Finsternis ist, wirst du kein Licht finden«, hatte meine Großmutter mir einmal gesagt und mal wieder wurde mir bewusst, wie recht sie damit hatte. Ein kalter Wind kam auf und ich wusste sofort, dass dies kein natürlicher Wind war. Es war der kalte Wind der Gefahr, den nur ich spüren konnte. Ich hockte mich in eine Ecke meines Baumhauses, versuchte so schwarz wie die Nacht zu werden und hoffte, dass, was immer dort unten mit dieser Kälte näherkam, mich nicht entdecken würde. Meine Hände zitterten nun immer stärker und eine Gänsehaut hatte sich auf meinem ganzen Körper ausgebreitet. Dann kam der Nebel, der letzte Vorbote der nahenden Gefahr, umhüllte den Baum und damit auch mich. Jedes Mal, wenn der Nebel kam, konnte ich nur noch versuchen, nicht mehr zu atmen und mich regungslos zu verhalten. Das Kribbeln auf meiner Haut wurde immer stärker und die Stille im Wald erdrückte mich – wann hatten die Vögel aufgehört zu zwitschern? Mein Herz schlug so laut, dass ich Angst hatte, es könnte mich verraten, als ich leise Schritte unten auf dem Waldboden hörte. Es mussten viele Füße sein, die dort unten entlangliefen, nein, schlichen. Ich musste mich sehr anstrengen, sie von einem gewöhnlichen Blätterrascheln zu unterscheiden. Wer immer dort unten war, wusste, wie man sich unauffällig heranschlich. Einmal mehr war ich dankbar für meine Fähigkeit, nahende Gefahr zu spüren – wobei ich gar nicht wusste, wem ich dafür zu danken hatte. Ich versuchte, so flach wie möglich zu atmen, während ich lautlos zuerst einen dunklen Sichtschutz und dann ein paar Äste zur Seite schob, sodass eine kleine Lücke, nicht mehr als zwei Finger breit, entstand, durch die ich hinunter bis zum Waldweg spähen konnte. Ich kniff meine Augen zusammen, um etwas erkennen zu können. Zunächst schien alles so schwarz wie die Nacht, denn am Waldboden brach die Nacht früher herein, bis ich bemerkte, dass sich das Schwarz dort unten bewegte. Ich vergaß zu atmen, als sich in der Dunkelheit Umrisse abzeichneten: Wölfe! Dort unten liefen Wölfe, viele Wölfe. Sie hatten tiefschwarzes Fell und das nicht nur, weil es dunkel war. So groß hatte ich mir Wölfe nicht vorgestellt. Sie waren unnatürlich groß. Und genau das waren sie auch: unnatürlich! Aufgrund der Kälte wusste ich es mit Gewissheit. Das dort unten waren fremde Wesen und obwohl ich sie noch nie zuvor gesehen hatte, wusste ich, dass es Späher waren.
Die Kälte kroch mir in die Kleidung und ich hoffte inständig, dass sie mich nicht verraten würde. Eine halbe Ewigkeit verstrich, bis die Wölfe und mit ihnen die Kälte wieder verschwanden. Ich wartete noch eine Weile, damit sich auch meine letzten Härchen wieder legten. Erleichtert stieß ich einen lautlosen Seufzer aus. Stille und Finsternis erfüllten die dunklen Wälder Benoths, doch in meinen Gedanken schrie eine Frage gegen diese Stille an: Welches Ziel hatten diese Späher? Ich wusste nicht viel über sie, doch sie waren sicher nicht zufällig in dieser Gegend, sie taten nie etwas ohne einen Zweck. Es gab nur einen Menschen, der mir diese Fragen beantworten konnte. Aber heute nicht mehr, die Dunkelheit stahl alles Leben aus diesem Land. Meine Fragen würden bis morgen warten müssen.
Rasch machte ich mich auf den Nachhauseweg. Dieser Teil des Waldes war wie ein Zuhause für mich, deswegen hatte ich auch nach Sonnenuntergang keine Schwierigkeiten den Weg zu finden. Ich schaffte ihn in der Hälfte der üblichen Zeit. Die zuvor gespürte Kälte trieb mich voran.
Ich sah das Licht meiner Heimat-Lebensinsel Galmud schon von weitem. Die Leuchtfeuer für die Nacht brannten bereits mit voller Stärke auf den hohen Türmen, die in regelmäßigen Abständen aus der Schutzmauer um Galmud hervorragten. Schon nachmittags begannen die Turmwächter die Feuer zu schüren, denn nur Licht und Wärme hatten die Macht, die Wesen der Nacht und andere Gefahren der dunklen Wälder fernzuhalten. Das Tor schloss eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang, sodass ich gerade noch rechtzeitig hindurchschlüpfen konnte. Leider nicht unbemerkt …
»Keylah!« Mit einem Seufzer, weil ich erwischt worden war, drehte ich mich um und ging ein paar Schritte auf die dunkle Gestalt zu, die im Schatten eines Torflügels stand. Auch ohne ihn genau zu erkennen, wusste ich, dass es der Turmwächter Agron war. Mein Glück, denn Agron kannte mich schon mein ganzes Leben lang und ließ mich oft gewähren, wo andere Turmwächter schon längst den Regelverstoß gemeldet hätten. Ich streifte die Kapuze meiner Jacke vom Kopf, sodass meine dunklen Haare über die Schulter nach vorne fielen.
»Nun sag schon deinen Spruch, Agron!« Agron war ein sehr gewissenhafter Turmwächter und nahm diese Aufgabe äußerst ernst. Die Turmwächter wurden sehr geschätzt, denn sie trugen große Verantwortung. Sie sorgten dafür, dass das Tor zur richtigen Zeit geschlossen wurde und dass keiner unerlaubt hinein- oder hinausging. Außerdem bewachten sie die zahlreichen Türme innerhalb der Mauern, damit sie niemand unbefugt betrat. Auf den Türmen sorgten die Feuermeister dafür, dass die Feuer die ganze Nacht brannten.
»Wozu? Es scheint, als wärest du die Einzige, die immun ist gegen die Warnungen vor den Gefahren da draußen. Im Gegenteil, manchmal hab ich den Eindruck, dass gerade das dich noch mehr anspornt. Es ist schon das dritte Mal in dieser Woche, dass ich dich nach Einbruch der Dunkelheit hier erwische. Das dritte Mal! Ganz zu schweigen von den letzten Wochen!«
Agron schien sich wirklich zu ärgern. Er war ein großer kräftiger Mann und wenn man ihn nicht kannte, wollte man ihm nicht draußen im Dunkeln begegnen. Doch im Grunde war er ein herzensguter Mensch und wenn er wütend wurde, begann er nervös mit den Augen zu zwinkern. So wie jetzt.
»Schon gut, es hat ja sonst keiner gemerkt!«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen.
Als Kind war er oft gehänselt worden, weil er viel größer als alle Gleichaltrigen war, aber zugleich der Ängstlichste. Und obwohl er fünf Jahre älter war als ich, war ich oft für ihn eingesprungen, hatte ihn verteidigt und zu ihm gehalten. In gewisser Weise war er mein bester Freund.
»Weißt du, was passiert, wenn einer herausfindet, dass ich dich decke? Meinen Wachposten würd’ ich verlieren und ich liebe meine Aufgabe, sie ist …«
»… Familientradition, eine Ehre, ja, ich weiß …«, vervollständigte ich seine immer gleichen Sorgen, die ihn schon sein Leben lang begleiteten.
Aber Agron schien erst richtig in Fahrt zu kommen. »Und nicht nur meinen Posten würde ich verlieren, wahrscheinlich würde ich verurteilt werden und als Ausgestoßener enden …«
Ich rollte mit den Augen und unterdrückte einen Seufzer. »Jetzt übertreibst du aber. Du hast weder jemanden umgebracht noch Hochverrat begangen, warum sollte man dich ausstoßen?«
Die Ausgestoßenen zählten zum Abschaum des Landes, im Grunde wurden sie gar nicht mehr als Menschen betrachtet. Sie bekamen ein Brandmal auf die Stirn, sodass alle sie sofort erkennen konnten, und wurden unwiderruflich aus den Dorfgemeinschaften verbannt, ohne eine Möglichkeit der Rückkehr. Sie lebten draußen in den dunklen Wäldern Benoths, viele überlebten nur kurze Zeit, und die, die überlebten, stellten eine noch größere Gefahr dar. Niemand wollte einem Ausgestoßenen begegnen.
»Und wenn dein Vater das erfahren würde, dann wäre ich als Ausgestoßener sogar noch besser dran.« Agrons Stimme zitterte.
»Aber er wird es nicht erfahren, weil weder du noch ich es ihm sagen werden, nicht wahr, Agron?«
Ich sah ihn durchdringend an. Nein, mein Vater durfte es unter keinen Umständen erfahren. Jeder im Dorf fürchtete ihn. Er war nicht der Typ Mensch, der viele Freunde hatte. Ehrlich gesagt wusste ich nicht, ob er überhaupt einen hatte.
Aber deswegen sollte ich mich schleunigst auf den Weg nach Hause machen. Also verabschiedete ich mich von Agron, nachdem er sich wieder etwas beruhigt hatte, und überließ ihn seiner wichtigen Aufgabe.
Die sogenannte erste Ausgangssperre begann mit der Dämmerung, infolge derer es allen verboten war, sich außerhalb der Lebensinseln aufzuhalten. Eine Stunde nach Sonnenuntergang trat die absolute Ausgangssperre in Kraft, die jedem gebot, sich im Haus aufzuhalten. Nur den diensthabenden Turmwächtern und den Kontrollwachen war es erlaubt, sich im Freien aufzuhalten, denn sie sorgten für unsere Sicherheit. Zumindest versuchte man uns das weiszumachen. Aber genau genommen wusste jeder, dass es so etwas wie Sicherheit nicht gab, nicht in dieser Welt.
Manchmal träumte ich von solch einer Welt, einer Welt ohne Dunkelheit, ohne Gefahr, ohne Kälte. Ich träumte von ausgiebigen Spaziergängen im Wald, vom Schlafen unter freiem Himmel, von einer Sonne, die niemals unterging. Ich wusste, dass diese Welt nur in meinen Gedanken existierte, aber besser dort als nirgendwo.
Hier im Land Benoth existierte sie jedenfalls nicht. Benoth bestand hauptsächlich aus Flüssen und Wäldern – den sogenannten dunklen Wäldern, denn auch bei Tag schaffte es nur selten ein Sonnenstrahl bis zum Waldboden –, durchsetzt von den ummauerten Lebensinseln der Menschen. Doch auch die Mauern und Schutzfeuer der Nacht boten nur einen mäßigen Schutz gegen die Lebewesen und Gefahren des Waldes. Die Wälder waren die Heimat vieler Kreaturen, einige davon harmlos und die meisten von ihnen sehr lichtscheu, weswegen sie sich nur nachts aus der Dunkelheit des Waldes heraustrauten. Ich kannte die Schauermärchen, die über die Wesen der Nacht berichtet wurden. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob sie wahr waren oder nur die Angst der Menschen widerspiegelten. Denn Angst ist ein großer Märchenerzähler. Ich würde sie erst glauben, wenn ich selbst solch einem Wesen der Nacht begegnet war.
Im Süden grenzte Benoth an die Berge, hinter denen sich das Land Jissurim befand. Die nördliche Grenze bildete das Meer und irgendwo dort, wahrscheinlich, wenn das Meer zu Ende war, sollte es ein Land mit Namen Kadosch geben. Deshalb wurde Benoth auch das Zwischenland genannt. Noch nie hatte ich von jemandem gehört, der in Kadosch gewesen war. Es war das ferne Land hinter dem großen Meer – ein unbekanntes Land mit einem unbekannten König in einer unbekannten Welt. Das Meer hatte ich noch nie gesehen, doch ich träumte davon, denn es löste ein Gefühl von Freiheit in mir aus.
Der Rest des Abends verlief in gewohnter Routine. Ich traf noch vor meinem Vater zu Hause ein, was die günstigste aller möglichen Varianten war. Auf dem Weg in meine Kammer schnappte ich mir zwei Äpfel und eine Scheibe Brot und konnte mich einschließen, bevor mein Vater, meist kurz vor dem Inkrafttreten der absoluten Ausgangssperre, unsere Hütte betrat und die Tür von innen verriegelte. »Keylah, bist du zu Hause?«, rief er dann, worauf ich meist mit einem »Ja, Dad, ich schlafe schon!« antwortete, und damit war unsere abendliche Konversation schon beendet. Was sonst hätten wir uns auch sagen sollen?
Seit dem Tod meiner Mutter – ich war damals zwei Jahre alt – lebten mein Vater Jetur und ich alleine hier in dieser Hütte: Und das waren nun bald sechzehn Jahre. Wir hatten uns nie viel zu sagen und so hatte sich bei uns eine Alltagsroutine eingespielt, die auf recht wenig Konversation basierte – was uns beiden mehr als recht war. Mein Vater war der typische Einzelgänger: zurückgezogen, verschlossen und nicht besonders gesellschaftstauglich. Einfach nicht der Typ Mensch, in dessen Gegenwart man sich gerne aufhielt. Ich fühlte mich immer ein wenig unbehaglich in seiner Nähe, ohne genau erklären zu können, warum. Obwohl er mein Vater war, empfand ich ihn als fremd.
Auch der nächste Tag begann mit seinem gewohnten Ablauf. Doch noch heute sollte eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt werden, von der ich im Moment noch nichts ahnte, nein, in Wirklichkeit hatte sie bereits begonnen.
Die ersten Sonnenstrahlen läuteten das Ende der Nacht ein und erweckten die Bewohner Galmuds zum Leben. Die Schutzfeuer der Nacht verglühten und die Stille aus Besorgnis und Anspannung wich der Heiterkeit, die das Licht mit sich brachte. Das Zwitschern eines Vogels weckte mich. Er hatte sich den Baum vor meinem Fenster für sein morgendliches Konzert ausgesucht. Noch bevor ich die Augen aufschlug, waren die Gedanken an meine gestrige Begegnung mit den schwarzen Wölfen wieder da. Auch wenn ich die Erinnerung daran im Licht dieses neuen Tages nur noch wie hinter einer Nebelwand sah, so konnte ich doch die Kälte der Gefahr förmlich noch auf meiner Haut spüren. Schon lange nicht mehr hatte ich so eine intensive Kälte gespürt. Das letzte Mal war im Herbst gewesen, als eine wilde Hundemeute von Streunern meinen Lebensmittelvorrat in der Nähe meines Baumes ausgebuddelt hatte und ich gerade im Begriff gewesen war mein Baumhaus zu verlassen. Ohne die Kälte hätte ich sie nicht rechtzeitig entdeckt.
Schon als Kind war ich anders als die anderen Kinder. Ich hatte kein normales Kälteempfinden, die Kälte der starken Herbstwinde machte mir nichts aus. Mir wurde kalt, wenn ich mich einem Wespennest näherte oder wenn ich im Begriff war giftige Beeren zu essen oder wenn ein tollwütiger Hund auf mich zusteuerte. Dann bekam ich eine Gänsehaut und meine Hände begannen zu zittern, ein kalter Wind kündigte die näherkommende Gefahr an und wenn ich mich in ihrer unmittelbaren Nähe befand, kam der Nebel – dann war eine Flucht nicht mehr möglich. Mein Vater schien meine Störung, wie er es nannte, früher entdeckt zu haben als ich, als hätte er es bereits geahnt. Er verbot mir, darüber zu sprechen, sagte, es würde die anderen Kinder eifersüchtig machen, und drohte mir damit, dass ich Galmud verlassen müsste, wenn meine Fähigkeit anderen bekannt würde. So schwieg ich.
Doch der Vorfall von gestern Nacht war anders. Diese Art intensiver und durchdringender Kälte hatte ich noch nie zuvor gespürt. In Benoth gab es keine Wölfe und wenn man doch welche zu sehen glaubte, waren es Späher aus dem Land Jissurim, die sich in Wolfsgestalt tarnten.
Jetzt, am Morgen danach, hatte ich nur ein Ziel. Es gab allein eine Person, die hier Rat wusste.
Mein Vater stand bereits in seinen schwarzen Arbeitsstiefeln vor der Küchenanrichte und suchte die letzten Reste an Essbarem zusammen. Ich trat an den kleinen Küchenecktisch und schnappte mir den letzten Apfel als Frühstück. Ein leichtes Kopfnicken Jeturs sollte mir als Begrüßung dienen, ohne dass er dabei aufschaute. Eine Weile aßen wir schweigend vor uns hin, als mich ein plötzlicher Gedanke etwas sehr Abwegiges tun ließ.
»Ich hab gestern Späher draußen im Wald gesehen!«, sagte ich so beiläufig, als würde ich über das Wetter reden.
Obwohl wir das natürlich nie taten. Unauffällig und aus den Augenwinkeln heraus beobachtete ich ihn.
Für den Bruchteil einer Sekunde verengten sich seine Augen zu Schlitzen und sein Mundwinkel zuckte. Aber es war kaum mehr als eine flüchtige Wahrnehmung und schon im nächsten Moment war ich mir nicht mehr sicher, ob ich es mir nur eingebildet hatte.
Dann fing er schallend an zu lachen. »Späher? Die wurden seit mindestens hundert Jahren nicht mehr in dieser Gegend gesehen. Mach dich nicht lächerlich!«, stieß er hervor und dabei zuckte sein linker Mundwinkel, wie immer, wenn er log. Dann schnappte er sich seine Arbeitsjacke und verließ immer noch lauthals lachend die Hütte.
Ein kalter Luftzug streifte mich und ich rieb mir die Arme. Erschrocken starrte ich auf die aufgestellten Härchen. Und zusammen mit meinem Vater verzog sich auch die plötzliche Kälte wieder aus dem Zimmer.
Es gab nicht viel, das ich über meine Mutter wusste, und noch weniger, an das ich mich erinnern konnte. Genau genommen hatte ich keine konkreten Erinnerungen an sie. Es war mehr ein Gefühl, das mir geblieben war. Ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, das ich nur bei ihr erlebt hatte, etwas, das ich mit ihr verloren hatte. Ich hatte längst aufgehört, weiter danach zu suchen, und doch hatte ich tief in mir drin die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass es irgendwo auf dieser Welt – oder vielleicht in einer anderen? – einen Ort gab, an dem man das finden konnte: Sicherheit, Geborgenheit, Ruhe. Einen Ort, vielleicht auch einen Menschen, da war ich mir nicht sicher. Aber im Moment war ich von beidem weit, weit weg.
Ich näherte mich der kleinen versteckten Hütte im Wald, in der meine Großmutter Bhanuja lebte. Sie war eine der wenigen noch verbliebenen Einsiedler in unserem Land, eine derjenigen, die aus freien Stücken den Ausschluss aus der Dorfgemeinschaft gewählt und sich für ein Leben außerhalb der Lebensinseln entschieden hatten. So wohnte sie zurückgezogen in ihrer Hütte und wenn man nicht genau wusste, wo man sie zu suchen hatte, hatte man keine Chance, sie hier draußen zu finden. Als kleines Kind hatte sie mir verschlüsselte Landkarten gezeichnet, damit ich sie besser finden könnte, ohne mich hier draußen zu verlaufen. Diese Zeichnungen hatte ich längst vernichtet. Mittlerweile kannte ich die Waldgebiete um meine Lebensinsel in- und auswendig. Und so nahm ich jedes Mal einen anderen Weg, wenn ich meine Großmutter besuchte.
Ich war sehr gern bei ihr. Man lernte stets neue Dinge, denn sie war eine sehr weise Frau. Als Kind saß ich oft bei ihr und weinte, weil ich anders war als die anderen Kinder. Ich wusste es noch wie heute: Ich war gerade mal acht Jahre alt, als ein paar Kinder aus Galmud mich zu einer Mutprobe herausforderten, aber ich brach sie ab. Nicht aus Angst, nein, sondern weil mich die aufkommende Kälte davor warnte, weiterzumachen. Von dem Tag an hänselten mich die Kinder und schlossen mich aus. Ich war so wütend und enttäuscht, weil ich nicht einfach normal sein konnte, dass ich nicht mehr aufhören konnte zu weinen. An diesem Tag riet meine Großmutter mir, meine Fähigkeit nicht als eine Last, sondern als Gabe anzusehen.
»Jeder besitzt eine Gabe, mein Kind«, begann sie damals und legte mir ihre alte knochige Hand auf die Schulter. »Nur die meisten Menschen erkennen die ihre nicht als solche an. Jeder malt sich sein eigenes Bild, wie eine Gabe sein sollte, wie seine Gabe sein sollte, und die Farben dieses Bildes bestehen aus den eigenen Wünschen, Sehnsüchten, auch aus dem eigenen Mangel. Wenn aber dein Bild einer Gabe aus dem besteht, was dir fehlt, wirst du sie nie bei dir finden können. Die eigene Gabe bleibt dir verborgen, wenn du den Blick auf deinen Mangel gerichtet lässt, denn sie erscheint dir immer als etwas Alltägliches, Vertrautes, Selbstverständliches. Diese Selbstverständlichkeit versperrt dir den Blick auf deine Gabe. Und dann kann sie zu deiner größten Schwäche werden.«
Ich hatte mir ihre Worte damals tief eingeprägt, obwohl ich sie noch nicht ganz verstand. Aber spätestens seitdem wusste ich, dass die Gabe meiner Großmutter Weisheit war.
Deshalb setzte ich jetzt große Hoffnungen in sie. Wer, wenn nicht sie, sollte sonst Licht in das Dunkel meines Rätsels um die Wölfe bringen? Und wie viel mein Vater davon wusste? Seit Stunden kreisten meine Gedanken um nichts anderes. Die tägliche Arbeit auf dem Feld war mir heute besonders lang und schwer vorgekommen. Meine Gedanken quälten mich zu sehr.
Meine Großmutter wusste jedes Mal schon im Voraus, wenn ich zu ihr kam. Sie war nie überrascht. Sie sagte, dass meine Mutter – ihre Tochter – wie eine unsichtbare Verbindung zwischen uns sei. Eine schöne Vorstellung, denn das bedeutete, dass meine Mutter noch in gewisser Weise in meinem Leben existierte.
Bhanuja war eine alte Frau, deren Körper vom Leben gezeichnet war, aber dennoch sprühten ihre Augen voller Lebensfreude. Ihre faltigen dünnen Hände wirkten zerbrechlich, aber wenn sie mich in ihre Arme nahm, war ich jedes Mal überrascht von ihrer Kraft.
»Gut, dich zu sehen, mein Kind«, sagte sie und hielt mich auf Armeslänge von sich. »Lass dich anschauen!« Sie musterte mich eindringlich. Dann änderte sich ihr Gesichtsausdruck und noch ein paar weitere Falten mischten sich unter die schon vorhandenen auf ihrer Stirn. »Ich kann deine Verunsicherung spüren. Was betrübt dein Herz?«
Ihre Fähigkeit, meine Gefühle zu erspüren, bevor ich sie mitteilte, und ihre Art, mich ernst zu nehmen, als gäbe es in dem Moment nichts Wichtigeres auf der Welt, machten es mir leicht, ihr auch die Dinge anzuvertrauen, die ich sonst niemandem sagen würde.
»Ich habe Späher gesehen, Großmutter!«, platzte ich heraus, denn das war der Grund, warum ich hier war.
»Späher?« Sie erstarrte und ein Ausdruck von Angst erfüllte ihr Gesicht. Schnell führte sie mich zum Tisch, drückte mich auf einen Stuhl und nahm gegenüber Platz. »Waren sie in Gestalt von Wölfen?«
»Ja! Genau wie du es mir immer erklärt hast. Was wollten sie hier?«
Schon als kleines Kind hatte sie mich davor gewarnt. Es gab hier in Benoth keine Wölfe und wenn man dennoch welche zu sehen glaubte, dann waren es Späher der Jissurim, die sich in Wolfsgestalt tarnten.
»Ich weiß es nicht, aber Späher sind erst der Anfang, mein Kind!«
Eine Weile schwiegen wir und ich war mir nicht sicher, was dieses Schweigen zu bedeuten hatte.
Als meine Großmutter erneut zum Sprechen ansetzte, hatte sie sich wieder gefasst. »Das weiß hoffentlich sonst keiner.« Sie schaute mir eindringlich in die Augen. Bestimmt spürte sie mein Unbehagen, es hatte sowieso keinen Zweck zu versuchen, etwas vor ihr zu verbergen.
»Mein Vater weiß es«, gab ich zu. »Er tat so, als würde er mir nicht glauben. Ich denke, er lügt.«
»Du darfst ihm nicht trauen, mein Kind. Er ist nicht der, für den du ihn hältst.«
Für einen Moment schloss Bhanuja die Augen. Schließlich nickte sie kaum merklich, wie zu sich selbst, erhob sich und schob eine halbhohe Holzvitrine zur Seite. Sie löste ein Holzpanel aus dem Fußboden und entnahm aus dem freiliegenden Versteck eine kleine verstaubte Dose aus Blech. Sie pustete über den Deckel der Dose und strich sorgsam mit den Fingern darüber, als wäre sie ein wertvoller Schatz. Dann nahm sie wieder am Tisch Platz.
»Deine Mutter hat dich sehr geliebt, mein Kind.«
Ich senkte den Kopf und betrachtete meine Hände. Es verging eine kleine Ewigkeit, bis sie weitersprach.
»Sie war nur wenig älter als du jetzt, vielleicht ein, zwei Jahre, als wir einen furchtbaren Streit hatten. Wir stritten oft. Sie war sehr dickköpfig.« Sie lachte leise. »Genau wie du!« Großmutter öffnete die Dose und entnahm ein vergilbtes Stück Papier. Mühsam faltete sie es auseinander und breitete es zwischen uns auf dem Tisch aus. Es war eine Landkarte, wie ich sie schon öfter gesehen hatte. Die Mitte der Karte zeigte ein großes Waldgebiet, unterbrochen von mehreren großen Lichtungen und einigen Flüssen. Das Land Benoth. Im Südosten des Landes befand sich eine Lichtung, über die Galmud geschrieben stand, meine Heimat-Lebensinsel. Weiter unten konnte man deutlich das große Mitah-Gebirge, die sogenannten Todesberge, erkennen und das dahinter ganz im Süden liegende Land Jissurim.
Sie deutete mit ihrem Finger an den unteren Rand der Karte. »Wolfswesen, mein Kind, kommen immer aus Jissurim und sie kehren auch immer wieder dorthin zurück. Sie dienen dem Herrscher der Jissurim, König Schalith.«
Ich hatte schon von ihm gehört, von Schalith aus Jissurim, man nannte ihn gern auch den »dunklen Herrscher«. Zahlreiche Legenden rankten sich um ihn, eine schrecklicher als die andere. Welche davon die Wahrheit enthielten, wusste wohl nur Schalith selber.
»Gehe niemals Richtung Süden. Jissurim ist das Land des Todes. Wer dorthin geht, kehrt niemals zurück.« Für einen Moment schloss sie die Augen, als ob sie sich konzentrieren und mit aller Kraft Erinnerungen zurücktreiben müsste.
»Deine Mutter war jung und wollte heraus aus den Mauern Galmuds. Sie ließ sich nicht davon abbringen. Also ging sie.« Bhanuja seufzte kaum hörbar. Dann fuhr sie fort. »Eines Tages, es war kein Jahr vergangen, stand sie unerwartet vor meiner Tür. Ich lebte damals noch in Galmud. Sie war schwanger, das war bereits deutlich zu erkennen. Aber sie kam nicht alleine. An diesem Tag lernte ich Jetur kennen. Zusammen tranken wir eine Tasse Tee. Sie sprach sehr wenig. Die Schwangerschaft mache sie müde, erklärte sie. Die meiste Zeit sprach er. Sie hätten sich ein schönes Häuschen eingerichtet bei seiner Familie. Das Kind würde sie dort zur Welt bringen. Sie würden wiederkommen, wenn das Kind alt genug sei, um diese Reise zu verkraften. Dann verabschiedeten sie sich. Sie sah sehr blass aus und ich versuchte mir einzureden, dass es an den Anstrengungen der Schwangerschaft läge. Wenn ich gewusst hätte, dass es das letzte Mal war, dass ich sie sah …« Sie schluckte schwer und presste sich ihre alte knochige Hand auf den Mund.
»Als sie gegangen war, bemerkte ich etwas unter dem Stuhl, auf dem sie gesessen hatte. Es war eine Kette.«
Mit zittrigen Händen entnahm sie der Dose eine hölzerne Schmuckschatulle mit einem winzigen Schloss daran. Lange betrachtete sie das Kästchen aus Holz, als wäre es der größte Schatz, den sie besäße.
»Mein Kind, hüte diese Kette wie deinen Augapfel!«
Das erste Mal, seit sie ihre Erzählung begonnen hatte, sah sie mir wieder direkt in die Augen, als wollte sie damit die Wichtigkeit ihrer Aussage unterstreichen.
Mehr als ein »Natürlich, Großmutter!« brachte ich nicht über die Lippen. Die Vorstellung, ein Geschenk von meiner Mutter zu bekommen, wenn auch nur indirekt, brachte mich völlig durcheinander. Vorsichtig nahm ich das Kistchen entgegen. Ich hatte immer nach etwas gesucht, das mich an sie erinnerte.
»Sieh, die Dämmerung bricht schon herein. Du musst nach Hause, Kind. Aber … komm morgen wieder, sobald du kannst. Dann werde ich dir alles Weitere erzählen.« Die Worte meiner Großmutter holten mich zurück aus meinem Tal der unerwarteten Gefühle.
»Nun geh! Und beeile dich, die Zeit drängt. Die Dunkelheit ist nicht unser Freund.«
Ich rannte nach Hause. Genauso wie meine Füße rasten auch meine Gedanken in meinem Kopf. Ich versuchte, sie festzuhalten, aber sobald ich es versuchte, entglitten sie mir und waren verschwunden, noch ehe sie zu Ende gedacht waren. Sie drehten sich wie ein Karussell in meinem Kopf, ein viel zu schnelles Karussell, das nicht gestoppt werden konnte. Die Gedanken übertrugen die Geschwindigkeit an meine Füße. Als könnte ich ihnen so entkommen. Doch es war unmöglich, ihnen zu entkommen, sie waren schneller. Ich rannte und nahm nichts mehr um mich herum wahr. Meine Hände umklammerten die kleine Schmuckschatulle wie den rettenden Strohhalm, als könnte sie Antworten auf alle meine Fragen geben, als hätte sie eine Lösung für die Leere in meinem Inneren. Leere kommt, wenn selbst der Schmerz dich verlässt. Wenn deine Suche vergeblich war.
Doch nun fühlte sich alles anders an. Es war, als hätte jemand meiner kleinen Welt einen Stoß gegeben und sie wäre ins Schlingern geraten. Und mit einer dumpfen Gewissheit wusste ich, dass es nie wieder wie zuvor sein würde.
Doch wie sehr sich meine Welt in den nächsten vierundzwanzig Stunden ändern würde, das konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht mal erahnen.
Die Dunkelheit senkte sich immer tiefer auf das Land und würde es bald vollständig umschlossen haben. Ich merkte nicht, wie mir dunkle Augen heimlich folgten. Schon lange folgten. Ich hätte es merken müssen, doch im Nachhinein ist man immer schlauer. Und so schlau war ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
In dieser Nacht schlief ich unruhig. Ich träumte von meinem Vater, der sich lachend in einen Wolf verwandelte, um dann meine Mutter zu verschlingen, während meine Großmutter ihm mit der Blechdose auf den Kopf schlug. Als ich schweißgebadet erwachte, ergraute das Schwarz der Nacht bereits und verhieß den baldigen Tagesbeginn. An Schlaf war nicht mehr zu denken, denn meine Gedanken waren nicht müde zu kriegen. Wie war es möglich, bei meinem Vater einen Hauch der Gefahreskälte zu spüren, die ich auch bei der Begegnung mit den Spähern hatte? Was wusste er über Jissurim?
Mit einem Seufzer stand ich auf und sofort fiel mein Blick auf die hölzerne Schmuckschatulle, die mir Großmutter am Tag zuvor gegeben hatte. Die Kette meiner Mutter. Sie zu öffnen, wagte ich nicht. Die Mauern Galmuds schienen mir nicht sicher genug, um diese Kostbarkeit zu enthüllen. Ich würde es auf später verschieben. Die Hütte meiner Großmutter schien mir dazu ein geeigneterer Ort. Es war seltsam, so viele Jahre – Jahrzehnte – später etwas von dem Menschen zu hören, den man Mutter nannte. Mit dem man längst abgeschlossen hatte oder abgeschlossen zu haben geglaubt hatte.
Der penetrante Vogel vom Vortag holte mich in die Wirklichkeit zurück und erinnerte mich an das baldige Erwachen meines Vaters. Ich musste mich beeilen, wenn ich mich auf den Weg zu Großmutter machen wollte, bevor in Galmud das Tagesgeschäft begann und bevor mein Vater aufstand. Er würde nur unnötige Fragen stellen, über deren Antwort ich jetzt nicht nachdenken wollte. In aller Eile schnappte ich meine Umhängetasche, packte die Schmuckschatulle meiner Mutter hinein und schlüpfte in meine dunkle Jacke. Leise schlich ich aus meinem Zimmer, sah mit Erleichterung, dass das Zimmer meines Vaters noch verschlossen war, und suchte in der Küche nach etwas Essbarem, das in meiner Tasche verschwand. Erst als ich die Hüttentür hinter mir geschlossen und ein paar Meter zwischen mich und meinen Vater gebracht hatte, wagte ich wieder Luft zu holen. Die Anspannung, von ihm erwischt zu werden, war größer, als ich es mir eingestehen wollte. Die Worte meiner Großmutter hatten sich tief in meinen Kopf eingebrannt: Er ist nicht der, für den du ihn hältst! Ich konnte nichts damit anfangen, aber es schürte mein Misstrauen ihm gegenüber. Ob er etwas von den Spähern aus Jissurim wusste? So viele Fragen wirbelten in meinem Kopf herum wie Schneeflocken in einer Winternacht. Sie kamen nicht zur Ruhe und mein einziges Bedürfnis war, so schnell wie möglich zu Großmutter zu gelangen.
Die ersten Sonnenstrahlen begannen das verbliebene Grau der Nacht zu verscheuchen und so war es leicht, durch das nun unbewachte Tor von Galmud zu schlüpfen. Die Angst vor der Nacht und deren unbekannten Wesen war bei den Menschen so groß, dass man den Eindruck bekommen konnte, als würde allein das Tageslicht vor Gefahren schützen. Wie unheimlich naiv Menschen doch sein konnten!
Trotz meiner Eile genoss ich den Lauf durch den Wald. Ich liebte es, hier draußen zu sein, fernab von Menschen. Ein kleines Stück Freiheit, auch wenn es nur eine Täuschung war. Aber selbst die war besser als keine. Die Luft im Wald roch besser als die hinter Mauern, der Himmel war blauer und ich liebte die Geräusche des Waldes, das Singen der Vögel, das Scharren und Rascheln der kleinen Waldtiere. Ich hasste das Eingesperrtsein hinter den Mauern, hasste die Angst, die unterschwellig überall zu spüren war, hasste die Hoffnungslosigkeit. Aber genau diesen Gedanken wollte ich nicht aufgeben. Dass es Hoffnung gab. Hoffnung auf etwas, das besser war als das hier. Irgendwo in einer anderen Zeit, in einer anderen Welt, gab es vielleicht etwas, das man »Leben« nennen konnte. Denn all dies hier war weit davon entfernt.
Ich bahnte mir meinen Weg durch den Wald, achtete nicht darauf, leise zu sein, auch wenn mein Verstand mir sagte, dass ich es besser tun sollte. Denn auch am Tag waren die dunklen Wälder nicht sicher. Die meisten Bewohner waren sehr lichtscheu, ebenso wie die Wesen der Nacht – nur bei Dunkelheit wurden sie sichtbar, keiner wusste, was tagsüber aus ihnen wurde. Doch es gab genug andere Gefahren in diesem Wald. Die Gefürchtetsten waren die sogenannten Ausgestoßenen. Das Land Benoth hatte im Gegensatz zu Jissurim und Kadosch keinen König. Die Lebensinseln waren auf sich allein gestellt und jede hatte ihre eigenen Regeln, nach denen sie funktionierte. Dennoch hatte sich im Laufe der Jahrhunderte eine Art Gesetz entwickelt, das in nahezu allen Lebensinseln Geltung hatte, und das war das »Gesetz der Ausgestoßenen«. Dieses Gesetz beinhaltete im Wesentlichen zwei Verbote, bei deren Nichteinhaltung derjenige aus der Gemeinschaft der Lebensinsel ausgestoßen und auf immer verbannt wurde. Diese waren Mord und Hochverrat. Sollte man einem anderen das Leben genommen oder jemanden aus der eigenen Lebensinsel verraten oder hintergangen haben, wurde man mit einem Brandmal auf der Stirn gekennzeichnet und erhielt lebenslanges Verbot, sich je wieder einer Lebensinsel zu nähern oder gar anzuschließen. Das Brandzeichen auf der Stirn war Warnung und Abschreckung zugleich, eine Kennzeichnung auf Lebenszeit: Dieser Mensch ist gefährlich! Keiner wusste, wie viele es von diesen Ausgestoßenen gab. Wahrscheinlich überlebten die wenigsten von ihnen hier draußen länger als ein paar Wochen. Noch nie war ich einem berüchtigten Ausgestoßenen begegnet, aber wer wollte auch schon mit einem Mörder oder Verräter zusammentreffen?
Je näher ich der versteckt liegenden Hütte meiner Großmutter kam, desto mehr füllte sich der halbgraue Himmel mit hellen Streifen. Und die Sonne, und mit ihr Licht und Wärme, gewann die Oberhand im Kampf um die Herrschaft dieses Landes – zumindest für die nächsten zwölf Stunden.
Es wurde zusehends heller und ich spürte die Wärme auf meiner Haut. Zu gerne hätte ich kurz angehalten, um die kleine Schachtel meiner Mutter zu öffnen. Doch die vielen Fragen in meinem Kopf trieben mich voran. Wenn es jemanden gab, der Antworten darauf wusste, dann meine Großmutter.
Das letzte Stück des Weges führte durch dichter bewaldetes Gebiet, sodass es mir zunächst nicht auffiel, als die Wärme verschwand.
Doch dann bemerkte ich die Gänsehaut, die mir die Beine hochkroch und mich vereinnahmte wie ein ungebetener Gast. Ich wurde unwillkürlich langsamer. Auch meine Hände begannen zu zittern. Meine Atmung wurde schneller und meine Augen versuchten angestrengt, den Ursprung der Kälte im Dickicht des Waldes auszumachen. Als der kalte Wind einsetzte, blieb ich abrupt stehen. Panik stieg in mir auf. Er schien direkt aus der Hütte meiner Großmutter zu kommen, als wäre sie ein riesiger Schneesturm. Geduckt lief ich die letzten Meter bis zu ihrer Hütte heran. Mein Herz raste und ich musste mich zusammenreißen, um einen klaren Gedanken zu fassen. Die Sorge um Großmutter wurde von Sekunde zu Sekunde größer. Ich hatte keine Ahnung, was hier los war, ich wusste nur: Ich musste da rein! Noch nie war die Hütte meiner Großmutter entdeckt worden. Dennoch war sie sich immer der Gefahr bewusst gewesen, die es mit sich brachte, hier draußen allein zu wohnen. Aber es war ihre Entscheidung gewesen. Und bisher war es immer gut gegangen. War es vielleicht meine Schuld? War ich gestern zu unvorsichtig gewesen? Doch wer konnte ein Interesse daran haben, ihr etwas anzutun? Nur weniges im Leben war wichtig genug, dass man sich darum sorgte. Meine Großmutter gehörte definitiv dazu!
Ich zwang mich dazu, meinen Atem flach zu halten, und kroch, so leise ich konnte, auf allen vieren auf das nächste Fenster zu. Vorsichtig spähte ich ins Innere. Es war dunkel und ich konnte zunächst nichts erkennen. Als sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten, bemerkte ich, dass das Zimmer leer war. Aber es war verwüstet, nichts lag mehr da, wo es hingehörte. Hier hatte jemand etwas gesucht. Ob er wohl fündig geworden war? Geduckt schlich ich zu dem Baum, der am nächsten der Hütte stand und der seine Zweige wie Arme um die Hütte gelegt hatte, als ob er sie beschützen wollte. Offensichtlich war es ihm nicht gelungen.
Ich kletterte ihn hinauf und schob mich langsam auf dem Bauch liegend auf einem Ast nach vorne, sodass ich durch das Fenster in die obere Kammer spähen konnte. Je näher ich dem Fenster kam, desto intensiver wurde die Kälte. Als mein Atem kleine Rauchwölkchen bildete, wusste ich, dass ich den Ursprungsort der Kälte erreicht hatte. Nun war ich der Gefahr zum Greifen nah. Endlich hatte ich das Fenster erreicht. Vorsichtig blickte ich hinein. Ich kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Genau wie die Wohnstube unten war das Schlafzimmer meiner Großmutter das reinste Chaos. Wer auch immer hier gewesen war, er hatte gründliche Arbeit geleistet. Auf den ersten Blick konnte ich niemanden im Raum erkennen. Doch dann hörte ich die Stimmen.
»Hast du auch wirklich überall gesucht? Es muss hier irgendwo sein!« Die Stimme klang gereizt und ungeduldig. Ich versuchte, mich nicht mehr zu bewegen und so lautlos wie möglich zu atmen. Hoffentlich entdeckten sie mich nicht. Ein Teil des Baumes zu werden, wäre jetzt gut, dachte ich. Zumindest passten wir farblich gut zusammen.
»Ja, mein Herr, es ist nicht auffindbar. Sie muss es rechtzeitig fortgeschafft haben!«
Ich erschrak so sehr, dass ich fast vom Baum gefallen wäre. Während ich die erste Stimme nie zuvor gehört hatte, kannte ich diese Stimme nur allzu gut. Auch wenn wir nie viele Worte wechselten, so würde ich seine Stimme überall heraushören. Es war die meines Vaters!
Mein Herz raste, als wollte es eilends von diesem Ort verschwinden, so weit weg wie möglich. Ich zwang mich, ruhiger zu atmen.
»Nun gut! Wir müssen nur zusehen, dass das Mädchen es nicht in die Finger bekommt«, sagte die ungeduldige Stimme.
»Ich werde dafür sorgen, dass das nicht geschieht, mein Herr!«
Noch nie hatte ich meinen Vater so unterwürfig reden hören. Für mich war er immer der gewesen, der sich von niemandem etwas sagen ließ. Der andere herumkommandierte. Mich.
»Natürlich wirst du das! Sie muss verschwinden, genau wie diese alte Frau hier!«
»Verschwinden? Ich dachte …« Er fing an zu stammeln. »… dachte, es würde reichen, sie zu beobachten?«
»Papperlapapp«, sagte die fremde Stimme, diesmal noch gereizter. »Nimm dich zusammen, Jetur. Du wusstest von Anfang an, dass beaufsichtigen allein irgendwann nicht mehr reichen würde. Es wird zu gefährlich … Sie muss verschwinden!«
Diese letzten drei Worte kamen hart und zischend. Sie klangen kalt, in einer Kälte, wie ich sie noch nie gespürt hatte. Mein Herz zog sich zusammen und ich konnte einen endlosen eisigen Augenblick lang nicht atmen.
»Jawohl, mein Herr. Meine Tochter wird verschwinden!« Die Bestimmtheit in seiner Stimme ließ mich erschrecken und legte sich wie würgende Hände um meinen Hals.
»Setz die Jäger auf sie an, gleich heute noch. Und nenn sie nicht immer deine Tochter. Du weißt genau, dass sie das nicht ist!«
»Jawohl, mein Herr. Reine Gewohnheit! Verzeihen Sie, mein Herr! Es wird nicht wieder vorkommen.« Die Stimmen wurden leiser und Schritte gingen knarrend die alte Holztreppe hinunter.
Die Welt hörte auf sich zu drehen. Aus den Fugen geraten, zertrümmert und leblos lagen sie da – die Bruchstücke dessen, was sich einmal meine Welt genannt hatte. Zerstört. Verraten. Wie konnte das sein? Was sollte man fühlen, wenn alles, was man je zu wissen geglaubt hatte, Betrug war? Sie war nie besonders innig gewesen, die Beziehung zu meinem Vater. Vater. Aber er war immerhin mein Vater gewesen. Und doch war er es nicht. Und sie hatten meine Großmutter umgebracht. Mein Herz zerbrach in tausend Stücke, die nie im Leben wieder jemand würde zusammensetzen können. Wie sah eine Welt aus, aus der alle Farben entfernt wurden? Wie ein Leben ohne die Menschen, die immer da waren? Die bitteren Tränen, die aufsteigen wollten, verstopften mir die Kehle. Wut. Trauer. Verzweiflung. Nein, mehr, viel mehr als das.
Das Knarren der Hüttentür und die erneute Zunahme der Kälte brachten mich in die Wirklichkeit zurück.
Jeden Moment würden die beiden Männer die Hütte verlassen. Ich wollte nicht erfahren, was sie mit mir anstellen würden, wenn sie mich jetzt erwischten. In aller Eile stieß ich gegen den morschen Rahmen des Fensters, der zum Glück gleich nachgab, und stürzte mich kopfüber in die Hütte hinein. Mit der Wade blieb ich am Fensterrahmen hängen und fluchte. Ein stechender Schmerz durchfuhr mich und zugleich rann es mir warm das Bein hinunter. Ich unterdrückte einen Schmerzensschrei und hoffte inständig, dass ich nur für meine Ohren so laut gewesen war. Hektisch zog ich mein Bein in die Hütte. Mehrere Sekunden lag ich bewegungslos auf dem Bett meiner Großmutter und lauschte auf herannahende Schritte oder andere verdächtige Geräusche, die darauf hindeuteten, dass sie mich bemerkt hatten. Als ich nichts dergleichen hörte, richtete ich mich auf und wagte einen kurzen Blick aus dem Fenster. Durch die Zweige des Baumes hindurch konnte ich den kahlen Hinterkopf meines Vaters sehen. Nein, nicht meines Vaters. Des Fremden, der mein Vater gewesen war. Sein Gegenüber konnte ich von meiner Position aus nicht erkennen. Ich lehnte mich erleichtert gegen die Wand. Sie hatten mich nicht entdeckt.
Die Leere in meinem Kopf war erdrückend, ich war unfähig etwas zu fühlen. Nur das Pochen in meiner Wade war zu spüren. Ich wagte nicht, mein Bein anzuschauen. Hoffentlich sah es nicht so schlimm aus, wie es sich anfühlte. Denk nach, befahl ich mir. Aber die Leere zerschmetterte jeden Gedanken, der sich anschleichen wollte, wie eine Fliege. Erst einmal abwarten, bis die beiden Männer verschwunden waren.
Die plötzliche Wucht der erneuten Kälte traf mich völlig unvorbereitet. Sie brach mit einer solchen Kraft und Schnelligkeit auf mich ein, als wäre ich gegen eine unsichtbare Wand gerannt. Dann erst bemerkte ich den Rauch. Ich kroch zur Tür, die zur Treppe nach unten führte. Als ich sie öffnete, schlugen mir zugleich Hitze und Kälte entgegen, dass mir die Luft weg- und das Herz stehen blieb: Sie hatten die Hütte in Brand gesteckt. Der Rauch und die Wut ließen mir Tränen in die Augen steigen. Mein ganzer Körper zitterte unter der Kälte, die mich in der Hitze dieses Feuers einnahm. Raus, schrie alles in mir, raus hier! Ich humpelte zurück zum Fenster. Doch dieser Weg nach draußen war versperrt. Der Baum brannte bereits lichterloh, außerdem machte es mir mein verletztes Bein unmöglich, nach unten zu klettern. Hier oben gab es nur dieses eine Fenster. Schnell zog ich mir die Kapuze über, band den Schal über Mund und Nase und hüpfte auf meinem gesunden Bein die Treppe hinunter. Die Kälte wurde in der zunehmenden Hitze immer stärker und schon nach wenigen Sekunden konnte ich nicht mehr aufhören zu husten. Der Rauch biss in meinen Augen und nahm mir die Luft zum Atmen. Auf den unteren Treppenstufen angekommen konnte ich schon kaum mehr stehen. Ich sah das Fenster auf der Hinterseite der Hütte. Der Weg zur Vordertür war durch eine Feuerwand versperrt.
Der erste Deckenbalken gab unter der Last des Feuers nach und stürzte brennend zu Boden. Fast blind humpelte ich Richtung Fenster, als der nächste Feuerbalken mich knapp verfehlte. Noch drei Schritte, dann endlich hatte ich das Fenster erreicht. Meine Finger fühlten den Fenstergriff und rüttelten daran. Meine Lungen brannten und der Husten schüttelte meinen Körper.
Dann fiel die Kälte über mich her wie ein ausgehungerter Löwe, um mich zu verschlingen. Ich konnte meine Beine nicht mehr fühlen. In Sekundenschnelle schien eine Eisschicht meinen Körper zu überziehen und mich bewegungsunfähig zu machen. Wie in Zeitlupe spürte ich noch, wie ich fiel. Dann wurde alles schwarz.
Dumpfe Geräusche drangen an mein Ohr, die ich nicht zuordnen konnte. Ein Klacken, ein Klappern, dann etwas, das sich wie Wasser anhörte. Schritte, die sich näherten. Panik stieg in mir hoch. Sie hatten mich geschnappt, ich musste hier weg. Mit aller Kraft versuchte ich, meine Augen zu öffnen. Es wollte nicht gelingen. Ich fühlte mich, als wäre mein ganzer Körper aus Blei, unfähig, sich zu rühren. Mein Bein schmerzte. Ich zwang mich zur Ruhe. Die Schritte entfernten sich wieder. Offenbar war nicht bemerkt worden, dass ich wieder bei Bewusstsein war.
Das Feuer. Irgendjemand musste mich aus dem Feuer geholt haben. Doch wer? Waren es die Männer, die meine Großmutter getötet hatten? Ich brauchte einige Augenblicke um festzustellen, dass ich nicht fror. Es war nicht kalt. Ganze Eisklötze der Erleichterung fielen von mir ab – ich befand mich außer Gefahr. Es konnten nicht dieselben Männer gewesen sein. Zu wem gehörten aber dann diese Schritte?
Erneut setzte ich alle Kraft ein, um meine Augen zu öffnen. Da, endlich tat sich etwas. Mein linkes Auge begann zu blinzeln, dann auch das rechte. Das helle Sonnenlicht ließ sie mich gleich wieder schließen. Ich brauchte ein paar Minuten, bis ich anfing mich an die Helligkeit zu gewöhnen. Ich lag auf einem Bett unter freiem Himmel. Der Blick in den Himmel war atemberaubend. Es schien nichts anderes zu geben als ihn. Eine durchdringend leuchtend blaue Decke. Kaum konnte ich meinen Blick abwenden. So musste sich Freiheit anfühlen. Als ich zur Seite blickte, sah ich Bäume, viele Bäume, aber hauptsächlich die Baumkronen. Normalerweise sah man die Baumkronen nicht. Nicht einmal dann, wenn man einige Äste weit hinaufkletterte. Die Bäume in unseren Wäldern waren so hoch und dicht, dass man nur auf großen Lichtungen ihre Kronen erahnen konnte. Es sei denn … ein Baumhaus! Ich musste mich auf einem Baumhaus befinden, auf einem sehr weit oben angesiedelten Baumhaus. So weit oben. Es war immer mein Traum gewesen, mein Baumhaus so weit oben wie möglich zu bauen. Vielleicht träumte ich auch noch. Oder ich war in dem Feuer umgekommen und dies hier war der Himmel. Ein wirklich toller Himmel wäre das.
Plötzlich berührte mich etwas Nasses, Kaltes am Arm und ich zuckte zusammen. Beim Blick zur Seite sah ich mich einer langen sabbernden Hundezunge gegenüber, so nah, als wäre ich der Knochen, den er zu seiner Mahlzeit auserkoren hatte. Der Hund schien genauso überrascht wie ich, drehte sich um und lief schwanzwedelnd davon. Ich schaute ihm mit offenem Mund hinterher. Ein Streuner. Es gab sie zu Unzähligen in diesem Wald, die streunenden, heimatlosen Hunde. Sie waren aggressiv und gefährlich. Sie jagten oft im Rudel und niemand wollte ihnen begegnen, nicht bei Tag und nicht bei Nacht. Aber so einen wie diesen hier hatte ich noch nie gesehen. Ein Hund, der mit dem Schwanz wedelte?!
Jetzt erst fing ich an meine nähere Umgebung wahrzunehmen. Mein Gehirn schien ein wenig zu brauchen, um wieder richtig in Gang zu kommen. Offensichtlich hatten mir das Feuer, der Sturz, der Rauch mehr zugesetzt, als ich gedacht hatte. Ich befand mich auf einer Art Balkon – falls man das so nennen konnte –, der zu einem riesigen Baumhaus gehörte. Es schien mehrere Ebenen zu geben, ich konnte schräg unter mir ein weiteres Dach erkennen und am anderen Ende dieser Ebene hing eine Strickleiter, die nach oben führte. Neben mir stand ein Holzteller mit einigen Früchten des Waldes und einem Holzbecher mit Wasser. Ich schlang das flüssige Nass gierig hinunter und mein Körper sog es auf wie ein ausgetrockneter Schwamm. Beim Aufsetzen drehte sich alles und ich sank wieder zurück auf mein Bett. Dann erst bemerkte ich, dass mein Bein verbunden war. Es schmerzte noch immer, doch war es kein Vergleich zu heute Morgen. Oder war es gestern gewesen?
Die Sonne stand hoch am Himmel, es musste also Nachmittag sein.
Dann sah ich ihn. Er stand mit dem Rücken zu mir vor einer Art Schrank im Zimmer des Baumhauses, zu dem dieser Balkon gehörte, auf dem mein Bett stand. Er holte einen Krug daraus hervor, ging zu einem seltsamen Rohr, das aus der Holzdecke zu kommen schien, öffnete ein Scharnier und Wasser floss aus dem Rohr heraus. Damit füllte er den Krug und anschließend meinen Becher mit dem Wasser und drehte sich wortlos wieder um, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Er nahm sich ein Stück Holz und ein Messer, setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und fing an zu schnitzen.
Ich konnte nicht anders, als ihn anzustarren. Er war sehr groß, muskulös. Seine dunklen Haare hingen ihm buschig im Nacken und bis fast zu den Augenbrauen. Er trug einen dunklen Kapuzenpullover und eine abgetragene, zerschlissene Jeans. Sein Gesicht konnte ich nicht genau erkennen. Er hatte zu Boden geschaut, als er mir den Krug gebracht hatte, und nun saß er mit dem Rücken zu mir gewandt.
»Wo bin ich?«, versuchte ich zu sagen, was allerdings in einem Hustenanfall endete. Ich trank erneut den Becher leer und gleich noch einen zweiten.
Als ich mich wieder beruhigt hatte, versuchte ich es erneut. »Wo bin ich hier und wer bist du?«
Er hielt kurz inne in seiner Schnitzerei, sagte aber nichts.
»Hast du mich aus dem Feuer gerettet? Wie hast du mich gefunden?« So viele Fragen schwirrten in meinem Kopf umher.
Er schnitzte ungerührt weiter.
»Wohnst du hier alleine? Wie heißt du?«, bemühte ich mich freundlich zu bleiben, auch wenn mich seine abweisende Art zunehmend aufregte.
Da stand er auf, ging ohne sich umzudrehen zu der herunterhängenden Strickleiter und verschwand nach oben.
»Hey …«, rief ich ihm nach, doch bei dem erneuten Versuch mich aufzusetzen, wurde mir schwarz vor Augen.
Als ich wieder zu mir kam, umhüllte mich nächtliches Schwarz. Ich blickte in den Sternenhimmel. Es war ein atemberaubender Anblick. Ich fühlte mich dem Himmel so nah wie noch nie. Jetzt verstand ich noch weniger, wie man aus bloßer Angst heraus sich hinter Mauern verstecken konnte, sich selber die Freiheit nahm und damit auch die Schönheit des Lebens. Was hatte ich alles verpasst in den letzten siebzehn Jahren meines Lebens? Wie viel war mir genommen worden? War der Drang nach Sicherheit es wirklich wert, all das hier zu verpassen? Das Leben zu verpassen? Ich wusste nicht, was mich hier draußen alles erwartete, aber ich wusste eines: Nie wieder wollte ich zurück hinter diese Mauern, nie wieder Verstecken spielen! Ich wollte das hier: freie Luft atmen, unter den Sternen schlafen, nach dem Himmel greifen. Ich wollte leben!
Ein Geräusch dicht neben mir ließ mich zusammenzucken und meinen Blick von dem Wunder über mir abwenden. Der Streuner näherte sich mir vorsichtig, aber schwanzwedelnd. Er trug eine Decke im Maul. Er stupste mich damit an, als wollte er sagen: »Hier, nimm, damit du nicht frierst, es ist ganz schön kalt nachts!« Lächelnd nahm ich ihm die Decke ab. Doch gerade als ich ihm anerkennend den Kopf streicheln wollte, verschwand er schnell zurück in die Baumhütte. Erst jetzt bemerkte ich den Schatten im Türrahmen, der mich aus dem Dunkel heraus beobachtete. Ich wusste, dass er es war. Seine Größe und seine zerzausten Haare waren auch in der Dunkelheit zu erahnen. Er hatte die Hände tief in den Hosentaschen vergraben und rührte sich nicht. Die Ruhe, die er ausstrahlte, zog mich in seinen Bann. Ich spürte seinen Blick auf mir, aber ob er mich wirklich ansah, ließ mich die Finsternis der Nacht nicht erkennen. Einen Moment lang verharrte er dort. Dann verschwand er wieder im Dunkel der Hütte.
Als Stunden später die Schwärze der Nacht vom beginnenden Grau des Tages zurückgedrängt wurde, lag ich schon lange wach. Mein Blick heftete sich auf den Himmel und die langsam verschwindenden Sterne. Meine Gedanken waren noch weiter weg als der Himmel. Was war geschehen in den letzten Stunden? Oder Tagen? Ich wusste nicht mal, wie lange ich mich schon hier befand. Meine Welt war nicht mehr dieselbe.
Langsam sickerte diese bittere Erkenntnis in mein Bewusstsein. Der Mann, mit dem ich mein ganzes Leben verbracht hatte, war nicht mein Vater. Die Beziehung zu ihm war nie besonders eng oder herzlich gewesen. Unser Zusammenleben hatte sich mehr aus gewohnten Abläufen und einer gewissen Routine zusammengesetzt als aus einer wirklichen Vater-Tochter-Beziehung. Obwohl ich mir eingestehen musste, dass ich gar nicht genau wusste, was das war, eine Vater-Tochter-Beziehung. Dennoch war ich nie auf die Idee gekommen, dieser Mann könnte nicht mein leiblicher Vater sein. Doch jetzt, da er es nicht war, stellte sich die Frage: Wenn er nicht mein Vater war, wer war er dann?
Ich hatte keine Ahnung, wo ich nun hinsollte. Ich wusste nur, es gab kein Zurück. Aber vielleicht musste es das auch nicht. Vielleicht war es gut so, dass es kein Zurück mehr gab. Aber wie sollte ich ohne meine Großmutter erkennen können, wie mein weiterer Weg aussah? Ein dicker Tränenkloß begann meine Kehle zu verstopfen. Der Gedanke an sie nahm mir die Luft zum Atmen. Was hatten sie ihr nur angetan? Etwas Nasses lief über mein Gesicht.
Sein plötzliches Erscheinen ließ mich zusammenfahren. Schnell wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht. Wortlos und ohne mich eines Blickes zu würdigen schmiss er mir meine Tasche vor die Füße. Meine Tasche! Er hatte auch sie aus dem Feuer gerettet. Bis auf ein paar angekohlte Stellen war sie unversehrt!
»Vielen Dank!«, sagte ich mehr zu der Tasche als zu ihm. Vorsichtig öffnete ich sie. Erleichtert stellte ich fest, dass die kleine Schmuckschatulle meiner Mutter noch da war. Es schien nichts zu fehlen. Im Gegenteil, die Tasche war voller als vorher.
»Hast du das ganze Essen hier hineingetan? Wozu? Was hast du vor mit mir?« Verwirrt blickte ich zu ihm hinüber. Er stand mit dem Rücken zu mir und fuhr sich mit einer Hand durch die zerzausten Haare.
»Willst du mich fortschaffen? Wo soll ich denn hin?«
Wut stieg in mir auf. »Warum sprichst du nicht mit mir?«
Als Antwort warf er mir ein Stück schwarzen Stoff zu.
»Eine Augenbinde? Was …?«
Wartend stand er neben der Luke im Boden, die nach unten führte, heraus aus seinem Baumhaus. Mich traf es wie ein Schlag. Er wollte mich fortschaffen und dabei vermeiden, dass ich ihn je wiederfände.
Gut, scheinbar hatte er kein Verlangen mit mir zu reden oder mir seinen Namen zu verraten. Also war es wohl sinnlos, mit ihm darüber zu diskutieren. Aber wer wollte schon in der Nähe eines so düsteren Menschen sein? Ich würde schon irgendwie alleine klarkommen. Ich brauchte ihn nicht. Ich brauchte gar keinen Menschen.
Ich stand auf, streifte mir Jacke und Tasche über, humpelte zu ihm hinüber und band mir die Augenbinde um. Sofort packte er mich, legte seinen Arm um meine Taille und drückte mich an sich. Er fühlte sich warm an und roch nach Wald und Luft und Freiheit. Im nächsten Moment ging es am Seil abwärts. Unten angekommen führte er mich einige Meter weiter, umschloss mich erneut mit seinem Arm und wieder glitten wir nach unten. So ging es noch dreimal. Erst dann spürte ich wieder den vertrauten Waldboden unter meinen Füßen. Dann nahm er mich auf den Rücken und begann mit mir durch den Wald zu rennen. Scheinbar konnte er mich gar nicht schnell genug fortschaffen. Er musste unglaublich stark sein, sein Atem beschleunigte sich kaum. Anfangs versuchte ich mir noch die Richtungen einzuprägen, doch sehr bald verlor ich die Orientierung. Meine Arme schmerzten, als er endlich anhielt und mich absetzte. Er zog mir die Augenbinde ab und wandte sich sofort zum Gehen.
»Halt! Warte!«
Ein Anflug von Verzweiflung und Kälte durchströmte mich. Der Wald war voller Gefahren. Selbst bei Tag. Ohne mein Baumhaus, ohne irgendetwas war ich allem schutzlos ausgeliefert.
Er hielt inne und blieb mit dem Rücken zu mir gewandt stehen.
»Du hast mich aus dem Feuer gerettet, um mich dann doch hier draußen sterben zu lassen?« Ein Zittern schlich sich in meine Stimme.
Er schwieg. Wieso konnte er nicht ein verdammtes Wort mit mir reden?
»Du kommst schon klar!« Seine tiefe Stimme überraschte mich.
»Woher willst du das wissen? Du kennst mich doch gar nicht!«
Ohne sich umzudrehen und mit einer gewissen Bitterkeit in der Stimme sagte er: »Du hast recht, ich kenne dich nicht!«