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**Ein verborgenes Schicksal** Keylah lebt im Land Benoth, das zwischen zwei mächtigen Königreichen liegt. Allein die hohen Mauern der Siedlungen schützen die Menschen vor den Gefahren der dunklen Wälder. Aufgrund ihrer Fähigkeit, Gefahr zu spüren, wagt sich Keylah dennoch nach draußen. Doch dann muss sie plötzlich fliehen, als sie einer Verschwörung auf die Spur kommt. Verzweifelt macht sie sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit und der Wahrheit. Dabei trifft sie auf den unnahbaren Einzelgänger Deven, ein Mann, der sie insgeheim fasziniert, vor dem sie sich jedoch fürchten sollte, da er zu den Ausgestoßenen gehört. Aber Keylah hat keine andere Wahl, als ihm zu vertrauen, denn es steht nicht nur ihr eigenes Schicksal auf dem Spiel, sondern auch das der Königreiche ... Eine gefährliche Suche nach der eigenen Bestimmung und der großen Liebe. //Alle Bände der märchenhaften »Broken Crown«-Trilogie: -- Band 1: The Secret of Kingdoms -- Band 2: The Curse of Crows -- Band 3: The Mystery of Shadows// Alle Bände der Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden und haben ein abgeschlossenes Ende. Dies ist die Wiederauflage der »In Between«-Trilogie von Kathrin Wandres.
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Impress
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Kathrin Wandres
The Secret of Kingdoms (Broken Crown 1)
**Ein verborgenes Schicksal**
Keylah lebt im Land Benoth, das zwischen zwei mächtigen Königreichen liegt. Allein die hohen Mauern der Siedlungen schützen die Menschen vor den Gefahren der dunklen Wälder. Aufgrund ihrer Fähigkeit, Gefahr zu spüren, wagt sich Keylah dennoch nach draußen. Doch dann muss sie plötzlich fliehen, als sie einer Verschwörung auf die Spur kommt. Verzweifelt macht sie sich auf die Suche nach ihrer Vergangenheit und der Wahrheit. Dabei trifft sie auf den unnahbaren Einzelgänger Deven, ein Mann, der sie insgeheim fasziniert, vor dem sie sich jedoch fürchten sollte, da er zu den Ausgestoßenen gehört. Aber Keylah hat keine andere Wahl, als ihm zu vertrauen, denn es steht nicht nur ihr eigenes Schicksal auf dem Spiel, sondern auch das der Königreiche …
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Vita
Danksagung
© Tina Laser Fotografie
Kathrin Wandres, geboren 1981, machte 2001 ihr Abitur in Tübingen und studierte bis 2003 in Stuttgart an der Fachhochschule für Technik Mathematik und Informatik. Von 2004 bis 2006 besuchte sie das Theologische Seminar Beröa, nahe Frankfurt. Mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt sie in Göppingen. Seit ihrer Kindheit liebt sie es, sich fremde Welten zu erdenken und in ihnen zu versinken.
Die orangerote Sonne hing bereits bedrohlich tief am Himmel. Sie raste dem Horizont entgegen, als könnte sie es nicht erwarten, dieses Land zu verlassen, als hätte selbst sie Angst vor dem, was die Nacht mit sich bringt. Nur noch ein paar Minuten verblieben. Dann würde der Tag das Land Benoth verlassen und der Finsternis Platz gemacht haben. Ich wusste, mir blieb nicht mehr viel Zeit. Bis zur Ausgangssperre, die mit Einbruch der Dunkelheit beginnen würde, könnte ich es kaum bis nach Hause schaffen. Dennoch verharrte ich auf meinem Sitz und genoss die Ruhe hoch oben im Baum. Von hier aus wirkte der Wald kleiner, alles schien friedlicher und ungefährlicher. Ich fühlte mich dem Himmel nahe und das gab mir ein Stück Sicherheit. Und Freiheit. Es war »mein Baum«. Zumindest war er es, soweit ich zurückdenken konnte. Er erinnerte mich an meine Mutter. Oder an meine Vorstellung von ihr, denn bewusste Erinnerungen an sie hatte ich keine. Schon als kleines Kind war ich hierhergekommen. Der Baum war der größte in diesem Teil des Waldes und strahlte eine besondere Ruhe aus, als hätte er schon viel gesehen, ertragen, durchlitten. Seine Zweige erinnerten mich an offene Arme, die mich trösten und beschützen wollten. Etwas, das ich nie gekannt und erfahren hatte. Etwas, das ich von Menschen auch nicht wollte, denn Menschen waren unzuverlässig und unberechenbar. Irgendwann hatte ich angefangen, es mir auf meinem Baum einzurichten. Ich hatte kleine Baumhäuser gebaut, auch wenn man sie anfangs noch kaum so nennen konnte, und je älter ich wurde, desto weiter oben siedelte ich sie an. Ich erinnerte mich noch genau an den Triumph, als ich es endlich schaffte, mein Haus völlig im Baum verschwinden zu lassen, sodass es vom Boden aus nicht zu sehen war. Ich wurde zum Teil des Baumes. Es fühlte sich an, als hätte ich eine neue Welt geschaffen, meine Welt, unsichtbar und abgetrennt von allen anderen. Ich liebte die Vorstellung, dass es irgendwo noch eine andere Welt geben könnte, die nicht so dunkel, gefährlich und einsam war wie meine hier. Es war äußerst unwahrscheinlich, das wusste ich, aber ich trug die Hoffnung daran wie einen Schatz in meinem Herzen.
So wurde mein Baum der einzige Ort, an dem ich mich wirklich sicher fühlte. Und doch wusste ich, dass es eine Lüge war. Sicherheit war etwas, das in dieser Welt nicht existierte, weder am Tag und erst recht nicht in der Nacht. In ein paar Minuten würde dies zum gefährlichsten Ort im ganzen Land werden, genau wie alles draußen in den dunklen Wäldern. Niemand wollte nachts hier sein. Nach Sonnenuntergang trat die Ausgangssperre in Kraft, die es allen verbot, sich außerhalb der Dörfer aufzuhalten. Denn nur innerhalb dieser geschützten Dörfer war Leben, genauer gesagt Überleben, möglich, weshalb sie auch Lebensinseln genannt wurden. Mit hohen Mauern und Feuertürmen hofften die Menschen, die Gefahren der Wälder auszusperren. Und bemerkten gar nicht, dass sie sich damit selber einsperrten. Es war eine der ersten Regeln, die Kinder im Land Benoth lernten. »Die dunklen Wälder sind gefährlich!«, »Da draußen lauert der Tod!«, »Bei Dunkelheit erwachen die Wesen der Nacht!«. Diese Sätze wurden uns eingelöffelt wie Babybrei: »Eins, und noch eins, und noch eins für Oma …«. Sie hingen mir zum Hals raus. Einander die Freiheit rauben für ein vermeintliches Stück an Sicherheit? Das ergab für mich keinen Sinn.
Die Kronen der Bäume waren jetzt nur noch mit winzigen goldenen Kugeln vom Licht der untergehenden Sonne geschmückt. Ich spürte die näherkommende Dunkelheit wie eine Welle über das Land hereinströmen. Und dann spürte ich auch die Kälte. Sie kroch den Baum hinauf wie ein Ameisenvolk auf seiner Straße. Ich erschrak, als sich die Härchen meiner Arme aufstellten und meine Hände anfingen zu zittern. Ich hatte den Rückweg zu lang hinausgezögert. Jetzt war es zu spät und ich schalt mich selbst für meinen Leichtsinn. Schnell streifte ich meine schwarze Jacke über mein dunkles T-Shirt und zog mir die Kapuze tief ins Gesicht. Nur wenn man selbst zur Dunkelheit wurde, hatte man bei Nacht hier draußen eine Chance. Die Finsternis kam nun immer schneller. Unaufhaltsam verlor das Tageslicht mehr und mehr an Kraft. »Wo Finsternis ist, wirst du kein Licht finden«, hatte meine Großmutter mir einmal gesagt und mal wieder wurde mir bewusst, wie recht sie damit hatte. Ein kalter Wind kam auf und ich wusste sofort, dass dies kein natürlicher Wind war. Es war der kalte Wind der Gefahr, den nur ich spüren konnte. Ich hockte mich in eine Ecke meines Baumhauses, versuchte so schwarz wie die Nacht zu werden und hoffte, dass, was immer dort unten mit dieser Kälte näherkam, mich nicht entdecken würde. Meine Hände zitterten nun immer stärker und eine Gänsehaut hatte sich auf meinem ganzen Körper ausgebreitet. Dann kam der Nebel, der letzte Vorbote der nahenden Gefahr, umhüllte den Baum und damit auch mich. Jedes Mal, wenn der Nebel kam, konnte ich nur noch versuchen, nicht mehr zu atmen und mich regungslos zu verhalten. Das Kribbeln auf meiner Haut wurde immer stärker und die Stille im Wald erdrückte mich – wann hatten die Vögel aufgehört zu zwitschern? Mein Herz schlug so laut, dass ich Angst hatte, es könnte mich verraten, als ich leise Schritte unten auf dem Waldboden hörte. Es mussten viele Füße sein, die dort unten entlangliefen, nein, schlichen. Ich musste mich sehr anstrengen, sie von einem gewöhnlichen Blätterrascheln zu unterscheiden. Wer immer dort unten war, wusste, wie man sich unauffällig heranschlich. Einmal mehr war ich dankbar für meine Fähigkeit, nahende Gefahr zu spüren – wobei ich gar nicht wusste, wem ich dafür zu danken hatte. Ich versuchte, so flach wie möglich zu atmen, während ich lautlos zuerst einen dunklen Sichtschutz und dann ein paar Äste zur Seite schob, sodass eine kleine Lücke, nicht mehr als zwei Finger breit, entstand, durch die ich hinunter bis zum Waldweg spähen konnte. Ich kniff meine Augen zusammen, um etwas erkennen zu können. Zunächst schien alles so schwarz wie die Nacht, denn am Waldboden brach die Nacht früher herein, bis ich bemerkte, dass sich das Schwarz dort unten bewegte. Ich vergaß zu atmen, als sich in der Dunkelheit Umrisse abzeichneten: Wölfe! Dort unten liefen Wölfe, viele Wölfe. Sie hatten tiefschwarzes Fell und das nicht nur, weil es dunkel war. So groß hatte ich mir Wölfe nicht vorgestellt. Sie waren unnatürlich groß. Und genau das waren sie auch: unnatürlich! Aufgrund der Kälte wusste ich es mit Gewissheit. Das dort unten waren fremde Wesen und obwohl ich sie noch nie zuvor gesehen hatte, wusste ich, dass es Späher waren.
Die Kälte kroch mir in die Kleidung und ich hoffte inständig, dass sie mich nicht verraten würde. Eine halbe Ewigkeit verstrich, bis die Wölfe und mit ihnen die Kälte wieder verschwanden. Ich wartete noch eine Weile, damit sich auch meine letzten Härchen wieder legten. Erleichtert stieß ich einen lautlosen Seufzer aus. Stille und Finsternis erfüllten die dunklen Wälder Benoths, doch in meinen Gedanken schrie eine Frage gegen diese Stille an: Welches Ziel hatten diese Späher? Ich wusste nicht viel über sie, doch sie waren sicher nicht zufällig in dieser Gegend, sie taten nie etwas ohne einen Zweck. Es gab nur einen Menschen, der mir diese Fragen beantworten konnte. Aber heute nicht mehr, die Dunkelheit stahl alles Leben aus diesem Land. Meine Fragen würden bis morgen warten müssen.
Rasch machte ich mich auf den Nachhauseweg. Dieser Teil des Waldes war wie ein Zuhause für mich, deswegen hatte ich auch nach Sonnenuntergang keine Schwierigkeiten den Weg zu finden. Ich schaffte ihn in der Hälfte der üblichen Zeit. Die zuvor gespürte Kälte trieb mich voran.
Ich sah das Licht meiner Heimat-Lebensinsel Galmud schon von weitem. Die Leuchtfeuer für die Nacht brannten bereits mit voller Stärke auf den hohen Türmen, die in regelmäßigen Abständen aus der Schutzmauer um Galmud hervorragten. Schon nachmittags begannen die Turmwächter die Feuer zu schüren, denn nur Licht und Wärme hatten die Macht, die Wesen der Nacht und andere Gefahren der dunklen Wälder fernzuhalten. Das Tor schloss eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang, sodass ich gerade noch rechtzeitig hindurchschlüpfen konnte. Leider nicht unbemerkt …
»Keylah!« Mit einem Seufzer, weil ich erwischt worden war, drehte ich mich um und ging ein paar Schritte auf die dunkle Gestalt zu, die im Schatten eines Torflügels stand. Auch ohne ihn genau zu erkennen, wusste ich, dass es der Turmwächter Agron war. Mein Glück, denn Agron kannte mich schon mein ganzes Leben lang und ließ mich oft gewähren, wo andere Turmwächter schon längst den Regelverstoß gemeldet hätten. Ich streifte die Kapuze meiner Jacke vom Kopf, sodass meine dunklen Haare über die Schulter nach vorne fielen.
»Nun sag schon deinen Spruch, Agron!« Agron war ein sehr gewissenhafter Turmwächter und nahm diese Aufgabe äußerst ernst. Die Turmwächter wurden sehr geschätzt, denn sie trugen große Verantwortung. Sie sorgten dafür, dass das Tor zur richtigen Zeit geschlossen wurde und dass keiner unerlaubt hinein- oder hinausging. Außerdem bewachten sie die zahlreichen Türme innerhalb der Mauern, damit sie niemand unbefugt betrat. Auf den Türmen sorgten die Feuermeister dafür, dass die Feuer die ganze Nacht brannten.
»Wozu? Es scheint, als wärest du die Einzige, die immun ist gegen die Warnungen vor den Gefahren da draußen. Im Gegenteil, manchmal hab ich den Eindruck, dass gerade das dich noch mehr anspornt. Es ist schon das dritte Mal in dieser Woche, dass ich dich nach Einbruch der Dunkelheit hier erwische. Das dritte Mal! Ganz zu schweigen von den letzten Wochen!«
Agron schien sich wirklich zu ärgern. Er war ein großer kräftiger Mann und wenn man ihn nicht kannte, wollte man ihm nicht draußen im Dunkeln begegnen. Doch im Grunde war er ein herzensguter Mensch und wenn er wütend wurde, begann er nervös mit den Augen zu zwinkern. So wie jetzt.
»Schon gut, es hat ja sonst keiner gemerkt!«, versuchte ich ihn zu beschwichtigen.
Als Kind war er oft gehänselt worden, weil er viel größer als alle Gleichaltrigen war, aber zugleich der Ängstlichste. Und obwohl er fünf Jahre älter war als ich, war ich oft für ihn eingesprungen, hatte ihn verteidigt und zu ihm gehalten. In gewisser Weise war er mein bester Freund.
»Weißt du, was passiert, wenn einer herausfindet, dass ich dich decke? Meinen Wachposten würd’ ich verlieren und ich liebe meine Aufgabe, sie ist …«
»… Familientradition, eine Ehre, ja, ich weiß …«, vervollständigte ich seine immer gleichen Sorgen, die ihn schon sein Leben lang begleiteten.
Aber Agron schien erst richtig in Fahrt zu kommen. »Und nicht nur meinen Posten würde ich verlieren, wahrscheinlich würde ich verurteilt werden und als Ausgestoßener enden …«
Ich rollte mit den Augen und unterdrückte einen Seufzer. »Jetzt übertreibst du aber. Du hast weder jemanden umgebracht noch Hochverrat begangen, warum sollte man dich ausstoßen?«
Die Ausgestoßenen zählten zum Abschaum des Landes, im Grunde wurden sie gar nicht mehr als Menschen betrachtet. Sie bekamen ein Brandmal auf die Stirn, sodass alle sie sofort erkennen konnten, und wurden unwiderruflich aus den Dorfgemeinschaften verbannt, ohne eine Möglichkeit der Rückkehr. Sie lebten draußen in den dunklen Wäldern Benoths, viele überlebten nur kurze Zeit, und die, die überlebten, stellten eine noch größere Gefahr dar. Niemand wollte einem Ausgestoßenen begegnen.
»Und wenn dein Vater das erfahren würde, dann wäre ich als Ausgestoßener sogar noch besser dran.« Agrons Stimme zitterte.
»Aber er wird es nicht erfahren, weil weder du noch ich es ihm sagen werden, nicht wahr, Agron?«
Ich sah ihn durchdringend an. Nein, mein Vater durfte es unter keinen Umständen erfahren. Jeder im Dorf fürchtete ihn. Er war nicht der Typ Mensch, der viele Freunde hatte. Ehrlich gesagt wusste ich nicht, ob er überhaupt einen hatte.
Aber deswegen sollte ich mich schleunigst auf den Weg nach Hause machen. Also verabschiedete ich mich von Agron, nachdem er sich wieder etwas beruhigt hatte, und überließ ihn seiner wichtigen Aufgabe.
Die sogenannte erste Ausgangssperre begann mit der Dämmerung, infolge derer es allen verboten war, sich außerhalb der Lebensinseln aufzuhalten. Eine Stunde nach Sonnenuntergang trat die absolute Ausgangssperre in Kraft, die jedem gebot, sich im Haus aufzuhalten. Nur den diensthabenden Turmwächtern und den Kontrollwachen war es erlaubt, sich im Freien aufzuhalten, denn sie sorgten für unsere Sicherheit. Zumindest versuchte man uns das weiszumachen. Aber genau genommen wusste jeder, dass es so etwas wie Sicherheit nicht gab, nicht in dieser Welt.
Manchmal träumte ich von solch einer Welt, einer Welt ohne Dunkelheit, ohne Gefahr, ohne Kälte. Ich träumte von ausgiebigen Spaziergängen im Wald, vom Schlafen unter freiem Himmel, von einer Sonne, die niemals unterging. Ich wusste, dass diese Welt nur in meinen Gedanken existierte, aber besser dort als nirgendwo.
Hier im Land Benoth existierte sie jedenfalls nicht. Benoth bestand hauptsächlich aus Flüssen und Wäldern – den sogenannten dunklen Wäldern, denn auch bei Tag schaffte es nur selten ein Sonnenstrahl bis zum Waldboden –, durchsetzt von den ummauerten Lebensinseln der Menschen. Doch auch die Mauern und Schutzfeuer der Nacht boten nur einen mäßigen Schutz gegen die Lebewesen und Gefahren des Waldes. Die Wälder waren die Heimat vieler Kreaturen, einige davon harmlos und die meisten von ihnen sehr lichtscheu, weswegen sie sich nur nachts aus der Dunkelheit des Waldes heraustrauten. Ich kannte die Schauermärchen, die über die Wesen der Nacht berichtet wurden. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob sie wahr waren oder nur die Angst der Menschen widerspiegelten. Denn Angst ist ein großer Märchenerzähler. Ich würde sie erst glauben, wenn ich selbst solch einem Wesen der Nacht begegnet war.
Im Süden grenzte Benoth an die Berge, hinter denen sich das Land Jissurim befand. Die nördliche Grenze bildete das Meer und irgendwo dort, wahrscheinlich, wenn das Meer zu Ende war, sollte es ein Land mit Namen Kadosch geben. Deshalb wurde Benoth auch das Zwischenland genannt. Noch nie hatte ich von jemandem gehört, der in Kadosch gewesen war. Es war das ferne Land hinter dem großen Meer – ein unbekanntes Land mit einem unbekannten König in einer unbekannten Welt. Das Meer hatte ich noch nie gesehen, doch ich träumte davon, denn es löste ein Gefühl von Freiheit in mir aus.
Der Rest des Abends verlief in gewohnter Routine. Ich traf noch vor meinem Vater zu Hause ein, was die günstigste aller möglichen Varianten war. Auf dem Weg in meine Kammer schnappte ich mir zwei Äpfel und eine Scheibe Brot und konnte mich einschließen, bevor mein Vater, meist kurz vor dem Inkrafttreten der absoluten Ausgangssperre, unsere Hütte betrat und die Tür von innen verriegelte. »Keylah, bist du zu Hause?«, rief er dann, worauf ich meist mit einem »Ja, Dad, ich schlafe schon!« antwortete, und damit war unsere abendliche Konversation schon beendet. Was sonst hätten wir uns auch sagen sollen?
Seit dem Tod meiner Mutter – ich war damals zwei Jahre alt – lebten mein Vater Jetur und ich alleine hier in dieser Hütte: Und das waren nun bald sechzehn Jahre. Wir hatten uns nie viel zu sagen und so hatte sich bei uns eine Alltagsroutine eingespielt, die auf recht wenig Konversation basierte – was uns beiden mehr als recht war. Mein Vater war der typische Einzelgänger: zurückgezogen, verschlossen und nicht besonders gesellschaftstauglich. Einfach nicht der Typ Mensch, in dessen Gegenwart man sich gerne aufhielt. Ich fühlte mich immer ein wenig unbehaglich in seiner Nähe, ohne genau erklären zu können, warum. Obwohl er mein Vater war, empfand ich ihn als fremd.
Auch der nächste Tag begann mit seinem gewohnten Ablauf. Doch noch heute sollte eine Kette von Ereignissen in Gang gesetzt werden, von der ich im Moment noch nichts ahnte, nein, in Wirklichkeit hatte sie bereits begonnen.
Die ersten Sonnenstrahlen läuteten das Ende der Nacht ein und erweckten die Bewohner Galmuds zum Leben. Die Schutzfeuer der Nacht verglühten und die Stille aus Besorgnis und Anspannung wich der Heiterkeit, die das Licht mit sich brachte. Das Zwitschern eines Vogels weckte mich. Er hatte sich den Baum vor meinem Fenster für sein morgendliches Konzert ausgesucht. Noch bevor ich die Augen aufschlug, waren die Gedanken an meine gestrige Begegnung mit den schwarzen Wölfen wieder da. Auch wenn ich die Erinnerung daran im Licht dieses neuen Tages nur noch wie hinter einer Nebelwand sah, so konnte ich doch die Kälte der Gefahr förmlich noch auf meiner Haut spüren. Schon lange nicht mehr hatte ich so eine intensive Kälte gespürt. Das letzte Mal war im Herbst gewesen, als eine wilde Hundemeute von Streunern meinen Lebensmittelvorrat in der Nähe meines Baumes ausgebuddelt hatte und ich gerade im Begriff gewesen war mein Baumhaus zu verlassen. Ohne die Kälte hätte ich sie nicht rechtzeitig entdeckt.
Schon als Kind war ich anders als die anderen Kinder. Ich hatte kein normales Kälteempfinden, die Kälte der starken Herbstwinde machte mir nichts aus. Mir wurde kalt, wenn ich mich einem Wespennest näherte oder wenn ich im Begriff war giftige Beeren zu essen oder wenn ein tollwütiger Hund auf mich zusteuerte. Dann bekam ich eine Gänsehaut und meine Hände begannen zu zittern, ein kalter Wind kündigte die näherkommende Gefahr an und wenn ich mich in ihrer unmittelbaren Nähe befand, kam der Nebel – dann war eine Flucht nicht mehr möglich. Mein Vater schien meine Störung, wie er es nannte, früher entdeckt zu haben als ich, als hätte er es bereits geahnt. Er verbot mir, darüber zu sprechen, sagte, es würde die anderen Kinder eifersüchtig machen, und drohte mir damit, dass ich Galmud verlassen müsste, wenn meine Fähigkeit anderen bekannt würde. So schwieg ich.
Doch der Vorfall von gestern Nacht war anders. Diese Art intensiver und durchdringender Kälte hatte ich noch nie zuvor gespürt. In Benoth gab es keine Wölfe und wenn man doch welche zu sehen glaubte, waren es Späher aus dem Land Jissurim, die sich in Wolfsgestalt tarnten.
Jetzt, am Morgen danach, hatte ich nur ein Ziel. Es gab allein eine Person, die hier Rat wusste.
Mein Vater stand bereits in seinen schwarzen Arbeitsstiefeln vor der Küchenanrichte und suchte die letzten Reste an Essbarem zusammen. Ich trat an den kleinen Küchenecktisch und schnappte mir den letzten Apfel als Frühstück. Ein leichtes Kopfnicken Jeturs sollte mir als Begrüßung dienen, ohne dass er dabei aufschaute. Eine Weile aßen wir schweigend vor uns hin, als mich ein plötzlicher Gedanke etwas sehr Abwegiges tun ließ.
»Ich hab gestern Späher draußen im Wald gesehen!«, sagte ich so beiläufig, als würde ich über das Wetter reden.
Obwohl wir das natürlich nie taten. Unauffällig und aus den Augenwinkeln heraus beobachtete ich ihn.
Für den Bruchteil einer Sekunde verengten sich seine Augen zu Schlitzen und sein Mundwinkel zuckte. Aber es war kaum mehr als eine flüchtige Wahrnehmung und schon im nächsten Moment war ich mir nicht mehr sicher, ob ich es mir nur eingebildet hatte.
Dann fing er schallend an zu lachen. »Späher? Die wurden seit mindestens hundert Jahren nicht mehr in dieser Gegend gesehen. Mach dich nicht lächerlich!«, stieß er hervor und dabei zuckte sein linker Mundwinkel, wie immer, wenn er log. Dann schnappte er sich seine Arbeitsjacke und verließ immer noch lauthals lachend die Hütte.
Ein kalter Luftzug streifte mich und ich rieb mir die Arme. Erschrocken starrte ich auf die aufgestellten Härchen. Und zusammen mit meinem Vater verzog sich auch die plötzliche Kälte wieder aus dem Zimmer.
Es gab nicht viel, das ich über meine Mutter wusste, und noch weniger, an das ich mich erinnern konnte. Genau genommen hatte ich keine konkreten Erinnerungen an sie. Es war mehr ein Gefühl, das mir geblieben war. Ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit, das ich nur bei ihr erlebt hatte, etwas, das ich mit ihr verloren hatte. Ich hatte längst aufgehört, weiter danach zu suchen, und doch hatte ich tief in mir drin die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass es irgendwo auf dieser Welt – oder vielleicht in einer anderen? – einen Ort gab, an dem man das finden konnte: Sicherheit, Geborgenheit, Ruhe. Einen Ort, vielleicht auch einen Menschen, da war ich mir nicht sicher. Aber im Moment war ich von beidem weit, weit weg.
Ich näherte mich der kleinen versteckten Hütte im Wald, in der meine Großmutter Bhanuja lebte. Sie war eine der wenigen noch verbliebenen Einsiedler in unserem Land, eine derjenigen, die aus freien Stücken den Ausschluss aus der Dorfgemeinschaft gewählt und sich für ein Leben außerhalb der Lebensinseln entschieden hatten. So wohnte sie zurückgezogen in ihrer Hütte und wenn man nicht genau wusste, wo man sie zu suchen hatte, hatte man keine Chance, sie hier draußen zu finden. Als kleines Kind hatte sie mir verschlüsselte Landkarten gezeichnet, damit ich sie besser finden könnte, ohne mich hier draußen zu verlaufen. Diese Zeichnungen hatte ich längst vernichtet. Mittlerweile kannte ich die Waldgebiete um meine Lebensinsel in- und auswendig. Und so nahm ich jedes Mal einen anderen Weg, wenn ich meine Großmutter besuchte.
Ich war sehr gern bei ihr. Man lernte stets neue Dinge, denn sie war eine sehr weise Frau. Als Kind saß ich oft bei ihr und weinte, weil ich anders war als die anderen Kinder. Ich wusste es noch wie heute: Ich war gerade mal acht Jahre alt, als ein paar Kinder aus Galmud mich zu einer Mutprobe herausforderten, aber ich brach sie ab. Nicht aus Angst, nein, sondern weil mich die aufkommende Kälte davor warnte, weiterzumachen. Von dem Tag an hänselten mich die Kinder und schlossen mich aus. Ich war so wütend und enttäuscht, weil ich nicht einfach normal sein konnte, dass ich nicht mehr aufhören konnte zu weinen. An diesem Tag riet meine Großmutter mir, meine Fähigkeit nicht als eine Last, sondern als Gabe anzusehen.
»Jeder besitzt eine Gabe, mein Kind«, begann sie damals und legte mir ihre alte knochige Hand auf die Schulter. »Nur die meisten Menschen erkennen die ihre nicht als solche an. Jeder malt sich sein eigenes Bild, wie eine Gabe sein sollte, wie seine Gabe sein sollte, und die Farben dieses Bildes bestehen aus den eigenen Wünschen, Sehnsüchten, auch aus dem eigenen Mangel. Wenn aber dein Bild einer Gabe aus dem besteht, was dir fehlt, wirst du sie nie bei dir finden können. Die eigene Gabe bleibt dir verborgen, wenn du den Blick auf deinen Mangel gerichtet lässt, denn sie erscheint dir immer als etwas Alltägliches, Vertrautes, Selbstverständliches. Diese Selbstverständlichkeit versperrt dir den Blick auf deine Gabe. Und dann kann sie zu deiner größten Schwäche werden.«
Ich hatte mir ihre Worte damals tief eingeprägt, obwohl ich sie noch nicht ganz verstand. Aber spätestens seitdem wusste ich, dass die Gabe meiner Großmutter Weisheit war.
Deshalb setzte ich jetzt große Hoffnungen in sie. Wer, wenn nicht sie, sollte sonst Licht in das Dunkel meines Rätsels um die Wölfe bringen? Und wie viel mein Vater davon wusste? Seit Stunden kreisten meine Gedanken um nichts anderes. Die tägliche Arbeit auf dem Feld war mir heute besonders lang und schwer vorgekommen. Meine Gedanken quälten mich zu sehr.
Meine Großmutter wusste jedes Mal schon im Voraus, wenn ich zu ihr kam. Sie war nie überrascht. Sie sagte, dass meine Mutter – ihre Tochter – wie eine unsichtbare Verbindung zwischen uns sei. Eine schöne Vorstellung, denn das bedeutete, dass meine Mutter noch in gewisser Weise in meinem Leben existierte.
Bhanuja war eine alte Frau, deren Körper vom Leben gezeichnet war, aber dennoch sprühten ihre Augen voller Lebensfreude. Ihre faltigen dünnen Hände wirkten zerbrechlich, aber wenn sie mich in ihre Arme nahm, war ich jedes Mal überrascht von ihrer Kraft.
»Gut, dich zu sehen, mein Kind«, sagte sie und hielt mich auf Armeslänge von sich. »Lass dich anschauen!« Sie musterte mich eindringlich. Dann änderte sich ihr Gesichtsausdruck und noch ein paar weitere Falten mischten sich unter die schon vorhandenen auf ihrer Stirn. »Ich kann deine Verunsicherung spüren. Was betrübt dein Herz?«
Ihre Fähigkeit, meine Gefühle zu erspüren, bevor ich sie mitteilte, und ihre Art, mich ernst zu nehmen, als gäbe es in dem Moment nichts Wichtigeres auf der Welt, machten es mir leicht, ihr auch die Dinge anzuvertrauen, die ich sonst niemandem sagen würde.
»Ich habe Späher gesehen, Großmutter!«, platzte ich heraus, denn das war der Grund, warum ich hier war.
»Späher?« Sie erstarrte und ein Ausdruck von Angst erfüllte ihr Gesicht. Schnell führte sie mich zum Tisch, drückte mich auf einen Stuhl und nahm gegenüber Platz. »Waren sie in Gestalt von Wölfen?«
»Ja! Genau wie du es mir immer erklärt hast. Was wollten sie hier?«
Schon als kleines Kind hatte sie mich davor gewarnt. Es gab hier in Benoth keine Wölfe und wenn man dennoch welche zu sehen glaubte, dann waren es Späher der Jissurim, die sich in Wolfsgestalt tarnten.
»Ich weiß es nicht, aber Späher sind erst der Anfang, mein Kind!«
Eine Weile schwiegen wir und ich war mir nicht sicher, was dieses Schweigen zu bedeuten hatte.
Als meine Großmutter erneut zum Sprechen ansetzte, hatte sie sich wieder gefasst. »Das weiß hoffentlich sonst keiner.« Sie schaute mir eindringlich in die Augen. Bestimmt spürte sie mein Unbehagen, es hatte sowieso keinen Zweck zu versuchen, etwas vor ihr zu verbergen.
»Mein Vater weiß es«, gab ich zu. »Er tat so, als würde er mir nicht glauben. Ich denke, er lügt.«
»Du darfst ihm nicht trauen, mein Kind. Er ist nicht der, für den du ihn hältst.«
Für einen Moment schloss Bhanuja die Augen. Schließlich nickte sie kaum merklich, wie zu sich selbst, erhob sich und schob eine halbhohe Holzvitrine zur Seite. Sie löste ein Holzpanel aus dem Fußboden und entnahm aus dem freiliegenden Versteck eine kleine verstaubte Dose aus Blech. Sie pustete über den Deckel der Dose und strich sorgsam mit den Fingern darüber, als wäre sie ein wertvoller Schatz. Dann nahm sie wieder am Tisch Platz.
»Deine Mutter hat dich sehr geliebt, mein Kind.«
Ich senkte den Kopf und betrachtete meine Hände. Es verging eine kleine Ewigkeit, bis sie weitersprach.
»Sie war nur wenig älter als du jetzt, vielleicht ein, zwei Jahre, als wir einen furchtbaren Streit hatten. Wir stritten oft. Sie war sehr dickköpfig.« Sie lachte leise. »Genau wie du!« Großmutter öffnete die Dose und entnahm ein vergilbtes Stück Papier. Mühsam faltete sie es auseinander und breitete es zwischen uns auf dem Tisch aus. Es war eine Landkarte, wie ich sie schon öfter gesehen hatte. Die Mitte der Karte zeigte ein großes Waldgebiet, unterbrochen von mehreren großen Lichtungen und einigen Flüssen. Das Land Benoth. Im Südosten des Landes befand sich eine Lichtung, über die Galmud geschrieben stand, meine Heimat-Lebensinsel. Weiter unten konnte man deutlich das große Mitah-Gebirge, die sogenannten Todesberge, erkennen und das dahinter ganz im Süden liegende Land Jissurim.
Sie deutete mit ihrem Finger an den unteren Rand der Karte. »Wolfswesen, mein Kind, kommen immer aus Jissurim und sie kehren auch immer wieder dorthin zurück. Sie dienen dem Herrscher der Jissurim, König Schalith.«
Ich hatte schon von ihm gehört, von Schalith aus Jissurim, man nannte ihn gern auch den »dunklen Herrscher«. Zahlreiche Legenden rankten sich um ihn, eine schrecklicher als die andere. Welche davon die Wahrheit enthielten, wusste wohl nur Schalith selber.
»Gehe niemals Richtung Süden. Jissurim ist das Land des Todes. Wer dorthin geht, kehrt niemals zurück.« Für einen Moment schloss sie die Augen, als ob sie sich konzentrieren und mit aller Kraft Erinnerungen zurücktreiben müsste.
»Deine Mutter war jung und wollte heraus aus den Mauern Galmuds. Sie ließ sich nicht davon abbringen. Also ging sie.« Bhanuja seufzte kaum hörbar. Dann fuhr sie fort. »Eines Tages, es war kein Jahr vergangen, stand sie unerwartet vor meiner Tür. Ich lebte damals noch in Galmud. Sie war schwanger, das war bereits deutlich zu erkennen. Aber sie kam nicht alleine. An diesem Tag lernte ich Jetur kennen. Zusammen tranken wir eine Tasse Tee. Sie sprach sehr wenig. Die Schwangerschaft mache sie müde, erklärte sie. Die meiste Zeit sprach er. Sie hätten sich ein schönes Häuschen eingerichtet bei seiner Familie. Das Kind würde sie dort zur Welt bringen. Sie würden wiederkommen, wenn das Kind alt genug sei, um diese Reise zu verkraften. Dann verabschiedeten sie sich. Sie sah sehr blass aus und ich versuchte mir einzureden, dass es an den Anstrengungen der Schwangerschaft läge. Wenn ich gewusst hätte, dass es das letzte Mal war, dass ich sie sah …« Sie schluckte schwer und presste sich ihre alte knochige Hand auf den Mund.
»Als sie gegangen war, bemerkte ich etwas unter dem Stuhl, auf dem sie gesessen hatte. Es war eine Kette.«
Mit zittrigen Händen entnahm sie der Dose eine hölzerne Schmuckschatulle mit einem winzigen Schloss daran. Lange betrachtete sie das Kästchen aus Holz, als wäre es der größte Schatz, den sie besäße.
»Mein Kind, hüte diese Kette wie deinen Augapfel!«
Das erste Mal, seit sie ihre Erzählung begonnen hatte, sah sie mir wieder direkt in die Augen, als wollte sie damit die Wichtigkeit ihrer Aussage unterstreichen.
Mehr als ein »Natürlich, Großmutter!« brachte ich nicht über die Lippen. Die Vorstellung, ein Geschenk von meiner Mutter zu bekommen, wenn auch nur indirekt, brachte mich völlig durcheinander. Vorsichtig nahm ich das Kistchen entgegen. Ich hatte immer nach etwas gesucht, das mich an sie erinnerte.
»Sieh, die Dämmerung bricht schon herein. Du musst nach Hause, Kind. Aber … komm morgen wieder, sobald du kannst. Dann werde ich dir alles Weitere erzählen.« Die Worte meiner Großmutter holten mich zurück aus meinem Tal der unerwarteten Gefühle.
»Nun geh! Und beeile dich, die Zeit drängt. Die Dunkelheit ist nicht unser Freund.«
Ich rannte nach Hause. Genauso wie meine Füße rasten auch meine Gedanken in meinem Kopf. Ich versuchte, sie festzuhalten, aber sobald ich es versuchte, entglitten sie mir und waren verschwunden, noch ehe sie zu Ende gedacht waren. Sie drehten sich wie ein Karussell in meinem Kopf, ein viel zu schnelles Karussell, das nicht gestoppt werden konnte. Die Gedanken übertrugen die Geschwindigkeit an meine Füße. Als könnte ich ihnen so entkommen. Doch es war unmöglich, ihnen zu entkommen, sie waren schneller. Ich rannte und nahm nichts mehr um mich herum wahr. Meine Hände umklammerten die kleine Schmuckschatulle wie den rettenden Strohhalm, als könnte sie Antworten auf alle meine Fragen geben, als hätte sie eine Lösung für die Leere in meinem Inneren. Leere kommt, wenn selbst der Schmerz dich verlässt. Wenn deine Suche vergeblich war.
Doch nun fühlte sich alles anders an. Es war, als hätte jemand meiner kleinen Welt einen Stoß gegeben und sie wäre ins Schlingern geraten. Und mit einer dumpfen Gewissheit wusste ich, dass es nie wieder wie zuvor sein würde.
Doch wie sehr sich meine Welt in den nächsten vierundzwanzig Stunden ändern würde, das konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht mal erahnen.
Die Dunkelheit senkte sich immer tiefer auf das Land und würde es bald vollständig umschlossen haben. Ich merkte nicht, wie mir dunkle Augen heimlich folgten. Schon lange folgten. Ich hätte es merken müssen, doch im Nachhinein ist man immer schlauer. Und so schlau war ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.