Brokkoli ist eine warme Farbe - Ulrich Bender - E-Book

Brokkoli ist eine warme Farbe E-Book

Ulrich Bender

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Beschreibung

BROKKOLI IST EINE WARME FARBE. Die Palette der Kurzgeschichten reicht von humorvoll und informativ bis skurril und spannend. Unterhaltsam sind die Geschichten nicht nur für Veganer und Gartenliebhaber, sondern auch für Tierrechtler, Straßenaktivisten und Menschen in Krankenhäusern. Eigentlich für alle, die sich für Pflanzen und Farben interessieren. Und wer tut das nicht?

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DANKE

Für die Unterstützung: Lilli, Jazzy und Leon

Für die Zeit: Skinny, Jula, Kisha, Emma, und Sam (und die Katzen)

BROKKOLI IST EINE WARME FARBE

Kurzgeschichten. Rein pflanzlich.

Malerei: Ulrich Bender

Kontakt: www.ulrich-bender.de

2023 I Alle Rechte vorbehalten.

INHALT

Brokkoli ist eine warme Farbe

Bishnoi

Das Licht und die Finsternis

Feta Morgana

Von Menschen und Mäusen

Frühstück

Traktor

Laubenpieper

Sonnenschnee

BROKKOLI IST EINE WARME FARBE

Es ging mir nicht gut. Seit geraumer Zeit lebte ich mit dem deutlichen Gefühl, meine Zukunft hinter mir gelassen zu haben. Altersbedingte Unruhezustände, Verwirrtheit und depressive Verstimmungen nehmen ab dem fünfzigsten Lebensjahr schneller als befürchtet die Gestalt an, die du jeden Morgen im Spiegel bestaunen darfst. Gerne wird dein Körper in dieser Altersklasse auch von Nierensteinen, Bandscheibenvorfällen und ähnlich pfiffigen Dysfunktionen heimgesucht. Selbst wenn das keine typischen Altersgebrechen sind, werden sie doch immer wieder gerne genommen, um dem Leben ab 50 einen besonderen Kick zu geben. Die Angebote deines Körpers, dich darauf aufmerksam zu machen, wie schön es sein könnte, schmerzfrei zu leben, häufen sich.

Ich war nur verhalten begeistert, als es bei mir so weit war, entschied mich dann aber für das volle Programm: Nierensteine und Bandscheibenvorfälle. Das Schöne daran war, dass ich nicht alles auf einmal, sondern kurz hintereinander bekam. So hatte ich volle zwei Wochen Zeit, um mich zu entspannen. Nierensteine erfreuen sich im fortschreitenden Alter großer Popularität und wenn sie von den berüchtigten Koliken begleitet werden, dann gibt es für den Betroffenen kein Halten mehr. Die Freude an den neuen Körperempfindungen rutscht mit dem Einsetzen der ersten Schmerzattacke allerdings zügig in den Keller und bevor man darüber nachdenken kann, warum es einen so brutal erwischt, kann man nicht mehr darüber nachdenken, warum es einen so brutal erwischt. Schmerz löscht Denken. Das Glücksgefühl, wenn man endlich im Krankenhaus am Tropf liegt und die Schmerzmittel Wirkung zeigen, möchte man nie wieder missen. Darüber hinaus ist der Verlauf der Therapie mit vielen Überraschungen bestückt. Sie reichen vom verheißungsvollen Einsetzen einer sogenannten Schiene, dem Legen eines Katheters und dem immer sehr aussichtsreichen Versuch, die Steine mit Hilfe von Schallwellen zu zertrümmern – was aber nicht unbedingt bedeutet, dass sie den Körper verlassen – bis zur Einnahme komatisierender Opioide und harntreibender Getränke.

Als Bonus kam ich während meines Klinikaufenthalts in den Genuss zweifelhafter Bekanntschaften. Mein Bettnachbar zum Beispiel hatte, was sich im Laufe unserer Bettlägerigkeit herausstellte, eine ausgeprägt multiple Persönlichkeit, war fanatisch wehleidig und dabei bis zur Besessenheit mitteilungsfreudig. Er hieß Jochen – ein angehender Psychopath gesetzten Alters, der seinem Urinbeutel einen spektakelhaften Schauwert verpasste, indem er ihn stolz und immer prall gefüllt vor seine Augen hielt, wenn er halbwegs sicher war, ihn leeren zu müssen. Das geschah überraschend häufig. Dabei musste er das Bett passieren, in dem ich lag und in dem ich jedesmal die Luft anhielt, wenn er vorbeitorkelte. Er geht jetzt wieder über die Bande, dachte ich jedesmal. Und siehe da, einer Billardkugel gleich, touchierte er mein Bettgestell, wo immer sich die Gelegenheit auf diesem relativ kurzen Weg bot. Noch heute bewundere ich die Stabilität und Dichte der Beutel und bin froh, dass es – jedenfalls im Bereich der Medizin – eine Art von Plastik gibt, die auch gröbstem Missbrauch standhält. Die Beutel, die in der urologischen Station bis auf die Ärzte und Ärztinnen alle tragen – ich glaube mich daran erinnern zu können, dass auch das Personal aus Solidarität mit den Patienten beuteltragend herumschlenderte – sind immer und bei jedem knackvoll und stets der Gefahr ausgesetzt, dem Träger zu entgleiten, zu bersten und den Inhalt auf den Flur, ins Zimmer oder im besten Fall ins Bad zu ergießen. Das macht den Aufenthalt in der Urologie spannend und auf eine besondere Weise reizvoll.

Jochen ist bis heute der einzige Mensch, den ich kennenlernen durfte, der Erscheinungen hat. Es handelte sich bei ihm allerdings um Ausfallerscheinungen. Jedesmal, wenn er im Bad verschwand, vorausgesetzt er schaffte es dorthin, ohne dass der Beutel explodierte, wurde ich von lautem Getöse und obszönsten Flüchen geweckt. Irgendetwas Schreckliches passierte in diesen Augenblicken. Augenblicke, in denen ich von Geschlechtsumwandlungen und /oder einer Farm in Afrika zu träumen begann. Im Anschluss an Jochens Aufenthalt im Bad war dieses weder zu erkennen noch zu benutzen. Die Reinigungskräfte, die morgens den Sanitärbereich betreten mussten, zeigten sich ratlos, immer wieder aufs Neue erschüttert und stellten sich die Frage, wie das, was sie sehen mussten, passiert sein konnte. Ich war hinterhältig genug, um meinen Nachbarn anzuschwärzen, indem ich lautlos mit dem Finger auf ihn zeigte, nachdem ich einen sympathischen Pfleger ein böses „Mein Gott, wer war denn das schon wieder?“ zischen gehört hatte. Es war entsetzlich. Ich erinnere mich dunkel daran, dass ich, als ich das Bad betrat, nachdem Jochen dort wieder einmal gewütet hatte, schwungvoll auf einem Nierenstein ausrutschte. Es kann auch etwas anderes gewesen sein. Ich will es nicht wissen. Mir und meinem Beutel ging es im Anschluss an die Besuche in der von uns Patienten liebevoll „Keramikabteilung“ genannten Nasszelle nicht wirklich besser. Die Eindrücke aus diesem Bereich des Krankenzimmers waren immer zu mächtig, zu verstörend, zu nachhaltig. Ich benutzte „unser“ Bad ganz einfach nicht mehr und huschte bei Bedarf über den Flur, auf dem immer Unmengen von Beutelmenschen herumwatschelten, hinüber zur Besuchertoilette, um mich dort von meinem angestauten Ballast zu befreien – eine Arbeit, die normalerweise vom Pflegepersonal übernommen wird.

Im Anschluss daran blieb ich gerne vor den vergilbten Drucken stehen, die den kargen Flur dekorativ nur mäßig aufwerten konnten. Auf einem der Motive war vage etwas wie eine Banane zu erkennen. Die Bilder mussten schon seit Generationen hier hängen und waren dermaßen verfärbt und verblasst, dass sich manches zur Schau gestellte Gemüse nur noch grob an der Form und nicht an der Farbe zu erkennen gab. Hätte ich die Gestalt der Frucht nicht identifiziert, wäre die rosafarbene Banane bei mir als psychedelisches Artwork durchgegangen.

Nur die Darstellung eines Brokkoli hatte seine ursprünglichen Farben – fein nuancierte Grüntöne und ein verhalten marmoriertes Beige im Hintergrund – behalten. Das Wasser lief mir angesichts der so hübsch dargestellten Gemüseattraktion in Mund und Blase zusammen und ich blieb oft vor diesem einen Motiv stehen, das so detailliert und fein gezeichnet war, dass es nicht nur meinen Appetit anregte, sondern mir darüber hinaus ein warmes und wohliges Gefühl bescherte. Empfindungen, die man im Krankenhaus sehr gut gebrauchen kann. Am letzten Tag meines Aufenthaltes im Hospital beschloss ich den Rest meines Lebens der Forschung, der Zucht, dem Genuss und den vielfältigen Möglichkeiten der bildhaften Darstellung von Brokkoli zu widmen. Ein warmes Gefühl der Dankbarkeit breitete sich in mir aus. Es kann aber auch ein plötzlich einsetzender Harnfluss gewesen sein.

Da ich an meinem ersten Tag im Hospital erklären durfte, welcher Ernährungsfraktion ich angehöre, bestand mein Speiseplan aus Obst, Gemüse, pflanzlichen Brotaufstrichen – und Alpro-Vanillepudding. Die Pflanzenküche scheint nicht nur in der gesellschaftlichen Mitte, sondern mittlerweile auch in unseren Krankenhäusern angekommen und dort selbstverständlich zu sein. Prima. Den Alpro-Vanillepudding gab es jeden Tag als Nachtisch, morgens, mittags und abends. Das war von den Angestellten in der Krankenhausküche lieb gemeint – aber ich wurde den Verdacht nicht los, dass sich die Verantwortlichen bei der Bestellung verkalkuliert hatten und mehrere Paletten Alpro-Vanillepudding irgendwo schlummerten, die nun zügig verwertet werden mussten. Da nicht nur ich, sondern alle den Pudding bekamen, erhärtete sich dieser Verdacht. Ich aß zwei Tage lang meine Puddings auf und erschrak ein wenig, als ich am dritten Tag zum Mittag- und zum Abendessen jeweils zwei bekam. Jeder, der Alpro-Pudding kennt, weiß, wie mühevoll es ist, die kleinen, nahezu unverwüstlichen Plastikbecher zu öffnen, ohne sich zu bekleckern, zu verletzen oder größere Schäden in der nahen Umgebung anzurichten. Ab dem vierten Tag mochte ich die Becher nicht mehr aufbrechen. Beide Hände waren von dieser Tätigkeit geschwächt und dazu hatte sich eine dauerhafte Lähmung meiner Geschmacksnerven eingestellt – ein Symptom, dem ich den Namen Alprositis vanilla gab.

Anfangs sammelte ich die Puddings, wie das so in Krankenhäusern üblich zu sein scheint, schließlich können ja mal noch schlechtere Zeiten kommen als die, die es sowieso schon sind, wenn man im Krankenhaus liegt. Ich hortete sie in Schubladen und Schränken und nachdem alle freien Flächen mit Puddingbechern belegt waren, ließ ich sie zurückgehen. Das mache ich nicht gerne, da ich es als Akt der Unhöflichkeit ansehe, wenn jemand etwas zurückgibt oder stehen lässt. Das gilt auch für Krankenhäuser. Als ich anfing, von Alpro-Vanillepudding zu träumen, bestellte ich sie endgültig ab. Ich wollte nicht mehr. Aber es war zu spät. In meinem grässlichsten Traum sah ich, wie Alpro-Vanillepudding die Tür vom Badezimmer aufbrach, sich mit Wucht ins Zimmer ergoss, durch unsere Urinbeutel in unser Innerstes kroch und wir in einer nicht enden wollenden Alpro-Vanillepudding-Flut ertranken. Ich nahm noch die erstickenden Schreie des Pflegepersonals wahr, dessen sich der Pudding auf dem Flur und in den Dienstzimmern bemächtigt hatte. Das Letzte, was ich erblickte, war ein Arche-Noah-ähnliches Schiff, das auf einem gelb blubbernden endlosen Meer dahintrieb. Im Ausguck standen Jochen und ich. Wir hielten uns fest und starrten verständnislos in die Tiefe. Es war das erste Mal, dass mir in einem Traum schlecht wurde.

In den folgenden Tagen und Nächten ging mir – während Jochen 24 Stunden täglich den Sanitärbereich verwüstete – der Brokkoli nicht aus dem Sinn. Fast täglich stellte ich mich im Flur vor das wunderschöne Gemüse-Bild. Manchmal wurde ich dabei vom Personal angesprochen. Man hielt mich für geistig zurückgeblieben und fragte mich, ob es mir gut ginge und ob ich Tilidin, Targin und Novaminsulfon vertrüge. Eine Frechheit, mich aus meinen Träumen zu wecken. Nach gefühlten drei Jahren wurde ich entlassen. Jochen und ich hatten auf dem Alpro-Ozean mehrfach die Welt umschifft, waren dabei auf unbekannte Kontinente vorgedrungen (von denen wir einen auf den Namen Alpromerika tauften), hatten uns gegen einen mehrere Stockwerke hohen Alprosaurus behaupten müssen und waren, nachdem wir uns zur Landung an fremden Gestaden entschlossen hatten, auf das Volk der Vanille-Alprosen getroffen, das uns feindlich gesonnen war und uns beide mit einer galoppierenden Alprositis vanilla infizierten. Wir wurden dick. Aber ich schweife ab.

In Wirklichkeit war es wunderbar, geheilt nach Hause zu kommen, so wie es immer wunderbar ist, wenn man geheilt nach Hause kommt. Jochen würde ich nie mehr wiedersehen und als ich frohlockend zum ersten Mal unseren heimischen Kühlschrank öffnete, wurde ich von einer Mauer von Alpro-Vanillepudding-Bechern erschlagen. Ein Geste, die ich zu würdigen versuchte. Sicher war es lieb gemeint, schließlich hatte mich meine Familie im Krankenhaus täglich besucht und in den ersten Tagen muss es offensichtlich gewesen sein, dass ich eine gute bis sehr gute Beziehung zu Alpro-Vanillepudding gehabt hatte. Ich verschenkte den kompletten Pudding-Vorrat. Nie wieder Alpro-Vanillepudding. Das Thema war für mich gegessen.

Tags darauf holte ich mir einen Brokkoli. Ich blanchierte ihn im Ganzen. Ein bisschen Salz, ein wenig Pfeffer und erfüllt von reichlich Vorfreude, legte ich ihn behutsam auf einen Teller, brachte ihn in meinen Arbeitsraum und betrachtete ihn lange und ausgiebig, bevor ich mit meinen Skizzen begann. Die heilende Wirkung des Chlorophylls setzte ein, als ich die ersten Grüntöne anmischte und auf der Leinwand aufbrachte. Alles war anders. Ich war zu Hause, ich war gesund und fühlte mich sehr wohl. Während ich zu malen begann, spürte ich, dass Brokkoli eine warme Farbe ist.

BISHNOI

Ich habe nur eine vage Ahnung davon, wie ich dazu kam, mir die GEO-Fernseh-Reportage Bishnoi – Tierliebe bis in den Tod anzusehen. Wahrscheinlich war ich wieder einmal auf der Suche nach Menschen, die in unserem Kulturkreis eine Minderheit darstellen: Menschen, die sich, wie es in der Reportage so schön heißt, dem Schutz allen Lebens verschrieben haben – und diese Haltung auch konsequent im Alltag umsetzen.

Dabei sollte es doch für jeden von uns ein Leichtes sein, sich unseren Planeten als ein komplexes und lebendiges Ganzes vorzustellen. Das Prinzip Gaia bzw. die Einsicht, bei unserer Urmutter nur für eine relativ kurze Zeit Gast zu sein und aus dieser Kenntnis entsprechende ethische Lehren zu ziehen, ist als gesellschaftpolitisches Thema medial – auch in Zeiten eines rasant gestiegenen Klimabewusstseins – eher unterrepräsentiert. Es scheint für viele Menschen nicht interessant bzw. nutzlos zu sein, sich neben den zahllosen Zerstreuungsmöglichkeiten durch Smartphones, Games, Streaming und einer allgegenwärtigen Konsumwut auf Wesentliches zu besinnen und sich einen Augenblick selbst zuzuhören. Immer noch ist den meisten von uns die Vielfalt der Arten und die Fragilität der Ökosysteme nicht wichtig genug ...

Wenn wir uns mit der Sinnhaftigkeit unserer Existenz ernsthaft auseinandersetzen und die Konsequenzen unserer Überlegungen im Alltag verankern wollen, brauchen wir Zeit und Muse. Statt uns über das eigene Tun und Lassen klar zu werden und innezuhalten, rufen wir aber gerne gefühlte Milliarden von Sinnsprüchen auf allen möglichen Kommunikationsplattformen auf, die wir in dem Augenblick, in dem wir sie lesen, schon wieder vergessen haben. Es fällt uns schwer, Wichtiges von Unterhaltsamen zu trennen und während wir noch überlegen, ob es sinnvoll ist, wieder einmal die Medien auf nennenswerte Infos abzuklopfen, ist eine Stunde verflossen, die wir lieber der Betrachtung eines Baumes oder einer Katze hätten widmen sollen.