Brunnenstraße - Andrea Sawatzki - E-Book
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Andrea Sawatzki

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Beschreibung

Andrea Sawatzkis ungeschminkter autobiografischer Roman

Keine Kindheit wie jede andere. Eine, die Andrea Sawatzki wie in einem Kurzfilm einfängt: 1971 wird der Journalist Günther Sawatzki von seiner Stelle in London abgezogen und geht zu seiner Familie nach Deutschland zurück. Aber er will sein altes Leben aufgeben und mit seiner Geliebten zusammensein, mit der er eine Tochter hat: Andrea. Doch bald stellt sich heraus, dass dieser weltläufige und gebildete Mann schwer krank ist. Das Geld wird knapp, die Mutter muss wieder als Nachtschwester arbeiten, und die zehnjährige Andrea kümmert sich um den dementen Vater, der launisch, ungeduldig und jähzornig ist. Es entspinnt sich ein geheimes Leben zwischen den beiden von Nähe und Entfremdung, Liebe und Überforderung. Bis zu seinem katastrophalen Ende.

Ein eindringlicher und sehr persönlicher Roman der Bestsellerautorin

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Covergestaltung: Cornelia Niere

Coverabbildung: privat

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

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Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für Christian, Moritz und Bruno

»Liebes: ein Mädchen! Und so süß soll es sein! Du weißt doch, Mädchen sind mehr für den Papa da, während Mütter mehr von Söhnen haben. Es muss ein sehr artiges Kind sein, weil es Dich, obwohl kein Junge, gesundheitlich so wenig gestört hat!! Hoffentlich nicht zu artig! Verwöhne es nur nicht so, wie Du mich verwöhnst, das rächt sich. Ich hoffe, in ca. 4 Wochen gesundheitlich so weit wiederhergestellt zu sein, dass ich Euch besuchen kann. Denn nicht nach Schlehdorf zu kommen, ist ja ganz ausgeschlossen.«

Günther Sawatzki an seine spätere Frau, 24. Februar 1963

Ich habe es versucht. Immer wieder. Habe begonnen und abgebrochen. Und dann die Geschichte so erzählt, dass ich in mir selbst eine Fremde sehen konnte, mit der ich nichts zu tun hatte. Ich verbarg mich, um diese Person, die mir Angst machte, von außen betrachten zu können. So tastete ich mich an das Geschehene heran, konnte ein bisschen besser verstehen, warum aus mir ein Kind geworden war, das seine Kindheit abgestreift hatte wie eine lästige Haut. Das, als sich ihm die erste Chance bot, sich für das Böse entschieden hat.

Mittlerweile kann ich mit der Wahrheit umgehen. Ich habe das Kind in mir wiedergefunden. Ich habe mir verziehen. Es zählte für mich nur eines: Weiterleben.

1

Wenn ich an meine Kindheit denke, denke ich an die Blumen in unserem Garten. Meine Kindheit ist eingeschweißt in ein Blumenbild.

Es gab auch den Winter in meiner Kindheit, in dem sich der Himmel wie eine feuchtkalte Decke über uns legte. Aber in meiner Erinnerung sehe ich immer den Sommer. Die Blumen blühen vor meinem Kinderzimmerfenster.

Als kleines Mädchen spürte ich, solange die Blumen da waren, konnte mein Leben nicht so schnell vorbei sein, wie ich manchmal fürchtete. Ich erinnere mich an den Duft der Wicken, die sich an dem rostigen Abflussrohr unserer Regenrinne emporrankten, den Duft der Rosen im Vorgarten, das Lila des Rittersporns, das Leuchten der Feuerlilien.

Wenn es regnete, öffnete ich die Fenster und lauschte dem Prasseln der Tropfen auf den Blättern der Bäume, dem Gurgeln des Wassers im Abfluss auf der Terrasse. Das Geräusch mischte sich mit dem Trommeln des Regens auf den Fliesen, und ich fühlte mich trotz allem geborgen und beschützt.

An anderen Tagen brannte die Sonne auf unser Haus herunter. Die Luft hing schwül und schwer in den Räumen, die Balken knarrten, und das Summen der Fliegen hinter den geschlossenen Fenstern klang wie ein immer wiederkehrender schlechter Traum.

2

Ich teile meine Kindheit in zwei Leben auf.

Mein erstes Leben dauerte bis zu meinem achten Jahr. Ich lebte mit meiner Mutter in Vaihingen an der Enz. Sie arbeitete tagsüber als Krankenschwester in einer Klinik, und ich verbrachte meine Zeit am liebsten in den Straßen oder oben in den Weitfeldern, die die kleine Stadt umgaben. Ich war frei und mir selbst überlassen, und ich erinnere mich, dass ich glücklich war. Meinen Vater kannte ich kaum. Er lebte weit weg und war mit einer anderen Frau verheiratet. Manchmal besuchte er uns. Dann schlief er in einem Hotel, damit die Nachbarn nicht auf unanständige Gedanken kamen. Ich kannte damals keine Männer, zumindest gehörte keiner in unser Leben.

Wenn mein Vater uns besuchte, sprach er anders mit mir als meine Mutter, er nahm mich anders in den Arm, und er roch anders. Ich bemühte mich, mich so zu benehmen, wie ich es bei meinen Freundinnen und ihren Vätern gesehen hatte. Ich setzte mich auch manchmal auf seinen Schoß und ließ mir sagen, dass ich ein tolles großes Mädchen sei. Aber mein Gefühl sagte, dass mit mir etwas nicht in Ordnung sein konnte, weil ich nichts fühlte.

Als ich acht Jahre alt war, starb die erste Frau meines Vaters, und meine Eltern beschlossen zusammenzuziehen. Natürlich fand ich den Gedanken, einen eigenen Vater zu bekommen, schön. Alle meine Freundinnen hatten einen Vater. Und dass ich jetzt auch einen eigenen bekommen würde, machte mich stolz.

3

Die Hochzeit meiner Eltern sollte 1971 am Ende meiner Sommerferien in Vaihingen stattfinden. Das hatte sich meine Mutter so gewünscht. Sie wollte all ihre Arbeitskolleginnen aus der Klinik, die inzwischen zu engen Freundinnen geworden waren, dabeihaben. Sie war stolz darauf, nicht mehr arbeiten zu müssen, weil mein Vater uns jetzt versorgen würde.

Meine Mutter zeigte mir das Hochzeitskleid, das sie sich für den großen Tag gekauft hatte. Es war aus hellblauem Brokatimitat, schlicht und gerade geschnitten, ärmellos und mit einem kleinen, von Strasssteinchen besetzten Stehkragen. Passend dazu ein kleines Jäckchen. Sie hatte das Kleid und das Jäckchen für mich angezogen und drehte sich lachend im Kreis wie ein Mannequin. Sie sah wunderschön aus. Für mich war sie in diesem Moment die schönste Mutter auf der ganzen Welt. Das Jäckchen habe ich ihr später abgeluchst und mit zerrissenen Jeans und alten Turnschuhen kombiniert. Ich trug es, bis die Perlen und Steinchen abgefallen waren und der Stoff Fäden zog. Das Jäckchen bedeutete mir viel. Es gab mir das Gefühl, meine Mutter ganz nah bei mir zu haben. Noch nach Jahren bildete ich mir ein, ihr Parfum zu riechen, wenn ich das Jäckchen trug.

Meine Mutter plante, den Umzug zu meinem Vater auf die Woche vor der Hochzeit zu legen. Danach gingen auch meine Sommerferien zu Ende, und ich würde in die dritte Klasse an meiner neuen Grundschule kommen.

Diese letzten Sommerferien vor den großen Ereignissen verliefen anders, als ich es bis dahin gewöhnt war. Meine Mutter war das erste Mal nicht mit mir ans Meer gefahren. Stattdessen hatte sie mich in einem Ferienheim in Hemsbach untergebracht, einem kleinen Städtchen in Baden-Württemberg. Meine Abwesenheit haben meine Eltern genutzt, um sich ein wenig näherzukommen, wie meine Mutter es nannte. Abgesehen von den wenigen Besuchen meines Vaters kannten sie sich ja kaum.

Von den Wochen im Ferienheim habe ich mir ziemlich viel versprochen, und die Enttäuschung war bodenlos. Denn das Gebäude, in dem wir wohnten, war kein altes, von dichtem Grün umgebenes Schloss mit knarzenden Treppen und hohen Fenstern, wie ich es mir in meiner Fantasie ausgemalt hatte. Es war ein grauer Betonbau mit einem asphaltierten Parkplatz, hinten grenzte es an eine trostlose Wohnsiedlung. Ich erinnere mich an das Heimweh, das mich plagte, obwohl mir meine Mutter jeden Tag eine Postkarte mit einem Tiermotiv vornedrauf schickte. Die Betreuerinnen in diesem Ferienheim waren streng, das Essen fad. Die Tage verbrachten wir oft damit, auf den Abend zu warten. Nur die Gewissheit, wieder einen Tag hinter uns gebracht zu haben, tröstete uns. Einmal pro Woche durften wir in ein kleines Hallenbad. An anderen Tagen mussten wir im Gänsemarsch durch die Felder laufen. Abends waren wir so müde, dass wir sogar unser Heimweh vergaßen und uns nur noch auf die Klappbetten im großen Schlafsaal freuten.

Ich fand heraus, dass ich großes Aufsehen damit erregen konnte, Schlafwandeln vorzutäuschen. Kaum war das Saallicht gelöscht worden, erhob ich mich und wanderte mit aufgerissenen Augen und Unverständliches vor mich hin murmelnd durch die Bettreihen. Die anderen Kinder riefen die Betreuerin, die mich zurück ins Bett bugsierte. Aber wenige Minuten später begann ich von vorn mit meiner Vorstellung. Mein Schlafwandeln wurde das Gesprächsthema im Frühstücksraum. Aber nach und nach verebbte das Interesse an mir, und meine Wehmut und Einsamkeit kehrten zurück.

Wenn wir uns in den Augen der Betreuerinnen danebenbenommen hatten, wurden wir in dem großen Gemeinschaftswaschsaal in eine Art Duschkabine gesperrt. Handtellergroße Nachtfalter klebten an den Wänden, die einem ins Gesicht flogen, wenn man nachts aufs Klo musste und das Licht anmachte.

Einmal besuchten mich meine Eltern dort. Sie waren in dem Ford Taunus meines Vaters angereist, trugen Kostüm und mein Vater weißes Hemd und Anzug. Sie hielten sich an den Händen, und ich war, obwohl mir der Anblick einen Stich versetzte, stolz darauf, zu einer echten kleinen Familie zu gehören.

Nach der Zeit im Ferienheim brachte mich meine Mutter zu ihrer Freundin Doris. Sie wollte den Umzug von Vaihingen zu meinem Vater nach Baldham noch vor der Hochzeit abwickeln, damit ich dann mit ihr in ein perfektes neues Zuhause käme. Bevor es so weit war, sollte ich bei Doris untergebracht sein. Sie hatte sich oft um mich gekümmert, und ich mochte sie. Inzwischen hatte sie selbst drei kleine Kinder und lebte am Rand einer Siedlung im Bayerischen.

Die Kinder lenkten mich von meinem Heimweh ab. Auch gab es einen blauen Wellensittich, der so zahm war, dass er mir die Körnchen aus der Hand pickte. Später habe ich erfahren, dass sein Zutrauen nicht freiwillig, sondern seinem Hunger geschuldet war. Er bekam außer den Körnchen, die ich ihm gab, gar nichts anderes. Er bekam genau einen Teelöffel Futter pro Tag.

Mein Heimweh wurde nicht kleiner, aber der Tag der Hochzeit rückte näher und damit auch der Tag des Wiedersehens mit meiner Mutter.

Kurz vor der Hochzeit sollte mein Vater mit dem Auto kommen, um mich abzuholen. Ich war aufgeregt und konnte die Nacht vor seiner Ankunft kaum schlafen. Als mein Vater in der Tür stand, hatte ich so starkes Bauchweh, dass ich mich nicht gerade halten konnte. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, aber den Erwachsenen blieben mein aschfahles Gesicht und die gekrümmte Haltung nicht verborgen. Mein Vater entschied kurzerhand, mich nicht zur Hochzeit mitzunehmen.

Ich weinte und schrie und schämte mich zugleich, dass mein Vater mich so sah. Aber die Vorstellung, nicht bei der Hochzeit meiner Mutter dabei sein zu dürfen, war mir unerträglich. Ich gehörte doch zu ihr.

Nachdem mein Vater ohne mich abgefahren war, rannte ich aus dem Haus und an den Feldern entlang, bis ich nicht mehr konnte. Ich setzte mich ins Gras, langsam kam mein Atem zurück, die Tränen trockneten auf meinen Wangen.

Die Kühe betrachteten mich aus ihren schönen, traurigen Augen. Dann kamen sie näher, beschnupperten mein Haar und leckten meine Hände.

4

Die Hochzeit war ohne mich gefeiert worden. Einen Tag darauf stand meine Mutter vor Doris’ Haus, um mich abzuholen. Sie weinte unaufhörlich, nahm mich fest in den Arm, küsste mich und bat mich, ihr zu verzeihen, dass sie sich nicht gegen meinen Vater hatte durchsetzen können. Später erfuhr ich, dass er seine Entscheidung gar nicht mit ihr besprochen hatte. Er hatte einfach plötzlich allein in der Tür gestanden.

Auf der Fahrt nach Hause erzählte meine Mutter von der Hochzeit. Ich machte es mir mit meinen Puppen und Plüschtieren auf der Rückbank unseres VW Käfers bequem und ließ mich von meiner Mutter in mein neues Leben chauffieren, wobei ich die Gesichter meiner Puppenkinder immer wieder gegen die Scheiben presste, damit sie nichts von der spannenden Reise verpassten.

Sie hatten standesamtlich geheiratet, danach gab es ein Essen. Sie berichtete von ihren Freundinnen, die alle gekommen waren, von meinen Pflegeeltern und Pflegeomas, die bis dahin auf mich aufgepasst hatten und bei der Nachricht, dass sie mich nicht in die Arme schließen konnten, in Tränen ausgebrochen waren. Jeden zweiten Satz schloss meine Mutter mit dem Bedauern darüber ab, dass ich bei diesem wichtigen Ereignis nicht dabei gewesen war, und dass ihr das so leidtat. Ich hörte irgendwann nicht mehr zu. Dass mein Vater keinen einzigen Freund eingeladen hatte, erzählte sie noch. Er war allein gekommen.

Nach einigen Stunden erreichten wir das Haus, in dem mein Vater nun schon einige Monate ohne seine Frau lebte. Meine Mutter parkte vor der Einfahrt und betrachtete ihr neues Heim. Sie guckte lange zu dem Haus hinüber, und ich wartete, dass sie irgendetwas sagen würde. Aber sie schwieg und schaute nur.

»Mama?«, sagte ich, um sie daran zu erinnern, dass ich auch noch im Auto saß. Sie drehte sich langsam zu mir um und sagte: »Wir sind da.«

Ich wusste nicht, was sich meine Mutter von ihrem neuen Leben noch erhofft hatte. Ihr Plan war es zumindest gewesen, dass sie von nun an nicht mehr arbeiten würde, weil mein Vater genug Geld für uns alle verdiente. Mir gefiel die Aussicht darauf, meine Mutter in Zukunft für mich allein zu haben.