Ein allzu braves Mädchen - Andrea Sawatzki - E-Book
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Ein allzu braves Mädchen E-Book

Andrea Sawatzki

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Beschreibung

Die Hunde bellen tagelang im Garten des Anwesens, bevor man Winfried Ott findet. Der 71-Jährige liegt nackt im Badezimmer seiner Villa, er ist mit einer scharfkantigen Waffe ermordet worden. Zur gleichen Zeit entdeckt die Polizei in einem Waldstück eine verstörte junge Frau. In einem schillernden grünen Pailettenkleid hockt sie frierend unter den Zweigen einer Tanne - sie kann sich nicht erinnern, wie sie an diesen Ort gelangt ist. Nach ihrer Einweisung in die Psychiatrie öffnet sie sich nur ganz allmählich ihrer Therapeutin. Was sie schließlich erzählt, ist bewegend, tragisch und schockierend zugleich. Andrea Sawatzki gehört zu den bekanntesten deutschen Schauspielerinnen. In ihrem ersten Roman »Ein allzu braves Mädchen« beweist sie großes psychologisches Gespür und erzählerisches Talent.

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Für Christian

Alle in diesem Roman vorkommenden Personen und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen sowie realen Ereignissen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

2. Auflage 2013

ISBN 978-3-492-96157-8

Deutschsprachige Ausgabe:

© 2013 Piper Verlag GmbH, München

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München

Umschlagabbildungen: plainpicture/Arcangel/Elisa Lazo

Datenkonvertierung E-Book: Kösel, Krugzell

MONTAG

1Sie hatte sich in ein nahe gelegenes Wäldchen geflüchtet und kauerte unter den tief hängenden Ästen einer Tanne. Die Arme um ihren Oberkörper geschlungen, wiegte sie sich sanft vor und zurück, als wolle sie sich selbst festhalten. Um nicht auseinanderzubrechen.

Obwohl es kalt war, fror sie nicht, sie war empfindungslos. Der Regen hatte ihr Haar durchnässt, Tropfen perlten über ihr blasses Gesicht und rannen an ihrem Hals hinab.

Dumpf starrte sie auf das Muster der Tannennadeln zu ihren Füßen, und ihre Gedanken verloren sich in Bildern und Geschichten, die sie daraus ersann. Der Blick ihrer hellblauen Augen war starr, aber ihre Lippen umspielte ein leises Lächeln. Beides schien nicht recht zusammenzupassen, was ihrem Gesicht einen Ausdruck unendlichen Verlorenseins verlieh. Und doch fühlte sie sich wie befreit. Als hätte sie eine Last, die jahrelang schwer auf ihren Schultern gelegen hatte, endlich abgeworfen.

2Die beiden Jungen streiften lachend durch das dichte Wäldchen auf der Suche nach einem geeigneten Ort zum Versteckspielen, und ihre hellen Stimmen schienen an den knorrigen Stämmen der alten Bäume abzuperlen und tief in das große Schweigen einzusinken, das den Wald erfüllte. Sie sprachen lauter als nötig, um die bösen Geister fernzuhalten, und knufften sich gegenseitig, als sich im tief hängenden Grün einer Tanne vor ihnen etwas bewegte. Sie verstummten, dann fassten sie sich in der Vorfreude auf eine spannende Entdeckung an den Armen und schoben sich langsam näher an die Tanne heran. Neugier und Furcht hielten sich die Waage. Sie mussten sich bemühen, das hysterische Kichern zu unterdrücken, das an ihren Kehlen zupfte. Sacht bewegte sich etwas zwischen den Bäumen, schien sanft hin- und herzuwiegen, und ein Ton, hoch und metallisch, ließ die Jungen erschauern. Aber die Neugier war schließlich stärker als die Angst, also pirschten sie nah aneinandergedrängt weiter und bogen endlich ein paar Zweige zur Seite, um sehen zu können, was sich dahinter verbarg.

Der Schrei, den sie ausstießen, war ohrenbetäubend. Dann rannten sie los.

3Den beiden Polizisten, die kurze Zeit später in dem Wäldchen erschienen, bot sich ein merkwürdiger Anblick: Vor ihnen hockte, den Oberkörper tief vornübergebeugt, eine junge Frau. Sie trug ein grünes Paillettenkleid und hohe schwarze Lederstiefel, die strähnigen Haare schimmerten rötlich, und ihr Gesicht war dreckverkrustet. Ihre Hände und die nackten Beine waren voller Erde. Sie hielt ihre Knie umschlungen und sang leise vor sich hin. Die Beamten sprachen sie mehrere Male vergeblich an, es schien, als sei die Frau nicht bei Sinnen und habe sich forttragen lassen in eine fremde Welt.

Plötzlich aber hob sie den Blick und sah die Polizisten von unten an. Ihre Augen waren von einem eisigen Blau, und ein kalter Schauer überlief die Männer, als die junge Frau plötzlich die Zähne fletschte und ein kaum wahrnehmbares Knurren von sich gab. Dann kicherte sie leise und senkte den Blick wieder.

Über Funk forderten die Beamten einen Wagen an, weil ihnen die Begegnung nicht geheuer war, und als der eine Viertelstunde später endlich eintraf, packten sie die Frau und trugen sie in das bereitstehende Polizeifahrzeug. Sie leistete keinen Widerstand und brach ihr Schweigen nicht.

Außer ihrer Kleidung trug die junge Frau nichts bei sich. Da man ihr keine Auskunft über ihren Namen oder Wohnort entlocken konnte und sie einen stark verwirrten Eindruck machte, wurde sie sehr bald in die Psychiatrie überführt.

4Man hatte sie eingeschlossen. Ihr Zimmer war klein und überhitzt. Es gab nur ein Bett, ein Waschbecken und eine Toilette. Unter dem Fenster standen noch ein Tischchen und ein Stuhl. Wenn sie sich auf den Stuhl stellte, konnte sie aus dem Fenster blicken.

Eine Pflegerin hatte sie gewaschen und ihr einen Overall gegeben. Jetzt saß die junge Frau auf dem Bett und hatte die Arme fest um den Oberkörper geschlungen.

Das angebotene Essen rührte sie nicht an. Sie starrte auf das Gekritzel an der Wand. Es schien keinen Sinn zu ergeben, und darum beschäftigte sie sich damit, in den Linien der Buchstaben und den Schatten des Gemäuers eine eigene Bedeutung zu suchen.

Sie lauschte den Schritten und Stimmen der Menschen vor ihrer Tür. Wenn jemand davor stehen blieb, durchbohrte die Angst sie wie ein heißer Pfeil. Sie wollte allein sein, ungestört. Wieder starrte sie an die Wand. Das Sonnenlicht, das durch das hohe Fenster fiel, warf Schatten und Lichtflecken darauf. Es flimmerte auf der rauen Oberfläche. Sie erkannte eine sommerliche Landschaft, Felder, die sich in der Ebene erstreckten, ab und zu ein einsamer Baum, der Schatten eines Tieres, einer Wolke. Dann das satte Gelb des reifen Korns, welches sich sacht im Wind wiegte.

So verging die Zeit, bis es dunkel wurde. Irgendwann legte sie sich schlafen.

DIENSTAG

5Am frühen Morgen ging bei der Polizeidienststelle Grünwald ein Anruf ein. Ein Anwohner beschwerte sich darüber, dass die Hunde im benachbarten Garten seit Tagen bellten und jaulten. Obwohl er mehrmals bei seinem Nachbarn geklingelt hatte, öffnete niemand, und langsam begann er sich Sorgen darüber zu machen, dass dem alleinstehenden Mann etwas zugestoßen sein könnte. Die Frage, ob es möglich sei, dass sich der alte Herr auf Reisen befinde, verneinte er. Das sei völlig ausgeschlossen, Herr Ott würde seine Hunde niemals allein zurücklassen. Außerdem führe Herr Ott ein äußerst zurückgezogenes Leben und sei nicht sonderlich gesellig.

Als die Polizei wenig später am Ott’schen Grundstück eintraf, machten die ausgehungerten und aggressiven Schäferhunde es den Beamten unmöglich, das Haus zu betreten. Erst als die Tiere betäubt und abtransportiert worden waren, konnten sich die Polizisten daranmachen, die massive Eichentür des eleganten Gebäudes aufzuhebeln.

Sie traten in den großzügigen Eingangsbereich, wo ihnen sofort ein muffiger Geruch entgegenschlug. Der Raum lag im Halbdunkel. Die schweren, vergilbten Vorhänge vor den Fenstern verwehrten den Blick in den Garten. Die biedere Einrichtung stand in merkwürdigem Gegensatz zum pompösen Äußeren der Villa. Auf einer Kommode standen allerlei Porzellanfiguren, vornehmlich spielende Kinder und Hunde aller Rassen, an den Wänden Stickbilder mit Landschafts- und Hundemotiven. Den abgenutzten Dielenboden bedeckten fadenscheinige Perserteppiche.

Im Haus war es still, was wegen des Lärms, den die Hunde kurz zuvor gemacht hatten, nun besonders auffiel. Außer dem Ticken einer alten Standuhr war nichts zu hören, die Stille dröhnte in den Ohren.

Nachdem die Beamten das Erdgeschoss durchsucht hatten, stiegen sie die breite geschwungene Treppe in das obere Stockwerk hoch.

Im Schlafzimmer stießen sie gleich neben der Tür auf die Leiche des Hausherrn. Er lag nackt, mit eingeschlagenem Schädel und erheblichen Verletzungen am ganzen Körper in einer Lache getrockneten Blutes. Seine Gliedmaßen wirkten seltsam verrenkt. Die trüben, eingefallenen Augen waren aufgerissen, der Mund war weit geöffnet wie zu einem tonlosen Schrei. Anscheinend hatte der alte Mann versucht, vor seinem Mörder zu fliehen, denn eine getrocknete Blutspur zog sich von der Mitte des Raums bis hin zur Tür.

6Sie hatte nahezu zwölf Stunden geschlafen, was für Neuzugänge nicht unüblich war. Nachdem sie etwas Brot mit Marmelade und Kaffee zu sich genommen hatte, brachte man sie in den Therapieraum.

Die Psychiaterin, die sie dort erwartete, war um die fünfzig, von schlanker Gestalt, das dunkle Haar kinnlang geschnitten. Die braunen Augen hinter den Brillengläsern wirkten sanft und hatten doch etwas Energisches. Sie gab der jungen Frau die Hand, die sich kühl und fest anfühlte.

Die Psychiaterin wies der jungen Frau einen Stuhl zu, und setzte sich selbst an ein kleines Tischchen mit einer Blumenvase.

Dann sagte sie: »Mein Name ist Minkowa. Das Doktor können wir uns sparen. Wie heißen Sie?«

Die junge Frau schwieg.

»Sie wurden gestern früh in einem Wäldchen aufgefunden. Haben Sie eine Erinnerung daran, wie Sie dahin gelangt sind? Was davor geschehen ist?«

Die Patientin blickte an der Ärztin vorbei an die Wand und schwieg.

»Gibt es jemanden, den wir informieren sollen, jemanden, der sich eventuell Sorgen macht, warum Sie heute Nacht nicht nach Hause gekommen sind?«

Die junge Frau fixierte die Wand, und die Stimme der Psychiaterin wurde leiser und immer leiser. Irgendwann hörte sie sie nicht mehr. Sie hatte eine Stelle entdeckt, die einer Flusslandschaft glich. An den Rändern des Wassers wuchsen dichte Büsche, dahinter breiteten sich Wiesen aus. Sie strahlten in sattem Grün, und der Fluss schlängelte sich klarblau durch die Landschaft. Das sah schön aus, und sie gab sich der Vorstellung hin, am Ufer zu sitzen und hinabzublicken in die Tiefe des Gewässers.

Plötzlich riss die Stimme der Psychiaterin sie aus ihren Träumen.

Die junge Frau blickte auf.

»Kann ich Ihnen helfen?«

»Nein. Danke.« Sie hatte offenbar beschlossen zu sprechen. »Ich musste bei der Landschaft an meine Kindheit denken. Da sah es genauso aus.«

Die Ärztin blickte zur Wand. Außer dem Weiß der Tapete entdeckte sie nichts.

»Haben Sie denn schöne Kindheitserinnerungen?«

»Ja.« Die junge Frau neigte den Kopf zur Seite und lächelte. »Ich wuchs auf dem Land auf. Wir hatten ein großes Haus mit einem riesigen Garten. Hinten war ein kleiner Weinberg, mein Vater war leidenschaftlicher Gärtner und wollte unbedingt eigenen Wein anbauen.« Sie lachte. »Hat aber meistens nicht geklappt, irgendwelche Schädlinge oder Bakterien haben die Ernte oft ruiniert.«

Es war nicht erkennbar, warum sie so lange geschwiegen hatte und jetzt ein scheinbar normales Gespräch zu führen begann.

»Was macht Ihr Vater beruflich?«, fragte Dr. Minkowa.

»Er war Journalist. Er ist leider vor einiger Zeit gestorben. Meine Mutter auch. Sie kamen bei einem Autounfall ums Leben.« Die junge Frau senkte den Kopf und blickte zu Boden.

»Das war schwer für Sie?«

»Das war der schlimmste Moment meines Lebens, als ich die Nachricht bekam. Ich war zu Hause und machte gerade das Gästezimmer fertig, meine Eltern wollten mich für ein paar Tage besuchen. Dann klingelte es, und die Polizei stand vor der Tür.«

Sie verstummte. »Ich möchte nicht darüber reden, nein.« Ihr Blick ging nach innen.

»Natürlich nicht. Wann war das?«, fragte Dr. Minkowa vorsichtig.

»Weiß nicht, vor einigen Jahren. Ich unterteile den Schmerz nicht in Zahlen. Er ist allgegenwärtig.«

»Möchten Sie aus Ihrem Leben erzählen? Ich würde mich freuen, mehr über Sie zu erfahren. Wie heißen Sie?«

Die junge Frau schwieg unbeirrt.

»Wo sind Sie aufgewachsen?«

»In Schwaben, später sind wir dann in ein größeres Haus in Bayern gezogen. Da war ich noch klein, vielleicht acht. Mein Vater hat mir ein Pony geschenkt, das stand hinten im Garten und hat meiner Mutter immer den Gemüsegarten zertrampelt. Es hieß Loretto.«

»Ihre Mutter war nicht berufstätig?«

»Nein, sie musste nicht arbeiten. Sie wollte immer für mich da sein und hat sich um das Haus und alles gekümmert. Wir hatten viel Besuch. Meine Mutter hat leidenschaftlich gern gekocht. Eigentlich hatten wir immer ein volles Haus. Das war manchmal ziemlich chaotisch, aber schön. Ich konnte auch immer Freundinnen einladen.«

Die Psychiaterin überlegte kurz, dann fragte sie: »Erinnern Sie sich daran, wie Sie gestern früh in das Wäldchen gekommen sind?«

»Also, so wie ich mich kenne, war ich wahrscheinlich feiern und hab dann die Orientierung verloren. Das passiert mir manchmal.«

»Wie lautet Ihre Adresse? Wir haben keinen Ausweis bei Ihnen gefunden.«

»Oh, wo hab ich den denn bloß gelassen?« Die junge Frau wirkte abwesend.

Sie sah durch die Psychiaterin hindurch. Dann schien sie den ernsthaften Versuch zu unternehmen, sich zu erinnern. Nach einiger Zeit hob sie resigniert die Schultern.

»Ich weiß es nicht. Es tut mir leid, ich kann mich an gar nichts mehr erinnern.«

Panik trat in ihr Gesicht, und sie knetete ihre Hände.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde Ihnen helfen, sich zu erinnern. Wir werden gemeinsam herausfinden, was geschehen ist. Und bald werden wir sicher auch wissen, wo Sie wohnen und wer Sie sind. Sie können wieder nach Hause zurück.«

»Das wäre ganz schön.«

7Abends durfte sie duschen. Eine Pflegerin holte sie ab und brachte sie ins Untergeschoss. Dort befanden sich die Waschräume. Die Luft war feucht, es roch ein wenig modrig, denn die Abflüsse waren verstopft, und das schmutzige Wasser konnte nicht abfließen.

Sie ekelte sich, aber nachdem die Pflegerin ihr ein Stück Seife in die Hand gedrückt und die Kabinentür hinter ihr geschlossen hatte, fühlte sie sich besser. Sie stellte sich unter den Brausekopf und drückte den Knopf in der Wand. Dann schloss sie die Augen, legte den Kopf in den Nacken und ließ sich das heiße Wasser übers Gesicht laufen.

Sie erinnerte sich daran, wie sie als kleines Mädchen bei Regen aus dem Haus gelaufen war. Niemand hatte das damals verstanden. Sie war süchtig nach dem Regen gewesen, süchtig nach den dunklen Wolken und dem Grollen des Donners. Sie liebte die Einsamkeit, und bei schlechtem Wetter konnte sie sicher sein, dass sie kaum jemandem begegnen würde.

Sie war ein stilles Kind gewesen. Zurückhaltend und wohlerzogen. Die Mutter hatte ihr Kleider genäht und Pullover für den Winter gestrickt und einen Tellerrock aus roter Wolle, der bis hoch zu ihren Hüften geflogen war, wenn sie sich im Kreis drehte. Sie hatte immer Tänzerin werden wollen. Oder Tierärztin. Oder Verkäuferin in einem Tante-Emma-Laden. Ihr Haar war dünn und rötlich, und manchmal hatte sie sich eine Wollstrumpfhose über den Kopf gestülpt und geträumt, die Beine, die seitlich an ihrem Körper baumelten, wären Zöpfe.

Das Handtuch war rau, sie rubbelte damit über ihren Körper, bis die Haut brannte. Dann begleitete die Pflegerin sie zurück in ihr Zimmer. Sie setzte sich unter dem kleinen Fenster auf den Boden und starrte auf das graue Linoleum vor sich. Lange Zeit blieb sie so sitzen.

Es wirkte, als habe sich die Leblosigkeit auch Zugang zu ihrer Seele verschafft. Aber in ihrem Kopf tobte es. Sie versuchte sich verzweifelt an die Stunden zu erinnern, bevor man sie im Wald entdeckt hatte, aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Kaum hatte sie das Gefühl, einen klaren Gedanken zu fassen, löste er sich schon wieder auf.

Sie wusste, sie war mit ihrem Mini zur Arbeit gefahren und hatte den Wagen am Straßenrand geparkt. Es war bereits dunkel gewesen, als sie auf das Haus zugelaufen war, und sie hatte sich darüber geärgert, dass sie sich das Haar eingedreht hatte, bevor sie losgefahren war, denn es hatte in Strömen geregnet.

Danach war jede Erinnerung ausgelöscht.

Das Nächste, was sie vor sich sah, war die nass glänzende Fahrbahn am frühen Morgen. Es wurde gerade hell, sie saß in ihrem Auto und fuhr ziellos durch die menschenleeren Straßen. Sie fror und wusste nicht mehr, wo sich der Schalter für die Heizung befand. Irgendwann stieg sie dann aus, weil sie das Gefühl hatte, etwas Dunkles säße hinter ihr auf dem Rücksitz und beobachtete sie. Sie öffnete die Wagentür und rannte los. Bis sie sich in einem Wald wiederfand und sich unter den Zweigen eines Baumes versteckte. Ihr war übel, und sie bekam keine Luft, die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Und irgendwann wachte sie wieder auf, wie aus einem langen Traum. Sie hatte Kinderstimmen gehört und wusste im ersten Moment nicht, ob die Stimmen zu ihrem Traum gehörten oder real waren.

Plötzlich öffnete sich die Zimmertür, und eine Pflegerin brachte das Abendessen. Brot, helle Wurst und abgepackter Käse. Nachdem sie wieder gegangen war, lag minutenlang ein unangenehmer Schweißgeruch in dem kleinen Raum.

Die junge Frau rührte das Essen nicht an.

MITTWOCH

8

Abendzeitung, 17. 11. 1992

RÄTSELHAFTER MORD AN RENTNER

Der Tod des ehemaligen Leiters der Justizvollzugsanstalt Hof, Dr. Wilfried Ott (71), gibt der Polizei Rätsel auf.

Gestern Morgen gegen 6 Uhr früh ging bei der Polizeidienststelle Grünwald ein Anruf ein, in dem sich ein Mann über lautes Winseln und Gebell seiner Nachbarshunde beschwerte. Da es sich um Wachhunde handelte, hatte ihre stete Anwesenheit im benachbarten Garten zunächst keinen Verdacht erregt. Erst der Lärm, den die Tiere verursachten, machte den Anwohner aufmerksam, sodass er schließlich die Polizei alarmiert.

Nach Eintreffen vor Ort und dem Betäuben der aggressiven Hunde durch den Tiernotdienst fanden die Beamten im Obergeschoss der Villa die Leiche des Hauseigentümers. Der Tote lag mit schweren Schädelverletzungen und tiefen Wunden am ganzen Körper in seinem Schlafzimmer. Wertgegenstände oder Bargeld scheinen nach ersten Erkenntnissen nicht entwendet worden zu sein. Wilfried Ott lebte nach Aussagen seiner Nachbarn zurückgezogen und allein, nachdem vor einigen Jahren seine Frau verstorben war.

Wie es zu der grauenhaften Tat kam, ist zurzeit noch ungeklärt. Die Mordkommission hat die Ermittlungen aufgenommen.

9Als das Frühstück gebracht wurde, saß sie wieder unter dem Fenster auf dem Boden. Sie lächelte und bedankte sich bei der Pflegerin. Obwohl sie wusste, dass der Schweißgeruch auch dieses Mal noch lange im Raum bleiben würde, fühlte sie sich auf unerklärliche Weise mit der Pflegerin verbunden. Sie strahlte Mütterlichkeit und Wärme aus, was vielleicht auch mit ihrer Körperfülle zu tun haben mochte.

Als die junge Frau wieder allein war, versuchte sie erneut, sich zu konzentrieren.

Vor dem Fenster zog ein Gewitter auf. Sie konnte den Sturm hören, der unten im Hof an den Mülltonnen rüttelte, das Pfeifen, wenn er um die Hausecken jagte.

Bald würde es regnen.

Eine Erinnerung holte sie ein. Das erste Mal seit langer Zeit sah sie ein Bild in ihrem Innern und fand Worte dafür:

Sie hatte Sommerferien, saß auf der Fensterbank ihres Zimmers und genoss die Wärme der Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Sie war ungefähr neun Jahre alt. Vor ihr erstreckte sich die Pracht des Blumenbeetes. Das Blau des Rittersporns und das satte Orange der Feuerlilien mischten sich mit den unterschiedlichsten Grüntönen: die fröhlichen Farbtupfer der Wicken, die sich etwas seitlich am Gartentor emporrankten, dazu der betörende Duft aller Blüten. Sie hörte das Summen der Insekten, das Vogelgezwitscher und ab und zu das ferne Grollen eines aufziehenden Gewitters.

Die junge Frau gab sich ganz dieser Erinnerung hin und schloss die Augen. Der Sturm tobte immer lauter und gnadenloser, dicke Regentropfen zerplatzten an dem kleinen Gitterfenster, und Dunkelheit legte sich über den Raum.

Ende der Leseprobe