Woanders ist es auch nicht ruhiger - Andrea Sawatzki - E-Book
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Woanders ist es auch nicht ruhiger E-Book

Andrea Sawatzki

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Beschreibung

Schmunzeln und abschalten – raus aus dem Trubel des Stadtlebens, rein in das Chaos auf dem Land

Packen Sie Ihre Koffer und machen Sie sich auf den Weg in die Provinz. Die deutsche Autorin und bekannte Schauspielerin Andrea Sawatzki setzt ihre etwas andere Familiensaga fort.

Gundula ist außer sich! Warum erfährt sie immer als Letzte von allem? Dabei handelt es sich um keine Kleinigkeit, denn ihr Göttergatte Gerald hat beschlossen, ihr schönes Haus im Rotkehlchenweg zu verkaufen, um raus aufs Land zu ziehen. Jotwehdeh. Und zwar mit der ganzen Familie, inklusive beider Großmütter und der reizenden Schwägerin Rose. Eins ist schnell klar – wegziehen ist einfach. In der Provinz anzukommen aber ganz und gar nicht ...

Kaum jemand schreibt so amüsant über das deutsche Familienleben wie SPIEGEL-Bestseller-Autorin Andrea Sawatzki. Schon mit den anderen Büchern der Bundschuh-Reihe feierte sie große Erfolge. Die dazugehörigen ZDF-Filme, in denen sie zusammen mit Axel Milberg die Hauptrolle spielt, konnten ebenfalls hohe Einschaltquoten einfahren. Auch ihr neuer Roman wartet mit absurder Situationskomik auf, die trotzdem direkt aus dem Leben gegriffen scheint.

Die schrulligste Familie der deutschen Literatur – Andrea Sawatzki erzählt Neues aus dem skurrilen Leben der Bundschuhs

Bei der lang erwarteten Fortsetzung der Bundschuh-Reihe handelt es sich nicht nur um eine entspannte Komödie, sondern auch um einen Eheroman mit Ecken und Kanten.

»Woanders ist es auch nicht ruhiger« bietet perfekte und im besten Sinne leichte Unterhaltung. Andrea Sawatzkis strapaziert mit ihrem locker-lustigen Schreibstil die Lachmuskeln und liefert gleichzeitig reichlich Identifikationspotenzial für alle Leserinnen, die sich selbst schon einmal die exzentrische Verwandtschaft vom Leib halten mussten.

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Coverabbildung: Foto Andrea Sawatzki aus dem Film »Von Erholung war nie die Rede« © ZDF/Britta Krehl. Weitere Motive von dan tarradellas/GettyImages und Shutterstock.com

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

Rezept für Oma Sieglindes versunkenen Apfelkuchen

Für Christian, Moritz und Bruno und alle Menschen, die einen Bundschuh in der Familie haben …

1. Kapitel

Es begann alles damit, dass der Berliner Flughafen eines Tages seine Pforten öffnete. Das mag im ersten Moment logisch erscheinen, weil man Flughäfen ja nicht aus purem Spaß baut. Im Falle des BER sorgte es aber für große Überraschung, weil niemand mehr damit gerechnet hatte. Im Gegenteil. Die Eröffnung des BER hatte sich in den vergangenen Jahren zu einem Running Gag entwickelt. Der Flughafen blieb nach etlichen Baupannen zu und war nur noch ein paar Witze wert. Und das war auch gut so – zumindest unserer Meinung nach. Denn meine Familie und ich konnten den Flughafen am allerwenigsten brauchen. Erstens, weil wir ja grundsätzlich nicht fliegen. Wohin auch? Und zweitens, weil der Rotkehlchenweg samt unserem Haus in der Anflugschneise liegt.

Ich hörte als Erste von der drohenden Eröffnung, weil morgens bei mir in der Küche immer das Radio läuft. So auch an jenem schicksalhaften Freitag. Die Reaktion meiner Lieben war verhalten, weil sie gerade wieder irgendwelche anderen Probleme hatten, mit denen sie sich herumschlagen mussten. Irgendwelche Probleme gab es immer. Wir sind, ich sage es ungern, im Grunde eine deutsche Problemfamilie ohne wirkliche Probleme. Zumindest waren wir das – bis wir die Konsequenzen der Eröffnung realisierten.

An den Tag, als der Flughafen dann tatsächlich seinen Betrieb aufnahm, erinnere ich mich noch ganz genau. Ich stand frühmorgens im Garten und klaubte Schnecken aus meinem Salat. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten, unsere Hunde Gulliver und Othello spielten im Kohlrabibeet, Gerald probierte seine neuen Nordic-Walking-Stöcke aus, die ich günstig bei unserem Discounter ergattert hatte, und der Rest der Familie schlief noch.

Nichts ahnend zupfte ich ein wohlgenährtes Nacktschneckenbaby von einem Salatblättchen, als es plötzlich dunkel wurde. Eine riesige Wolke schien die Sonne zu verhüllen. Ich schaute nach oben und schrie auf. Über mir schwebte der riesige Bauch eines Flugzeugs. Im selben Augenblick durchbrach ohrenbetäubender Motorenlärm die Schallmauer, und ich warf mich zu Boden, wo ich mein Gesicht in der Erde vergrub.

Als der Lärm langsam verebbte und ich die Wärme der Sonne wieder auf meinem Rücken spürte, wagte ich einen Blick zum Haus. Es stand noch. Die Vögel begannen wieder zu singen, nur Gulli und Othello waren nirgends mehr zu sehen.

Ich versuchte, mich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass die Piloten noch ungeübt waren, was den Landeanflug auf den neuen Flughafen betraf. Wahrscheinlich mussten sie die richtige Flugroute erst erproben. Ich atmete tief durch und wandte mich wieder meinem Schneckensammelkästchen zu. Es war leer. Die Schnecken waren bei meinem Sturz hinausgefallen und suchten nun eifrig das Weite. Beherzt griff ich nach ihnen. Gerade wollte ich mich dem Möhrenbeet zuwenden, um meine Arbeit fortzusetzen, als der nächste Flieger auf unser Grundstück zusteuerte. Die Erde unter meinen Füßen vibrierte, die Scheiben unseres Schuppens klirrten, und Othello und Gulliver, die sich gerade zaghaft aus dem Dunkel der Hausmauer hervorgewagt hatten, rannten mit eingeklemmten Schwänzen Richtung Haus und gegen die geschlossene Terrassentür. Ich ging in die Knie und linste vorsichtig in den Himmel über mir. Dieses Mal war ich ein bisschen besser gewappnet für das, was auf mich zukommen würde. Ich zwang mich, die Augen nicht vom Himmel abzuwenden, und als das Flugzeug zum Greifen nah über meinem Kopf zur Landung ansetzte, befand ich, dass ich genug gesehen hatte, warf meine Schnecken wie üblich über den Gartenzaun zu Familie Federbein und lief ins Haus, um meine Familie, samt Susanne und meiner Mutter, zu wecken.

Unsere Mütter wohnten jetzt schon seit geraumer Zeit bei uns, was sie damit entschuldigten, dass sie aufgrund des weltweit grassierenden Virus und des daraus resultierenden Lockdowns von der Sorge geplagt waren, nicht mehr genug Zeit mit uns verbringen zu können. Kurz bevor die Bahn den Verkehr einstellte, hatte Ilse für sich und Susanne Zugfahrkarten ergattert. Und nun fühlten sie sich so wohl bei uns, dass sie gar nicht darüber nachdachten, nach Hause zurückzukehren, als es wieder möglich war. Ich hatte die leise Hoffnung, dass der Flugzeuglärm sie vielleicht umstimmen könnte.

2. Kapitel

Meine Mutter empfing mich an der Terrassentür. »Gundula, wie siehst du denn aus? Wasch dir mal das Gesicht, du bist ja völlig verdreckt. Hast du das eben mitbekommen? Das Haus ist fast eingestürzt! Wo warst du denn wieder? Immer wenn man dich braucht, bist du nicht da.«

»Ich war im Garten.«

»Was machst du denn in dieser Herrgottsfrühe im Garten?«

»Schnecken sammeln.«

»Schnecken sammeln? Als ob es nichts Wichtigeres gäbe, wenn fast das Haus einstürzt.«

Ich zwängte mich an Mutti vorbei und sah, dass die ganze Familie wach war. Nur Susanne fehlte, was wahrscheinlich an ihrer Schwerhörigkeit lag. Ohne ihr Hörgerät würde sie nicht mal den Weltuntergang mitbekommen.

Im Esszimmer saßen Rose und Hadi, beide noch im Nachthemd. Sie mussten in Panik aus ihrer Wohnung gegenüber zu uns gestürmt sein, um Unterschlupf zu finden. Zum Glück hatten sie an Eddie Barack gedacht, was in letzter Zeit selten der Fall war. Eddie Barack ist Roses kleiner, unehelicher Sohn aus einer kurzen Liaison mit Rolfis Beinahe-Schwiegervater Reginald Shoemaker. Jetzt saß Eddie auf Roses Schoß und aß Apfelbrei aus dem Gläschen.

»Gundula!«, rief Rose, als ich durch die Terrassentür kam. »Hast du das gerade mitgekriegt? Da fliegen irgendwelche Kampfflieger über uns weg. Der Gerald und der Hadi sagen, es sind vielleicht die Amis. Oder Terroristen!«

»Oder die Russen«, sagte meine Mutter hinter mir.

Jetzt erst bemerkte ich Gerald. Er hing in Vatis Lehnstuhl, hatte sich ein Kühlpad auf die Stirn gelegt und starrte an die Decke.

»Gerald! Was ist passiert?«

Geralds Gesicht war dunkelrot, lediglich ein dünner Streifen über der Oberlippe war kalkweiß. Ich näherte mich ihm vorsichtig. Hoffentlich hatte er sich bei seinem ersten Nordic-Walking-Versuch nicht übernommen.

»Gerald?«, fragte ich noch mal.

Er blinzelte ein bisschen, starrte aber weiter an die Decke.

So kannte ich ihn gar nicht.

Ich klopfte ihm auf die Schulter.

»Aua!«, schrie er auf. »Nicht anfassen!«

Zumindest hatte er seine Sprache nicht verloren.

»Was ist denn passiert?«

»Ich habe mir den Nacken gezerrt.«

»Wobei?«

»Das fragst du noch?«

Er atmete tief ein. »Ich bin geflohen, Gundula. Ich bin vom Meisenweg bis hierher durchgerannt. Ein Auto hätte mich beinah auf halber Strecke überfahren, weil ich so unter Schock stand, dass ich nicht mehr auf die Straße achten konnte. Ich wäre fast tot gewesen! Es war sooo …«, er hielt mir Daumen und Zeigefinger vor die Nase, »… knapp. Dabei muss es passiert sein. Also das mit dem Nacken.«

»Und … äh … wovor bist du geflohen?«, fragte ich.

»Na, vor den Russen«, sagte meine Mutter. »Wie oft denn noch!?«

Rose und Hadi nickten einvernehmlich mit den Köpfen.

»Unsinn«, sagte ich. »Das ist der neue Flughafen. Das hatte ich euch doch erzählt, dass der die Tage eröffnet wird. Aber mir hört hier ja keiner zu.«

»Ich habe dir zugehört, Gundula«, sagte Gerald und fischte sich das Kühlpad von der Stirn. »Aber –«

Ein weiteres Flugzeug näherte sich. Die Scheiben klirrten, und der Boden vibrierte. Geralds Lippen bewegten sich, aber durch den Motorenlärm hindurch war nichts zu verstehen.

»Was du gesagt hast?«, fragte meine Mutter, als es wieder einigermaßen still war. Sie hatte sich vorsichtshalber unter den Türrahmen geflüchtet.

»Dass es eventuell besser wäre, sich eine neue Bleibe zu suchen. Wenn dieser Höllenlärm anhält.«

3. Kapitel

Die folgenden Tage und Wochen im Rotkehlchenweg waren unerträglich. Der Fluglärm zwang uns gefühlt alle fünf Minuten in die Knie. Ständig klingelten wildfremde Menschen an unserer Haustür, stellten sich als Nachbarn vor und hielten uns Protestschreiben gegen den Flughafenbetrieb vor die Nase.

An den Zäunen im Rotkehlchenweg wurden die alten Plakate vom Vorjahr durch neue ersetzt. Die Sprüche blieben die gleichen: »Schönefeld? Nein danke!« oder »Tegel soll bleiben« und »Lärm macht krank«.

Wir waren der einhelligen Meinung, dass die Plakate nichts nützten, weil sich kaum je ein Politiker in seiner Limousine durch unser Viertel chauffieren lassen würde. Die Politiker lebten doch ganz woanders. Das weiß man ja inzwischen. Und sie haben bestimmt Wichtigeres zu tun. Zum Beispiel von dem neuen Flughafen aus zu irgendwelchen Gesprächen in die weite Welt zu fliegen.

Als wir eines Abends zusammensaßen, holte Gerald einen Aktenordner aus seiner Tasche und legte ihn auf den Esstisch.

»Was ist das?«, fragte Rose und stopfte Eddie Barack einen Löffel Kartoffelbrei in den Mund.

Gerald überhörte Roses Frage. Anscheinend hatte er sich vorgenommen, eine Ansprache zu halten. Er blieb vor dem Esstisch stehen und räusperte sich. »Meine liebe Familie. Da wir schon länger bemerken, dass das Wohnen im Rotkehlchenweg nicht mehr das ist, was es vor der Eröffnung dieses Flughafens war, habe ich mir erlaubt, mich nach Wohnalternativen umzusehen. Zum Glück habe ich durch meine Arbeit im Finanzamt Zugang zu den besten Kontakten. Auch in die Immobilienbranche. Das Finanzamt hat seine Fühler überall, uns entgeht nichts. Und aus diesem Grund haben wir natürlich auch exklusive Informationen über bevorstehende Zwangsversteigerungen. Ich bin in den letzten Wochen nicht untätig gewesen und habe eine Mappe mit verfügbaren und vor allem erschwinglichen Immobilien zusammengestellt, die ich euch bitte, einmal durchzusehen und mich dann über eure Meinung zu unterrichten.« Er deutete auf die Mappe. Dann sah er uns an. »Zeitgleich habe ich mich schon mal schweren Herzens darüber informiert, was unser Rotkehlchenweg letztendlich abwerfen wird, wenn wir uns entschließen sollten, ihn zu verkaufen.«

»Den Rotkehlchenweg verkaufen?«, fragte ich. »Das geht nicht.«

»Wieso geht das nicht?«, fragte meine Mutter. »Willst du hier weiter diesem Lärm ausgesetzt sein? Das überlebt höchstens Susanne. Die Glückliche ist ja taub.«

Susanne ignorierte diese Bemerkung. Ilse beugte sich vor und versuchte, die Aktenmappe zu sich herüberzuziehen. »Geraldchen, hilf mir mal.«

»Natürlich, Mutti«, sagte Gerald und lief um den Tisch herum, um Susanne die Unterlagen zu geben.

Wir anderen scharten uns um meine Schwiegermutter und betrachteten die Bilder, die sie vor sich ausgebreitet hatte.

Mir stockte der Atem. Ich schaute abwechselnd auf die Fotos und zu Gerald, der mit hochrotem Gesicht und geschwollener Brust zwischen unseren Lieben stand und Fragen beantwortete. Gerade war er dabei, die Ausmaße eines Schlosses in der Uckermark zu erläutern.

»Die Größe des Grundstücks beträgt etwa zwei Hektar. Das sind überwiegend Wiesen und Wälder. Aber die brauchen uns nicht kümmern, weil man die so lassen kann, wie sie sind. Die stehen nämlich unter Naturschutz. Viel wichtiger ist das dazugehörige Schloss. Das gibt es quasi gratis obendrauf. Das ist, den Fotos nach zu urteilen, noch fabelhaft in Schuss.«

»Was sind zwei Hektar?«, fragte Matz, der das mit seinen zwölf Jahren eigentlich schon längst im Mathematikunterricht hätte lernen müssen.

»Zwei Hektar sind 20 000 Quadratmeter, mein Sohn«, sagte Gerald.

Wir schwiegen und versuchten uns 20 000 Quadratmeter vorzustellen.

Rose sagte: »Ach so!« Aber ihrem Blick nach zu urteilen sagte sie das bloß, um irgendetwas zu sagen. Ich glaube nicht, dass Rose weiß, was 20 000 Quadratmeter sind. Ich glaube, Rose weiß nicht einmal, was ein einziger Meter ist.

»Kann mir das jetzt mal jemand erklären? Also, was das bildlich gesprochen heißt?«, fragte schließlich Susanne. Sie warf ihr blondes Perückenhaar zurück und spitzte den Mund. »Ich komme jetzt weniger aus dem Ackerbau, wie ihr wisst.«

»Der Garten hier im Rotkehlchenweg hat 700 Quadratmeter«, sagte meine Mutter.

Hadi hob den Kopf und sah sie ehrfürchtig an. »Woher weißt du das, Mutti?«

»Na, woher soll ich das schon wissen? Rate mal. Weil euer Vater und ich den Rotkehlchenweg seinerzeit für Gundula und Gerald und die Kinder gekauft haben. Irgendwo mussten sie ja unterkommen.«

»Moment«, warf Gerald ein, »das stimmt so nicht ganz, liebe Ilse. Ich habe da auch mein Teil beigesteuert, wenn du dich einmal genau erinnerst.«

»Natürlich erinnere ich mich, Gerald. Das musstest du ja in gewisser Weise auch. Immerhin hattest du ja drei Kinder in die Welt gesetzt.« Gerald erbleichte. »Und ich würde jetzt schon ganz gern erfahren, warum es nach dem Rotkehlchenweg auf einmal ein Schloss sein muss. Habt ihr im Lotto gewonnen?«

Aus der Ferne hörten wir das Grollen eines herannahenden Flugzeugs. Wenn Gerald sich beeilte, würde er eventuell noch einen vollständigen Satz herausbekommen, bevor unser Gespräch abreißen würde.

»Du wirst es nicht glauben, liebe Ilse, aber dieses Schloss mit seinen 900 Quadratmetern Wohnfl–«

Das Flugzeug donnerte über uns hinweg, und wir hielten uns die Ohren zu.

»Wie gesagt«, fuhr Gerald fort, als wieder Stille herrschte, »dieses Schloss wäre absolut erschwinglich. Gegengerechnet mit dem Rotkehlchenweg müssten wir nur einen überschaubaren Kredit aufnehmen, den wir bei guter Planung in zehn bis zwanzig Jahren abbezahlt hätten.«

»Was?«, fragte ich. »Einen Kredit aufnehmen. Für ein Schloss? In der Uckermark? Gerald, das kann nicht dein Ernst sein.«

»Lass Gerald doch mal ausreden, Gundula!«, rief Susanne.

Der Rest der Familie nickte zustimmend, also setzte ich mich in Omis Ohrensessel und schwieg.

Ich bin nicht prinzipiell gegen ein Leben auf dem Land. Die Abbildungen in meinen Zeitschriften zum Beispiel finde ich immer äußerst anziehend, und ich habe mir schon manches Mal vorgestellt, wie es wohl sein müsste, in einem kleinen Schloss inmitten eines Walds zu leben. So wie all diese naturverliebten Prominenten. Bei uns jedoch ist das eine andere Geschichte. Wir haben weder das Geld für eine aufwendige Renovierung, noch für schöne Möbel oder einen Pool, ohne den man die Sommer auf dem Land nicht aushalten würde, und außerdem: Wie um alles in der Welt sollten wir dann nach Berlin kommen? Wir haben nur ein kleines Auto und mal abgesehen davon, dass Gerald sowieso niemanden ans Steuer lässt, bin ich die einzige andere Person mit Führerschein. Meine Mutter ist nämlich seit mindestens dreißig Jahren nicht mehr gefahren. Geralds Mutter hat ihren Führerschein vor fünf Jahren bei einer Fahrzeugkontrolle in Düsseldorf wegen Trunkenheit am Steuer abgeben müssen, und Hadi hat Angst vor Autos.

Über kurz oder lang müssten wir also in absoluter Einsamkeit leben. Von der Welt abgeschieden, vergessen, mit Sicherheit ohne Strom und fließend Wasser. Unsere Mütter würden sich um den letzten Brotkrümel reißen, Rose und Hadi nur in meiner Küche sitzen und darüber lamentieren, dass ihr Kind am Verhungern sei, Matz würde sicher nach Berlin abhauen und ich? Ich könnte nicht mal mehr zu Herrn Mussorkski! Das würde allerdings alles in den Schatten stellen. Ohne Herrn Mussorkskis Beistand ertrage ich meine Familie keine drei Tage. Ich musste Gerald davon überzeugen, dass die Idee, aufs Land zu ziehen, eine Katastrophe war. In dem Moment, als ich zu diesem für mich äußerst wichtigen Entschluss gelangt war, räusperte sich Gerald und begann erneut.

»Natürlich habe ich mir auch kleinere Häuser im Umland von Berlin angesehen. Diejenigen, die nicht in der Anflugschneise des BER liegen, sind mittlerweile nicht mehr zu haben oder völlig überteuert. Außerdem bieten sie für unsere Familie viel zu wenig Wohnraum. Wir sind«, er hob seine Hände und zählte an den Fingern ab, »Susanne, Ilse, ich, Gundula, Rose, Hans-Dieter, Matz, Eddie Barack, Gulliver, Othello, also acht Personen plus zwei Hunde. Wenn Ricarda mit ihrem Freund aus Helsinki zu Besuch kommt, sind wir zehn Personen und zwei Hunde. Mit Rolf sind wir, vorausgesetzt er besucht uns noch mal in diesem Leben, elf Personen und zwei Hunde –«

»Jetzt komm mal auf den Punkt, Gerald«, sagte meine Mutter.

»Ich bin gerade dabei, liebe Ilse. Im Extremfall sind wir also elf Personen und zwei Hunde. Wie, bitte schön, sollen wir da in einem regulären Einfamilienhaus unterkommen?«

»Moment mal, Gerald«, sagte ich, »so stimmt die Rechnung ja nicht. Ilse und Susanne leben ja nicht immer bei uns, das ist ja jetzt nur wegen der Pandemie, und Rose und Hadi hatten bis jetzt ihre eigene Wohnung im Rotkehlchenweg, die können sich doch selbst was Neues suchen.«

Niemand reagierte. Schlimmer noch. Alle mieden meinen Blick und guckten auf den Boden. Ein Flugzeug näherte sich. »Was habt ihr denn?«, fragte ich. Das Flugzeug donnerte über uns hinweg.

»Gundula, das ist ein wichtiger Punkt, den du da gerade ansprichst. Es ist nämlich alles nicht ganz so einfach …«, begann Gerald.

Ich wartete.

»Äh … also … ich wollte das schon seit Längerem mit dir besprechen, und jetzt ist vielleicht der richtige Zeitpunkt gekommen.«

4. Kapitel

Ich folgte Gerald auf die Terrasse. Mit einem Taschentuch wischte er sich den Schweiß von der Stirn und betrachtete unser Blumenbeet. Dann sagte er: »Ach, guck mal an, Gundula. Das hast du aber hübsch gemacht.«

»Was?«

»Na, das Blumenbeet. Hast du da andere Blumen eingepflanzt als sonst?«

»Nein.«

»Ich dachte, es sieht irgendwie viel bunter aus als im Vorjahr.«

Es musste sich um eine wirklich schlechte Nachricht handeln, die er mir mitteilen wollte. Ich wartete. Gerald hob das Gesicht und betrachtete den blauen Himmel.

»Wirklich schönes Wetter heute!«

Ein Flugzeug donnerte heran, und es wurde kurz dunkel.

»Gerald, könntest du mal zum Punkt kommen? Ich muss die Bettwäsche aufhängen. Die ist noch in der Maschine. Die wird sonst stockig.«

Er trat einen Schritt auf mich zu. »Wo soll ich anfangen?«

»Vorn«, sagte ich.

Gerald seufzte und legte los. In knapp fünf Minuten erfuhr ich, dass wir quasi vor dem finanziellen Ruin standen. Und zwar wegen seiner Mutter Susanne.

Susanne war aus ihrer Düsseldorfer Wohnung geflogen, weil sie die letzten sechs Monate keine Miete mehr bezahlt hatte. Davon abgesehen hatte sie seit geraumer Zeit sämtliche Post ungelesen in den Mülleimer befördert, wahrscheinlich um sich vor weiteren unliebsamen Überraschungen zu schützen. Doch irgendwann stand der Gerichtsvollzieher vor ihrer Tür und begann damit, ihre Düsseldorfer Wohnung leer zu räumen. Zu allem Unglück war Susanne über eine der Kisten gestolpert, die der gerichtlich einbestellte Transportdienst achtlos vor ihrer Toilettentür deponiert hatte. Der dreifache Schienbeinbruch gab ihrem überlasteten Konto den endgültigen Todesstoß, weil sie operiert werden und acht Tage im Krankenhaus bleiben musste. Und das ohne eine gültige Krankenversicherung. Jetzt war sie also bis über beide Ohren verschuldet.

»Und du hast mir gesagt, sie hätte sich bloß beim Staubsaugen eine Verstauchung zugezogen«, unterbrach ich Gerald in seinem Bericht.

»Gundula, es kommt noch mehr, lass mich doch einmal ausreden.«

Also fuhr Gerald fort. Susanne hatte außerdem niemals irgendwelche Rentenbeiträge einbezahlt, weil sie es, wie sie Gerald unter Tränen versichert hatte, nicht ertrug, sich mit Rentnern identifizieren zu müssen. Sie hatte sich stattdessen schon vor Jahren von ehemaligen Freunden Geld geliehen, das sie bis heute nicht zurückgezahlt hatte. Gerald hatte vor einigen Wochen damit begonnen, sämtliche von Susanne angehäuften Schulden aufzulisten, und war nun zu dem ernüchternden Ergebnis gekommen, dass meine Schwiegermutter mit genau 42 576,99 Euro in den Miesen stand.

Als er fertig war, hob Gerald die Schultern und ließ sie mit einem entschuldigenden Blick wieder fallen.

»Tja, das war’s«, sagte er.

Meine Beine gaben nach, und ich musste mich erst mal auf die Gartenbank setzen.

»Und jetzt?«

»Jetzt suche ich nach einem großen Haus, in das wir alle reinpassen. Rose und Hadi werden aufgrund ihrer finanziellen Schieflage auf die Schnelle nichts Eigenes finden, und deine Mutter will ja auch nicht mehr weg. Außerdem ist sie bereit, etwas zuzuschießen, wenn unser Geld nicht reicht.«

»Natürlich wird es nicht reichen. Und nun?«

»Na ja, wie schon gesagt, wir – also ich und die anderen – haben einvernehmlich beschlossen, dass ich mich darum kümmern soll, eine Bleibe für uns zu finden.«

»Das habt ihr einvernehmlich beschlossen?«, fragte ich.

»Ja.«

Meine Schläfen pochten.

»Und wieso habt ihr das einfach so ohne mich beschlossen? Wieso können sich die anderen plötzlich nicht mehr von uns trennen, obwohl sie immer was an unserem Leben auszusetzen haben? Übrigens wird meine Mutter ihre Wohnung in München bestimmt nicht aufgeben wollen.«

»Da irrst du, Gundula. Deine Mutter hat ihre Wohnung in München schon aufgegeben und mich ja selbst auf die Idee gebracht, ein Haus für uns alle zu finden.«

»Meine Mutter?«

Mir brach der Schweiß aus.

»Ja, deine Mutter.«

»Und dann sollen wir für immer zusammenwohnen?«

»Natürlich für immer, Gundula. Wir planen ein Dreigenerationenhaus. Das ist für uns alle das Beste. Dann können wir uns besser umeinander kümmern.«

»Du meinst, ich kann mich besser um alle kümmern, wenn ich alle in meiner Nähe habe.«

»Vielleicht«, sagte Gerald.

»Das geht nicht, Gerald.«

»Wieso geht das nicht?«

»Weil ich mich selbstständig machen will.« Diese Idee war mir zwar gerade erst durch den Kopf geschossen, aber sie schien mir mehr als gerechtfertigt, um diesen Streit zu gewinnen.

»Was?«

»Das hatte ich dir doch erzählt«, log ich.

»Mit deiner Schultheatertruppe? Das wird in diesen Zeiten doch gar nicht funktionieren, Gundula. Ich meine, wer geht heutzutage noch ins Theater?«

»Es geht nicht ums Schultheater, Gerald.« Ich überlegte fieberhaft, dann hatte ich eine Idee. »Die Backstube meine ich!«

»Was?«

»Das hab ich dir doch erzählt! Ich will eine Backstube eröffnen. Da kann ich mich ja nicht zeitgleich um die ganze Familie kümmern.«

Gerald fasste sich an den Kopf.

»Also daran kann ich mich nun wirklich nicht erinnern. Wo willst du das denn machen? Und vor allem: Du kannst doch gar nicht backen.«

»Natürlich kann ich backen. Ich muss mich nur ein bisschen mehr damit befassen. Und ich brauche die richtigen Rezepte.«

»Entschuldige, Liebes, aber du hast noch nie in deinem Leben auch nur einen anständigen Kuchen zustande gebracht.«

»Das stimmt so nicht. Mein Apfelkuchen ist immer gut angekommen.«

»Wirklich?«

»Ist ja jetzt egal, das interessiert dich ja sowieso nicht«, ich stockte. »Und was ist mit deiner Mutter? Die soll dann auch bei uns wohnen?«

»Natürlich. Ich meine, ich kann Mutti ja schlecht auf die Straße setzen.«

Er verstummte und wischte sich wieder mit dem Taschentuch über die Stirn.

»Wieso nicht?«, fragte ich.

Er sah mich lange an.

»Weil sie meine Mutter ist, Gundula. Weil sie sich ihr ganzes Leben lang für mich aufgeopfert hat. Und weil ich mich jetzt revanchieren muss.«

»Na dann, viel Spaß«, sagte ich und ließ ihn stehen.

5. Kapitel

Die nächsten Tage sprachen wir nicht viel miteinander. Zum Glück war Gerald tagsüber im Finanzamt, und ich konnte ihm abends aus dem Weg gehen. Ich fand es ungeheuerlich, angesichts unserer eigenen finanziellen Situation, die zwar nicht alarmierend, aber auch nicht besonders rosig war, zusätzlich für die Schulden seiner Mutter aufkommen zu müssen. Besonders wenn man bedenkt, dass Susanne sich nie wirklich um ihren Sohn gekümmert hat. Im Gegenteil. Sie hat immer nur ihr eigenes Leben und ihren eigenen Spaß im Blick gehabt. Und Gerald hat sich dann bei mir darüber ausgeweint, wie sehr er stets unter seiner egozentrischen Mutter zu leiden hatte. Er ist sogar drei Monate lang zu einer Gesprächstherapie gegangen, die er aber vorzeitig abgebrochen hat, weil es ihm Probleme bereitet, Fremden gegenüber von seiner Mutter zu sprechen. Außerdem war er der Meinung, der Therapeut würde ihn manipulieren wollen, damit er, Gerald, seine Mutter kritischer betrachten würde, als ihm eigentlich zustünde. Denn er sei immer noch ihr Sohn und liebe sie über alles in der Welt. Ich konnte mir daraufhin die Frage nicht verkneifen, warum er für diese Erkenntnis zwanzig Therapiestunden gebraucht hatte. Andererseits war ich dankbar, dass der Spuk nun endlich vorbei sein würde. Die Krankenkasse hatte sich nämlich geweigert, die Kosten für Geralds Sitzungen zu übernehmen, und wir zahlten immer noch monatliche Raten.

 

Trotz meiner Wut über die geheimen Absprachen meiner Familie musste ich mir eingestehen, dass das Leben im Rotkehlchenweg auf lange Sicht nicht mehr auszuhalten war. Susanne und Ilse teilten sich nun schon seit Wochen das Wohnzimmer, weil Susannes Gästezimmer im Keller nach den Überflutungen im letzten Sommer dauerhaft feucht war. Leider sind sich unsere Mütter, wie Sie vielleicht wissen, auch so schon nicht grün. Sobald man sie allerdings gemeinsam in ein Zimmer sperrt, kann man froh sein, wenn sie sich nicht gegenseitig die Augen auskratzen. Zu allem Überfluss hockten Rose und Hadi auch ständig bei uns. Sie fanden ihre Wohnung im Haus gegenüber zu klein. Außerdem hatten sie keinen Balkon und mussten unseren Garten mitnutzen, wie sie nicht müde wurden zu erklären. Eddie Barack brauche schließlich frische Luft, um gesund heranzuwachsen. Deshalb saßen die drei jeden Tag von morgens bis abends auf der Terrasse und ließen sich von mir bewirten. Sie gewöhnten sich bald sogar an die im Fünfminutentakt auftauchenden Flugzeuge.

 

Eine Woche nach unserem Streit kam Gerald etwas später nach Hause als gewöhnlich. Noch an der Eingangstür hörte ich ihn rufen, dass wir uns in Kürze im Esszimmer einzufinden hätten.

Kurz danach steckte Matz den Kopf zur Küchentür herein und brüllte: »Mami! Mami! Papi hat unser neues Zuhause gefunden!«

Wie auf Knopfdruck, nein, wie Mäuse, die ein Käsestückchen wittern, eilten die Bundschuhs aus ihren Löchern und scharten sich um meinen Mann. Ich hielt ein bisschen Abstand. Schlimm genug, dass ich die letzten Jahre meines Lebens wahrscheinlich mit Kartoffelklauben in der Uckermark verbringen müsste, aber die Idee, das dann gemeinsam mit meiner Familie tun zu müssen, raubte der Vorstellung auch noch den letzten Funken Romantik.

»Gundula!«, rief Susanne. »Komm doch näher, du siehst ja gar nichts!«

»Danke, ich seh’ genug«, sagte ich.

»Wer nicht will, der hat schon«, murmelte meine Mutter und Susanne fügte hinzu: »Versteh’ ich nicht, warum sie in letzter Zeit so eingeschnappt ist. Sie kann sich doch freuen, dass Gerald sich so viele Gedanken um unsere Zukunft macht. Es geht ja auch um ihre eigene Zukunft, oder nicht?«

Gerald breitete die Papiere auf dem Esstisch aus. Nach einem ziemlich langen Moment übereinstimmender Sprachlosigkeit brach meine Familie unisono in ohrenbetäubenden Jubel aus. Alle fielen sich um den Hals und beglückwünschten Gerald zu seinem grandiosen Fundstück. Sogar meine Mutter konnte sich kaum beherrschen und strich Gerald anerkennend über die Brust. Und das will was heißen, da sie grundsätzlich jeglichen Körperkontakt vermeidet und Gerald obendrein eigentlich nicht so wahnsinnig mag. Deshalb fragte ich mich, wieso sie so angetan war von den Papieren.

Ich schob mich ein bisschen näher heran und spähte auf Geralds Unterlagen. Vor mir lag die Abbildung eines riesigen, alten Dreiseitenhofs mit imposanter Auffahrt, einem Türmchen und einer Scheune, inmitten eines wildromantischen, parkähnlichen Gartens, der in ein Kiefernwäldchen mündete. Ich muss zugeben, das Anwesen wirkte im ersten Moment ziemlich eindrucksvoll, was aber eventuell auch daran lag, dass ich nicht scharf sah. Ohne meine Brille habe ich nur einen Blick fürs Grobe. Allerdings konnte ich sehr wohl erkennen, dass das Gebäude viel zu groß für uns war. Wer sollte die Heizungskosten bezahlen, die eventuell anstehenden Reparaturen? Den Schulbus für Matz? Wer sollte für uns einkaufen? Gab es Strom und fließend Wasser? Und wer sollte das Haus eigentlich putzen? Ich vielleicht?

»Und wer soll das putzen?«, fragte ich deshalb, wurde aber überhört, weil meine Familie schon völlig durchdrehte.

Meine Mutter rannte zum Kühlschrank, entnahm ihm eine Flasche Rotkehlchen Sekt, der eigentlich für Feiertage reserviert war, und hielt sie Gerald hin.

»Mach auf, mein Lieber. Darauf müssen wir anstoßen.«

Aber Gerald hob die Hände und bedeutete unseren Lieben, sich noch einen Augenblick zu gedulden. Dann erzählte er uns, wie er auf das Gebäude aufmerksam geworden war. Er hatte einem Kollegen von unserer unerträglichen Wohnsituation erzählt und Rüdiger, besagter Kollege, erwähnte daraufhin, dass er gerade genau das Richtige für uns reinbekommen habe. Einen Dreiseitenhof in Brandenburg, der aufgrund einer verschleppten Insolvenz nun zur Zwangsversteigerung ausstünde. Auf Geralds Nachfrage, wie teuer so etwas denn ungefähr sei, sagte Rüdiger, seiner Meinung nach könne der Hof nicht mehr als 150.000 Euro plus der üblichen Zuschlagsgebühr und den Kosten für die Eintragung ins Grundbuch kosten, weil er sich doch ziemlich weit draußen befinde. Abgesehen davon kenne er niemanden sonst außer einer elfköpfigen Familie, der sich ernsthaft für solch ein Projekt interessieren würde. Gerald hatte sich also die Unterlagen für die Zwangsversteigerung ausgedruckt, um sie uns zu zeigen.

»150 000 Euro, Gerald?! So viel haben wir auf die Schnelle doch gar nicht!«, sagte ich.

»Wenn wir den Rotkehlchenweg verkaufen, haben wir so viel«, sagte Susanne, als wäre sie die Besitzerin.

»So schnell kauft keiner ein Haus in der Anflugschneise des Berliner Flughafens. Was für Interessenten sollten das denn sein?«

»Vielleicht könnte man den Rotkehlchenweg ja an Leute geben, die was für Behinderte brauchen? Also ich könnte mir zum Beispiel schon vorstellen, dass so Leute, die ein Heim für Taubstumme suchen, den Rotkehlchenweg ganz toll finden würden«, sagte Rose.

»Was ist denn das für ein Blödsinn? Wieso sollen hier denn Taubstumme einziehen wollen?«, fragte meine Mutter.

»Weil die doch nichts hören! Denen ist der Flughafen egal.«

»Ja, und warum glaubst du, dass ausgerechnet ein Heim für Taubstumme von heute auf morgen auf der Matte stehen wird, um den Rotkehlchenweg zu kaufen?«

»Weil andere Leute ihn nicht kaufen werden«, sagte Susanne, und ich musste ihr ausnahmsweise zustimmen.

»Eben. Niemand wird den Rotkehlchenweg auf die Schnelle kaufen. Sag ich doch.«

»Wie viel Zeit bleibt uns, Gerald?«, fragte meine Mutter. »Ich habe das Gefühl, dieser Dreiseitenhof wäre unsere Chance, um –«

»Nein!«, rief Matz dazwischen. »Was soll ich denn da? Kann auch mal jemand an mich denken? Ich komm doch dann gar nicht mehr in die Schule!«

»Auch auf dem Land gibt es Schulen, mein Sohn«, sagte Gerald. »Wir müssen jetzt erst mal an den Rest der Familie denken.«

»Matz hat schon recht«, sagte ich. »Entweder gibt es da eine gute Schule für ihn oder ich bleibe hier.«

»Ich WILL auf keine andere Schule!«, rief Matz. »Das ist so unfair!«

»Ich finde auch, dass das keine gute Idee ist. Und wie willst du überhaupt ins Büro kommen, Gerald? Hast du mal darüber nachgedacht? Wie sollen wir denn zusätzlich für die ganzen Benzinkosten aufkommen?«

»Die kann ich von der Steuer absetzen, Gundula, weil ich dann ja Pendler bin. Das wäre also das geringste Problem.«

»Bis wann musst du das Geld haben, Geraldchen?«, fragte Susanne und zupfte ihren Seidenschal zurecht.

»Also eigentlich sofort. Die Zwangsversteigerung findet in vier Wochen statt, aber ich muss die zehn Prozent des Verkehrsgutachtens so schnell wie möglich überweisen, weil ich damit vermeidbare Zinslasten verhindere.«

»Die beim Finanzamt haben ja anscheinend überall ihre Finger drin«, sagte meine Mutter.

Gerald räusperte sich.

»Es geht jetzt in erster Linie nicht ums Finanzamt, Ilse. Zwangsversteigerungen gehen erst mal über die Justizvollzugsanstalt und später erst wird das Finanzamt mit eingebunden.«

»Sag ich doch! Die haben immer ihre Finger in allem drin.« Meine Mutter wischte imaginäre Krümel von der Tischdecke. »Grauenhaft.«

»Und wann kann man sich das alles mal ansehen?«, fragte Hadi. Seine Wangen glühten. Es war klar, dass mein Bruder und Rose bereit waren, sich sofort und komplett vorbehaltlos in dieses Abenteuer zu stürzen. Ich sah sie schon vor mir: Hadi lustwandelte durch die Parkanlage unseres Dreiseitenhofs. Um sich vor der Sonne zu schützen, trug er einen eleganten cremefarbenen Sonnenhut, dazu einen karierten Anzug aus feinem Leinenstoff. Aus der Ferne sah er tatsächlich aus wie ein Graf auf einem schottischen Landgut. Jetzt blieb er inmitten der Rosenrabatten stehen und rief seinem Gärtner zu: »Willi! Gut, Sie anzutreffen! Ich habe eine Aufgabe für Sie.«

»Sehr gern, Herr Schulze von Seemann«, sagte Willi und machte einen Bückling.

»Bitte arrangieren Sie zu Mittag einen Strauß unserer Pretty Kiss gemischt mit Red Yesterday und Santana für meine Frau. Geben Sie ihn bitte Agathe, sie wird sich um die passende Vase kümmern.«

»Natürlich, Herr Schulze von Seemann. Gibt es außerdem noch Wünsche?«

»Das wäre vorerst alles, danke.«

In der Terrassentür erschien eine dicke kleine Frau in Schwarz mit weißem Schürzchen.

»Herr Schulze von Seemann, Ihre Frau wünscht Sie zu sprechen.«

»Sagen Sie ihr, dass ich komme«, antwortete mein Bruder und machte sich auf den Weg ins Haus, nicht ohne vorher ein Unkrautstängelchen aus dem Kiesweg gezupft zu haben.

»Achten Sie auf das Unkraut, Willi.«

»Natürlich, Herr Schulze von Seemann!«

Rose saß unter einem Sonnenschirm auf der großzügigen Terrasse. Auch sie trug einen Sonnenhut, allerdings einen ausladenden pinkfarbenen mit künstlichen Margariten an der Krempe. Ihr cremefarbenes Rüschenkleid ging bis zum Boden und verbarg ihre zu kurz geratenen Elefantenbeinchen.

»Ach, Hadi, da bist du ja endlich. Ich hab’ echt großen Hunger. Guck mal, die Mathilda hat mir bloß Obst heute früh gemacht. Sag ihr doch, dass ich gern ein bisschen Hühnerfrikassee auf Toast hätte, also vier Scheiben, und dazu einen Green Smoothie. Aber heute nicht mit Ingwer, sondern mit Ginkgopulver, das vertrag’ ich besser.«

»Natürlich, meine Rose«, sagte mein Bruder, beugte sich zu ihr hinab und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Wo ist denn unser kleiner Wildfang?«

»Der Eddie Barack ist mit der Min Thai hinten an der Schaukel. Und danach wollte er eine Runde auf dem Chayenne reiten.«

Wie aufs Stichwort erschien ein kleines geschecktes Shetlandpony am Rand der Terrasse und wieherte.

»Ach, da ist ja der kleine Chayenne«, sagte Hadi.

Chayenne machte einen Satz und trabte auf die beiden zu. Kurz betrachtete er Rose, die ein bisschen zurückwich, biss dann blitzschnell in die künstlichen Margariten und rannte mit Roses Sonnenhut im Maul davon.

»Haha!«, entfuhr es mir. Dann blickte ich mich um. Die Terrasse war verschwunden, und ich fand mich in unserem Esszimmer wieder. Meine Lieben starrten mich an.

»Gundula?«, fragte meine Mutter.

»Ja?«

»Wieso lachst du denn aus heiterem Himmel, während wir gerade ein äußerst wichtiges Thema behandeln?«

»Ich hab’ nicht gelacht.«

»Hach!«, rief Rose aus. »Und ob! Und zwar über den Hadi und mich!«

»Nein!«

»Und wieso guckst du uns dann die ganze Zeit so komisch an? Da kriegt man richtig Angst, gell, Hadi?«

»Ich hab euch nicht angeguckt«, sagte ich. »Ich war in Gedanken.«

»Jetzt kommt mal zur Sache«, sagte meine Mutter. »Die Frage war, Gundula, ob du damit einverstanden wärst, dass ich das Geld erst mal vorschieße, damit uns das Haus nicht flöten geht. Das mache ich aber nur mit einem Anwalt, sonst bleib ich am Ende auf euren Schulden sitzen. Das fehlt mir gerade noch.«

»Natürlich mit einem Anwalt«, sagte Gerald.

»Und ich will das Haus erst mal sehen. Und zwar von innen und außen.«

»Oh, das wird schwierig, liebe Ilse. Das ist versiegelt.«

»Na und?«

»Da kommt man nicht so ohne Weiteres rein.«

»Ich komm überall rein, Gerald, verlass dich darauf. Vor allem, wenn ich hier als Alleinfinancier herhalten muss.«

»Das wird allerdings tatsächlich schwierig werden, liebe Ilse. Das hat mir der Rüdiger schon gesagt. Aber es gibt ein Gutachten.«

»Was denn für ein Gutachten?«, fragte meine Mutter.

»Na, von dem Gebäude.«

»Ich erstelle meine Gutachten grundsätzlich lieber selbst. Also, wann fahren wir los?«

Gerald atmete tief durch.

»Ich werde mit Rüdiger sprechen. Vielleicht gibt es ja eine Möglichkeit.«

»Natürlich wird es eine Möglichkeit geben. Sonst steige ich aus dem Geschäft aus.«

»Also ich«, warf ich ein, »finde das Haus nach wie vor etwas zu groß. Was ist denn zum Beispiel mit den Instandhaltungskosten? Wer soll dafür aufkommen?«

»Wenn man sparsam mit Strom, Wasser und Heizung umgeht, lässt sich das machen«, sagte meine Mutter.

»Wie groß ist es, Gerald?«, fragte ich.

»Ähm, Moment, das muss hier irgendwo stehen.« Gerald blätterte in seinen Papieren. »Ach, hier: 1,5 Hektar Gesamtfläche, also eher überschaubar, und 950 Quadratmeter Wohnfläche. Kuhstall, Hühnerstall, Heuschober und Schuppen nicht mitgerechnet. Die gibt es quasi umsonst dazu.«

»Gerald!«, sagte ich. »Wozu bitte brauchen wir einen Hühnerstall?«

»Natürlich BRAUCHEN wir so was nicht, Gundula. Wir können auch hier im Rotkehlchenweg bleiben und Flugzeuge zählen. Aber erinnere dich bitte an das, was du noch vor ein paar Tagen selbst gesagt hast.«

Er machte eine Pause und sah mich an, aber ich konnte mich nicht daran erinnern, was ich angeblich vor ein paar Tagen gesagt hatte.

»Du hast vor ein paar Tagen, als du noch mit uns gesprochen hast, selbst gesagt, dass man hier bei dem Lärm nicht mehr glücklich wird. Das hast du wortwörtlich so gesagt. Nicht mehr glücklich. Deshalb habe ich mich auf die Suche begeben nach einem geeigneten, bezahlbaren und zudem schönen neuen Zuhause, in das wir alle hineinpassen, ohne uns ständig auf die Füße zu treten. Und um auf deine nächsten Bedenken zurückzukommen, deine Bedenken, die finanzielle Last betreffend: Was ist wohl zur Zeit günstiger zu bekommen? Ein normales Einfamilienhaus in ruhiger Lage oder ein Dreiseitenhof? Mach dich da vielleicht erst mal ein bisschen schlau, bevor du hier als Einzige unsere Pläne durchkreuzt.«

»WAS mache ich?!«

»Gundula, es geht hier um unser aller Zukunft! Und Gerald gibt sich solche Mühe, das musst du doch mal anerkennen!«, rief Susanne und stand auf. »Kann mir mal jemand meine Krücken holen? Ich weiß nicht, wo die wieder hin sind.«

»Die stehen neben dir, Susanne, bist du blind?«, sagte meine Mutter.

»Genau, Ilse. Taub und blind. Wobei wir wieder beim Thema wären.« Kommentarlos ergriff meine Schwiegermutter ihre Krücken und humpelte Richtung Küche. »So, jetzt lasst uns mal auf Geralds Schnäppchen anstoßen. So jung kommen wir nicht mehr zusammen.«

 

Als ich endlich allein im Esszimmer war, setzte ich meine Brille auf und zog das Papier zu mir heran, um es eingehender zu studieren.

Ich war überrascht. Das Gebäude schien erst vor Kurzem einen neuen Anstrich erhalten zu haben. Das Cremeweiß stand in hübschem Kontrast zum Mintgrün der Fensterläden. Das Dach schien meiner Einschätzung nach auch noch eine Weile zu halten. Das satte Tannengrün der Parkanlagen wurde nur unterbrochen von einzelnen, sorgfältig angelegten Blumenbeeten und Buchsbaumhecken. Auf den ersten Blick sah das Anwesen wirklich einladend aus, das musste ich zugeben. Trotzdem konnte ich mich nicht an den Gedanken gewöhnen, den Rest meines Lebens mit meiner Familie verbringen zu müssen. Und das auf dem Land.

Während ich hin und her überlegte, wie ich Gerald von seiner undurchdachten Idee abbringen könnte, riss mich ein Knall aus meinen Gedanken. Ich lief ins Wohnzimmer. Gerald hatte die nächste Flasche Rotkehlchensekt geköpft, meine Lieben standen mit glühenden Gesichtern um ihn herum und stießen noch einmal jauchzend auf das Schnäppchen an.

 

Später am Abend gelang es mir, Gerald unter vier Augen zu sprechen.

»Entschuldige, Gerald. Ich möchte das Problem, das uns gerade entzweit, gern in Ruhe mit dir ausdiskutieren.«

Gerald, der in seinem Sessel saß und damit beschäftigt war, seine alten Zeitungen zu sortieren, blickte auf und nickte.

»Ja, das ist eine gute Idee, Gundula.«

Den Satz mit dem »Probleme, die einen entzweien, in Ruhe ausdiskutieren« habe ich übrigens von unserer Ehetherapie bei Herrn Münzhase. Gerald und ich hatten es vor ein paar Monaten tatsächlich geschafft, insgesamt drei Therapiestunden abzusitzen, obwohl wir uns nicht recht einig darüber waren, ob eine Therapie in unserer verfahrenen Ehe überhaupt noch etwas bewirken würde. Aber weil Herr Mussorkski mich darauf aufmerksam gemacht hat, dass das eventuell der letzte und einzige Kitt für unsere Ehe sei, hatte ich mich darauf einlassen wollen. Auf meine Frage hin, was er mit Kitt meine, antwortete er: »Kleber, liebe Gundula. Ihrer Ehe kann man nicht mehr unbedingt zu neuem Schwung und beflügelnder Leidenschaft verhelfen. Das muss ich Ihnen ja nicht erklären, das wissen Sie leider selbst. Aber man kann sie zumindest kleben. Ein paar Verhaltensregeln, die Sie sich für den gemeinsamen Umgang einprägen und, voilà, schon breitet sich ein Schleier der Harmonie über ihre Unvereinbarkeiten. Mehr können Sie in Ihrem Alter und nach dreißig Jahren Einerlei nicht mehr erwarten. Machen Sie einfach das Beste daraus.«

Herr Münzhase hatte Gerald und mir dann auch gleich in der ersten Stunde gesagt, dass es sehr wichtig sei, manche Probleme auszudiskutieren. Wobei er das Wort »manche« hervorhob, was daran lag, dass die meisten geschädigten Paare nach einer Therapie dazu übergingen, »alles«, was ihnen nicht am anderen passte, auszudiskutieren. Damit das nicht passiere, solle man sich im Vorfeld genau überlegen, welche Probleme diskutierenswürdig seien und diese dann vorsichtig äußern. Und zwar mit einem rituellen Einführungssatz, jenem »Ich möchte das Problem, das uns gerade entzweit, gern in Ruhe ausdiskutieren«. So weiß der Partner sofort, dass es in Folge um ein wichtiges Thema gehen wird, und hat die Möglichkeit, sich mental und vor allem vorurteilsfrei auf sein Gegenüber einzulassen. Wenn man hingegen ein anstehendes Gespräch mit »Weißt du eigentlich, wie scheiße ich das finde?« begänne, würde der Angesprochene sich unweigerlich in sich zurückziehen und Schutzmaßnahmen ergreifen, die im schlechtesten Fall in einem dahingeschleuderten »Du mich auch!« mündeten.

Ich muss sagen, ich fand die drei Stunden bei Herrn Münzhase durchaus inspirierend. Nicht so Gerald. Er machte uns mal wieder einen Strich durch die Rechnung, als er mir tatsächlich vorwarf, ich fände Herrn Münzhasens Weisheiten nur deswegen so stimulierend, weil er uns von Herrn Mussorkski empfohlen worden war. Und außerdem würde ich Herrn Münzhase anhimmeln. Auf meine Rechtfertigung hin, ich würde Herrn Münzhase nicht anhimmeln, sondern konzentriert ansehen, damit ich mir einprägen könne, was er uns erzähle und somit die teuren Stunden nicht in den Wind geschossen seien, antwortete mir Gerald ohne Umschweife, dann könne ich ja in Zukunft allein zu Herrn Münzhase gehen. Er, Gerald, habe schon in der ersten Stunde begriffen, wie der Hase läuft. Ich hatte ihm geantwortet, das sei ja eine recht schöne Idee von ihm, mich allein zu Herrn Münzhase zu schicken, da könne ich ihn dann ohne Störung anhimmeln, bis mir die Augen aus dem Kopf fielen, aber eine Ehetherapie könne man nun mal nicht allein machen, sonst hieße sie ja wohl schlecht Ehetherapie und was ihm jetzt wichtiger sei, unsere Ehe oder seine ewige Rechthaberei, seine Oberlehrerhaftigkeit, seine Klugscheißerei, sein ewiges Selbstmitleid, seine Lethargie, seine Verschnupftheit, seine Bockigkeit, Selbstgerechtigkeit, Egozentrik, Selbstverliebtheit, Arroganz, Fettleibigkeit, sein Geschnarche, sein Finanzamt, seine Finanzamtfreunde …

Ich weiß nicht, was ich ihm noch alles an den Kopf geworfen habe, ich weiß nur, dass es ziemlich lang gedauert hat, bis ich fertig war, und dass Gerald danach mit den Worten gegangen ist »Da hilft auch keine Ehetherapie mehr«.

Und ich war in Tränen ausgebrochen, obwohl ich fand, dass Gerald meine Tränen nun wirklich nicht verdient hatte. Aber ich schämte mich ein bisschen, denn eigentlich habe ich Gerald ja schon ganz gern. Die Situation ist nur eben in den letzten Jahren so hoffnungslos festgefahren, und ich komme einfach überhaupt nicht mehr an ihn ran. Und deshalb, und nur deshalb, hatte ich ihn überhaupt dazu überredet, eine Ehetherapie zu machen, und keineswegs, weil Herr Mussorkski mir Herrn Münzhase empfohlen hatte. Im Gegensatz zu Gerald wollte ich unsere Ehe wirklich retten.

Jedenfalls stammt aus dieser missglückten Ehetherapie der Satz: »Ich würde gern das Problem, das uns gerade entzweit, in Ruhe mit dir ausdiskutieren.« Ich glaube fest daran, dass allein dieser Satz uns schon manches Mal vor Handgreiflichkeiten oder gar Vandalismus bewahrt hat. Auch heute schien einer ruhigen Diskussion nichts im Wege zu stehen, deshalb fuhr ich fort: »Es geht um den Dreigenerationenhaushalt.«

»Das habe ich befürchtet.«

Mit diesem Satz hatte Gerald schon eine wichtige Regel gebrochen. Man soll schließlich offen und geduldig auf die Problemsituation eingehen.

»Darf ich ausreden?«, fragte ich deshalb.

»Nur zu«, sagte Gerald.

Wenn Sie mich fragen: auch nicht besser.

»Ich habe mich noch nicht wirklich mit dem Gedanken des Dreigenerationenhauses angefreundet«, sagte ich.

»Das merkt man.« Gerald hatte irgendwie alles vergessen, was wir in den drei Stunden bei Herrn Münzhase gelernt hatten. Langsam wurde ich ungeduldig.