Tief durchatmen, die Familie kommt - Andrea Sawatzki - E-Book
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Tief durchatmen, die Familie kommt E-Book

Andrea Sawatzki

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Beschreibung

»Schlau und amüsant.« Für Sie

Harmonie, gute Gespräche und zwei köstliche Bio-Enten. So hat Gundula sich das vorgestellt. Dass ihre Mutter und ihre Schwiegermutter die alten Geschichten aufwärmen würden und ihr Mann Gerald nicht mal in der Lage ist, den Christbaum aufzustellen - damit war nicht zu rechnen gewesen. Kein Wunder, dass Gundula irgendwann die Nerven verliert  … Andrea Sawatzki erzählt von einem grandios gescheiterten Weihnachtsfest mit der lieben Familie. Boshaft, kurzweilig, hochkomisch.

Die sympathischste Familie der deutschen Literatur – Andrea Sawatzki erzählt Neues aus dem skurrilen Leben der Bundschuhs 

Kaum jemand schreibt so amüsant über das deutsche Familienleben wie SPIEGEL-Bestseller-Autorin Andrea Sawatzki. Schon mit den anderen Büchern der Bundschuh-Reihe feierte sie große Erfolge. Die dazugehörigen ZDF-Filme, in denen sie zusammen mit Axel Milberg die Hauptrolle spielt, konnten ebenfalls hohe Einschaltquoten einfahren. Auch ihr neuer Roman wartet mit absurder Situationskomik auf, die trotzdem direkt aus dem Leben gegriffen scheint. 

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deFür Christian, Moritz und BrunoIn diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt. Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe1. Auflage 2013ISBN 978-3-492-96463-0© Piper Verlag GmbH, München 2013Covergestaltung: Cornelia Niere, MünchenCovermotiv: Jasmin Sander / plainpictureDatenkonvertierung: Fotosatz Amann, AichstettenAlle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

1.

Kapitel

Ich heiße Gundula Bundschuh. Wenn man diesen Namen hört, glaubt man genau zu wissen, wie die Frau dahinter aussieht, man muss sie gar nicht mehr kennenlernen. Und das ist genau mein Problem, ich finde nämlich, ich sehe wirklich aus wie Gundula Bundschuh.

Meine Mutter hat meinen Namen damals im Telefonbuch gefunden. Genauso wie den meines Bruders. Mein Bruder heißt Hans-Dieter, was auch nicht wirklich entspannt klingt, aber ich würde trotzdem lieber Hans-Dieter Schultze-Seemann heißen als Gundula Bundschuh. Bundschuh heißt mein Mann, Gerald Bundschuh. Er arbeitet beim Finanzamt, ich bin Hausfrau. Wir haben drei Kinder und zwei Hunde, und bis zu jenem legendären Weihnachtsfest vor drei Jahren lebten wir mehr oder weniger so vor uns hin wie viele Familien auch.

Gerald und ich führten eine gute, wenn auch nach siebenundzwanzig Jahren leidenschaftslose Ehe. Die Kinder wuchsen behütet auf und stritten nicht mehr als andere Kinder, das Häuschen war abbezahlt.

Ich weiß nicht genau, wann und wie die Idee entstanden war, das alljährliche Weihnachtsfest mit der ganzen Verwandtschaft immer in unserem Haus zu feiern. Fest steht, dass es zu einem unumgänglichen Ritual geworden war. Sämtliche Familienmitglieder schlugen pünktlich am 24. Dezember bei uns auf.

Jahr für Jahr lag ich nächtelang wach und wälzte Ausrede um Ausrede in meinem Kopf, wie ich am 24. die Verwandtschaft aus dem Haus halten könnte.

Aber nichts fiel mir ein. Sich Anfang Dezember von der Kellertreppe zu werfen hätte nicht geholfen, denn ich schwöre bei Gott, meine Familie wäre selbst dann erschienen, wenn ich im Gipskorsett unterm Weihnachtsbaum gelegen hätte.

Jedes Jahr, wenn sich der Sommer dem Ende entgegenneigte und die ersten Blätter fielen, ergriff mich eine unbestimmte Schwermut, und im Nachhinein weiß ich, dass es die Angst vor dem drohenden Weihnachtsfest war, die mich packte und im wahrsten Sinne des Wortes lahmlegte. Spätestens ab Oktober kaufte ich sämtliche Menü- und Dekorationshefte, die zum Thema Weihnachten neu auf dem Markt erschienen, und schichtete sie in der Küche zu einem Stapel auf. Sozusagen als Mahnmal dafür, dass die Feierlichkeiten bevorstanden. Bis zum 21. Dezember überließ ich diesen Stapel sich selbst, bis mich spätestens am zweiundzwanzigsten die erste Panikattacke überkam.

Sie werden jetzt denken: Es ist doch nicht weiter schlimm, wenn sich die Familie darauf freut, gemeinsam Weihnachten zu feiern. Dem Gedanken stimme ich grundsätzlich zu, in meinem Fall aber muss ich leider sagen: Sie kennen meine Familie nicht. Aber Sie werden sie noch kennenlernen …

2.

Kapitel

Am 22. Dezember saß ich gegen Mittag also wieder einmal unverrichteter Dinge vor meinem Zeitschriftenberg. Eigentlich wollte ich zwei Enten braten, mit Kartoffelbrei und Blaukraut, aber mein Mann Gerald hatte mir davon abgeraten. Er reagiert grundsätzlich zögerlich, wenn ich ein neues Rezept ausprobieren möchte. Ich selbst sah kein Problem. Das Rezept wirkte nicht so kompliziert. Ich bin keine besonders versierte Köchin, aber meistens gelingt doch alles irgendwie.

Das einzige Problem bestand darin, so kurz vor Weihnachten zwei Bioenten aufzutreiben. Vor allem, weil ich noch das Haus dekorieren musste.

Also bat ich Gerald um Hilfe. Er genoss seinen ersten freien Tag und hatte sich mit seiner Zeitung im Wohnzimmer verbarrikadiert.

»Schatz, kannst du mal rasch im Supermarkt die Bioenten kaufen?«

Gerald hob die Augenbrauen und machte ein Geräusch, als müsse er aufstoßen. Dann ließ er die Zeitung sinken und sah mich an.

»Jetzt?«

»Natürlich jetzt. Übermorgen ist der Vierundzwanzigste.«

Geralds Euphorie hielt sich in Grenzen. »Wieso kommst du immer auf den letzten Drücker mit so was an?«

»Vorher ging’s nicht.«

Er gähnte. »Und wieso Enten?«

»Wieso nicht Enten? Das ist mal was anderes. Die gehen leicht, da mach ich Kartoffelbrei und Blaukraut und aus dem Entenfond Soße. Aber wir müssen uns ranhalten.«

»Wir? Ich brauch keine Enten zu Weihnachten.«

»Ich auch nicht, Gerald. Aber irgendwas müssen wir ja hinstellen. Du kannst ruhig mal mithelfen, wenn du schon rumsitzt!«

Er knurrte. Dann erhob er sich widerwillig, latschte in die Diele und zog seinen Mantel an. »Es ist ja nicht so, dass ich nie was tue, Gundula. Ich habe einen harten Job, und heute ist mein erster freier Tag.«

»Vergiss die Kartoffeln nicht und das Blaukraut. Und etwas Butter.«

Er hockte im Eingang, band sich die Schnürsenkel zu und murmelte: »Das musst du mir aufschreiben. Das kann ich mir nicht merken.«

»Meine Güte, stell dich doch nicht so an!« Ich seufzte. Einkaufen war nun wirklich keine Sklavenarbeit, das erledigte ich jeden Tag. Aber Gerald ließ seiner schlechten Laune freien Lauf und fügte allen Ernstes hinzu, dass meine Enten sowieso zäh und ungenießbar werden würden. Er kann ziemlich uncharmant werden.

»Hühnchen bekomme ich auch meistens hin.«

»Hühner sind keine Enten.«

»Nein, aber sie haben auch Flügel und gehören biologisch gesehen zur gleichen Familie.«

Er schüttelte nur den Kopf und brummte: »Das wird mir langsam ein bisschen zu viel Familie.«

»Was soll das denn heißen?«

»Das soll heißen, dass vor allem deine Familie uns besuchen kommt.«

Damit hatte er recht, und ich spürte ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. Neben meinen Eltern erwarteten wir meinen Bruder Hans-Dieter mit seiner Frau Rose. Und Geralds Mutter Susanne.

Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass sie sich untereinander nicht ausstehen können? Und trotzdem kommen sie jedes Jahr wieder.

Meine Mutter Ilse zum Beispiel sagte, sie freue sich ganz besonders auf unser Wiedersehen. Da mein Vater Alzheimer in fortgeschrittenem Stadium hatte, hoffte sie, ihn ein bisschen an uns abgeben zu können. Mein Bruder Hans-Dieter sagte, er und Rose hätten ausnahmsweise nichts vor (sie haben nie etwas vor, aber das steht auf einem anderen Blatt) und kämen gern, aber ich müsste ihnen beim Kauf der Zugtickets unter die Arme greifen, sie seien etwas knapp bei Kasse, und unter vier Nächten würde sich die lange Anreise nicht lohnen. Hans-Dieter ist immer knapp bei Kasse. Er borgt sich ständig bei allen Familienmitgliedern Geld und ist beleidigt, wenn man es irgendwann zurückhaben will. Er ist der festen Meinung, ein verkanntes Genie zu sein, und dass das Glück ihn ignoriert, um sich irgendwelchen »Arschlöchern an den Hals zu werfen«. Genau so formulierte er es einmal.

Hans-Dieter ist Schriftsteller. Er verfasst kleine Lebenshilferatgeber und ärgert sich, dass sie keiner kauft. Rose arbeitet bei der Kirche.

Der unproblematischste Gast war Susanne. Sie ist pflegeleicht und packt auch mal mit an. Zumindest behauptet sie das gern von sich. Probleme gibt es in ihren Augen nur dann, wenn man sich darauf einlässt.

Ich war mir allerdings ziemlich sicher, dass ein Problem auftauchen würde, das sich nicht umgehen ließ. Edgar. Mit meinem Vater nämlich hatte Susanne vor etwa dreißig Jahren eine heftige Affäre, und das wird ihr meine Mutter bis an ihr Lebensende nicht verzeihen. Wieso sollte sie auch.

Wie jedes Jahr aber baute ich darauf, dass ein Festmahl helfen würde, die Wogen zu glätten. Bei gutem Essen werden ja die größten Streithähne schwach.

Ich blätterte also den ganzen Nachmittag in meiner Kochzeitschrift und versank in den wunderschönen Bildern der verschiedenen Weihnachtsmenüs. Ich würde eine weiße Tischdecke auflegen und mit kleinen Tannenzweigen schmücken, die ich gemeinsam mit meinen Kindern im Wald sammeln wollte. Ein paar würde ich mit goldener Farbe besprühen, und an den Fenstern wollte ich selbst gebastelte kleine Sternchen aufhängen. Ich würde nur noch Goldlack und Bastelpapier besorgen müssen, dann könnte ich mit der Dekoration beginnen.

Als die Kinder von der Schule kamen, versuchte ich meinen Sohn Rolfi zu unserem Schreibwarenladen um die Ecke zu schicken. Er hatte wie immer schlechte Laune, und unsere Diskussion um den Sinn und Unsinn goldener Weihnachtsdekoration zog sich so lange hin, bis das Geschäft fast geschlossen hatte. Rolfi hilft grundsätzlich ungern im Haushalt, aber schließlich trottete er doch los. Ricarda brauche ich gar nicht erst zu fragen, sie wird schlagartig taub. Das hat sie von ihrem Vater.

Der Einzige, der immer gern hilft, ist Matz, aber der ist erst sieben und noch zu klein, um allein durchs Viertel zu laufen.

Ich verbrachte den restlichen Nachmittag damit, Lametta an Türklinken und Fenstergriffe zu hängen. Ich hörte schon die begeisterten Ausrufe meiner Familie: »Oh, Mami, sieht das schön aus! Wie bist du denn auf die Idee gekommen? Danke! Du bist die Beste!«

Stattdessen meldete sich mein Mann, der aus unerfindlichen Gründen mehrere Stunden für seinen Einkauf gebraucht hatte und jetzt erschöpft in seinem Sessel lag. Aber wenn ihm etwas nicht gefällt, ist er schlagartig hellwach.

»Gundula, was soll das werden, wenn es fertig ist?«

»Was meinst du mit ›was soll das werden‹, Gerald? Du siehst doch wohl, dass ich das Haus für Weihnachten dekoriere.«

»Ja, das sehe ich.«

»Dann frag doch nicht so blöd. Aber anstatt zu meckern, könntest du einfach mal was schön finden, was ich mache. Oder vielleicht selber eine Idee entwickeln. Dann müsstest du meine Arbeit nicht ständig kritisieren.«

»Ich kritisiere dich doch gar nicht. Es hat schon was, wie das da so hängt. Ich habe nur noch nie in meinem Leben Lametta an Türklinken hängen sehen.«

»Sieht scheiße aus, Mami«, sagte Ricarda beiläufig. Sie war die Treppen runtergekommen und stand vor der Klotür. An der Klinke baumelten drei Silberfäden.

»Ja, da hatte ich nicht mehr genug …«

»Dann mach’s ganz weg, sieht total arm aus.«

»Jetzt sei mal nicht so frech, Ricarda, das war viel Arbeit.«

Meine Tochter legte den Kopf schief. »Echt?«

»Ja, Herrgott noch mal. Und außerdem haben wir noch keinen Baum, weil dein Vater vergessen hat, ihn liefern zu lassen. Ich wollte trotzdem schon mal ein bisschen für weihnachtliche Stimmung sorgen.«

»Tu dir keinen Zwang an, Mami …«

Damit zog sie ihren Mantel an.

»Wohin gehst du?«

»Ich schlaf heute bei Bine, hab ich dir doch gestern gesagt.«

»Aber morgen ist doch noch Schule?«

»Mami, chill mal, ist der letzte Schultag, da passiert nicht mehr viel.«

»Okay, rufst du dann später noch an?«

Aber sie war schon aus der Tür, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen.

Kennen Sie dieses Gefühl? Sie versuchen, allen Unkenrufen zum Trotz, das Beste aus einer unmöglichen Situation zu machen, Sie ackern und räumen und kochen und schuften und sind nach stundenlanger Arbeit endlich an dem Punkt, wo Sie sagen können, ja, genau, so wollte ich es haben, und Sie können es kaum erwarten, Ihre Lieben zu überraschen. Und dann kommt einer nach dem anderen durch die Tür gelatscht und macht die ganze liebevolle Mühe mit den dämlichsten Kommentaren zunichte?

Genau so fühlte ich mich nach Ricardas Abgang jedenfalls.

Ich atmete tief durch. Heute würde ich mich auf keinen Fall von den Launen meiner Familie in die Knie zwingen lassen.

Rolfi kam dann irgendwann mit dem Bastelzubehör, aber natürlich war es da schon zu spät, um noch draußen Zweige zu schneiden. Morgen ist auch noch ein Tag, dachte ich unerschütterlich.

Wichtig war jetzt vor allem schummriges Licht, das würde eine gemütliche Atmosphäre machen und die Familienmitglieder friedlich stimmen. Ich fand eine Zwanzig-Watt-Birne und schraubte sie in die Deckenlampe ein. Das Wohnzimmer wirkte richtig romantisch, man musste nur genau darauf achten, wohin man trat.

Zum Abendessen machte ich ein paar belegte Brote, es war keine Zeit mehr gewesen, etwas Richtiges zu kochen. Natürlich gab es Proteste, aber ich hatte die Küche geschrubbt und wollte sie vor dem Heiligen Abend nicht wieder dreckig machen.

Als ich spät in der Nacht noch mal aufs Klo musste, stand Gerald vor dem Herd und brutzelte sich Spiegeleier mit Bratkartoffeln. Dass die Küche wie ein Schlachtfeld aussah, schien ihn nicht zu stören …

3.

Kapitel

Nach einem ziemlich hektischen Frühstück und nachdem ich die Kinder in die Schule gebracht hatte, suchte ich zuerst im Kühlschrank und dann im ganzen Haus nach Geralds Einkäufen. Aber ich fand nichts. Also weckte ich ihn und stellte ihn zur Rede. Seinem Genuschel konnte ich entnehmen, dass er angeblich keine Enten gefunden hatte.

Ich sah ihn vor mir, wie er missgelaunt vor dem Kühlregal stand und die fünfundzwanzig Bioenten übersah, die vor ihm im Geflügelfach lagen. Das Einzige, was er aufgetrieben hatte, waren ein Pfund Butter und eine Handvoll Kartoffeln.

»Was soll ich denn damit? Das reicht nicht mal für eine Person!« Vielleicht war ich zu direkt, aber so viel Unfähigkeit hatte ich nicht mal Gerald zugetraut.

»Du hast keine Mengenangaben gemacht«, sagte er patzig.

Manchmal sind seine Antworten so überwältigend doof, dass sich kein weiteres Wort lohnt.

So machte ich mich selbst auf den Weg. Was blieb mir anderes übrig? Ich hatte mir die verdammten Enten in den Kopf gesetzt, und jetzt wollte ich sie auch haben.

Ich war ewig unterwegs. Als ich schon kurz davor war aufzugeben, kam ich zufällig an einem kleinen türkischen Trödelladen vorbei, in dem es Weihnachtsschmuck im Sonderangebot gab. Ich kaufte spontan den gesamten Vorrat auf. So billig würde ich nie wieder an Christbaumkugeln kommen, erfahrungsgemäß gingen jedes Jahr welche zu Bruch. Der nette Besitzer half mir, die Kartons in meinem Ford Fiesta zu verstauen, und auf dem Heimweg fuhr ich beschwingt an der Schule vorbei, um Mätzchen und seinen Freund Jakob abzuholen. Sie standen schon auf dem Gehweg und warteten auf mich. Ich sprang aus dem Wagen, öffnete den Jungs die hintere Tür und bemerkte da erst, dass sich die Christbaumkugeln auf der Rückbank bis unters Dach stapelten.

»Ihr müsst laufen, ihr passt nicht mehr rein.«

»Wir können nicht laufen, das ist viel zu gefährlich.« Matz wusste, wie er mich kriegen konnte. Aber ich blieb standhaft.

»Meine Mutter erlaubt nicht, dass ich tagsüber allein auf der Straße bin«, sagte Jakob.

»Du bist nicht allein, Matz ist bei dir.«

»Matz ist selbst noch ein Kind, der nützt nichts.«

»Stimmt. Was hast du da überhaupt drin in den Schachteln?«, fragte Matz neugierig.

»Geschenke.«

»Geschenke?!«

Matz kniff die Augen zusammen und versuchte etwas zu erkennen.

»Ja, alles für Weihnachten. Alles für euch!«

»Auch für mich?«

»Natürlich auch für dich.«

»Jakob, wir laufen!« Matz setzte sich zielstrebig in Bewegung und zog den maulenden Jakob mit sich.

Zu Hause angekommen, brauchte ich eine Weile, um alle Kartons in den Keller zu räumen. 398 Euro, aber dafür waren wir bis an unser Lebensende mit Weihnachtsschmuck versorgt. Ich hörte die Jungs nach Hause kommen, das hatte also auch geklappt.

Dann fielen mir die Kochbücher in die Augen. Verflixt. Ich hatte die Enten vergessen! Und nur noch ein Tag bis Weihnachten. Ich musste noch mal los.

»Matz?« Keine Reaktion. »Matz! Ich muss noch mal los!«

Totenstille. Wenn Kinder keine Geräusche mehr machen, ist das immer ein schlechtes Zeichen.

Ich stieg die Treppe zu Matz’ Zimmer hoch und lauschte an der Tür. Aus dem Badezimmer gegenüber drang leises Kichern. Ich lugte durch den Türspalt. Die Jungs standen vor dem Waschbecken und blickten fasziniert auf einen riesigen Schaumberg.

»Was macht ihr da?«

Die Kinder zuckten zusammen und sahen mich an wie eine Fata Morgana.

»Was?«

»Was ihr da macht?«

»Nichts.«

»Matz, hör auf, ich hab doch Augen im Kopf. Was habt ihr da im Waschbecken?«

»Mama, wir machen ein Experiment, und du störst gerade.«

»Kinder, ich hab jetzt wirklich keine Zeit, was für ein Experiment ist das?« Mir wurde heiß. Das ist neuerdings immer so, wenn ich mich aufrege. Ich bekomme einen hochroten Kopf, Schweißausbrüche und Atemnot. Meine Mutter sagt, das seien die Vorboten der Wechseljahre.

Ich bin gerade mal siebenundvierzig. Aber so war sie schon immer. Sie denkt nur an sich und spürt nichts von den Verletzungen, die sie anderen zufügen könnte.

Ich blickte wieder ins Waschbecken. Der Schaum bewegte sich.

»Matz, da bewegt sich doch was.«

Er versuchte, gleichgültig zu klingen. »Rüssel.«

Rüssel war unser Meerschweinchen. Schon ein älteres Semester, bis dahin sehr zutraulich und ziemlich verfressen.

»Er wollte gern baden, weil bald Weihnachten ist. Er sah richtig unglücklich und schmutzig aus.«

»Und der stinkt immer so!«, warf Jakob ein. Die beiden machten sorgenvolle Gesichter. Der Berg gab ein zartes Knattergeräusch von sich und vibrierte.

Ich schob Matz beiseite, griff beherzt in den Schaum und zog etwas hervor, das sich anfühlte wie ein Kartoffelkloß mit Beinen. Rüssel strampelte und biss mich zum Dank in den Finger. Ich hielt den Jungs das völlig durchnässte Tier vor die Nase. »Schaut euch das mal an! Der bekommt jetzt eine Lungenentzündung, und an Weihnachten gibt es keinen Tierarzt.«

»Wir gehen einfach in die Tierklinik, das machen wir doch am Wochenende auch immer.«

»Nein, Matz, jetzt ist Schluss, ich bin wirklich böse! Meerschweinchen baden nicht. Grundsätzlich nicht. Die kommen aus Südamerika, da können die gar nicht baden.«

»Aber Rüssel ist doch Berliner.«

Was sollte man darauf antworten?

Ich wickelte das Schweinchen in ein Handtuch und war in Gedanken schon wieder bei meinen Weihnachtsvorbereitungen.

»Reibt ihn trocken, und benehmt euch, ich muss noch mal los, ja?« Damit war ich aus der Tür und ging ein letztes Mal auf Entenjagd.

4.

Kapitel

Der Abend des Dreiundzwanzigsten kam, und ich war guter Stimmung. Ich hatte aus der Tiefkühltruhe eines kleinen Supermarkts noch zwei schöne Bioenten hervorgezogen. Ohne Geralds Hilfe.

Jetzt würde ich die besten Weihnachtsenten auf den Tisch zaubern, die unsere Gäste je gegessen hatten. Ich sah sie schon auf dem Tisch, die Beinchen in die Luft gestreckt, im Popo ein Petersiliensträußchen (die Enten, nicht die Gäste, obwohl das mal eine interessante Variante wäre).

Ich sah mich vor unseren staunenden Gästen, wie ich mir lächelnd die Küchenschürze abband und sie Gerald in den ungläubig geöffneten Mund stopfte. Das Blaukraut würde ich aus der Dose zaubern, den Kartoffelbrei selbstverständlich selbst stampfen. Der gelang immer.

Die Enten lagen zum Auftauen auf dem Spültisch, aber nachdem Gullivers Nase ihnen mehrmals gefährlich nahe gekommen war, trug ich sie in das Vorratskämmerchen im Keller. Gulliver ist unsere Dogge. Er schafft es mühelos, alle Tische und Arbeitsplatten abzuräumen. Wenn er sich auf die Hinterbeine stellt, kann er mir die Pfoten auf die Schultern legen und über mich hinweggucken. Natürlich soll er das nicht. Also weder das eine noch das andere, aber mit der Erziehung hat es nicht so recht geklappt. Gerald und ich haben oft über richtige Hundeerziehung diskutiert, am Ende ist sie doch auf der Strecke geblieben. Wahrscheinlich haben wir die Diskussionen nur geführt, um mal wieder so richtig miteinander zu streiten. Nach siebenundzwanzig Ehejahren hat man manchmal nicht mal mehr zu einer anständigen Auseinandersetzung Lust. In gewisser Weise hat man ja schon alle Themen durch.

Sie denken jetzt vielleicht, wir führten eine unglückliche Ehe. Ganz so einfach ist es nicht. Wir fühlen uns wohl miteinander, wir sind uns nah. Und wissen wahrscheinlich deshalb so gut, wie wir riskante Gesprächsthemen vermeiden können, bevor die Situation eskaliert: Wir gehen einander dann einfach aus dem Weg.

Das klappt meistens. Ausnahmen wie neulich, als ich das letzte Wort haben wollte, bestätigen leider die Regel. Da musste Gerald dann in die Notaufnahme. Ich hatte ihm den Spaghettitopf hinterhergeschmissen und ihn am Kopf getroffen. Am schlimmsten ist im Nachhinein, dass ich kein Mitleid mit ihm hatte.

Gerald saß auf dem Boden, hielt sich den Kopf und schrie: »Ich blute!«

Ich dachte, das Blut sei Tomatensoße, und konnte mir das Lachen nicht verkneifen, weil er so komisch aussah. Ein paar Nudeln hingen zitternd an seinen Ohren herab.

Seit diesem Zwischenfall reißen wir uns mehr zusammen. Immerhin haben wir die halbe Nacht in der Notaufnahme verbracht, das möchte man auch nicht noch mal erleben. Vielleicht ist Zurückhaltung das Ende jeglicher Leidenschaft, aber wir kennen uns ja auch schon seit der Grundschule. Irgendwann ist eben Schluss mit den großen Gefühlen.

Am Abend des 23. Dezember jedenfalls war ich äußerst optimistisch, was die Bioenten betraf. Ich zauberte eine Riesenportion Kartoffeln mit Dillheringshappen auf den Tisch und war so euphorisch, dass mich nicht mal das einstimmige Maulen meiner Kinder aus der Fassung bringen konnte. »Schon wieder Hering? Das gab’s doch erst vorgestern. Warum immer das Gleiche?« Und so weiter. Ich erwiderte, dass es die letzten Heringshappen vor drei Tagen gegeben habe und heute das Ablaufdatum sei.

»Dann können wir das nicht mehr essen!« Matz riss die Augen auf und starrte in die Heringsschüssel, als hätte ich Blausäure drübergekippt.

»Matz, das Ablaufdatum bedeutet nicht …«

»Mama, entspann dich, ich hab sowieso keinen Hunger«, sagte Ricarda, fünfzehn Jahre jung und trotzdem von großer Lebenserfahrung. Gerald nennt das Pubertät. Für mich ist es ein missglückter Erziehungsversuch. Wie bei Gulliver. Nur schlimmer.

Ricarda schwebte an mir vorbei zum Kühlschrank, nahm sich ein Stück Käse und eine Flasche Cola und verschwand auf ihr Zimmer. Rolfi entrang sich noch ein: »Für mich bitte nur Kartoffeln und Butter, wenn’s geht«, und richtete seinen Blick wieder auf sein iPhone.

Gerald las die Zeitung vom Vortag. Ich glaube, das tat er nur, um sich nicht an Familiengesprächen beteiligen zu müssen. Wenn es ihm überhaupt aufgefallen war, dass er eine alte Zeitung las. Schwamm drüber, ich musste mit meinen Kräften haushalten.

Ende der Leseprobe