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In ihrem beklemmend intensiven Psychothriller "Der Blick fremder Augen" beweist Andrea Sawatzki, eine der beliebtesten deutschen Film- und Fernsehschauspielerinnen und SPIEGEL-Bestsellerautorin, erneut ihre besondere Fähigkeit, tief in die Psyche ihrer Figuren einzutauchen und hochspannende Plots zu entwickeln. In diesem Auftaktband zu Sawatzkis Thrillerreihe um die gestandene Berliner Kommmissarin Melanie Fallersleben zeichnet sie das spannende, schockierende Psychogramm einer gequälten Seele. Die Tote lehnt am Stamm einer Kiefer. Ihr Gesichtsausdruck ist entrückt, die Wimperntusche verschmiert, die Kehle durchtrennt. Kommissarin Melanie Fallersleben hat zunächst kaum verwertbare Spuren, und der Täter wird durch sein scheinbar ganz normales Leben allzu gut verborgen. Auch die folgenden Morde liefern der Ermittlerin keinen echten Hinweis. Doch dann erhält sie eine erste verstörende Botschaft … "Sawatzki zeichnet grüblerische, düstere und innerlich zerrissene Hauptpersonen. Ihre Kommissarin zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich im Zuge ihrer Ermittlung in das Opfer hineinversetzt. Mit präziser, schonungsloser Sprache und psychologischem Feingespür beschreibt Sawatzki diese Perspektive." Offenbacher Post
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Seitenzahl: 302
Andrea
Der Blick fremder Augen
Roman
Knaur e-books
Die Tote lehnt am Stamm einer Kiefer. Ihr Gesichtsausdruck ist entrückt, die Wimperntusche verschmiert, die Kehle durchtrennt. Kommissarin Melanie Fallersleben hat zunächst kaum verwertbare Spuren, und der Täter wird durch sein scheinbar ganz normales Leben allzu gut verborgen. Auch die folgenden Morde liefern der Ermittlerin keinen echten Hinweis. Doch dann erhält sie eine erste verstörende Botschaft …
Für C., M. und B.
Endlich erreicht die Frau den Wald. Es regnet jetzt in Strömen. Im Laufen sieht sie sich um, lässt den Blick rasch über die Felder gleiten. Keine Menschenseele weit und breit. Der Wind peitscht durch die Ähren, reißt Schneisen ins satte Gelb. Wie ein gelbes Meer, schießt es ihr durch den Kopf. Dann pfeift sie nach ihrem Hund und rennt weiter, vorüber an dem Findling mit dem aufgemalten Wegweiser, an einer umgestürzten Kiefer.
Sie folgt der Biegung des Wegs, legt sich im Lauf spielerisch in die Kurve, liefert sich ein kleines Wettrennen mit dem Yorkshire-Terrier und taucht ein ins Dunkel des Waldes. Im Rhythmus ihrer Schritte atmet sie gleichmäßig ein und aus, lockert die Schultern.
Undeutlich zeichnet sich der Pfad vor ihr ab, schlängelt sich durchs Gestrüpp. Dahinter Geäst. Die dornigen Zweige der Brombeerbüsche zerren an ihren Hosenbeinen, zerkratzen ihre Waden. Kaum Licht dringt durch das Blätterdach. Der Regen hat zugenommen, der Boden ist ein einziger Matsch. Die Wildschweine haben große Löcher gebuddelt, um sich im Schlamm zu suhlen.
Sie springt über die Pfützen, und doch sind ihre Schuhe schon voller Wasser. Sie rutscht aus, taumelt, fängt sich. Rennt mühsam weiter. Erde klebt an ihren Sohlen. Der Regen nimmt ihr die Sicht.
Weiter vorn macht der Pfad erneut eine Biegung, sie kennt sich aus. Bis auf ein paar Wildschweine hin und wieder ist hier nichts los. Keine Menschenseele. Sie mag die Ruhe, aber bei diesem Wetter durch den Wald zu joggen war trotzdem eine Schnapsidee.
Sie pfeift nach ihrem Hund. Eben war er noch neben ihr. Sie dreht sich um, trippelt auf der Stelle und ruft. Keine Bewegung im Dickicht, kein Laut. Nur das Prasseln des Regens. Sie ruft wieder. Da kommt er zwischen den Stämmen hervor. Er kaut etwas, bleibt stehen, kaut weiter.
»Pfui!«, schreit sie. »Aus!« Sie hasst es, wenn ihr Hund Scheiße frisst. Dann stinkt er den ganzen Tag. Auch nachts noch, wenn er neben ihr auf dem Kopfkissen liegt. »Pfui!«, ruft sie wieder und rennt auf ihn zu. Aber da hat er seine Beute schon verspeist, schluckt, leckt sich das Maul und wedelt zaghaft mit dem Schwanz. Demütig sieht er zu ihr auf. Sie schimpft leise vor sich hin, wendet sich ab und läuft zum Pfad zurück. Über ihr das Klopfen eines Spechts, ein Eichelhäher kreischt, dann wieder Stille. Nur das Prasseln der Tropfen im Buschwerk.
Da sieht sie einen Schatten hinter der Biegung. Zwischen den Stämmen bewegt sich etwas. Sie bleibt stehen und blinzelt durch den Regen hindurch. Der Schatten entfernt sich. Sie atmet auf, streckt sich. Wahrscheinlich nur ein Wildschwein, denkt sie. Wenn man denen nicht zu nahe kommt, tun sie einem nichts. Sie beschließt weiterzulaufen. Merkwürdig, dass der Hund nicht gebellt hat, normalerweise wittert er die Wildschweine immer schon, bevor man sie sieht. Sie dreht sich um. Ruft. Nichts. Es knackt im Gehölz. Dann wieder Stille.
Sie geht zurück zu der Stelle, wo sie ihren Hund zuletzt gesehen hat. Ruft wieder. Ungewöhnlich, dass er nicht hört. Sie dreht sich auf der Stelle, sucht die Dunkelheit nach ihm ab. Plötzlich hört sie ein leises Winseln.
Er sitzt ein paar Meter weiter an einem alten Fuchsbau und zittert am ganzen Leib. Sie nähert sich dem Tier, bleibt abrupt stehen. Aus seinem Maul quillt rötlicher Schaum. Er würgt und röchelt, dann jault er auf. Seine Beine knicken ein. Er fällt zur Seite, verdreht die Augen. Sie geht neben ihm auf die Knie, zieht ihn mit beiden Händen zu sich heran. Er erkennt sie nicht, sein Blick ist leer, scheint nach innen gekehrt, als suche er tief im Innern nach der Ursache für den Schmerz. Wieder ein Krampf. Er erbricht gelb-roten Schaum, dann etwas, das aussieht wie Hackfleisch. Sie beugt sich vor, inspiziert das Erbrochene. Richtig, es ist Hackfleisch. Wo um alles in der Welt kommt das mitten im Wald her?
Gift!, schießt es ihr durch den Kopf. Jemand hat Gift ausgelegt.
Sie nimmt den Hund in die Arme, springt auf und dreht sich um. Sie muss zurück in die Stadt, zum Tierarzt. Das Tier hängt wie ein nasser Sack in ihren Armen.
Der Schlag trifft sie mit solcher Wucht, dass sie hintenüberkippt. Sie stützt sich nicht ab. Sie hält den sterbenden Hund immer noch in den Armen, als ihr Kopf gegen den Stamm einer Kiefer kracht.
Wenige Tage zuvor
Ein Geräusch weckt Katrin. Sie öffnet die Augen, versucht, sich zu orientieren. Es ist dunkel. Sie hält den Atem an und lauscht. Irgendwo fällt eine Tür ins Schloss. Dann Stille. Kurze Zeit später sich entfernende Schritte auf Asphalt.
Katrin liegt still da. Die Erinnerung gleitet träge in ihr Bewusstsein. Wie dickflüssiger Brei. Sie hat wieder geträumt. Tief atmet sie ein, versucht, sich zu entspannen, loszulassen. Zählt ihren Herzschlag. Das Kitzeln eines Schweißtropfens, der langsam von der Stirn über die Schläfe in ihr Ohr perlt. Sie bewegt sich nicht, um ihn wegzuwischen. Sie muss sich zusammenreißen. Ihre Gedanken bändigen und dahin schicken, wo sich der Traum versteckt hält, bevor er sich auflöst. In einem Winkel des Gehirns. Es ist immer die gleiche Stelle.
Sie kreist ihn ein, ist kurz davor, ihn zu greifen. Doch noch bevor sich die Farben in ihrem Kopf zu Bildern formen können, fließt alles auseinander. Leer. Alles leer. Sie schluckt. Versucht, den bitteren Geschmack hinunterzuwürgen, der an ihrem Gaumen klebt. Der Geschmack des Todes. Er begleitet sie schon lang. Genauso wie die Träume. Fast jede Nacht suchen sie sie heim. Obwohl sie die Träume fürchtet, zieht es sie immer wieder zu ihnen hin. Denn sie spürt, wenn es ihr gelänge, die Bilder ans Licht zu holen, würde sie etwas über sich begreifen, das bisher im Verborgenen lag. Sie ahnt, dass in ihren Träumen die Wahrheit liegen muss. Aber sie kriegt sie nicht zu fassen.
Lange liegt Katrin da, ohne sich zu rühren. Beobachtet das Heraufdämmern des Morgens hinter dem Fenster, wie das Licht die Blätter draußen am Baum sekündlich mehr einfärbt, als würde ihnen Leben eingehaucht. Irgendwo zwitschert ein Vogel.
Sie wendet den Kopf und sieht auf den Wecker. Sechs Uhr. Zeit zum Aufstehen. Zwar hat sie heute frei, aber wenn sie einmal wach ist, kann sie ohnehin nicht mehr einschlafen. Außerdem muss die Wohnung geputzt werden, die Wäsche wäscht sich auch nicht von selbst. Und der Kühlschrank ist leer.
Sie hat Bernd versprochen, mal wieder was Anständiges zu kochen. Wenn er schon so früh rausmuss zur Arbeit. Sie rollt sich zur Seite, presst das Gesicht in sein Kissen. Atmet seinen Geruch.
Dann steht Katrin auf, geht ins Bad, duscht, bürstet ihr schulterlanges Haar. Sieht in den Spiegel. Sie mag ihr Gesicht. Das ist es nicht, was sie am Leben hindert. Sondern das andere, was sie nicht zu fassen kriegt.
Sie ist vierundzwanzig Jahre alt.
Seit drei Jahren ist sie mit Bernd verheiratet.
Seit acht Jahren sind sie ein Paar. Kennengelernt haben sie sich in der Berufsschule. Bernd arbeitet bei einem Logistikunternehmen, sie als Verkäuferin im Drogeriemarkt. Aber das macht ihr nichts aus. Sie mag ihren Beruf. Wenn ihr Filialleiter nicht wäre, würde sie ihn noch lieber mögen.
Katrin steht vor dem Spiegel, trägt Make-up auf, schminkt sich die Lippen, zieht eine Grimasse. Es hilft nichts. Der Traum hängt wie eine dunkle Wolke über ihr. Sie summt leise vor sich hin, um die wattige Stille zu durchbrechen, die sie umgibt. Dann greift sie nach ihrer Jeans und streift sie über ihre dünnen Beine. In letzter Zeit hat sie keinen Hunger mehr und muss ihre Hosen in der Taille mit einem Gürtel festbinden. Die Ärzte sagen, der Appetitmangel komme von den Tabletten, das würde sich aber irgendwann von selbst geben. Sie zieht ihren roten Lieblingspulli über den Kopf. Schließt die Badezimmertür und geht in die Küche.
Katrin räumt Bernds Frühstücksgeschirr ab und stellt es in die Spüle. Dann setzt sie Teewasser auf, geht zum Fenster und blickt hinaus auf den Parkplatz. Unten versucht eine junge Frau, ihre kleine Tochter im Kindersitz festzuschnallen. Das Mädchen schreit. Die Frau drückt es fest in die Verschalung und hebt dann die Hand zum Schlag, während sie dem Kind einen Satz entgegenschleudert. Das Kind ist augenblicklich still. Mit ruckartigen Bewegungen zieht die Mutter die Gurte stramm, dann richtet sie sich auf und knallt die Wagentür zu.
Katrin nimmt ihre große Lieblingstasse mit dem aufgedruckten Smiley aus dem Schrank und die Dose mit den Teebeuteln. Die Tasse hat ihr Bernd geschenkt. Mit den Worten: »Das Leben ist zu kurz, um traurig zu sein.« Zu der Zeit ging es ihr auch schon nicht so gut. Das war vor zwei Jahren. Im Sommer.
Sie streift sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und gießt das heiße Wasser in die Tasse. Lässt den Teebeutel in die Flüssigkeit sinken und beobachtet die braunen Schlieren, die gleich darauf durchs Wasser ziehen. Dann öffnet sie die kleine Pillenbox, die auf der Anrichte steht, nimmt eine Amitriptylin heraus, schluckt sie mit etwas Wasser hinunter.
Sie setzt sich an den kleinen Küchentisch an der Wand und starrt auf den leeren Stuhl auf der anderen Seite. Bernds Stuhl. Sie haben nur diese zwei Stühle. Mehr brauchen sie nicht. Eine Zeitlang stand an der leeren Seite des Tischs ein Kinderstuhl. Mit Treppchen und Tablett. Eine Bekannte hatte ihn ihr gegeben, als Katrin schwanger war.
Aber dann kam alles anders.
Katrin öffnet die Schublade unter der Tischplatte, greift nach dem kleinen Block und dem Stift und beginnt, eine Einkaufsliste und ihren Tagesplan zu schreiben. Sie schreibt grundsätzlich alles auf: Wann sie wie viele Tabletten genommen hat, was sie braucht oder plant. Mit genauer Zeiteinteilung. Sie muss das tun, um den Tag zu strukturieren. Um nicht abzugleiten ins Dunkel.
Der Discounter ist nicht weit von der Wohnung entfernt. Katrin überquert die Straße, wobei sie darauf achtet, den Menschen um sich herum nicht ins Gesicht zu sehen. Das ist eine ihrer Eigenheiten. Sie fürchtet, etwas von sich zu verlieren, wenn sie auf fremde Augen trifft. Das war schon so, als sie noch ein Kind war.
Wenn sie mit Bernd unterwegs ist, machen ihr die Blicke weniger aus. Problematisch wird es, wenn ihr Mann nicht bei ihr ist. Dann bleibt sie am liebsten daheim, zieht die Vorhänge zu und wartet auf die Dunkelheit. Denn das gleißende Licht eines Sonnentags erträgt sie genauso wenig wie die Blicke fremder Augen.
Anfangs hat Bernd sie deswegen ausgelacht. Inzwischen reagiert er kaum noch darauf, wenn sie über ihre Furcht sprechen möchte. Er schaltet dann ab. Es habe keinen Sinn, mit ihr darüber zu sprechen. Sie reden aneinander vorbei. Und er versteht das Problem nicht. Niemand versteht das Problem. Der Sommer ist Katrins größter Feind.
Sie steckt eine Münze in den Schlitz des Einkaufswagens und zerrt diesen aus der Verankerung. Beim Rückwärtsgehen stößt sie beinahe mit einer obdachlosen Frau zusammen, die um Geld bettelt. Katrin beachtet sie nicht, sondern geht Richtung Eingang. Sie gibt grundsätzlich keine Almosen.
Im Innern des Ladens ist es kühl. Sie atmet auf und schiebt ihren Wagen durch die Gänge. An der Fleischtruhe trifft sie die alte Frau aus der Wohnung gegenüber. Katrin grüßt freundlich, aber die Nachbarin grüßt nicht zurück. Sieht sie nur aus zusammengekniffenen Augen an, die hinter dicken Brillengläsern kaum zu erkennen sind. In dem kalten Neonlicht sieht die Alte aus wie eine Wachsfigur. Einmal hat Katrin Bernd erzählt, dass die Nachbarin ihr Angst mache und sie sich davor fürchte, ihr im Treppenhaus zu begegnen. Bernd lachte bloß und sagte, die alte Frau sei wahrscheinlich nur eifersüchtig auf so ein junges hübsches Ding.
Katrin versucht, sich abzulenken, studiert ihren Einkaufszettel und füllt ihren Wagen. Mit einem Mal hat sie es eilig, aus dem Laden rauszukommen. Als sie an der Kasse steht, ist die Alte plötzlich hinter ihr. Sie stößt Katrin den Wagen in die Hacken, während diese ihre Einkäufe aufs Band legt. Katrin tut so, als hätte sie nichts bemerkt, aber vor lauter Ärger vergisst sie, die Kerzen aufs Band zu legen. Die sind unter den Einkaufsbeutel gerutscht. Die Verkäuferin bemerkt das und fragt: »Die Kerzen wollen wir heute wohl nicht bezahlen, was?«
Katrin murmelt eine Entschuldigung und wird rot, als sie die Blicke der anderen Kunden bemerkt. Das weiße Gesicht der Alten scheint zu leuchten. Sie fixiert die junge Frau regungslos. Ihr Mund ist ein harter Schlitz.
Katrin zahlt und stürzt ins Freie.
Als sie wieder zu Hause ist, verfolgt diese Szene sie. Sie grübelt, was sie hätte antworten können. Hasst sich dafür, dass sie sich nicht verteidigt hat. Wirft ihre Einkäufe auf den Tisch und schiebt den Küchenstuhl ans Fenster.
Lange sieht sie hinaus.
Dann steht Katrin auf und schaut auf ihren Tagesplan. Die Tabletten! Beinahe hätte sie die vergessen. Sie kann sich nicht daran erinnern, schon eine genommen zu haben. Auf dem Block ist nichts vermerkt. Sie legt den Plan zurück in die Schublade, geht zum Küchenschrank und nimmt eine Lithium aus der Verpackung. Hält kurz inne, löst noch eine zweite aus der Folie. Mit einem Schluck Wasser spült sie die Pillen hinunter. Dann stützt sie sich mit beiden Händen auf der Arbeitsplatte ab und starrt in die Spüle. Nach einer Weile zieht sie die Küchenschublade auf und holt den Notizblock wieder hervor. Sie muss sich notieren, dass sie zwei Lithium geschluckt hat. Sie kommt mit der Medikamenteneinnahme ständig durcheinander. Katrin stutzt. Da steht: Donnerstag, 7.30 Uhr, eine Amitriptylin. Sie sieht auf die Uhr. Halb elf. Daran, schon eine Tablette geschluckt zu haben, kann sie sich nicht erinnern. Hat sie das überhaupt geschrieben? Das ist doch gar nicht ihre Schrift. In letzter Zeit hat sie häufig das Gefühl, nicht allein zu sein. Dass jemand sie beobachtet und sich einen Spaß mit ihr erlaubt.
Katrin geht durch alle Räume, schaut unters Bett im Schlafzimmer und hinter das Sofa.
Sie ist allein.
Später geht Katrin ins Schlafzimmer. Sie fühlt sich ruhelos. Der Vorfall im Discounter geht ihr nach. Immer wieder sieht sie das Gesicht ihrer Nachbarin vor sich, die bohrenden Augen der Alten. Warum können die Leute sie nicht einfach in Ruhe lassen.
Sie öffnet die Tür zum Schlafzimmerschrank und kniet sich davor. Im unteren Teil hat sie ein Schloss an einer Schublade angebracht. Den Schlüssel dazu trägt sie um den Hals. Niemand soll wissen, was sich in der Schublade befindet. Auch Bernd nicht. Nicht nur ein Mal hat er sie gebeten, ihm den Inhalt zu zeigen. Aber sie konnte ihn davon abbringen. Jeder Mensch brauche seine Geheimnisse, er dürfe nicht alles über sie wissen, sonst fühle sie sich nackt. Das hat er verstanden.
Sie hütet die Erinnerung wie ihren größten Schatz. Seit zwei Jahren hält sie daran fest. Nur so kann sie weiterleben. Seit damals führt sie zwei Leben. Eines für die Menschen um sie herum und eines für sie ganz allein.
Katrin nimmt die Kette vom Hals und öffnet das Schloss. Sie zieht die Schublade heraus, greift vorsichtig hinein und holt ein rosafarbenes Jäckchen hervor. Betrachtet es von allen Seiten.
Wie klein die Ärmel sind. Wie zart der spitzenbesetzte Halsausschnitt.
Katrin drückt sich das Jäckchen ans Gesicht und atmet den Duft der Wolle ein. Presst den Stoff gegen Augen und Mund und flüstert den Namen ihres Kindes: »Nana.« Ganz leise wiederholt sie: »Nana.« Und dann, kaum noch hörbar: »Hallo, kleines Naninchen, ich bin bei dir. Hab keine Angst.«
Sie lässt die Jacke sinken und zieht weitere winzige Kleidungsstücke aus der Schublade. Drei Schlafanzüge mit Blümchen und Kätzchen bedruckt, ein paar Nuckeltücher, kleine rosa Strümpfe, eine Mütze, eine Decke mit lachenden Äffchen, ein kleiner Stoffelefant, ein rosa Hund mit schwarzen Knopfaugen.
Sorgfältig drapiert sie die Kleidungsstücke und Kuscheltiere im Halbkreis um sich herum. Streicht darüber, zupft Falten zurecht. Ganz nah ist Nana jetzt. Katrin zieht sich die kleine Decke an die Brust, schließt die Augen und wiegt den Oberkörper sanft hin und her. Nana ist bei ihr. Zum ersten Mal an diesem Tag fühlt sie sich nicht allein.
Als Bernd nach Hause kommt, steht das Essen auf dem Tisch. Schweinekotelett mit Kroketten und Salat. Er küsst seine Frau auf die Stirn und setzt sich an den kleinen Küchentisch.
»Das sieht toll aus, Kati. Genau das Richtige für den hart arbeitenden Mann.« Bernd lacht. Er nimmt sich gern selbst auf den Arm. Dann schaufelt er seinen Teller voll, öffnet die Bierdose, die sie ihm hingestellt hat, und beginnt zu essen. Katrin sitzt ihm gegenüber und beobachtet ihn. Wenn Bernd da ist, fühlt sie sich besser. Solange er sie nicht anfasst.
»Hast du keinen Hunger?«, fragt er und deutet mit dem Kinn auf ihren leeren Teller.
»Doch, gleich.« Aber sie rührt nichts an.
Er schiebt ein Stück Fleisch in den Mund, kaut, während er sie ansieht. »Schmeckt gut, haste selbst gekocht?«
»Fertiggericht.«
»Schmeckt trotzdem.«
Nach einer Weile hält Bernd es nicht mehr aus. Er kennt seine Frau zu gut. Er legt die Gabel beiseite, streckt die Hand aus, um ihr Gesicht zu berühren, hält aber auf halbem Wege inne.
»Alles klar?«
Katrin zuckt mit den Schultern und lächelt schief.
»War ein Scheißtag.«
Das Übliche. Bernd atmet tief durch und beschließt, sich zusammenzureißen. Nur nicht runterziehen lassen. Wenn er Kati zum Reden kriegt, wird es manchmal besser.
»Aber warum? Du hattest doch frei. Hättest es dir gemütlich machen können.«
Bernd nimmt die Gabel, spießt zwei Kroketten auf einmal auf und steckt sie beide in den Mund. Er ist hungrig. Er hat sich auf zu Hause gefreut. Dass es dann manchmal anders kommt als gewünscht, daran hat er sich eigentlich inzwischen gewöhnt. Aber dennoch …
»Gemütlich?«, wiederholt sie, wobei sie das ü besonders dehnt. Sie fischt eine Krokette aus der Schüssel und beginnt, daran zu knabbern. Sie wartet, dass er nachhakt.
Er nimmt einen Schluck Bier. Er muss weiter versuchen, sie zum Reden zu bringen. Nur dann wird sie ruhiger werden und der Abend vielleicht doch noch etwas gemütlicher.
»Hat dich jemand geärgert?«
»Nein.«
»Was war dann?«
»Egal.«
»Nun red halt!«
»Das verstehst du sowieso nicht.«
»Erzähl schon, vielleicht versteh ich’s ja doch.« Bernd legt seine Gabel neben den Teller und wartet. Langsam vergeht auch ihm der Hunger. »Komm, mach schon!« Er denkt an die Krimiserie, die gleich im Fernsehen läuft.
»Es ist …«, beginnt sie, und die Tränen schießen ihr in die Augen, »… es ist immer so schwer für mich, das Alleinsein.« Sie schluckt.
»Dann geh unter Leute, Kati. Es zwingt dich keiner, hier rumzuhocken.«
»Das ist es doch, Bernd. Das kann ich ja gerade nicht. Ich kann nicht mit den Menschen, und ich kann nicht allein sein.«
»Ach, Kati, das ist Quatsch. Auf der Arbeit geht’s doch auch. Du musst dir halt mal einen Ruck geben. Über deinen Schatten springen. Du hast dich so daran gewöhnt, dich hier einzuschließen, dass du gar nichts anderes mehr kennst.«
Sie sieht ihn an. »Es geht nicht. Kapierst du das denn nicht? Es geht nicht.«
Sie vergräbt ihr Gesicht in den Händen. Sie muss sich beherrschen. Bernd kann ja nichts dafür, dass sie nicht mit sich klarkommt. Dann sagt sie kaum hörbar: »Ich kann nicht raus. Alle starren mich an. Alle merken, dass ich es nicht kann. Dass was nicht mit mir stimmt.«
Bernd trinkt sein Bier aus, steht auf, holt eine neue Dose aus dem Kühlschrank. Dann setzt er sich wieder. Seine Serie sieht er in weiter Ferne entschwinden.
»Das ist doch Quatsch«, wiederholt er. Mehr fällt ihm nicht ein. Er nimmt einen Schluck und betrachtet seine Frau. Wie dünn sie ist. Der Pullover hängt an ihrem Körper wie ein nasser Sack. Sie spürt seinen Blick und sieht ihm in die Augen. Ganz fremd ist sie ihm und doch so vertraut nach all den Jahren. Nach allem, was sie gemeinsam durchgemacht haben.
»Ach, Kati«, sagt er leise.
Sie schweigt und sieht ihn weiter an. Dringt tief in ihn, als würde sie so eine Antwort finden. Ihre Augen füllen sich mit Tränen.
»Ich kann nicht mehr.«
Er nimmt ihre Hand und drückt sie zärtlich. Seufzt.
Dann fällt ihm das Auto ein. »Dabei hab ich eine Überraschung für dich!«
Katrin sieht ihn nicht an. »Und?«
»Das Auto. Wir können es nächste Woche haben.«
»Welches Auto?«
»Den blauen Opel. Den wir in der Clayallee gesehen haben. Ich hab den Besitzer angerufen. Der wollte neunhundert Euro, aber ich hab ihn auf sechshundert runtergehandelt. Gut, was?«
Sie zuckt mit den Schultern. In der Clayallee stehen dauernd Autos zum Verkauf. Aber wer weiß, ob die dann auch fahren.
»Wozu brauchen wir ein Auto?«
»Mann, Katrin, jetzt freu dich doch. Du wolltest es schließlich auch haben. Damit können wir am Wochenende ein bisschen rumfahren.«
Sie starrt auf den Tisch, überlegt, ob sie am Wochenende rumfahren will. Eigentlich nicht. Am liebsten würde sie sich die Decke über den Kopf ziehen. Sie gibt sich einen Ruck.
»Toll. Danke.«
»Krieg ich jetzt mal einen amtlichen Kuss?«
Katrin zögert. Dann steht sie auf, geht um den Tisch herum und setzt sich auf Bernds Schoß. Sie vergräbt ihr Gesicht an seinem Hals und atmet seinen Geruch ein. Ohne ihn wäre sie nichts. Das ist ihr klar. Auch wenn er sie nicht mehr anfassen darf. Seit dem Sommer vor zwei Jahren erträgt sie seine Berührungen nicht mehr.
»Hat sich die Czernowitz eigentlich noch mal gemeldet?«, fragt Bernd nach einer Weile.
Katrin hält kurz die Luft an, dann atmet sie weiter.
»Nein.«
Die Czernowitz ist ihre Vermieterin. Ständig nervt sie, weil Katrin den Treppendienst vergisst. Beim letzten Besuch hat sie gesagt, dass sie den Mietvertrag wegen Eigenbedarf auflösen wird. Katrin hat daraufhin die Fassung verloren und Frau Czernowitz angeschrien, sie solle auf der Stelle aus ihrer Wohnung verschwinden und sich nicht mehr blicken lassen. Die Czernowitz war gegangen, aber nicht, ohne darauf hinzuweisen, dass Katrins Wutausbruch ein Nachspiel haben würde. Katrin hat sie sogar »alte Tussi« genannt. Tag für Tag schleicht Katrin seither zum Briefkasten und erwartet das Schlimmste. Bislang ist aber nichts gekommen.
Bernd ist auch sauer auf sie gewesen. So könne man nicht mit seiner Vermieterin umspringen. Da müsse man schon ein bisschen diplomatisch sein. Wenn er zu Hause gewesen wäre, wäre das Gespräch anders verlaufen, jetzt sei bestimmt nichts mehr zu machen mit dem Vertrag.
»Hätte, wäre«, hat Katrin ihn nachgeäfft. »Du hast leicht reden. Dir ist die Schlampe ja nicht auf den Leib gerückt.«
So ist es immer mit Kati. Sie verträgt keine Kritik, sie erträgt keine Forderungen. Sofort nimmt sie alles persönlich, denkt, die Menschen hätten sie bewusst ausgewählt, um sie zu piesacken. Dann reagiert sie wie eine Furie, schreit, heult. Bernd ist tatsächlich froh, dass sie noch niemandem ins Gesicht gespuckt hat.
So ist es auch mit der alten Frau Klammroth vom Ende des Gangs. Zweimal hat die geklingelt und Kati darum gebeten, nicht immer den Treppendienst zu vergessen. Beim zweiten Mal hat Kati ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen – mit den Worten: »Verpiss dich doch, Alte!« Jetzt verdächtigt Katrin Frau Klammroth, die Vermieterin dazu überredet zu haben, dass sie ihnen den Mietvertrag kündigt.
Bernd streicht Kati übers Haar. »Geht’s besser, du kleine Motte?« Er biegt ihr Gesicht zu sich hoch und küsst ihre Nasenspitze.
Kati lächelt. Motte ist ihr Spitzname. Bernd hat ihn ihr gegeben, weil sie sich so ungern der Sonne aussetzt.
»Du vergräbst dich in der Wohnung wie eine Motte im Kleiderschrank«, hat er gesagt und ihr einen zarten Nasenstüber verpasst. Da hat sie gelacht.
»Komm, wir machen es uns jetzt gemütlich. Ich räum später ab und bring die Küche in Ordnung«, sagt Bernd jetzt und zwickt sie in die Taille.
Kati rutscht von seinem Schoß. »Okay.«
Glück gehabt. Noch drei Minuten, dann geht seine Lieblingsserie los.
Nachts wälzt Katrin sich unruhig im Bett. Sie träumt. Sie ist wieder zehn Jahre alt und kommt spät von der Schule nach Hause. Draußen ist es schon dunkel. November. Der Regen hat ihre Kleidung durchnässt, und sie ist froh, endlich im Warmen zu sein. Einmal die Woche darf sie nach der Schule zu ihrer Freundin gehen. Dienstags. Da ist die Mutter in der Kirchengruppe und kommt erst später heim. Sie mag nicht, wenn Kati mit dem Vater allein ist. Aber heute ist Mittwoch und ihre Mutter dennoch nicht da. Stattdessen öffnet der Vater die Haustür. Er sieht Kati kurz an und tritt dann zur Seite. Als sie sich an ihm vorbeischieben will, hält er sie am Schulranzen fest und stößt sie zurück in den Hausflur. Sie sieht zu ihm auf. Er deutet auf ihre Schuhe.
»Zieh die aus, wenn du reinwillst!«
Er wendet sich ab und geht in die Küche.
Kati zieht ihre Schuhe aus und stellt sie ordentlich ins Regal neben der Tür. Sie läuft in ihr kleines Kinderzimmer und stellt die Schulmappe in eine Ecke. Dann bleibt sie stehen und lauscht. Sie weiß nicht, wohin. Wenn der Vater schlechte Laune hat, ist es besser, man geht ihm aus dem Weg. Heute hat er eindeutig schlechte Laune.
Sie setzt sich auf die Bettkante und wartet. Komisch, dass die Mutter noch nicht da ist.
Sie hört seine Schritte im Flur. Die angelehnte Tür öffnet sich, sein Schatten zerschneidet den Lichtstrahl.
»Wo ist deine Mutter?«
»Weiß nicht«, antwortet sie.
»Sie ist noch nicht da.«
Katrin schweigt. Sie weiß wirklich nicht, wo ihre Mutter ist. Normalerweise müsste sie da sein. Das stimmt.
»Kannst du nicht reden?« Ganz leise sagt er das, fast zärtlich. Gleich wird er explodieren.
Sie schluckt. »Doch. Aber ich weiß ja nicht, wo sie ist.«
Er wendet sich ab und ruft über seine Schulter zurück, sie solle ihm was zu essen machen.
Kati geht langsam hinter ihm her in die Küche. Öffnet den Kühlschrank.
Da stehen zum Glück noch die Reste vom Vortag. Sie nimmt sie heraus, holt einen Topf vom Regal und schüttet das Essen hinein. Dann stellt sie alles auf den Herd. Kochen kann sie nicht. Aber das ist ein Eintopf, das wird schon gehen.
Kati spürt die Anwesenheit ihres Vaters in ihrem Rücken. Sie dreht sich nicht um, sondern wartet vor dem Herd, bis das Essen warm ist. Ab und zu rührt sie ein bisschen darin herum. Bloß nicht dem Blick des Vaters begegnen. Sie hat das Gefühl, dass sie tot umfallen muss, wenn sie ihm in die Augen sieht.
Sie holt einen tiefen Teller aus dem Schrank, häuft den Eintopf hinein und setzt den Kochtopf wieder auf den Herd. Stellt den Teller auf den Tisch, vor den Vater. Holt einen Löffel aus der Schublade, legt ihn neben den Teller und will wieder aus der Küche gehen, als die Stimme des Vaters in ihren Rücken schneidet.
»Was soll das sein?«
Kati dreht sich um. Das Gesicht des Vaters ist gerötet, am Hals haben sich Flecken gebildet. Irgendetwas scheint ihn zu ärgern. Er winkt sie zu sich heran. Langsam nähert Katrin sich, hält aber einen Sicherheitsabstand. Wenn er diese Flecken kriegt, muss man aufpassen.
Er streckt die Hand nach ihr aus, beugt sich rasch vor, bekommt ihren Ärmel zu fassen und zieht sie zu sich heran. Er deutet auf seinen Teller. »Was ist das?«
»Dein Abendessen«, antwortet sie leise.
»Mein was?«
»Dein Abendessen, Papi.«
»Ich höre heute so schlecht, kannst du’s noch mal wiederholen?«
»Papi, bitte«, fleht Kati und versucht, seine Hand abzuschütteln.
Da packt er ihren Arm mit der einen Hand, mit der anderen ihr Genick und drückt sie auf die Tischplatte.
»Was soll das sein?«, schreit er. »Mein Abendessen?«
»Es ist nichts anderes da«, heult sie los. Das stimmt. Die Mutter ist sparsam. Der Kühlschrank ist meistens leer, weil sie tagsüber für den Abend einkauft. Und heute ist sie noch nicht heimgekommen.
Der Vater stößt Kati gegen die Spüle. Sie stürzt und bleibt benommen am Boden sitzen. Sieht ihn mit großen Augen an. Wartet. Nur nicht weinen, denn dann wird er noch wütender.
Sie beobachtet, wie er den Teller mit dem Eintopf langsam über die Tischkante schiebt. Er lässt sie dabei nicht aus den Augen. Der Teller kippelt ein bisschen, fällt auf den Linoleumboden und zerschellt. Der Eintopf spritzt in alle Richtungen.
Der Vater wendet sich zur Tür.
»Wisch das weg!«, sagt er im Hinausgehen. Wenig später schlägt die Haustür hinter ihm zu.
Kati ist allein. Vergräbt das Gesicht in den Armen. Endlich kann sie weinen.
Früh um sechs klingelt der Wecker. Melanie Fallersleben wirft energisch die Decke zur Seite und rollt sich mit einem Seufzer aus dem Bett. Sie hat ohnehin nicht geschlafen, das geht nun schon seit Wochen so. Irgendwie kommt sie nicht mehr runter, ein Gedanke jagt den nächsten.
Es liegt nicht nur an der Trennung von Dirk und daran, dass sie nicht weiß, wie es mit ihr weitergehen soll. In ihrem Alter. Es liegt auch an ihrem Job als Kommissarin. Sie fühlt sich ausgelaugt und würde am liebsten alles an den Nagel hängen. Hätte sie drei Wünsche frei, sie bräuchte nur den ersten: noch mal von vorn anfangen.
Mel geht ins Bad und schaut kurz in den Spiegel, während sie sich den Morgenmantel überstreift. Das rote Haar hängt ihr strähnig ins Gesicht. Die Augen bekommt sie fast nicht auf vor Müdigkeit. Aber sie sieht genug, um sich ein vernichtendes Urteil über ihr Aussehen zu bilden: Sie sieht immer noch aus wie gestern. Kein Wunder, dass sie allein lebt.
Müde schlurft sie in die Küche und wirft die Kaffeemaschine an. Aus dem Kühlschrank holt sie die Milch und schüttet etwas davon in einen Topf. Sie tritt ans Fenster und sieht hinaus. Regentropfen perlen an der Scheibe herunter. In der Wohnung im Haus gegenüber brennt Licht. Da wohnt der alte Mann mit seinem Hund. Jeden Tag läuft er, das Tier an der Leine, die Straße auf und ab und redet ohne Unterlass auf den Hund ein. Mittlerweile ist der bestimmt stocktaub.
Melanie Fallersleben löscht das Küchenlicht, bevor sie wieder zum Fenster geht. Sie hebt das Fernglas an die Augen, das auf dem Fensterbrett bereitliegt, und nimmt das Haus auf der anderen Straßenseite ins Visier.
Seit sie hierhergezogen ist, macht sie das. Seit sie allein lebt.
Der alte Mann sitzt wie jeden Morgen an seinem Küchentisch und starrt vor sich hin. Vielleicht liest er etwas. Oder er ist in Gedanken versunken. Wenn er mal nicht mehr da sitzt, muss sie sich um den Hund kümmern. Niemand sonst wird es merken, wenn der Alte nicht mehr auftaucht.
Die übrigen erleuchteten Fenster sind durch Vorhänge von Blicken abgeschirmt oder liegen zu hoch, da kann Mel nur die Decke erkennen. Sie nimmt das Fernglas von den Augen, legt es aufs Fensterbrett und schaltet das Licht wieder ein. Die Milch dampft, der Kaffee ist fertig. Sie schüttet alles zusammen, noch zwei Löffel Zucker dazu, und setzt sich an den kleinen Ecktisch. Sie hat nur einen Stuhl in der Küche. Mehr braucht sie nicht.
Die neue Wohnung ist klein, zwei Zimmer, Küche, Bad, aber zumindest hat sie ihre Ruhe. Früher, als sie noch mit Dirk zusammengelebt hat, hätte sie sich nicht vorstellen können, jemals so spartanisch zu leben. Sie hat so viel Mühe darauf verwandt, ihnen beiden ein schönes Zuhause zu schaffen. Sie hat die Wände der verschiedenen Zimmer in Pastellfarben gestrichen, Bilder aufgehängt, auf Flohmärkten nach schönem Trödel gesucht. Abends ein Lichtermeer aus Kerzen entzündet, wenn Dirk nach Hause kam. Und jetzt? Nichts davon. Als müsste sie sich abgrenzen von ihrem früheren Leben. Vom Glück. Von einem behaglichen Zuhause. Als müsste sie sich selbst bestrafen dafür, dass ihr Lebenstraum geplatzt ist. Obwohl sie keine rechte Schuld bei sich finden kann.
Mel pustet in ihre Tasse, die sie mit beiden Händen umschlossen hält, schließt die Augen und atmet den Kaffeeduft ein. Ihre Handflächen brennen, aber das stört sie nicht. Sie überlegt, was sie nach Dienstschluss noch alles machen muss. Sie müsste endlich den Klempner bestellen. Der Abfluss ist verstopft, und die Wohnung riecht, als ob sie eine Leiche unterm Bett versteckt hätte. Wenn sie eines hasst, dann ist es Verwesungsgeruch. Im Revier darf das keiner wissen, denn manche Kollegen warten nur darauf, eine Schwachstelle bei den Frauen zu finden. Aber sie wird sich nie daran gewöhnen.
Schließlich steht Mel auf, stellt die Tasse in die Spüle und geht ins Bad.
Sie ist schon wieder spät dran.
Seit beinahe anderthalb Jahren hat Mel den Tick mit dem Fernglas nun schon. Sie wundert sich ja selbst darüber. Aber seit sie allein lebt, spendet ihr dieses Ritual Trost. Wenn sie den alten Mann morgens an seinem Tisch sitzen sieht, fühlt sie sich nicht ganz so einsam. Wenn sie beobachtet, dass sie nicht die einzig Verlassene auf der Welt ist. Dass es Verbündete gibt. Auch wenn sie nichts voneinander wissen.
Es war ein gewaltiger Schock, als Dirk sie von einem Tag auf den anderen verlassen hat. Ohne Vorwarnung. Oder vielleicht gab es Zeichen, die sie übersehen hat? Liebe macht ja bekanntlich blind. Und sie liebte alles an ihm. Sein Gesicht, seine Hände, seinen schlaksigen Gang. Die Art, wie er ihr Geschichten erzählte, indem er die Protagonisten so genau imitierte, dass sie sie vor sich sah. Den Schalk in seinen Augen, wenn er sich wieder Geld bei ihr pumpen musste, für sein Motorrad oder eine neue Lederjacke.
Kennengelernt hatten sie sich vor fünf Jahren bei einer Betriebsfeier der Polizei in Dirks Kneipe. Er hatte sie kurz zuvor zusammen mit einem Kumpel übernommen. Aber der machte sich im Lauf der Jahre mit Dirks Geld aus dem Staub, und dann musste Mel aushelfen. Und sie half gern. Dirks Leben war ihr Leben. Für ihn hätte sie ihr letztes Hemd gegeben.
Dann erzählte er ihr eines Tages von seiner »großen Liebe«. Seit Monaten trieben sie es schon hinter Mels Rücken und hatten endlich beschlossen, reinen Tisch zu machen. Im Januar letzten Jahres war das. Mel hatte ihn gefragt, was an der anderen attraktiver sei als an ihr.
Dirk erklärte ihr lapidar, dass seine neue Freundin zwanzig Jahre jünger sei als Mel. Und dass das schon einen gewaltigen Unterschied mache, mit so einer Dreißigjährigen an der Seite. Und eine kleine Tochter habe sie auch.
Das war fast noch schlimmer als der Altersunterschied. Mel hat sich zeitlebens ein Kind gewünscht und keins bekommen. Weiß der Teufel, wieso sie keine Mutter werden durfte.
Mel hat sich in den Jahren, die sie mit Dirk zusammen war, nie beklagt, hat all seine Launen und Leidenschaften still akzeptiert. Die wochenlangen Bikertouren, die Nächte, in denen er nicht nach Hause kam, weil er mit seinen Kumpels feiern musste. Sie hat ihn geliebt.
Dennoch hat sie nicht um Dirk gekämpft, sondern sich von vornherein geschlagen gegeben. Die andere besaß zu viele Vorzüge. Sie war hübsch, jung, hatte ein kleines Kind, war von Hause aus finanziell gut gestellt.
Was hätte Mel ein Kampf um Dirk gebracht?
Eine Niederlage.