Tief durchatmen, die Familie kommt & Von Erholung war nie die Rede - Andrea Sawatzki - E-Book

Tief durchatmen, die Familie kommt & Von Erholung war nie die Rede E-Book

Andrea Sawatzki

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Beschreibung

Zwei Romane rund um die chaotische Familie Bundschuh in einem e-Book von Bestsellerautorin Andrea Sawatzki Tief durchatmen, die Familie kommt Harmonie, gute Gespräche und zwei köstliche Bio-Enten. So hat Gundula sich das vorgestellt. Dass ihre Mutter und ihre Schwiegermutter die alten Geschichten aufwärmen würden und ihr Mann Gerald nicht mal in der Lage ist, den Christbaum aufzustellen - damit war nicht zu rechnen gewesen. Kein Wunder, dass Gundula irgendwann die Nerven verliert  … Andrea Sawatzki erzählt von einem grandios gescheiterten Weihnachtsfest mit der lieben Familie.  Von Erholung war nie die Rede Schwiegermutter Susanne lädt ein. Warum nicht, sagt sich Gundula, wenn der Urlaub umsonst ist? Vielleicht aber lieber nicht nach Norderney in den Regen. Und schon gar nicht mit der ganzen Familie Bundschuh. Im trügerisch glamourösen Hotel "Vier Jahreszeiten" fällt nicht nur ihren Kindern die Decke auf den Kopf – auch ihr Mann Gerald gerät auf Abwege und entdeckt endlich seine wahre Bestimmung ...

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Seitenzahl: 428

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www.piper.de

Für Christian, Moritz und Bruno

ISBN 978-3-492-98592-5

Copyright dieser Ausgabe © 2019 Piper Verlag GmbH, München

Tief durchatmen, die Familie kommt

© Piper Verlag GmbH, München 2013

Von Erholung war nie die Rede

© Piper Verlag GmbH, München 2014

Covergestaltung: Cornelia Niere, München

Covermotiv: Tief durchatmen, die Familie kommt: plainpicture/Jasmin Sander | Von Erholung war nie die Rede: Big Cheese Photo/Corbis/

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt
Cover & Impressum
Tief durchatmen, die Familie kommt
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
Von Erholung war nie die Rede
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel

1.

Kapitel

Ich heiße Gundula Bundschuh. Wenn man diesen Namen hört, glaubt man genau zu wissen, wie die Frau dahinter aussieht, man muss sie gar nicht mehr kennenlernen. Und das ist genau mein Problem, ich finde nämlich, ich sehe wirklich aus wie Gundula Bundschuh.

Meine Mutter hat meinen Namen damals im Telefonbuch gefunden. Genauso wie den meines Bruders. Mein Bruder heißt Hans-Dieter, was auch nicht wirklich entspannt klingt, aber ich würde trotzdem lieber Hans-Dieter Schultze-Seemann heißen als Gundula Bundschuh. Bundschuh heißt mein Mann, Gerald Bundschuh. Er arbeitet beim Finanzamt, ich bin Hausfrau. Wir haben drei Kinder und zwei Hunde, und bis zu jenem legendären Weihnachtsfest vor drei Jahren lebten wir mehr oder weniger so vor uns hin wie viele Familien auch.

Gerald und ich führten eine gute, wenn auch nach siebenundzwanzig Jahren leidenschaftslose Ehe. Die Kinder wuchsen behütet auf und stritten nicht mehr als andere Kinder, das Häuschen war abbezahlt.

Ich weiß nicht genau, wann und wie die Idee entstanden war, das alljährliche Weihnachtsfest mit der ganzen Verwandtschaft immer in unserem Haus zu feiern. Fest steht, dass es zu einem unumgänglichen Ritual geworden war. Sämtliche Familienmitglieder schlugen pünktlich am 24. Dezember bei uns auf.

Jahr für Jahr lag ich nächtelang wach und wälzte Ausrede um Ausrede in meinem Kopf, wie ich am 24. die Verwandtschaft aus dem Haus halten könnte.

Aber nichts fiel mir ein. Sich Anfang Dezember von der Kellertreppe zu werfen hätte nicht geholfen, denn ich schwöre bei Gott, meine Familie wäre selbst dann erschienen, wenn ich im Gipskorsett unterm Weihnachtsbaum gelegen hätte.

Jedes Jahr, wenn sich der Sommer dem Ende entgegenneigte und die ersten Blätter fielen, ergriff mich eine unbestimmte Schwermut, und im Nachhinein weiß ich, dass es die Angst vor dem drohenden Weihnachtsfest war, die mich packte und im wahrsten Sinne des Wortes lahmlegte. Spätestens ab Oktober kaufte ich sämtliche Menü- und Dekorationshefte, die zum Thema Weihnachten neu auf dem Markt erschienen, und schichtete sie in der Küche zu einem Stapel auf. Sozusagen als Mahnmal dafür, dass die Feierlichkeiten bevorstanden. Bis zum 21. Dezember überließ ich diesen Stapel sich selbst, bis mich spätestens am zweiundzwanzigsten die erste Panikattacke überkam.

Sie werden jetzt denken: Es ist doch nicht weiter schlimm, wenn sich die Familie darauf freut, gemeinsam Weihnachten zu feiern. Dem Gedanken stimme ich grundsätzlich zu, in meinem Fall aber muss ich leider sagen: Sie kennen meine Familie nicht. Aber Sie werden sie noch kennenlernen …

2.

Kapitel

Am 22. Dezember saß ich gegen Mittag also wieder einmal unverrichteter Dinge vor meinem Zeitschriftenberg. Eigentlich wollte ich zwei Enten braten, mit Kartoffelbrei und Blaukraut, aber mein Mann Gerald hatte mir davon abgeraten. Er reagiert grundsätzlich zögerlich, wenn ich ein neues Rezept ausprobieren möchte. Ich selbst sah kein Problem. Das Rezept wirkte nicht so kompliziert. Ich bin keine besonders versierte Köchin, aber meistens gelingt doch alles irgendwie.

Das einzige Problem bestand darin, so kurz vor Weihnachten zwei Bioenten aufzutreiben. Vor allem, weil ich noch das Haus dekorieren musste.

Also bat ich Gerald um Hilfe. Er genoss seinen ersten freien Tag und hatte sich mit seiner Zeitung im Wohnzimmer verbarrikadiert.

»Schatz, kannst du mal rasch im Supermarkt die Bioenten kaufen?«

Gerald hob die Augenbrauen und machte ein Geräusch, als müsse er aufstoßen. Dann ließ er die Zeitung sinken und sah mich an.

»Jetzt?«

»Natürlich jetzt. Übermorgen ist der Vierundzwanzigste.«

Geralds Euphorie hielt sich in Grenzen. »Wieso kommst du immer auf den letzten Drücker mit so was an?«

»Vorher ging’s nicht.«

Er gähnte. »Und wieso Enten?«

»Wieso nicht Enten? Das ist mal was anderes. Die gehen leicht, da mach ich Kartoffelbrei und Blaukraut und aus dem Entenfond Soße. Aber wir müssen uns ranhalten.«

»Wir? Ich brauch keine Enten zu Weihnachten.«

»Ich auch nicht, Gerald. Aber irgendwas müssen wir ja hinstellen. Du kannst ruhig mal mithelfen, wenn du schon rumsitzt!«

Er knurrte. Dann erhob er sich widerwillig, latschte in die Diele und zog seinen Mantel an. »Es ist ja nicht so, dass ich nie was tue, Gundula. Ich habe einen harten Job, und heute ist mein erster freier Tag.«

»Vergiss die Kartoffeln nicht und das Blaukraut. Und etwas Butter.«

Er hockte im Eingang, band sich die Schnürsenkel zu und murmelte: »Das musst du mir aufschreiben. Das kann ich mir nicht merken.«

»Meine Güte, stell dich doch nicht so an!« Ich seufzte. Einkaufen war nun wirklich keine Sklavenarbeit, das erledigte ich jeden Tag. Aber Gerald ließ seiner schlechten Laune freien Lauf und fügte allen Ernstes hinzu, dass meine Enten sowieso zäh und ungenießbar werden würden. Er kann ziemlich uncharmant werden.

»Hühnchen bekomme ich auch meistens hin.«

»Hühner sind keine Enten.«

»Nein, aber sie haben auch Flügel und gehören biologisch gesehen zur gleichen Familie.«

Er schüttelte nur den Kopf und brummte: »Das wird mir langsam ein bisschen zu viel Familie.«

»Was soll das denn heißen?«

»Das soll heißen, dass vor allem deine Familie uns besuchen kommt.«

Damit hatte er recht, und ich spürte ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. Neben meinen Eltern erwarteten wir meinen Bruder Hans-Dieter mit seiner Frau Rose. Und Geralds Mutter Susanne.

Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass sie sich untereinander nicht ausstehen können? Und trotzdem kommen sie jedes Jahr wieder.

Meine Mutter Ilse zum Beispiel sagte, sie freue sich ganz besonders auf unser Wiedersehen. Da mein Vater Alzheimer in fortgeschrittenem Stadium hatte, hoffte sie, ihn ein bisschen an uns abgeben zu können. Mein Bruder Hans-Dieter sagte, er und Rose hätten ausnahmsweise nichts vor (sie haben nie etwas vor, aber das steht auf einem anderen Blatt) und kämen gern, aber ich müsste ihnen beim Kauf der Zugtickets unter die Arme greifen, sie seien etwas knapp bei Kasse, und unter vier Nächten würde sich die lange Anreise nicht lohnen. Hans-Dieter ist immer knapp bei Kasse. Er borgt sich ständig bei allen Familienmitgliedern Geld und ist beleidigt, wenn man es irgendwann zurückhaben will. Er ist der festen Meinung, ein verkanntes Genie zu sein, und dass das Glück ihn ignoriert, um sich irgendwelchen »Arschlöchern an den Hals zu werfen«. Genau so formulierte er es einmal.

Hans-Dieter ist Schriftsteller. Er verfasst kleine Lebenshilferatgeber und ärgert sich, dass sie keiner kauft. Rose arbeitet bei der Kirche.

Der unproblematischste Gast war Susanne. Sie ist pflegeleicht und packt auch mal mit an. Zumindest behauptet sie das gern von sich. Probleme gibt es in ihren Augen nur dann, wenn man sich darauf einlässt.

Ich war mir allerdings ziemlich sicher, dass ein Problem auftauchen würde, das sich nicht umgehen ließ. Edgar. Mit meinem Vater nämlich hatte Susanne vor etwa dreißig Jahren eine heftige Affäre, und das wird ihr meine Mutter bis an ihr Lebensende nicht verzeihen. Wieso sollte sie auch.

Wie jedes Jahr aber baute ich darauf, dass ein Festmahl helfen würde, die Wogen zu glätten. Bei gutem Essen werden ja die größten Streithähne schwach.

Ich blätterte also den ganzen Nachmittag in meiner Kochzeitschrift und versank in den wunderschönen Bildern der verschiedenen Weihnachtsmenüs. Ich würde eine weiße Tischdecke auflegen und mit kleinen Tannenzweigen schmücken, die ich gemeinsam mit meinen Kindern im Wald sammeln wollte. Ein paar würde ich mit goldener Farbe besprühen, und an den Fenstern wollte ich selbst gebastelte kleine Sternchen aufhängen. Ich würde nur noch Goldlack und Bastelpapier besorgen müssen, dann könnte ich mit der Dekoration beginnen.

Als die Kinder von der Schule kamen, versuchte ich meinen Sohn Rolfi zu unserem Schreibwarenladen um die Ecke zu schicken. Er hatte wie immer schlechte Laune, und unsere Diskussion um den Sinn und Unsinn goldener Weihnachtsdekoration zog sich so lange hin, bis das Geschäft fast geschlossen hatte. Rolfi hilft grundsätzlich ungern im Haushalt, aber schließlich trottete er doch los. Ricarda brauche ich gar nicht erst zu fragen, sie wird schlagartig taub. Das hat sie von ihrem Vater.

Der Einzige, der immer gern hilft, ist Matz, aber der ist erst sieben und noch zu klein, um allein durchs Viertel zu laufen.

Ich verbrachte den restlichen Nachmittag damit, Lametta an Türklinken und Fenstergriffe zu hängen. Ich hörte schon die begeisterten Ausrufe meiner Familie: »Oh, Mami, sieht das schön aus! Wie bist du denn auf die Idee gekommen? Danke! Du bist die Beste!«

Stattdessen meldete sich mein Mann, der aus unerfindlichen Gründen mehrere Stunden für seinen Einkauf gebraucht hatte und jetzt erschöpft in seinem Sessel lag. Aber wenn ihm etwas nicht gefällt, ist er schlagartig hellwach.

»Gundula, was soll das werden, wenn es fertig ist?«

»Was meinst du mit ›was soll das werden‹, Gerald? Du siehst doch wohl, dass ich das Haus für Weihnachten dekoriere.«

»Ja, das sehe ich.«

»Dann frag doch nicht so blöd. Aber anstatt zu meckern, könntest du einfach mal was schön finden, was ich mache. Oder vielleicht selber eine Idee entwickeln. Dann müsstest du meine Arbeit nicht ständig kritisieren.«

»Ich kritisiere dich doch gar nicht. Es hat schon was, wie das da so hängt. Ich habe nur noch nie in meinem Leben Lametta an Türklinken hängen sehen.«

»Sieht scheiße aus, Mami«, sagte Ricarda beiläufig. Sie war die Treppen runtergekommen und stand vor der Klotür. An der Klinke baumelten drei Silberfäden.

»Ja, da hatte ich nicht mehr genug …«

»Dann mach’s ganz weg, sieht total arm aus.«

»Jetzt sei mal nicht so frech, Ricarda, das war viel Arbeit.«

Meine Tochter legte den Kopf schief. »Echt?«

»Ja, Herrgott noch mal. Und außerdem haben wir noch keinen Baum, weil dein Vater vergessen hat, ihn liefern zu lassen. Ich wollte trotzdem schon mal ein bisschen für weihnachtliche Stimmung sorgen.«

»Tu dir keinen Zwang an, Mami …«

Damit zog sie ihren Mantel an.

»Wohin gehst du?«

»Ich schlaf heute bei Bine, hab ich dir doch gestern gesagt.«

»Aber morgen ist doch noch Schule?«

»Mami, chill mal, ist der letzte Schultag, da passiert nicht mehr viel.«

»Okay, rufst du dann später noch an?«

Aber sie war schon aus der Tür, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen.

Kennen Sie dieses Gefühl? Sie versuchen, allen Unkenrufen zum Trotz, das Beste aus einer unmöglichen Situation zu machen, Sie ackern und räumen und kochen und schuften und sind nach stundenlanger Arbeit endlich an dem Punkt, wo Sie sagen können, ja, genau, so wollte ich es haben, und Sie können es kaum erwarten, Ihre Lieben zu überraschen. Und dann kommt einer nach dem anderen durch die Tür gelatscht und macht die ganze liebevolle Mühe mit den dämlichsten Kommentaren zunichte?

Genau so fühlte ich mich nach Ricardas Abgang jedenfalls.

Ich atmete tief durch. Heute würde ich mich auf keinen Fall von den Launen meiner Familie in die Knie zwingen lassen.

Rolfi kam dann irgendwann mit dem Bastelzubehör, aber natürlich war es da schon zu spät, um noch draußen Zweige zu schneiden. Morgen ist auch noch ein Tag, dachte ich unerschütterlich.

Wichtig war jetzt vor allem schummriges Licht, das würde eine gemütliche Atmosphäre machen und die Familienmitglieder friedlich stimmen. Ich fand eine Zwanzig-Watt-Birne und schraubte sie in die Deckenlampe ein. Das Wohnzimmer wirkte richtig romantisch, man musste nur genau darauf achten, wohin man trat.

Zum Abendessen machte ich ein paar belegte Brote, es war keine Zeit mehr gewesen, etwas Richtiges zu kochen. Natürlich gab es Proteste, aber ich hatte die Küche geschrubbt und wollte sie vor dem Heiligen Abend nicht wieder dreckig machen.

Als ich spät in der Nacht noch mal aufs Klo musste, stand Gerald vor dem Herd und brutzelte sich Spiegeleier mit Bratkartoffeln. Dass die Küche wie ein Schlachtfeld aussah, schien ihn nicht zu stören …

3.

Kapitel

Nach einem ziemlich hektischen Frühstück und nachdem ich die Kinder in die Schule gebracht hatte, suchte ich zuerst im Kühlschrank und dann im ganzen Haus nach Geralds Einkäufen. Aber ich fand nichts. Also weckte ich ihn und stellte ihn zur Rede. Seinem Genuschel konnte ich entnehmen, dass er angeblich keine Enten gefunden hatte.

Ich sah ihn vor mir, wie er missgelaunt vor dem Kühlregal stand und die fünfundzwanzig Bioenten übersah, die vor ihm im Geflügelfach lagen. Das Einzige, was er aufgetrieben hatte, waren ein Pfund Butter und eine Handvoll Kartoffeln.

»Was soll ich denn damit? Das reicht nicht mal für eine Person!« Vielleicht war ich zu direkt, aber so viel Unfähigkeit hatte ich nicht mal Gerald zugetraut.

»Du hast keine Mengenangaben gemacht«, sagte er patzig.

Manchmal sind seine Antworten so überwältigend doof, dass sich kein weiteres Wort lohnt.

So machte ich mich selbst auf den Weg. Was blieb mir anderes übrig? Ich hatte mir die verdammten Enten in den Kopf gesetzt, und jetzt wollte ich sie auch haben.

Ich war ewig unterwegs. Als ich schon kurz davor war aufzugeben, kam ich zufällig an einem kleinen türkischen Trödelladen vorbei, in dem es Weihnachtsschmuck im Sonderangebot gab. Ich kaufte spontan den gesamten Vorrat auf. So billig würde ich nie wieder an Christbaumkugeln kommen, erfahrungsgemäß gingen jedes Jahr welche zu Bruch. Der nette Besitzer half mir, die Kartons in meinem Ford Fiesta zu verstauen, und auf dem Heimweg fuhr ich beschwingt an der Schule vorbei, um Mätzchen und seinen Freund Jakob abzuholen. Sie standen schon auf dem Gehweg und warteten auf mich. Ich sprang aus dem Wagen, öffnete den Jungs die hintere Tür und bemerkte da erst, dass sich die Christbaumkugeln auf der Rückbank bis unters Dach stapelten.

»Ihr müsst laufen, ihr passt nicht mehr rein.«

»Wir können nicht laufen, das ist viel zu gefährlich.« Matz wusste, wie er mich kriegen konnte. Aber ich blieb standhaft.

»Meine Mutter erlaubt nicht, dass ich tagsüber allein auf der Straße bin«, sagte Jakob.

»Du bist nicht allein, Matz ist bei dir.«

»Matz ist selbst noch ein Kind, der nützt nichts.«

»Stimmt. Was hast du da überhaupt drin in den Schachteln?«, fragte Matz neugierig.

»Geschenke.«

»Geschenke?!«

Matz kniff die Augen zusammen und versuchte etwas zu erkennen.

»Ja, alles für Weihnachten. Alles für euch!«

»Auch für mich?«

»Natürlich auch für dich.«

»Jakob, wir laufen!« Matz setzte sich zielstrebig in Bewegung und zog den maulenden Jakob mit sich.

Zu Hause angekommen, brauchte ich eine Weile, um alle Kartons in den Keller zu räumen. 398 Euro, aber dafür waren wir bis an unser Lebensende mit Weihnachtsschmuck versorgt. Ich hörte die Jungs nach Hause kommen, das hatte also auch geklappt.

Dann fielen mir die Kochbücher in die Augen. Verflixt. Ich hatte die Enten vergessen! Und nur noch ein Tag bis Weihnachten. Ich musste noch mal los.

»Matz?« Keine Reaktion. »Matz! Ich muss noch mal los!«

Totenstille. Wenn Kinder keine Geräusche mehr machen, ist das immer ein schlechtes Zeichen.

Ich stieg die Treppe zu Matz’ Zimmer hoch und lauschte an der Tür. Aus dem Badezimmer gegenüber drang leises Kichern. Ich lugte durch den Türspalt. Die Jungs standen vor dem Waschbecken und blickten fasziniert auf einen riesigen Schaumberg.

»Was macht ihr da?«

Die Kinder zuckten zusammen und sahen mich an wie eine Fata Morgana.

»Was?«

»Was ihr da macht?«

»Nichts.«

»Matz, hör auf, ich hab doch Augen im Kopf. Was habt ihr da im Waschbecken?«

»Mama, wir machen ein Experiment, und du störst gerade.«

»Kinder, ich hab jetzt wirklich keine Zeit, was für ein Experiment ist das?« Mir wurde heiß. Das ist neuerdings immer so, wenn ich mich aufrege. Ich bekomme einen hochroten Kopf, Schweißausbrüche und Atemnot. Meine Mutter sagt, das seien die Vorboten der Wechseljahre.

Ich bin gerade mal siebenundvierzig. Aber so war sie schon immer. Sie denkt nur an sich und spürt nichts von den Verletzungen, die sie anderen zufügen könnte.

Ich blickte wieder ins Waschbecken. Der Schaum bewegte sich.

»Matz, da bewegt sich doch was.«

Er versuchte, gleichgültig zu klingen. »Rüssel.«

Rüssel war unser Meerschweinchen. Schon ein älteres Semester, bis dahin sehr zutraulich und ziemlich verfressen.

»Er wollte gern baden, weil bald Weihnachten ist. Er sah richtig unglücklich und schmutzig aus.«

»Und der stinkt immer so!«, warf Jakob ein. Die beiden machten sorgenvolle Gesichter. Der Berg gab ein zartes Knattergeräusch von sich und vibrierte.

Ich schob Matz beiseite, griff beherzt in den Schaum und zog etwas hervor, das sich anfühlte wie ein Kartoffelkloß mit Beinen. Rüssel strampelte und biss mich zum Dank in den Finger. Ich hielt den Jungs das völlig durchnässte Tier vor die Nase. »Schaut euch das mal an! Der bekommt jetzt eine Lungenentzündung, und an Weihnachten gibt es keinen Tierarzt.«

»Wir gehen einfach in die Tierklinik, das machen wir doch am Wochenende auch immer.«

»Nein, Matz, jetzt ist Schluss, ich bin wirklich böse! Meerschweinchen baden nicht. Grundsätzlich nicht. Die kommen aus Südamerika, da können die gar nicht baden.«

»Aber Rüssel ist doch Berliner.«

Was sollte man darauf antworten?

Ich wickelte das Schweinchen in ein Handtuch und war in Gedanken schon wieder bei meinen Weihnachtsvorbereitungen.

»Reibt ihn trocken, und benehmt euch, ich muss noch mal los, ja?« Damit war ich aus der Tür und ging ein letztes Mal auf Entenjagd.

4.

Kapitel

Der Abend des Dreiundzwanzigsten kam, und ich war guter Stimmung. Ich hatte aus der Tiefkühltruhe eines kleinen Supermarkts noch zwei schöne Bioenten hervorgezogen. Ohne Geralds Hilfe.

Jetzt würde ich die besten Weihnachtsenten auf den Tisch zaubern, die unsere Gäste je gegessen hatten. Ich sah sie schon auf dem Tisch, die Beinchen in die Luft gestreckt, im Popo ein Petersiliensträußchen (die Enten, nicht die Gäste, obwohl das mal eine interessante Variante wäre).

Ich sah mich vor unseren staunenden Gästen, wie ich mir lächelnd die Küchenschürze abband und sie Gerald in den ungläubig geöffneten Mund stopfte. Das Blaukraut würde ich aus der Dose zaubern, den Kartoffelbrei selbstverständlich selbst stampfen. Der gelang immer.

Die Enten lagen zum Auftauen auf dem Spültisch, aber nachdem Gullivers Nase ihnen mehrmals gefährlich nahe gekommen war, trug ich sie in das Vorratskämmerchen im Keller. Gulliver ist unsere Dogge. Er schafft es mühelos, alle Tische und Arbeitsplatten abzuräumen. Wenn er sich auf die Hinterbeine stellt, kann er mir die Pfoten auf die Schultern legen und über mich hinweggucken. Natürlich soll er das nicht. Also weder das eine noch das andere, aber mit der Erziehung hat es nicht so recht geklappt. Gerald und ich haben oft über richtige Hundeerziehung diskutiert, am Ende ist sie doch auf der Strecke geblieben. Wahrscheinlich haben wir die Diskussionen nur geführt, um mal wieder so richtig miteinander zu streiten. Nach siebenundzwanzig Ehejahren hat man manchmal nicht mal mehr zu einer anständigen Auseinandersetzung Lust. In gewisser Weise hat man ja schon alle Themen durch.

Sie denken jetzt vielleicht, wir führten eine unglückliche Ehe. Ganz so einfach ist es nicht. Wir fühlen uns wohl miteinander, wir sind uns nah. Und wissen wahrscheinlich deshalb so gut, wie wir riskante Gesprächsthemen vermeiden können, bevor die Situation eskaliert: Wir gehen einander dann einfach aus dem Weg.

Das klappt meistens. Ausnahmen wie neulich, als ich das letzte Wort haben wollte, bestätigen leider die Regel. Da musste Gerald dann in die Notaufnahme. Ich hatte ihm den Spaghettitopf hinterhergeschmissen und ihn am Kopf getroffen. Am schlimmsten ist im Nachhinein, dass ich kein Mitleid mit ihm hatte.

Gerald saß auf dem Boden, hielt sich den Kopf und schrie: »Ich blute!«

Ich dachte, das Blut sei Tomatensoße, und konnte mir das Lachen nicht verkneifen, weil er so komisch aussah. Ein paar Nudeln hingen zitternd an seinen Ohren herab.

Seit diesem Zwischenfall reißen wir uns mehr zusammen. Immerhin haben wir die halbe Nacht in der Notaufnahme verbracht, das möchte man auch nicht noch mal erleben. Vielleicht ist Zurückhaltung das Ende jeglicher Leidenschaft, aber wir kennen uns ja auch schon seit der Grundschule. Irgendwann ist eben Schluss mit den großen Gefühlen.

Am Abend des 23. Dezember jedenfalls war ich äußerst optimistisch, was die Bioenten betraf. Ich zauberte eine Riesenportion Kartoffeln mit Dillheringshappen auf den Tisch und war so euphorisch, dass mich nicht mal das einstimmige Maulen meiner Kinder aus der Fassung bringen konnte. »Schon wieder Hering? Das gab’s doch erst vorgestern. Warum immer das Gleiche?« Und so weiter. Ich erwiderte, dass es die letzten Heringshappen vor drei Tagen gegeben habe und heute das Ablaufdatum sei.

»Dann können wir das nicht mehr essen!« Matz riss die Augen auf und starrte in die Heringsschüssel, als hätte ich Blausäure drübergekippt.

»Matz, das Ablaufdatum bedeutet nicht …«

»Mama, entspann dich, ich hab sowieso keinen Hunger«, sagte Ricarda, fünfzehn Jahre jung und trotzdem von großer Lebenserfahrung. Gerald nennt das Pubertät. Für mich ist es ein missglückter Erziehungsversuch. Wie bei Gulliver. Nur schlimmer.

Ricarda schwebte an mir vorbei zum Kühlschrank, nahm sich ein Stück Käse und eine Flasche Cola und verschwand auf ihr Zimmer. Rolfi entrang sich noch ein: »Für mich bitte nur Kartoffeln und Butter, wenn’s geht«, und richtete seinen Blick wieder auf sein iPhone.

Gerald las die Zeitung vom Vortag. Ich glaube, das tat er nur, um sich nicht an Familiengesprächen beteiligen zu müssen. Wenn es ihm überhaupt aufgefallen war, dass er eine alte Zeitung las. Schwamm drüber, ich musste mit meinen Kräften haushalten.

5.

Kapitel

Der 24. Dezember war ein Freitag und der erste Ferientag. Gerald und die Kinder schliefen noch tief und fest, als ich mich um sechs Uhr früh aus dem Bett schälte, um mit den Hunden Gassi zu gehen. Wir haben nämlich neben Gulliver noch Othello. Othello ist ein kleiner schwarzer Rauhaardackel, und man könnte ihn leicht übersehen, wenn er nicht ständig in den höchsten Tönen kläffen würde.

Es regnete in Strömen, und ich war in kürzester Zeit klatschnass, weil es mir nicht gelang, den verbogenen Regenschirm aufzuspannen. Ich schmiss ihn kurzerhand hinter die Hecke unserer Nachbarn und drehte mich nach Othello um. Er war nicht mehr da. Ich blickte wieder zu Gulliver, der regungslos und versonnen an einen Baumstamm gelehnt vor sich hin pinkelte. Gut. Dann lief ich zum Haus zurück.

Othello saß noch immer vor der Haustür. Er hatte sich offenbar keinen Millimeter bewegt. Zitternd, mit herabhängenden Ohren und eingeklemmtem Schwanz, hockte er auf der Türschwelle und starrte in den Regen.

»Othello!« Keine Reaktion. »Komm, Othello, Gassi gehen!«

Er zuckte mit keiner Wimper. Sein Gesichtsausdruck war undurchdringlich. Eine Mischung aus Empörung und absoluter Resignation. »Los, komm jetzt. Das ist so egoistisch von dir, du Blödkopf. Ich werde auch nass. Verflixt, heute ist Weihnachten, und wir haben noch einiges vor!«

Ich trug ihn auf die Straße. Er hing schlaff in meinen Armen und ließ alle viere hängen. Als ich ihn absetzte, guckte er strafend zu mir hoch. »Mach Pipi, los.« Er nieste. Gulliver stolzierte an uns vorbei und trollte sich Richtung Hauseingang. Ich wartete noch ein paar Sekunden, dann folgte ich ihm. Als ich die Haustür erreichte, saß Othello schon triumphierend davor. Geht doch.

Im Haus war es immer noch still, also riss ich erst mal die Jalousien hoch, um meine Familie wach zu kriegen. Das funktioniert eigentlich immer. Die Rollläden sind aus Holz und machten wie immer einen Höllenlärm.

Kurz darauf kam Rolfi die Treppe runtergetapst. Er hatte verquollene Augen und sah alles andere als ausgeschlafen aus. »Mann, Mama, ich hab Ferien, warum machst du so einen Krach? Es ist noch nicht mal sieben.«

»Guten Morgen, mein Großer! Frohe Weihnachten!« Ich gab ihm einen Kuss und sagte: »Weck mal den Rest, Hans-Dieter und Rose kommen schon gegen neun.«

»Wer?«

»Dein Onkel Hans-Dieter und deine Tante Rose.«

»Wieso kommen die denn so früh morgens?«

»War die billigste Zugverbindung, die sind schon seit fünf unterwegs.«

Ich schüttete Hundefutter in zwei Schüsseln und stellte sie in die Küchenecke. Gulliver, der neben dem Tisch gelauert hatte, stürzte vor und stieß mich beiseite. Ich versuchte noch, mich an Rolfi festzuklammern, aber dann krachten wir gemeinsam zu Boden.

»Mann, das nervt vielleicht!«, rief er, rappelte sich auf und trottete wieder in sein Zimmer.

»Hey! Nicht in diesem Ton, ja?«, sagte ich streng. Man soll mir nicht nachsagen können, dass ich meine Kinder nicht im Griff hätte.

Ich stand auf und öffnete die Blaukrautdosen. Ich hatte gelesen, dass man Blaukraut ganz lang kochen muss, damit es richtig lecker schmeckt. Ich kippte alles in einen großen Topf und stellte ihn auf den Herd. Dann lief ich nach oben, um mich anzuziehen (den Hundespaziergang mache ich aus Bequemlichkeit immer im Morgenmantel).

Ich wollte noch rasch los und ein paar allerletzte Besorgungen machen. Kurz schaute ich ins Schlafzimmer. Gerald war nicht zu sehen, er hatte sich wieder unter dem Kopfkissen versteckt. Das macht er immer so. Er wünscht sich wahrscheinlich, unentdeckt zu bleiben.

Ich riss die Vorhänge auf und rief fröhlich: »Guten Morgen, Schatz! Frohe Weihnachten! Stehst du auch auf? Um acht kommt der Christbaum, der Ständer ist im Keller, der muss noch mit Sand gefüllt werden!«

Keine Reaktion. Aber das hat bei Gerald nichts zu sagen, er steht immer erst auf, wenn ich nicht mehr in der Nähe bin.

Das ist eigentlich ganz praktisch. Morgens ist er meistens nicht so gut gelaunt, da ist es besser, wenn man sich erst mal aus dem Weg geht.

6.

Kapitel

Als ich kurze Zeit später vom mit Einkaufstüten beladenen Fahrrad stieg, standen Hans-Dieter und Rose schon vor der Tür. Beide machten vorwurfsvolle Gesichter.

»Wieso seid ihr denn schon da?«, rutschte es mir raus. »Ihr seid viel zu früh!«

»Es ist gleich zehn, wir stehen hier schon seit Ewigkeiten. Im Haus scheint keiner zu sein, es hat jedenfalls niemand aufgemacht.«

Ich sah auf meine neue Armbanduhr. Gerald hatte sie mir bei einem Kaffeeanbieter als verfrühtes Weihnachtsgeschenk gekauft, ich fand sie so hübsch, sie sah aus wie die, für die Nicole Kidman immer Werbung machte.

Sie war um neun stehen geblieben. »Verflixt.«

Ich schob das Fahrrad an den beiden vorbei, löste die Tüten von den Griffen und lehnte es an die Hauswand. Dabei fiel mir ein, dass Rolfi mir schon im Sommer versprochen hatte, den Fahrradständer zu reparieren.

»Na, umso besser, dann könnt ihr ja ein bisschen mit anpacken!«

»Das wird schlecht gehen«, sagte Rose. »Hans-Dieter hat’s wieder mit der Bandscheibe …«

Ich sah meinen Bruder an. Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse und zuckte mit den Schultern.

Hans-Dieter hat immer irgendwas. Vor allem dann, wenn er mit anpacken soll.

»Ach, das tut mir aber leid«, log ich und umarmte beide kurz. Es war ja Weihnachten, und ich wollte die gute Stimmung im Haus nicht verderben. »Dann kommt mal rein, ich mach euch erst mal einen schönen Kaffee.«

»Hast du auch Tee?« Mein Bruder stapfte die Eingangsstufen hinter mir hoch und stöhnte. Er hatte seine unvermeidlichen ausgebeulten Cordhosen an, und ich fragte mich, ob er wohl noch eine andere Hose besaß. Dann drehte er sich zu Rose um, die versuchte, zwei Koffer die Treppen hochzuschleifen.

»Rose, lass mal, das ist zu schwer für dich, das können die anderen nachher noch reinholen.«

»Oder sie nimmt die Koffer nacheinander, wir haben doch Zeit!«, wandte ich ein.

Rose war ganz schön fett geworden, ihr Mantel platzte aus allen Nähten, ein bisschen Bewegung würde ihr guttun, dachte ich. Aber ich biss mir auf die Zunge.

»Wann kommen unsere Eltern?«, fragte Hans-Dieter.

»Gegen vier, zum Kaffee! Ich hoffe, da steht der Baum dann schon, Gerald sollte sich eigentlich …«

»Hast du auch Tee?«, wiederholte er seine Frage. Der Baum schien ihn nicht zu interessieren.

»Weiß ich jetzt nicht, ich muss mal gucken.«

»Gundula, du weißt doch, dass ich keinen Kaffee trinken darf. Ich habe Kaffee noch nie vertragen.« Er schaute mich an und spielte den Gekränkten.

»Nein, Hans-Dieter, das hab ich nicht vergessen, ich hab nur gerade so viel im Kopf, das ganze Essen, die Geschenke – ach Gott, die Enten muss ich …«

»Aber du hast nicht dran gedacht!«

»Hans-Dieter, glaub mir, du kriegst deinen Tee, ich muss nur …«

Er tätschelte unbeholfen meinen Arm und kicherte. »Schwesterherz, das war doch nicht böse gemeint, ich trinke zur Not auch heißes Wasser …«

Hinter uns polterte es. Ein spitzer Schrei, dann war es wieder still.

»Rose!«

Hans-Dieter stolperte die Stufen hinunter zu seiner Frau. Die lag rücklings am Fuß der Treppe und sah in ihrem gelbbraunen Mantel aus wie ein überdimensionaler toter Kartoffelkäfer.

»Rose, um Himmels willen!«

Sie starrte blicklos in den Himmel, und ich vergaß vor Schreck zu atmen. Dann öffnete sie plötzlich den Mund und machte ein Geräusch wie ein Kolikschaf, dem man auf der Weide einen Pfahl in den aufgeblähten Bauch rammt: »Pffffffffft.« Schließlich rollte sie auf die Seite und rappelte sich hoch. Ihr Gesicht war puterrot.

Hans-Dieter umarmte sie zärtlich. »Rose!« Das muss wahre Liebe sein, dachte ich bissig. Gerald hätte mich wahrscheinlich liegen gelassen und sich schnell aus dem Staub gemacht.

»Ich hab gewusst, dass mir der Koffer zu schwer ist, aber ich wollte nicht zur Last fallen mit dem ganzen Gepäck«, sagte Rose vorsichtig.

Hast du Schmerzen? Sollen wir ins Krankenhaus?, lag es mir auf den Lippen zu fragen. Aber noch bevor ich diese Worte ausgesprochen hatte, wusste ich, dass ein Arztbesuch heute meine Planung ruinieren würde. Ich suchte deshalb die Flucht nach vorn: »Oh, mein Gott, ich rufe den Notarzt, du hast dir sicher was gebrochen, und das an Weihnachten, wo wir es uns doch so gemütlich machen wollten. Hoffentlich behalten sie dich nicht da!«

Hans-Dieter und Rose sahen mich an, und ich meinte, in ihren Augen die schrecklichen Bilder zu sehen, die sie sich ausmalten. Rose in einem Gipskorsett in einem kahlen Krankenzimmer. Völlig bewegungslos, einsam, unter Schmerzen. Vor ihrem weißen Krankenhausbett auf einem Tischchen ein winziger Plastikweihnachtsbaum und ein kleiner Kassettenrekorder, der Weihnachtslieder von den Regensburger Domspatzen spielte.

Rose fasste sich an den Hintern: »Nein, nein, es ist nur, ich bin aufs Steißbein geknallt, das hat richtig geknackt, und jetzt kann ich –«

»Rose, so schlimm ist es nicht, gell? Atme tief durch, und leg dich drinnen erst mal etwas hin.« Hans-Dieter hatte sich wohl auch vorgenommen, das Weihnachtsfest ohne größere Zwistigkeiten durchzustehen. Rose griff mit ihren kleinen Patschhändchen nach Hans-Dieters Arm.

»Stopp! Halt dich nicht an mir fest, bitte. Du weißt ja, ich kann keine Gewichte tragen. Halt dich an Gundula fest.«

Ich ließ die Einkaufstüten sinken und kam meiner Schwägerin zu Hilfe. Sie hatte Tränen in den Augen und seufzte bei jedem Schritt auf. Aber ich hatte jetzt wirklich keine Zeit, mich näher mit ihrem Zustand zu befassen.

Im Haus war es immer noch still. Immerhin war der vorbestellte Weihnachtsbaum auf unergründlichen Wegen ins Haus gelangt. Er lag quer über dem Esstisch. Unter dem Tisch eine riesige Pfütze.

»Gerald!« Ich musste mich sammeln. Ruhig weiteratmen, nicht hyperventilieren, an etwas Schönes denken! »Gerald – wo steckst du?« Stille. Dann ein Rums. Das kam aus dem Keller, wir hörten jemanden fluchen. Gerald. Ich lief zur Kellertür.

»Gerald? Was machst du da unten? Der Weihnachtsbaum ist schon da und liegt auf dem Esszimmertisch.«

»Das weiß ich selbst, ich hab die Leute ja reingelassen! Wo ist der verfluchte Ständer? Nie ist in diesem Haus etwas an seinem Platz!«

»Ja, da müsste mal jemand aufräumen«, rief ich heiter zurück.

»Es geht nicht ums Aufräumen, es geht darum, dass keiner die Sachen dahin zurückräumt, wo sie hingehören!«

»Dann räum du sie doch weg, dann findest du sie leichter wieder!« Ich unterdrückte die in mir aufkeimende Wut. Gerald konnte unglaublich schwerfällig sein. »Vielleicht ist er ja in der Garage!«, schob ich aufmunternd nach.

»Weißt du, Gundula, das ist wieder typisch für dich, dass du –«

Klack.

Ich hatte die Kellertür geschlossen und wandte mich wieder meinen Gästen zu.

»Kaffee?«

7.

Kapitel

Zum Glück hatte irgendjemand den Ofen ausgeschaltet, sonst wäre wegen des Blaukrauts vielleicht noch das ganze Haus in Flammen aufgegangen. So war nur das Blaukraut leicht angebrannt, und wenn ich den unteren Teil im Topf kleben ließ, konnte man den Rest sogar noch essen.

Hans-Dieter und Rose hatten sich in Matz’ Zimmer zurückgezogen, um sich etwas auszuruhen. Matz und Rolfi mussten bei Ricarda auf dem Fußboden schlafen. Ricarda hatte sich geweigert, den Gästen ihr Zimmer zur Verfügung zu stellen. Das hatte sie nun davon.

Meine Eltern sollten in Rolfis Zimmer schlafen, Geralds Mutter musste im Wohnzimmer mit der Couch vorliebnehmen.

Nachdem ich alle Betten bezogen und Schlafsäcke verteilt hatte, machte ich mich daran, den Christbaum zu schmücken. Gerald hatte es wundersamerweise geschafft, den Baum in den Ständer zu setzen, allerdings fehlte immer noch der Sand. Deshalb lehnte der Baum in voller Größe an der Wand.

Dass er nicht wirklich festlich aussah, konnte nicht an den Kugeln liegen. Ich hatte den Großteil meines Vorrats an ihm befestigt. Aber er sah leider aus, als sei er eben in einen mittelschweren Tornado geraten. Außerdem wuchs er ein bisschen zur Seite, weswegen der Goldengel, der bei uns alljährlich zum Weihnachtsfest auf der Baumspitze hockt, Probleme mit dem Gleichgewicht hatte.

Na ja, wichtig war doch, dass überhaupt ein Baum dastand, unter den wir unsere Geschenke legen konnten. Und er roch wie eine richtige Tanne. Weihnachten konnte kommen!

Ich packte die restlichen Kugeln in die Kisten zurück und trug sie in den Keller. Während ich darüber nachdachte, dass sich meine ganze Mühe nicht lohnte, wenn niemand aus meiner Familie von Herzen mit mir Weihnachten feiern wollte, fiel mir ein, dass ich ja noch putzen wollte. Mit dem Wohnzimmer würde ich anfangen, der Teppich war voller Tannennadeln, Gerald hatte sich wohl einen erbitterten Kampf mit dem Baum geliefert, um ihn in den Ständer zu bugsieren. Ach, Gerald …

Ich packte den Staubsauger und schleppte ihn nach oben.

Und mit einem Mal fühlte ich mich richtig einsam. Rolfi und Ricarda waren mit Freunden ins Kino gegangen, Matz bastelte einen Parcours für Rüssel. Mein Bruder und Rose schliefen. Und mein lieber Mann Gerald saß mit geschlossenen Augen in seinem Lieblingssessel, hatte sich seine Kopfhörer übergestülpt und hörte seine Schlager. Ja, Sie lesen richtig, mein Mann hört Schlagermusik. Früher habe ich mich dafür in Grund und Boden geschämt. Ich habe lange an mir gearbeitet, um Gerald diese Geschmacksabweichung zugestehen und offen darüber sprechen zu können. Inzwischen kann ich ganz unbeschwert über Geralds Musikgeschmack reden, ohne mich für ihn zu schämen. Vielleicht finden Sie mein Problem ein bisschen übertrieben, aber manche Sachen kann ich einfach nicht übergehen. Die muss ich für mich bearbeiten. Ich habe dafür eine Art Coach, einen sehr netten Mann aus unserer Nachbarschaft, der eigentlich Heilpraktiker ist, sich aber in den letzten Jahren auf Psychologie und Psychotherapie verlegt hat. Herr Mussorkski. Er ist sehr erfolgreich und, ehrlich gesagt, der einzige Mensch, der mir regelmäßig zuhört. Manchmal träume ich davon, dass Herr Mussorkski anders aussah und ich mich unsterblich in ihn verlieben würde. Tatsächlich aber reicht er mir nur bis zur Schulter und ist eher fettleibig. Seine Hände sind weich und feucht und seine Brille immer so verschmiert, dass ich bis heute nicht weiß, welche Augenfarbe er hat. Aber durch ihn habe ich gelernt, erwachsene Männer, die Schlagermusik hören, dennoch als Männer zu akzeptieren. Obwohl ich eigentlich finde, dass sie gar keine richtigen Männer sind. Sondern Weicheier. Es war sehr schwierig, in Gerald einen richtigen Mann zu sehen, weil er bei jedem Treffen seine Schlager spielte. Die Kinder haben wir trotzdem irgendwie hinbekommen, also hat er trotz seines Musikgeschmacks in gewisser Weise seinen Mann gestanden.

Ich beobachtete Gerald, wie er da selig lächelnd unter seinen riesigen Kopfhörern lag, und plötzlich durchglühten mich heiße Liebe und tiefes Verständnis für seine geheimen Leidenschaften.

Ich ging zu ihm, beugte mich über sein friedliches Gesicht und küsste ihn auf den Mund. Er rührte sich nicht. Ich stöpselte seine Musik aus. Prompt öffnete er die Augen und nahm langsam den Kopfhörer ab. »Gundula, warum tust du das?«

»Was?«

»Du hast meine Musik ausgemacht.«

»Natürlich. Ich muss staubsaugen.«

»Warum machst du dann meine Musik aus?«

»Meine Güte, Gerald, stell dich nicht so an. Es gibt in diesem Zimmer nur eine funktionierende Steckdose.«

»Du hättest mich fragen können, ob du jetzt staubsaugen kannst.«

Mir wurde plötzlich sehr warm, und ich begann zu schwitzen. »Wie bitte? Ich soll dich um Erlaubnis fragen, ob ich staubsaugen darf? Du spinnst wohl!«

»Gundula, bitte nicht in dem Ton.« Er stand auf.

»Ich soll dich um Erlaubnis fürs Staubsaugen bitten? Du hast doch nicht alle Tassen im Schrank!« Ich wischte mir ein paar Schweißtropfen von der Oberlippe. Ich durfte jetzt nicht hysterisch werden.

»Gundula, ich kann so nicht. Lass mich bitte vorbei, ich möchte nicht in diesem Ton darüber diskutieren, ob du –«

»Was hast du denn immer mit deinem Scheißton?«

»Ich gehe. Ich brauche frische Luft.« Er zog tatsächlich Mantel und Schuhe an.

»Du kannst jetzt nicht gehen. Nachher kommen die anderen!«

»Vielleicht können die ja mehr mit deinem Staubsauger anfangen!« Gerald knallte die Tür hinter sich zu und war verschwunden.

8.

Kapitel

Ich war gerade fertig mit der Staubsaugerei, als die Kinder aus dem Kino zurückkamen. Sie versuchten sich an mir vorbei in Ricardas Zimmer zu stehlen.

»Hiergeblieben! Ihr müsst den Kaffeetisch decken, eure Großeltern kommen jeden Moment!«

»Wir sind total müde, Mama! Das kann doch Matz machen!« Ricarda dachte immer gern an ihre Geschwister, wenn es darum ging, sich vor etwas zu drücken.

»Matz ist zu klein, der darf das gute Geschirr nicht anfassen.«

»Matz ist sieben!«

»Eben.«

»Dann nimm doch normales Geschirr. Merkt doch eh keiner, was da für’n Geschirr auf dem Tisch steht.«

»Was gibt’s überhaupt für Kuchen?«, fragte Rolfi.

»Rolfi! Du lebst! Wie schön, du hast gesprochen!« Wenn ich wütend wurde, konnte ich auch boshaft werden. Und seit einiger Zeit sprach mein Sohn tatsächlich kaum mit mir.

»Sehr witzig.«

Ich nahm ihn in den Arm und drückte ihm einen Kuss auf den Mund. Manchmal überkommt mich eine so tiefe Liebe, dass ich meine Kinder am liebsten fressen würde. Das passiert immer ganz überraschend, und ich muss sie dann sofort an mich ziehen und küssen. Früher mochten sie das und haben ihre dünnen Arme um mich geschlungen. Diese Momente wahren Glücks fehlen mir manchmal.

»Mann, Mama, lass los, das nervt!«

»Gut, dann nicht. Irgendwann wirst du dich nach den Küssen deiner Mutter zurücksehnen.«

»So was darfst du nicht sagen, damit machst du ihn schwul!« Ricarda strich sich über den Bauch. »Ich esse sowieso keinen Kuchen. Ich bin zu fett. Ich geh nach oben.«

»Ricarda! Du bleibst hier und hilfst gefälligst! Du holst jetzt auf der Stelle die Keksdose und den Stollen aus dem Keller.« Wenn meine Stimme kurz davor war, sich zu überschlagen, gehorchten die Kinder meistens.

»Was? Keinen Kuchen?« Rolfi zog ein Gesicht. »Sind die Kekse wenigstens selbst gebacken?«

»Wann soll ich das denn noch alles machen?«

»Du bist doch eh den ganzen Tag zu Hause.« Ricarda schlappte die Kellertreppe runter. Immerhin gehorchte sie, darum verbiss ich mir eine Zurechtweisung. Ich merke schon seit Längerem, dass ich in den Augen meiner Tochter keine vollwertige Frau bin. Die Mütter ihrer Freundinnen waren alle berufstätig. Hausfrauen fand sie total uncool. Außerdem nervte sie meine Anwesenheit. Sie hätte das Haus am liebsten für sich allein.

Ich habe, bevor die Kinder geboren wurden, als Produktionssekretärin bei einer Filmfirma gearbeitet. Und dann Elternzeit genommen. Dass wir gleich drei Kinder bekamen, war nicht geplant gewesen, aber jetzt ist es umso schöner. Ich bin immer deutlich stolz, wenn ich sage: Ich habe drei Kinder. Und einen Mann. Das hört sich doch besser an, als zu sagen: Ich bin Rechtsanwältin, alleinstehend, leider kinderlos. Oder: Ich bin Rechtsanwältin, kinderlos, und mein Freund ist erfolgreicher Schönheitschirurg. Wir haben ein Penthouse und schicke Klamotten und reisen gern. Wir schaffen es kaum, das viele Geld wieder loszuwerden! Furchtbar, dieser Stress!

Wie bemitleidenswert!

Natürlich kränkt es mich darum umso mehr, wenn die Kinder mich respektlos behandeln. In schwachen Momenten wirft mich das völlig aus der Bahn, weil mein schöner Lebensentwurf dann Risse bekommt.

Gerald sagt immer: Mein Gott, Gundula, das ist die Pubertät. Kinder müssen sich ihren Freiraum erkämpfen!

Ich antworte: Wieso erkämpfen? Ich lasse ihnen doch ihren Freiraum. Aber sie meckern trotzdem immer an mir rum! Und er sagt: Na ja, du bist eben wirklich immer zu Hause.

Das ist das Problem fast aller Mütter. Wir machen uns so viele Gedanken darüber, alles richtig zu machen, dass wir am Schluss den Faden verlieren und vergessen, wo der Anfang war.

»Was starrst du so?« Rolfi stand immer noch in der Küche und sah mich merkwürdig an. »Ach, Rolfi, manchmal bin ich ganz traurig, weil ich das Gefühl habe, ich mache alles falsch.«

Er sah mich an und umarmte mich ganz fest: »Mama, das ist doch nicht ernst gemeint. Wir haben dich voll lieb!«

Ich sah in seine wunderschönen grünen Fast-noch-Kinderaugen, gab ihm einen Kuss und unterdrückte Tränen der Rührung: »So, jetzt muss ich mich aber ranhalten, die Gäste kommen, und der Tisch ist noch nicht gedeckt! Ruh dich noch ein bisschen aus, mein Großer!«

Dann öffnete ich den Schrank, um das gute Geschirr herauszunehmen.

9.

Kapitel

Ich hatte gerade die Tassen aus dem Schrank genommen, als es an der Tür klingelte. Ich guckte durchs Fenster und sah meine Eltern vor dem Gartentor stehen. Meine Mutter begutachtete die Fassade des Hauses und hielt meinen Vater am Arm. Der blickte auf seine Schuhe und schien etwas zu suchen. Beide wirkten zerbrechlich und hilflos. Sie waren alt geworden. Ich ging zur Haustür und öffnete, als es noch einmal klingelte.

»Ich komm ja schon! Seid doch nicht so ungeduldig!«

»Hast du uns später erwartet?« Meine Mutter versuchte die Gartentür zu öffnen.

»Lass mal, Mama, die klemmt!«

Sie rüttelte weiter und ließ meinen Vater los, der sich sofort umdrehte und die Straße hinuntersah: »Jetzt ist der Trottel ohne uns losgefahren.«

Ich sperrte das Tor auf und umarmte meine Mutter. Das graue Haar hing ihr strähnig ins Gesicht. Sie sah erschöpft und unglücklich aus. Mein Vater drehte sich zu mir: »Wo kommst du denn auf einmal her?«

»Ich wohne hier, Papa. Wir feiern zusammen Weihnachten!«

»Ach, das ist ja schön. Sind die anderen auch da?«

»Ja, nur Susanne fehlt noch, die kommt etwas später.«

»Susanne?«

»Die Mutter von Gerald. Wir haben uns alle auf euch gefreut, Matz baut schon den ganzen Morgen einen Parcours für Rüssel, er will mit dir ein Rennen starten.«

Bevor mein Vater fragen konnte, sagte meine Mutter: »Matz ist dein Enkel.«

»Na hör mal, das weiß ich doch!« Er lief an uns vorbei und trabte die Treppen hoch. Wir blickten ihm nach.

»Er läuft erstaunlich gut«, sagte ich.

»Ja, leider.«

Dann folgten wir ihm ins Haus. Das haben wir übrigens von Geralds Erbe bezahlt. Es ist klein und sieht genauso aus wie alle anderen Häuser in der Straße. Wir haben es irgendwann grün gestrichen, damit wir nicht ständig daran vorbeilaufen, wenn wir nach Hause wollen. Danach haben unsere Nachbarn drei Wochen nicht mehr mit uns gesprochen, bis wir ein Grillfest in unserem Garten veranstalteten. Dafür mussten wir die Urlaubskasse plündern und den Sommer zu Hause verbringen. Gerald war stinksauer: »Was kümmert es mich, ob mich die Nachbarn grüßen?«

Und ich antwortete: »Dich kümmert’s nicht. Du siehst sie ja nie.«

Dass ich mich hier ganz gern zu Hause fühlen möchte, kam ihm nicht in den Sinn. Er versucht erst gar nicht, sich in mich hineinzuversetzen. Herr Mussorkski meint, das liegt daran, dass ich es nie von ihm gefordert habe. So hätte Gerald es nicht lernen können. Es sei also eigentlich nicht Geralds, sondern meine Schuld. Er sagt, ich solle einfach mal abhauen, am besten, ohne vorher Bescheid zu geben. Natürlich müsste ich einen Abschiedsbrief hinterlassen, in dem ich meine Entscheidung erkläre. Und ich dürfte erst wiederkommen, wenn meine Familie mich auf Knien darum bitten würde. Ich hab ihn gefragt, wer das bezahlen solle. Liebe Frau Bundschuh, hat er geantwortet, das ist schon das erste Missverständnis. Es handelt sich hier nicht um einen Kurzurlaub, sondern um eine Art zwangsverordnete Evakuierung, um gewohnheitsmäßige Verhaltensmuster zu durchbrechen und Platz für neue Erfahrungen zu schaffen. Aber wenn Sie sich immer selbst Steine in den Weg legen, werden Sie bis an Ihr Lebensende an Ihr unglückliches Dasein gekettet bleiben.

Was denn für Steine?, wollte ich wissen. Er atmete tief ein und räusperte sich. Er mag nicht, wenn man ihn unterbricht und blöde Fragen stellt. Aber ich hatte es wirklich nicht ganz verstanden.

Sie drücken sich um Veränderungen in ihrem Leben herum, hat er gesagt, indem Sie von vornherein nach Gründen suchen, warum etwas gar nicht funktionieren kann. So wird das nie funktionieren!

So einfach ist das nicht, habe ich ihm geantwortet. Wir haben schlicht nicht das Geld, damit einer von uns mal schnell einen Privaturlaub machen kann.

Na, vielleicht einfach mal auf ein neues Kleid verzichten?, sagte der doch glatt.

Ich schluckte. Ich hatte bei der letzten Sitzung ein neues Kleid angehabt, das ihm nur aufgefallen sein konnte, weil ich sonst immer das gleiche anhabe. Ich mache mir nichts aus Mode! Überhaupt nicht. Und Gerald bemerkt sowieso nicht, wenn ich was Neues trage. Aber dieses Kleid hing in unserem Discountladen um die Ecke neben der Kasse und war für sage und schreibe neununddreißig Euro zu haben gewesen. Ich musste es nehmen. Es sah aus wie ein echtes Designerkleid, ziemlich bunt, aber kostbar.

Na sehen Sie, sagte Herr Mussorkski. Das wären zwei Nächte in einem möblierten Zimmer. Denken Sie mal darüber nach, was Ihrer Meinung nach der Grund für diese bösen kleinen Steinchen sein könnte! Lauschen Sie in sich hinein! Damit erhob er sich und blinzelte mir hinter seinen Brillengläsern zu. Das ist Ihre Hausaufgabe bis zur nächsten Sitzung.