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Kuddel wird fünfzig, Ludwig hat Aids, Regina bekommt unverhofft Post aus Dänemark. Fred sucht eine Antwort, und Heinrich wagt einen unglaublichen Schritt. Zwölf Geschichten über gesellschaftliche Randsiedler, wie es sie nicht nur auf der Hamburger Reeperbahn, sondern nahezu überall gibt. Bewegende Erzählungen, die zum Lachen genauso wie zum Weinen bringen. Und die die wundersam verändernde Kraft von Annahme, Geborgenheit und Liebe zum Vorschein bringen. "Heimowskis ,Geschichten von der Reeperbahn' nehmen mich mit zu den Menschen, die hier unter die Räder gekommen sind. ,Wer anfängt, kann nicht mehr aufhören' - so lauten Kritiken über Bücher, die den Leser fesseln und bewegen. Das gilt auch für ,Brunos Dankeschön': Liebevoll und hautnah beobachtete Beschreibungen von ,echten Typen im prallen Leben'. Wer den spannendsten Teil der Reeperbahn wirklich kennen lernen will, muss dieses Buch gelesen haben. Unbedingt empfehlenswert." Ex-NDR2-Moderator Ulli Harraß, Hamburg
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Seitenzahl: 147
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Uwe Heimowski
Brunos Dankeschön
Geschichten von der Reeperbahn
Zu diesem Buch
Uwe Heimowski lebte einige Jahre in Hamburg St. Pauli. Liebevoll porträtiert er in diesen zwölf Geschichten gesellschaftliche Randsiedler, wie es sie nicht nur auf der Reeperbahn, sondern nahezu überall gibt.
„Heimowskis Geschichten von der Reeperbahn sind voller Menschlichkeit. Nach dem Lesen sieht man die Welt anders.“
Über den Autor
Uwe Heimowski, Jahrgang 1964, leitet die Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde Gera und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Frank Heinrich. Darüber hinaus ist er als Berater und Referent unterwegs.
Uwe Heimowski ist verheiratet mit Christine, sie haben fünf Kinder.
Er hat bereits zahlreiche Artikel und Bücher verfasst. Im Neufeld Verlag liegen bisher vor:
• Brunos Dankeschön – Geschichten von der Reeperbahn
• Die Heilsarmee: Practical Religion – gelebter Glaube
• Ich bin dafür! 44 Mutmacher für den Alltag
• Ich will bei dir sein – Du trauerst nicht allein (mit Mini-CD)
• Weiter so! 44 neue Mutmacher für den Alltag
• Mission: Verantwortung – Von der Heilsarmee in den Bundestag – Frank Heinrich im Gespräch mit Uwe Heimowski
www.uwe-heimowski.de
Impressum
Dieses Buch als E-Book:ISBN 978-3-86256-739-3, Bestell-Nummer 588 612E
Dieses Buch in gedruckter Form:ISBN 978-3-937896-12-0, Bestell-Nummer 588 612
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografischeDaten sind im Internet über www.d-nb.de abrufbar
Umschlaggestaltung und Foto: ChristianSchmiedbauer, AugsburgSatz: Neufeld Verlag
© 2005 Neufeld Verlag Schwarzenfeld
Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise,nur mit Genehmigung des Verlages
www.neufeld-verlag.de / www.neufeld-verlag.ch
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Für meine Schwester Anne
Zu diesem Buch
Über den Autor
Impressum
Rotlichtbezirke
Einklang: Gegenüber
Brunos Dankeschön
Heinrich und die Sintflut
Aids
Post aus Dänemark
Geburtstagsempfang
Daggis Hochzeit
Warum?
Alfreds Vaterunser
Kleidertouren
Karl und Thorsten
Sauberes Leben, saubere Straßen
Gesichter auf der Reeperbahn
Ausklang: Ein Stein
Mehr als nur lesen?
Über den Verlag
Rotlichtbezirke
... sind Schmelztiegel. Das halbseidene Geschäft lockt Menschen aller Couleur. Die einen, Gewinnler und Spekulanten, wittern das große Geld und bieten dafür alles mögliche und scheinbar unmögliche, grenzenlos. Die anderen, Touristen vor allem, gieren nach der Sensation und zahlen dafür ein Vermögen.
Viele kommen, und mancher kommt unter die Räder. Aus beiden Lagern: der durch horrend hohe Mietforderungen verschuldete Peep-Show-Betreiber und die alkoholabhängige Prostituierte auf der einen, der untreue Familienvater, der Ehe und Gesundheit aufs Spiel setzt, auf der anderen Seite.
Viele kommen erst, wenn sie bereits am Ende sind: Obdachlose und Drogenabhängige sitzen in Hauseingängen und betteln.
Der Hamburger Stadtteil St. Pauli, dessen berühmte Reeperbahn als „sündigste Meile der Welt“ gilt, ist ein solcher Schmelztiegel. Fünf Jahre war ich dort, für die Heilsarmee: als Zivildienstleistender, als Seelsorger, als Aids-Berater; getreu dem Motto, dass „Gott die Menschen auch dort noch erreicht, wo sie nicht mehr damit rechnen“.
Fünf Jahre: eine kurze Zeit, eigentlich. Doch an einem Ort, wohin Abend für Abend dreißigtausend Touristen strömen, wo die Heilsarmee im Laufe eines Jahres Suppe, Kleider, Gottesdienste, offene Türen und offene Herzen für nahezu zwanzigtausend Bedürftige anbietet, an einem Ort, wo binnen weniger Monate dutzende Läden geschlossen und neu eröffnet werden, an solch einem Ort sind fünf Jahre eine lange Zeit.
Lange genug, um hinter die Fassaden zu schauen, in der Masse den Einzelnen zu erkennen.
Von solchen Einzelnen, von Begegnungen mit ihnen, handelt dieses Buch. Es will den Blick weglenken vom St. Pauli der Medien, weg vom gleißenden Licht der Leuchtfassaden, vom schummerigen Halbdunkel der Hinterzimmer, hin zu einzelnen Menschen. Zu unscheinbar besonderen Menschen: Bruno und Regina, Heinrich und Kuddel.
Ihre Namen musste ich – zu ihrem Schutz – ändern, auch ihre Charaktere sind gestaltet: Ich habe verfremdet, indem ich manchmal mehrere wirkliche Personen zu einer hier beschriebenen zusammenzog. Weiterhin habe ich frei nacherzählt. Und doch ist keine Person oder Situation rein fiktiv – alle sind wahr.
Gewidmet ist dieses Buch Bruno und den Menschen am Rand der Gesellschaft.
Uwe HeimowskiGera, im Frühjahr 2005
Einklang: Gegenüber
Du kennst es nicht.
Niemand steht dir näher,
für einen Augenblick.
Doch du kennst es nicht.
Im Bus, im Zug, am Schalter:
ein Gegenüber.
Mann, Frau, jung, alt.
Für dich: ein Es,
neutral,
noch.
Dann siehst du:
Kleidung,
Haare,
Augen,
Hautfarbe.
Du magst Es nicht.
Auf zwei Meter Entfernung ein Wort,
ein Lächeln vielleicht,
und
das Etwas wird Person,
atmet, lebt,
ein Mensch entsteht.
Dir ganz nah.
Zu weit der Weg,
zu groß das Wort.
Das Gegenüber
bleibt gegenüber
und du kennst es nicht.
Es war gegen zehn Uhr abends; ich hatte Dienst in der Atempause, einem alkohol- und nikotinfreien Café, das die Heilsarmee in St. Pauli als „Alternativkneipe“ unterhielt, und es gab wenig zu tun.
„Uwe, komm doch bitte mal mit mir nach draußen.“
Bruno, der mich angesprochen hatte, suchte meinen Blick und sah mich eindringlich an. Seine kleinen wachen Augen mit dem leichten Schielen, das sie so lebhaft machte und ihnen etwas Listiges verlieh, fixierten mich erwartungsvoll. Kleine Sternchen blitzten auf im blassen Blaugrau der Pupillen. Ein helles fröhliches Feuerwerk, das den Schalk verriet, der diesem Mann im Nacken saß, und der jetzt wieder einmal etwas ausgeheckt zu haben schien.
Wären da nur die fröhlichen Äuglein gewesen und nicht das bleiche Gesicht mit den schweren Tränensäcken, dem die Jahre ihre Spuren eingegraben hatten, nicht die dünnen, akkurat zurückgekämmten weißen Haare, nackenlang und feinsäuberlich hinter die leicht abstehenden Ohren gelegt, nicht der starke Moschus-Duft dieses namenlosen Rasierwassers, das ich so oft bei älteren Männern rieche und das mich jedesmal aufs neue schnuppern, rätseln und undeutlich an jemanden denken lässt, der mir partout nicht einfallen will: mein Opa oder ein Onkel, ein Nachbar vielleicht? – wären es nur diese lächelnden Augen gewesen, die mich nach wie vor fest im Blick hatten, ich hätte gemeint, vor einem jungen Burschen zu stehen und nicht vor einem über sechzigjährigen Mann.
Etwas verlegen rückte Bruno sein graues, aus grober Wolle gewobenes Jackett zurecht. Beide Händen packten das Revers und zogen daran; zwei, drei schnelle Rucke, unterstützt von einer leichten Wippbewegung vorwärts, so dass sich die Jacke im Rücken heben und in den schmalen Schultern etwas vorrutschen konnte. Er räusperte sich, begutachtete den Sitz der Anzugjacke, kontrollierte den obersten Hemdknopf, besah auch Hose und Schuhe und nickte zufrieden. Darauf sah er mich noch einmal an, zwinkerte mir zu und machte auf dem Absatz kehrt. Leicht gebückt, das eine Bein ein wenig nachziehend, ging er durch den langen Schlauch der Atempause hindurch. Ohne sich noch einmal umzusehen, trat er hinaus ins Freie, auf die Talstraße, eine Seitenstraße der Reeperbahn.
Wie geheißen, folgte ich ihm. Bruno stand vor dem Nachbarhaus und musterte dessen spärlich beleuchtete Auslage. Mit dem Finger fuhr er über die Scheibe, sein Gesicht daran gepresst, halblaut und stockend lesend. Es war die Sun-Bar, ein Nachtclub. Ich blieb in der Tür stehen, eine Schattenlänge von Bruno entfernt. Er winkte mich zu sich.
„Du, ich sehe doch so schlecht.“
Bruno schielte verstohlen zu mir herüber, rieb sich mit den Handknöcheln die Augen und blinzelte ein paarmal; wobei er seine Lider übertrieben zusammenkniff, um mir seine Kurzsichtigkeit zu demonstrieren.
Dieses leichte Aufflackern im Hintergrund seiner Pupillen – war das das vertraute schelmische Flackern, wie ich im Café gemeint hatte? Oder verriet es eine Spur von Unsicherheit? Er wusste, dass mir sein Interesse an dem zwielichtigen Etablissement nicht behagte. Der kurze Blickkontakt mit Bruno reichte nicht aus, um das Funkeln mit Sicherheit zu deuten.
„Würdest du mir behilflich sein?“, fragte Bruno.
Er winkte mich noch näher zu sich heran – sein Rasierwasser stieg mir in die Nase – und klopfte mit seiner nikotingelben Fingerspitze auf das Glas des Schaukastens. Eine aufgeklappte Getränkekarte, beleuchtet von einer trüben Neonröhre.
„Bitte, schau mal hier in die Preisliste hinein. Es ist so furchtbar klein geschrieben, dass ich einfach die Preise nicht erkennen kann“, schimpfte er. „Und verblasst ist sie auch noch!“
Ich sah nach. Tatsächlich, die Tinte war verlaufen und die von Hand geschriebenen Preise kaum mehr zu erkennen.
Bruno sah mich an, stellte seinen kleinen Kopf leicht schief, wodurch er noch listiger aussah, ein wenig wie ein junger Fuchs, und fragte: „Wieviel kostet ein Bier?“
Uff. Ein Bier. Er erkundigte sich nach einem Bier. Ich war völlig perplex. Was wollte Bruno mit der Preisliste ausgerechnet in diesem Laden? Und dann auch noch mit einem Bier? Es war die allerletzte Frage, die ich erwartet hätte. Am wenigsten von Bruno. Was fragte er gerade mich – er wusste doch, dass ich nicht trank, wie alle Heilssoldaten. Und überhaupt: Was wollte er mit einem Bier?
Bruno hatte getrunken. Und das nicht zu knapp, sondern jahrelang und literweise. Viel zu viel. Bis zum Exzess – immer dann, wenn die Durstphasen ihn überfallen hatten, und das war nicht eben selten gewesen. Bruno war, wie man das landläufig nennt, ein Quartalssäufer.
Als Jugendlicher hatte er die Wochenenden durchgezecht, später mehrere Tage am Stück, in immer kürzer werdenden Abständen.
Der Suff hatte ihm einige kleine Vorstrafen und zuletzt sogar eine längere Gefängnishaft eingebracht. Er hatte Bruno auf der sozialen Leiter langsam, aber beharrlich Stufe für Stufe absteigen lassen.
Zuerst verlor er die Arbeit. Anfangs, als er abends nur gelegentlich in Kneipen versackte und morgens mit schwerem Kopf und lahmen Gliedern nicht aus dem Bett kam, hatte ihn sein Arzt krankgeschrieben. Befund: Magenverstimmung oder Migräne. Später fehlte er unentschuldigt und wurde entlassen. Dann verlor Bruno seine Wohnung – binnen weniger Monate war der Mietrückstand zu einer unbezahlbaren Summe geworden. Die Möbel wurden gepfändet, Bruno musste gehen. Irgendwann zerstritt er sich mit den letzten Freunden, die ihm Unterschlupf gewährt hatten. Schließlich fand er sich auf der sprichwörtlichen Parkbank wieder.
Die Phasen, in denen Bruno nüchtern anzutreffen war, wurden selten. Äußerst selten. Was früher noch Eskapaden waren, war nun Dauerzustand.
Er tat sich mit anderen wohnungslosen Trinkern zusammen, gemeinsam tranken sie von morgens bis abends. In den billigen Rotwein mischten sie Hefe und Zucker und Schlaftabletten – vergoren eine explosive Mischung. Der schwere tägliche Trunk tat seine verheerende Wirkung. Bruno bot ein jämmerliches Bild: Innerlich war er, im wahrsten Sinne des Wortes, zu. Er war unansprechbar, faselte wirres Zeug. Äußerlich verwahrloste er, wusch sich nicht, trug wochenlang die gleiche Kleidung. Bruno war unter die Räder der Trunksucht geraten.
Als ich ihn kennenlernte, lag diese unrühmliche Zeit bereits einige Jahre zurück. Er selbst hatte mir davon erzählt, auch von der Veränderung. Es klang wie ein Märchen. Oder ein Wunder.
Bruno hatte, kurz nachdem er aus dem Gefängnis entlassen wurde, einen lichten Moment gehabt und machte einen Alkoholentzug. Nicht seinen ersten, aber es wurde der letzte. Während der Kur fand er Kontakt zu einer betreuten Selbsthilfegruppe der christlichen Suchthilfeorganisation Blaues Kreuz. Er mochte die Leute dort und ging regelmäßig zur Gruppe. Das half ihm. Motiviert von den Gruppenstunden und Einzelgesprächen und auch von den Gebeten mit den Mitarbeitern, hatte er das Trinken lassen können.
Nun ging es Bruno so gut wie lange nicht. Zusammen mit einem Freund bewohnte er eine Zwei-Zimmer-Wohnung. Er bezog eine niedrige, aber ausreichende Rente. Und er war Mitglied einer kleinen christlichen Gemeinde geworden. Ein Bekannter aus der Gruppe hatte ihn dorthin mitgenommen. Es ging recht familiär zu, jeder kannte jeden, und Bruno hatte sich schnell heimisch gefühlt. Besonders die älteren Damen, die sich in rührender Herzlichkeit um ihn kümmerten, trugen ihren Teil dazu bei.
Warum also fragte Bruno mich nach dem Bierpreis?
Gut, ich wusste, dass es immer wieder einmal Tage gab, an denen das alte Laster ihn packte und schüttelte und so lange nicht aus dem Würgegriff seiner teuflischen Klauen ließ, bis Bruno wieder zur Flasche gegriffen hatte. Aber diese Rückfälle waren selten. Außerdem waren sie plötzliche Attacken, die ihn nur dann überfielen, wenn er schutzlos in der Wüste seiner Einsamkeit steckenblieb – dann allerdings konnten sie mit Macht herangaloppieren. Tagsüber, wenn Bruno alleine und ohne Beschäftigung in seiner Wohnung saß. In Gesellschaft mit Freunden trank Bruno nicht.
Dass er jetzt ausgerechnet in die – alkoholfreie! – Atempause kam, um mich auf die Straße zu bitten und sich von mir den Bierpreis der Sun-Bar vorlesen zu lassen, das wollte nicht in meinen Kopf.
Wollte er mir eins auswischen? Vielleicht. Aber warum? In Windeseile gingen mir verschiedene Möglichkeiten durch den Kopf. Wann hatte ich Bruno zuletzt getroffen? Konnte ich ihn dabei unbemerkt verletzt haben?
Bei Menschen mit solch einer Lebensgeschichte geschieht das nur allzu schnell. Manchmal bewerten sie kleinste Bemerkungen viel zu stark und reagieren dann übertrieben gekränkt. Wer einmal zu den Verachtetsten, zu den „Pennern“, zum „Abschaum der Gesellschaft“ gehörte, der vergisst das nicht so leicht. In seiner Seele bleibt er äußerst sensibel und verletzlich. Es ist, als ob eine innere Goldwaage alle Worte und Gesten und besonders die Zwischentöne eines Gegenübers genauestens abwöge und bereits beim geringsten Ungleichgewicht hochempfindlich reagierte. Diese besondere Empfindsamkeit übersieht man leicht.
Trotz angestrengten Überlegens fiel mir kein Fettnäpfchen ein, in das ich getreten sein könnte. Im Gegenteil. Unsere letzte Begegnung war eine ganz besondere gewesen ...
Wie gesagt, Brunos Leben war stabil geworden. Doch es gab einige – erstaunlich wenige – Nachwirkungen aus seiner Zeit „auf der Platte“. Platte, so nennen die Wohnungslosen ihre Schlafplätze. Platte „machen“ sie auf der Straße oder im Park oder unter der Brücke – wo immer einer ein geschütztes Plätzchen entdeckt, wenn es nur groß genug ist, dass er seinen Schlafsack entrollen und die obligatorische Plastiktüte, das tragbare Wohnzimmer, abstellen kann.
Sich selbst nennen sie Berber, nach jenem wandernden Nomadenvolk Nordafrikas, das noch bis vor wenigen Jahren in Ziegenfellzelten wohnte, ein karges Leben führte, Hauptnahrungsmittel: Datteln und Feigen, Käse von Ziegen- und Kamelmilch, und „nach der Sitte der Väter“ jahrhundertealte Bräuche pflegte. Wie die orientalischen Berber mit ihren Herden auf der Suche nach Wasser- und Weideplätzen, von Oase zu Oase durch die weiten Sanddünen der Sahara zogen, so durchstreifen die bundesdeutschen Berber heute die Beton- und Gefühlswüsten der Großstädte, auf der Suche nach Nahrung und Wohnung und Leben und – so kitschig es klingt – ein bisschen Liebe.
Eine der Nachwirkungen von Brunos Vergangenheit waren gelegentliche Rückfälle. Eine andere betraf seine Hygiene. Bruno duschte sich nicht und ging schon gar nicht in die Badewanne. So gut wie nie. Seine tägliche Körperpflege bestand aus nichts anderem als der schnellen Katzenwäsche der Kinderjahre: Hände meistens, Gesicht gelegentlich, Rest ... na ja. Dass es in der Wohnung weder Badewanne noch Dusche gab, sondern nur ein kleines Waschbecken von der Größe einer Nachttischschublade, war Bruno eine willkommene Ausrede.
Unter diesen Waschgewohnheiten litt seine Gesundheit. Er erkrankte immer häufiger an verschiedenen Infektionen. Da er von Ärzten nichts hielt – besser: weil er Angst vor ihnen hatte, was er freilich nie zugegeben hätte –, kurierte er seine Krankheiten mehr schlecht als recht zuhause aus. Ein hartnäckiger Reizhusten verließ den starken Raucher erst gar nicht mehr.
Vor einigen Wochen hatte sein Mitbewohner Brunos Elend nicht mehr länger mit ansehen können. Er wandte sich hilfesuchend an die Heilsarmee, wo er, wie Bruno auch, ein regelmäßiger Gast war. Ich war zufällig der erste, der ihm über den Weg lief, und den er über Brunos labilen Gesundheitszustand informierte. Prompt ließ ich mich dazu überreden, Bruno zu besuchen und zu einem Bad in unserer Badewanne zu bewegen. Nun war es an mir (und nicht mehr an seinem Mitbewohner, der klug genug war, einen anderen zu schicken ...), Bruno von den Vorzügen eines Vollbades zu überzeugen. Ein schwieriges Unterfangen, in das ich da eingewilligt hatte.
Ich besuchte Bruno in seiner Wohnung. Nach einigen Umwegen kam ich so behutsam wie möglich zur Sache. Bruno lenkte ab. Ich kam zurück zum Thema. Bruno wich aus. Ich versuchte ihn zu packen, Bruno entglitt. So ging es etwa eine halbe Stunde. Meine Überzeugungsarbeit schien vergebens. Auch all meine Überredungskunst, auf die ich sonst so stolz bin, versagte. Bruno sträubte sich gegen das Bad wie eine junge Katze gegen die Bürste. Ich redete mit Menschen- und Engelszungen auf ihn ein – ich hätte längst dem berühmten Fisch das Fahrrad oder einem Eskimo einen Kühlschrank verkauft gehabt. Bruno blieb eisern. Er ließ sich nicht im Namen der Vernunft und noch nicht einmal im Namen Gottes von der Dringlichkeit eines Vollbades überzeugen.
Ich war kurz davor, mein Unternehmen aufzugeben, bis ich endlich bemerkte, warum Bruno ein Bad so rigoros und kategorisch ablehnte. Ein Nebensatz ließ mich aufhorchen: „... kann doch nicht einfach zu euch in die Tagesstätte kommen.“
Ach so. Es war weniger Unlust, als vielmehr Scham, die hinter seinem Sträuben lag. Als ich ihm ganz vorsichtig sagte, er brauchte sich nicht zu schämen, er und ich wären ganz alleine im Haus, wenn er käme, niemand außer uns würde etwas mitbekommen und auch ich würde mich diskret zurückziehen, brach das Eis und bald stimmte er einem Bad zu. Er schien sich sogar ein bisschen darauf zu freuen.
Pünktlich zum verabredeten Termin erschien Bruno im Heilsarmeehaus. Das Wasser plätscherte aus dem großen Wasserhahn in die Wanne, Schaum schwamm darauf und das frische Aroma des Pflegebades erfüllte den Raum. Bruno begann, sich auszuziehen. Ich prüfte mit der Hand die Wassertemperatur, ließ noch etwas Kaltwasser nachlaufen und drehte den Hahn zu. Dann wollte ich das Badezimmer verlassen, damit Bruno in Ruhe sein Bad nehmen konnte.
„Bleib noch, bitte.“
Ich blieb. Bruno bat mich, ihm den Rücken zu waschen. Und ob ich ihm die Zehennägel schneiden könne, fragte er.
Er sah mich an. Vorsichtig abtastend. Unsicher. Einige stille Sekunden lang drehte er nervös sein Hemd in den Händen.
„Doch du ..., du ...“ Seine kratzige Stimme, vom Lebensstil der früheren Jahre und dem Dauerhusten geschwächt, wurde noch dünner, als sie ohnehin schon war, riss plötzlich ab, blieb einen Moment stumm und setzte kurz darauf neu an. „Du musst ... dich aber ...“