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Ivan Ivanji

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Beschreibung

Der junge Siegfried Wahrlich ist der Sohn eines Kellners und wächst ohne Mutter in Weimar auf. Früh schon begegnet er am Arbeitsplatz seines Vaters den unterschiedlichsten Menschen und lernt, auf sie einzugehen und sich den Umständen anzupassen. Sein Leben führt ihn zunächst in eine Lehre in einer Waggonfabrik, dann als Student ans Bauhaus, er engagiert sich politisch als Sozialdemokrat und später als Kommunist. Im gnadenlosen Strudel der Zeitläufte gerät Wahrlich ins KZ Buchenwald, kämpft auch in der Strafdivision 999 und landet am Ende des Krieges in jugoslawischer Gefangenschaft - aus der er durch Kontakte mit dem Belgrader Geheimdienst als Bauleiter hervorgeht. Dass er ein Lebenskünstler ist, der weiß, wie er aus seinem Leben das Beste machen kann, zeigt seine weitere Biografie, die ihn vorerst in die DDR führt, in der er sich genauso einsetzt wie später im vereinten Deutschland. Siegfried Wahrlich ist ein Romanheld der etwas anderen Art. Ausgestattet mit einer großen Portion Glück, einem einnehmenden Äußeren und Geschick im Umgang mit Menschen, meistert er sein Leben bravourös. Eine Liebesgeschichte, ein politischer Thriller und ein Spionageroman zugleich, formt Ivan Ivanji aus Wahrlichs Leben ein beeindruckendes Bild des 20. Jahrhunderts.

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IVAN IVANJI

Buchstaben von Feuer

Copyright © 2011 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien Alle Rechte vorbehalten Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien Umschlagabbildung: © Horst Mahr/www.buenosdias.at Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien ISBN 978-3-7117-5010-5 Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt

Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unterwww.picus.at

IVAN IVANJI

Buchstaben von Feuer

ROMAN

PICUS VERLAG WIEN

[7]Auf dem Dach der Ruine

Die Fürst-Milosch-Straße in Belgrad beginnt im Zentrum der Stadt, dort, wo der Parlamentspalast und der Palast der Hauptpost einander nachbarlich betrachten, schneidet danach die zentrale Straße, die oft ihren Namen gewechselt hat – König-Milan-Straße, Marschall-Tito-Straße, Straße der serbischen Herrscher und dann wieder König-Milan-Straße –, und führt zum Autobahnkreuz, von wo aus man Richtung Norden nach Budapest und Wien, Richtung Westen nach Zagreb oder Richtung Südosten nach Bulgarien oder Griechenland weiterfahren kann. Auf den fünf Spuren drängen sich die teuersten Mercedes Sechshunderter, sogar Maybachs oder bullige, auf Hochglanz polierte Geländewagen, wie sie die hiesigen Neureichen und Mafiosi lieben, mit mehrere Jahrzehnte alten Autowracks, deren keuchende Motoren und verrostetes Blech nur die außerordentliche Geschicklichkeit der serbischen Mechaniker zusammenhält.

Es geht vorbei am Außenministerium und dem Sitz des serbischen Ministerpräsidenten. Nicht selten wird hier der Verkehr stundenlang angehalten, weil einige Hundert verelendeter Arbeiter wegen irgendetwas protestieren, zum Beispiel, weil sie nach der Privatisierung ihres Unternehmens ohnehin auf der Straße stehen. Obwohl sie arbeitslos sind, nennen sie diese Versammlungen Streiks, sonst würde niemand sie beachten. Die Polizei schaut zu. Es wäre sicher nicht schwierig, mit einem einzigen Wasserwerfer oder etwas Tränengas die Leute zu vertreiben, aber nach dem Fall des Diktators Slobodan Milošević vor elf Jahren gilt hartes Eingreifen der Ordnungsmacht als peinlich. Also stauen sich die Fahrzeuge manchmal stundenlang. Wegen der Hitze im Sommer oder dem Frost im Winter [8]werden die Menschen ohnehin bald wieder auseinandergehen, oder es werden so wenige bleiben, dass sie den Verkehr nicht weiter behindern.

Den beiden Regierungspalästen gegenüber stehen als ausgebrannte Ruinen das frühere Bundesverteidigungsministerium Jugoslawiens und der Generalstab. Ausländischen Touristen werden diese zerbombten Hochhäuser als Attraktionen gezeigt – so wie die Gedächtniskirche Berlin-Besuchern.

Nur wenige Hundert Meter weiter befinden sich die Botschaften der USA, Deutschlands, Kanadas, Polens, Kroatiens, Albaniens … Und dann kommt auf Nummer 92 der Fürst-Milosch-Straße, kurz vor der Auffahrt zum Autobahnknoten, das ehemalige Bundesinnenministerium. Zwei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es als Machtzentrale des neuen Staates von deutschen Kriegsgefangenen gebaut.

In der Nacht vom 2. auf den 3. April 1999 wurde dieses Gebäude von amerikanischen Marschflugkörpern zielgenau getroffen und zerstört. Tote oder Verletzte waren nicht zu beklagen. Obwohl in der Nacht zuvor in den Büros noch fieberhaft gearbeitet worden war, war das Haus zur Zeit des Angriffs leer. Hatten serbische Spione aus Brüssel gemeldet, welche Ziele wann angegriffen würden? Oder, was für wahrscheinlicher gehalten wird, war der Wink von den Angreifern gekommen, weil nur ein Zeichen gesetzt, aber keine Menschen getötet werden sollten?

Heute sieht das ehemalige Ministerium nicht einfach wie ein riesengroßer Trümmerhaufen aus, sondern wie ein durchlöchertes Prunkgebäude im Stil der großen Bauwerke des stalinistischen Sozialistischen Realismus, etwa der Lomonosow-Universität in Moskau oder der Häuser in der Karl-Marx-Allee in Berlin. Zuckerbäckerstil haben das ironische Bürger genannt. Die westwärts gerichtete Fassade in Naturstein ist gut erhalten, nur die glaslosen Fenster gähnen in die Gegend.

Statiker behaupten, die Grundmauern könnten eine Restaurierung aushalten, so stark seien sie gar nicht beschädigt worden, [9]weil die Bomben nicht senkrecht vom Himmel herunterfielen, sondern seitwärts einschlugen, ein Wiederaufbau sei möglich, und die israelische Firma Plaza-Centers hat das Grundstück und den Bau im jetzigen Zustand in der Absicht erworben, ein Fünf-Sterne-Hotel mit hunderttausend Quadratmetern Nutzfläche auf vielen Etagen und einem Turm, das »Plaza Belgrad«, zu errichten. Es liegt so günstig, dass es als Portal der Stadt Belgrad schon aus großer Ferne sichtbar sein soll.

Aus den vorbeirasenden Autos kann man es nicht sehen, aber aufmerksame Fußgänger haben verwundert bemerkt, dass im Sommer, elf Jahre nach dem Krieg der NATO gegen Serbien, auf einem Teil des heil gebliebenen Daches des einst Angst einflößenden Gebäudes ein Baum grünt. Es ist unmöglich, genau festzustellen, welcher Art er ist. Eine Linde? Und wenn ja, wie ist sie dort hinaufgekommen? Hat der Wind einen Samen hinaufgetragen, aber auch genug Erde, damit die Pflanze Wurzeln schlagen kann? Regenwasser hat es die letzten Jahre genug gegeben. Es müsste ein Blatt vom Wind auf die Straße hinuntergewirbelt werden, um die Baumart feststellen zu können, denn der betörende Duft einer Linde allein im Juni von so hoch oben könnte gegen den Gestank der von schlechtem Benzin angetriebenen Autos nicht zur Geltung kommen.

Auf dem Dach der Ruine, im Schatten des Baumes, wacht der vor mehr als neun Jahren verstorbene Siegfried Wahrlich aus Weimar in Deutschland auf, versteht nichts, am allerwenigsten wo er sich befindet und wie er herkommen ist, und wundert sich sehr. Es kostet ihn Mühe und dauert ein wenig, bis er sich an seinen Tod erinnert, aber irgendwie fühlt er, dass er Zeit hat, außer Zeit gar nichts mehr besitzt.

Spukt es dort oben?

Nach und nach setzt sich aus Fetzen der Erinnerung ein Bild zusammen. Siegfried Wahrlich war auf den Ettersberg bei Weimar hinaufgefahren, um noch einmal im Leben einen Blick auf sein ehemaliges Konzentrationslager zu werfen. Das war [10]im Sommer nach seinem achtzigsten Geburtstag. Dann erlitt er einen Schwindelanfall und starb. Damals, auf dem Appellplatz von Buchenwald, war er mit dem Gesicht zur Erde gelegen, jetzt jedoch lag er auf seinem Rücken ausgestreckt und starrte auf die schon gelblich keimenden Blätter eines Lindenbaums auf einer Ruine in der Hauptstadt Serbiens. Plötzlich begriff er, wo er war, ohne zu wissen, wieso er das wusste.

Für seine Enkelin musste sein Tod auf dem Ettersberg ein großer Schock gewesen sein. Vergeblich strengte er sich an, im Augenblick konnte er sich an nichts Weiteres erinnern. Noch nicht. Vielleicht, weil er ja gleich danach schon tot gewesen war. Aber logisch denken konnte er jetzt wieder. Sie wird geschrien haben, jemand wird gelaufen gekommen sein, Sanitäter, Rettungswagen … Ein angemessenes Begräbnis. Sicher mit dem Buchenwaldlied: »… Denn einmal kommt der Tag, dann sind wir frei.«

Siegfried Wahrlich versucht aufzustehen. Es gelingt. Er schaut an sich hinab. Das, was an seinem mageren Körper schlottert, ist die Uniform der Wehrmacht, die sandgelbe Uniform des Afrikakorps, in der er 1944 gefangen genommen worden war. Als er starb, war er mindestens zwanzig Kilo schwerer gewesen und hatte einen dunkelblauen Zweireiher angehabt, mit dem er sonst ins Theater ging, Gerda hatte ihn geneckt, weil er sich für diesen Spaziergang, wie sie es nannte, so feierlich angezogen hatte. Er hatte nicht gewusst, dass er sich für die Begegnung mit seinem Tod vorbereitete.

Jetzt, oben auf dem Dach des ehemaligen Ministeriums, an dessen Errichtung er beteiligt gewesen war, zögert er mit den ersten Schritten, fühlt sich unsicher, aber er kann sich ganz gut bewegen, tritt an den Rand des Daches der Ruine und schaut hinunter auf die Straße, auf das Autobahnkreuz, wirft den Blick nach rechts, sieht aber nur Dächer und den Rangierbahnhof. Er weiß jedoch, dahinter befindet sich der silbrige Streifen der Save, der sich bis zu seiner Mündung in die Donau erstreckt.

[11]Von den beiden großen Strömen her kommen drei Möwen angeflogen, schwirren ganz nahe an seinem Kopf vorbei, als existierte er gar nicht, es scheint sogar, als flöge eine von ihnen durch seine Brust hindurch, aber es tut überhaupt nicht weh, und die Vögel ziehen kreischend weiter.

»Keine Angst, ich werde es dir erklären müssen, aber nicht alles auf einmal …«

Ist da eine Gestalt neben ihm? Eher etwas wie eine Nebelschwade. Aber wie hat sich die an einem helllichten Augusttag so säulenartig auf dem Dach einer Belgrader Ruine zusammengebraut?

»Übrigens soll ich dich von Franz grüßen …«

»Von unserem Franz?«

»Ja. Man hat eine Ausstellung über ihn in Weimar eröffnet. Du stimmst mir doch zu, dass er das verdient hat.«

Siegfried Wahrlich weiß nicht, was er sagen soll, man kann die Fragen jedoch an seinem Gesicht ablesen, sodass die Gestalt fortfährt zu erklären: »Das hat die Gedenkstätte Buchenwald mitorganisiert, verstehst du?«

»Nein. Hat man mich dabei erwähnt?«

»Tut mir leid. Mit keinem einzigen Wort.«

»Ich war doch immer mit dabei … Und wer bist du?«

»Ich habe dir schon gesagt, immer mit der Ruhe, nach und nach werde ich dir alles erklären, aber nicht zu plötzlich. Das ginge auch gar nicht …«

»Ich habe gefragt wer du bist!«, beharrt Siegfried Wahrlich.

»Gut, ich sage es dir, du wirst es ohnehin nicht verstehen. Ich bin der Aschenmensch von Buchenwald.«

[12]Der junge Wahrlich

Siegfried Wahrlich wurde in der Neujahrsnacht 1908 in Weimar geboren, war also nur einige Tage jünger als Franz Ehrlich, der im Unterschied zu ihm eine dokumentarisch nachweisbare Person gewesen ist und von dem ebenfalls noch viel zu sagen sein wird. Es muss jedoch, um Verwechslungen und andere Irrtümer zu vermeiden, gleich betont werden, dass diese beiden fast gleichaltrigen Bauhäusler – obwohl sie befreundet waren, teilweise gemeinsame Wege gingen, manchmal zusammenarbeiteten und ein nicht ganz unähnliches Schicksal hatten – keineswegs identisch sind.

Siegfrieds Vater, Walter, war Hilfskellner im Hotel »Elephant«. Als die Wehen bei seiner Frau eintraten, schickte die besorgte Hebamme einen Nachbarsjungen, den Michael Gutmann, ins Restaurant, Walter solle unbedingt sofort zu seiner Frau kommen, aber Oberkellner Klement wollte ihn auf keinen Fall gehen lassen, mehrere andere Gehilfen hatten sich rechtzeitig freigenommen und feierten Silvester mit ihren Familien zu Hause, es mangelte ohnehin an Personal, das Restaurant war vor allem mit Stammgästen, Herrschaften von auswärts und auch mit Offizieren, die fröhlich champagnisierten, sehr gut besetzt.

»Wenn Sie jetzt gehen, Wahrlich, brauchen Sie überhaupt nicht mehr zu kommen!«

Als Walter am frühen Morgen endlich nach Hause gehen durfte, war seine Frau schon verblutet und lag gewaschen und leicht geschminkt im frisch bezogenen Ehebett, das Kind jedoch schrie in den Armen der Geburtshelferin kräftig und es erwies sich, dass es gesund war. Die Nachbarin, die Witwe Gutmann, drückte ihr herzlichstes Beileid aus und bot jede notwendige Hilfe an.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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