Bugschuss - Hardy Pundt - E-Book

Bugschuss E-Book

Hardy Pundt

4,2

Beschreibung

Es ist Sommer im Ostfriesland. Eine Gruppe von sieben Männern unternimmt eine Rudertour, doch der Ausflug findet ein jähes Ende, als zwei Schüsse auf eines der Boote abgegeben werden. Ein Ruderer wird gestreift, ein anderer nur knapp verfehlt. Hauptkommissarin Tanja Itzenga und ihr Kollege Ulfert Ulferts nehmen die Ermittlungen auf. Erst als erneut Schüsse fallen, diesmal in der Hafenstadt Emden, finden die Kommissare heraus, dass die Beweggründe des Täters weit in der Vergangenheit liegen …

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Hardy Pundt

Bugschuss

Kriminalroman

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2012 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2012

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

1

Er stellte seinen Wagen auf einem kleinen Parkplatz ab, seitlich der gepflasterten Straße, die man mit angemessener Geschwindigkeit befahren musste, wollte man bei den zahlreichen Kuhlen nicht riskieren, den Auspufftopf zu beschädigen. Ein-, zweihundert Meter weit lagen noch Weiden links und rechts, dann folgten Häuser und Hofstellen mit gepflegten Vorgärten. Das kleine Dorf schien nur aus dieser einen Straße zu bestehen. Er wollte den Weg bis zur Gaststätte zu Fuß zurücklegen. Sie lag direkt am Kanal, dem er folgen würde. Zwar konnte er nicht genau wissen, ob er zu früh oder zu spät war, ja nicht einmal, ob sein Kommen überhaupt von Erfolg gekrönt sein würde. Doch er war wie besessen von seinem spontan gefassten Entschluss.

Jetzt war er in Eile und musste zusehen, dass er den Zielort erreichte. Wenn die Boote vorher schon den Kanal in entgegengesetzter Richtung fahren würden und ihn passierten, wäre es zu spät. Das war nicht schlimm, es würde sich eine neue Möglichkeit ergeben. Im Moment spukte jedoch nur eines durch seinen Kopf: Jetzt! Niemand wird ahnen, was du vorhast. Er schon gar nicht!

Auf der Straße begegnete ihm nur ein einziger Passant, er grüßte mit »Moin«, blickte dabei zu Boden und setzte seinen Weg fort. Am Kanal war es ruhig. Er zumindest bemerkte niemanden, ging an den Meerbuden vorbei, die sich hier wie an einem Bindfaden aufreihten. ›Meerbuden‹ nannte man die meist selbst gebauten Wochenendhäuser. Keines glich dem anderen. Einigen sah man die vielen Jahre an, die sie bereits hier standen. Die Häuschen dienten als Domizil für ihre Besitzer, die in Norden, Emden, Aurich oder weiter entfernten Orten lebten, dort arbeiteten und am Wochenende hierher ans Große Meer kamen, um sich vom Alltagsstress zu erholen. Vor der in Eigenarbeit errichteten Meerbude auf der Terrasse sitzen, grillen, ein gepflegtes Bier oder einen blutroten Wein trinken. Tagsüber angeln, paddeln, rudern, segeln, surfen – der Möglichkeiten, sich hier die Zeit zu vertreiben, gab es vielerlei. So konnte man es aushalten.

Er schritt kräftig voran. Er wusste, wohin er wollte. Die Meerbuden und ihre Besitzer interessierten ihn momentan nicht. Er wollte ans Große Meer, so nah wie möglich heran an die weite Wasserfläche des größten ostfriesischen Binnensees. Er hatte eine Stelle im Kopf, an der er unentdeckt bliebe und dennoch Sicht auf das Wasser und die Kanaleinfahrt hätte. Es gab Vogelkojen und Ansitze im Schilf, das wusste er, einer davon lag günstig, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Er hatte allerdings nicht vor, irgendein Geflügel zu erlegen.

Es war nicht einfach, an diesen Ort zu gelangen, denn während es am Nordostufer Restaurants und Campingplätze gab, die direkt am Großen Meer standen, war hier am Westufer kein ordentlicher Weg zu finden, der bis ans freie Wasser reichte, zumal sich der Ansitz an der anderen Seite des Kanals befand, der westlich des Sees verlief. Er würde ein Boot brauchen, doch das war kein Problem, hier lagen so viele. Er könnte eines ausleihen, ohne dass der Besitzer dahinterkäme, wenn er es nach seiner Rückkehr wieder ordnungsgemäß anleinte. Außerdem kannte er einen hiesigen Landwirt, der konnte viel von der Landwirtschaft, der Jagd und allerhand mehr über diesen Landstrich erzählen. Wenn es die Zeit erlaubte, ging jener auch angeln. Aus diesem Grund hatte der Bauer hier an einem kleinen Holzsteg ein grünes Kunststoffboot liegen, das er nutzte, um fischen zu gehen oder um für die Entenjagd auf die andere Seite des Kanals in die Schilfzone zu gelangen.

Dieses Boot würde er kurz – und ohne den Landwirt zu fragen – ausleihen. Er würde ein Stück weit den nordwärts verlaufenden Kanal hochrudern und das Boot dort liegen lassen. Anschließend müsste er sich durch den Schilfstreifen kämpfen. Es war gut, wenn niemand unterwegs war, er durfte kein Aufsehen erregen. Andererseits fielen hier Männer, die mit Booten über die Kanäle schipperten, angesichts der vielen Touristen, Angler und Wassersportler nicht weiter auf.

Er brauchte keine zehn Minuten, um den Kanal ein wenig aufwärtszufahren und zur anderen Kanalseite zu gelangen. Er zog das Boot in eine kleine Einbuchtung, wo ein Graben in den Kanal mündete. So war es, zwischen Schilf und Weidengebüsch, kaum zu entdecken. Er setzte seinen Weg fort, erreichte den Schilfstreifen, watete durchs Wasser und war schließlich an dem Platz angekommen. Er kannte einige der ostfriesischen Binnenseen, ihre Ufer, das Schilf. Das Große Meer hatte es ihm besonders angetan. Selbst wenn er jetzt jemandem begegnete, was hier in der Schutzzone unwahrscheinlich war, hätte er tausend Ausflüchte parat. Eigentlich brauchte er nichts zu befürchten. Der Rückweg, falls er seine Absicht überhaupt ausführen könnte, wäre heikler.

Der Wind rauschte im von Weidengebüsch durchsetzten Schilf, die Sonne schien, einige weiße Kumuluswolken zogen am blauen Firmament von West nach Ost. Ein schönes Plätzchen, ging es ihm durch den Kopf, nice and peaceful. Den Spruch hatte er mal in einer Dokumentation über Neuseeland aufgeschnappt und seitdem nicht mehr vergessen.

Das Warten schien endlos, und manchmal überlegte er, ob die ganze Idee nicht wahnsinnig sei. Doch sofort übermannte ihn wieder dieses Gefühl. Es stieg in ihm auf, verursachte Herzrasen, ließ Schweiß auf seiner Stirn ausbrechen. Nein, er wollte, er musste es tun. Hatte sich die Wut nicht schon seit einer Ewigkeit in ihm festgesetzt, hatte er sie nicht viel zu lang unterdrückt?

Er wusste, wohin sie wollten. Sie konnten nur diesen Weg nehmen, übers Wasser gab es keinen anderen. Er war dabei.

Stimmen. Der Takt regelmäßig ins Wasser schlagender Ruderblätter. Noch sah er nichts, die Schneise, die den Blick auf die freie Wasserfläche ermöglichte, war schmal und bestand im Grunde nur aus weniger dicht stehenden, kräftigen Halmen. Ihn würde niemand sehen – und er würde ihn nur kurze Zeit zu Gesicht bekommen. Der Moment nahte. Jetzt hieß es, die Rechnung zu begleichen, endlich. Seine Erregung stieg.

Er öffnete seinen Rucksack und holte einen Gegenstand aus einer unscheinbaren schwarzen Tasche. Er zog den Reißverschluss der Tasche auf, griff hinein. Eine kleine, handliche Pistole kam zum Vorschein.

Die Boote, die sich näherten, würden jeden Moment an dem Punkt sein, wo er sie sehen konnte. Fast geriet er ein wenig in Unruhe, ja Panik, während er die Pistole einsatzbereit machte. Das laute Kommando »Ruder halt!« ertönte, und der regelmäßige Schlag wurde durch ein Schlittergeräusch ersetzt. Die Sportler in den beiden Booten hatten das Rudern eingestellt. Die Blätter lagen flach auf dem Wasser, die Boote wurden deutlich langsamer, bald würden sie jegliche Fahrt über Grund einstellen.

»Was ist los?«, rief einer dem Steuermann zu.

»Kleine Pause – und Zeit für ein Pils! Der Mann im Bug sorgt dafür, dass das Boot nicht ins Schilf treibt. Dann arbeitest du endlich mal was, bislang tauchst du die Blätter ja nur kurz ins Wasser und hebst sie wieder raus. Pullen tun ja wohl nur die anderen!«, antwortete dieser, und sein Kommentar wurde mit Lachen, Klatschen und Zustimmung gewürdigt.

Als jeder eine Flasche in der Hand hielt, sagte der Steuermann des Vierers laut und deutlich: »Jungs, kann es schöner sein? Bestes Wetter, herrliche Sonne, und wir endlich mal wieder zusammen im Boot, Urlaub, Rudern, Pilsbier … Ich sag mal: Prost!«

Unmittelbar nach dieser Aufforderung, den ersten Schluck zu nehmen, durchschnitt ein lauter Knall die Stille der Natur, direkt darauf ein zweiter. Ein kurzer Blick zu den Booten. Trotz der hohen Anspannung huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Schießen konnte er. Er wollte nicht töten, er wollte eine Lektion erteilen, nur das, eine Lektion. Vorerst jedenfalls …

Nach den Schüssen waren zunächst entsetzte Schreie zu hören, dann nur noch das Rauschen des Windes im Schilf. Die aufgeregten Stimmen verloren sich. Jetzt musste er verschwinden, schneller Rückzug. Das musste funktionieren, das war die kritische Phase seiner Unternehmung. Er musste Acht geben, dass ihn niemand entdeckte, hier im Schilf, halb im Wasser. Dann mit dem Boot erneut übersetzen. Er würde nicht den Weg nehmen, den er gekommen war, an den Meerbuden vorbei. Es gab die Möglichkeit, an einem Entwässerungsgraben, der einen Acker von einer Weide trennte, entlangzugehen. Dort gab es dichtes Weidengebüsch, ein paar Erlen, hier und da ein Holunder. Gute und einzige Deckung in diesem platten Land. Schnell folgte ein kleines Wäldchen. Hier könnte er kurz verschnaufen, bevor er weiter zu seinem Auto ging, um sich vollends aus dem Staub zu machen.

Bevor die Polizei eintraf, die mit den örtlichen Verhältnissen sicherlich kaum vertraut war und deshalb längere Zeit brauchen würde, um zum Tatort zu gelangen, wäre er längst über alle Berge. Sofern diese Redewendung mitten in Ostfriesland taugte.

2

Haufenwolken zogen am strahlend blauen Himmel gen Osten. Sie veränderten fortwährend ihre Gestalt, was man nur sah, wenn man die Muße hatte, sie länger zu beobachten. Es wehte ein stetiger, nicht allzu starker Wind, in den sich das Geschrei von Möwen, Austernfischern und der ein oder anderen Seeschwalbe mischte. Die Nordsee sendete immerfort ihre Wellen gegen den Strand, der jetzt, bei aufkommender Flut, zusehends schmaler wurde. Er begann im Westen in Form einer gigantisch großen Plate, aus der sich Richtung Osten Dünen erhoben, die allerdings ein von Wind und Wetter reichlich beanspruchtes Aussehen an den Tag legten. Hier gelangte die tagtägliche Flut bis nahe an die Dünen und erst später wurde der Strand, der sich 17 Kilometer lang von West nach Ost erstreckte, fortwährend breiter.

Es gab drei ausgewiesene Badebereiche, einen beim sogenannten Loog, zwei vor dem Hauptdorf. Hier wurden die Urlauber von Rettungsschwimmern bewacht, für Kinder standen Spielgeräte zur Verfügung und die Kurverwaltung bot Frühgymnastik und diverse andere sportliche Aktivitäten an. Hinter dem östlichsten Bad wurde es wieder ruhiger, und obwohl über 10.000 Menschen in der Badesaison die Insel bevölkerten, bot sie spätestens hier – wie auch im Westen – jedem die Möglichkeit, den Blick in aller Ruhe über das Meer schweifen zu lassen und die Charakteristika zu genießen, mit denen sie um Gäste warb: die Weite, die Stille, das Licht …

Eine Silbermöwe gackerte laut und vernehmlich, als sie im Tiefflug über den Strandkorb von Hauptkommissarin Tanja Itzenga raste und sie weckte, nachdem sie bei leichter Brise eingenickt war. Schon gut vier Wochen war Itzenga auf dem Töwerland, der Zauberinsel Juist. Ihr Strandkorb stand unterhalb des Kurhauses, dessen Glaskuppel an das Reichtagsgebäude in Berlin erinnerte. Doch hier war Nordseeküste, Hauptstadtpolitik interessierte allenfalls bei der Lektüre der Tages- oder Wochenzeitung. Die fiel lautlos in den Sand, wenn man die Nase voll hatte von Berichten über Parteien-Hickhack, Krieg, Mord und Totschlag, Intrigen, Atomunfälle, Plagiatssünder und den wieder und wieder gescheiterten Versuchen, drängende soziale Probleme zu lösen. Dann konnte man sich den Gedanken an Wind, Wellen und Meer hingeben und mit einem Lächeln auf dem Gesicht einschlafen – nicht ohne vorher noch einmal die wunderbare Luft tief eingesogen zu haben. Wann atmete man im normalen Alltag schon einmal so tief durch?

Am Vormittag hatte Tanja Itzenga über ihren Masseur von der Eselsbrücke erfahren, die den Inselschulkindern half, sich die Reihenfolge der Ostfriesischen Inseln zu merken. ›Welcher Seemann liegt bei Nanni im Bett?‹ Jeder Anfangsbuchstabe stand für eine Insel: Wangerooge, Spiekeroog, Langeoog, Baltrum, Norderney, Juist, Borkum. Auf alten Seekarten war des Öfteren der Name ›Iuist‹ vermerkt worden, aus dem sich später ›Juist‹ entwickelte. So gesehen hatte das I für Juist eine gewisse Berechtigung. Streng genommen fehlten zwei Inseln in der Liste, Memmert und Lütje Hörn, aber das war wohl der Tatsache geschuldet, dass dies geschützte Gebiete waren und daher dem Seebäderdienst und Tourismus weitestgehend verschlossen blieben. Und wer wusste heute schon, ob man für die langsam zur Insel werdende Sandbank ›Kachelotplate‹ irgendwann einmal ein K in den Spruch einbauen müsste, falls sie nicht eines Tages mit Juist oder Memmert zusammenwächst.

Tanja Itzenga blinzelte in den Himmel. Der Roman, den sie gerade las, war spannend. Ein mächtiger Eisblock hatte sich vor Norwegens Küste gelöst und einen Tsunami verursacht, der halb Europa verwüstete. Zufällig hatte sie ein paar Tage vorher in der Zeitung gelesen, auch renommierte Wissenschaftler hielten es für möglich, dass so etwas passieren könnte. Darüber hinaus hatte es in der Vergangenheit nachweislich Monsterwellen in der Nordsee gegeben. Nach dem Unglück in Japan waren alle Politiker schnell dabei, so etwas für die deutsche Küste auszuschließen – aber wie war das mit dem Quäntchen Unsicherheit, das jeder Prognose anhaftete? Das Zusammenkommen eines so schweren Erdbebens und eines derart zerstörerischen Tsunamis war auch vor Japans Ostküste als überaus unwahrscheinlich eingeschätzt worden. Und schon war es passiert und führte der Welt vor Augen, dass Wahrscheinlichkeiten zwar schätzbar waren, es aber niemals eine endgültige Sicherheit gab.

Kurz stellte sich die Hauptkommissarin vor, wie sie am Juister Strand säße und aus der Ferne eine Riesenwelle heranrollen sah, die Inseln und die Küste erreichend, die Elbe, Brunsbüttel, Krümmel … Tanja Itzenga schüttelte die Gedanken weg, beinahe krampfhaft. Es war zu fürchterlich. Fukushima! Drei Wochen Sensationsmeldungen und dann nicht mal mehr ein paar Zeilen auf Seite fünf wert, dabei war die Region für menschliches Leben unwiederbringlich verloren … Nein, nicht diese Gedanken, nicht jetzt. Sie wollte an etwas anderes denken. Die Dinge passten nicht zur ihrer Situation.

Sie suchte lieber nach passenden Worten für ihr gegenwärtiges Dasein. Herrlich, wunderbar, eben zauberhaft? Sie fand, dass diese Worte, jedes für sich, eine gewisse Berechtigung hatten. Sie schienen zu passen und doch nicht alles zu erfassen, was in dem Gesamtbild steckte, das sie in diesem Moment wahrnahm.

Als der Bescheid bei ihr zu Hause in Aurich eingetroffen war, die Kur sei genehmigt und sie könne sechs Wochen auf der Insel Juist verbringen, war ihr fast so, als wäre ihre Abgeschlagenheit, ihr angegriffenes Nervensystem, ihre Glieder- und immer häufiger auftretenden Kopfschmerzen, kurz, all die Anzeichen eines Burn-outs, für einen Moment vergessen. Selten war sie beim Arzt gewesen, doch dann waren ihr die Arbeit, die Überstunden, die Verbrechen, Betrügereien, Lügen und Morde über den Kopf gewachsen. Sie fand immer weniger Ruhe, hatte sich, fast trotzig, noch intensiver in die Arbeit gestürzt, wollte alles immer schneller und perfekter erledigen. Sie fand Anerkennung, wurde von Polizeipräsident Eilsen belobigt, und mit jedem abgeschlossenen Fall kamen neue Aufgaben hinzu: ›Frau Itzenga, für Sie ist das doch kein Problem … Sie als Expertin …‹ Irgendwann sträubten sich ihr die Nackenhaare, wenn sie so etwas hörte. Sie begann, gedanklich abzuschweifen, obwohl ihr ein neuer Fall vorlag, war bei Vernehmungen nicht mehr bei der Sache, machte Fehler, was Versäumnisse nach sich zog.

Ihr Kollege Ulferts fragte: ›Tanja, was ist los?‹, Polizeipräsident Eilsen sagte: ›Liebe Kollegin – Ihre Arbeit hat nicht mehr die Qualität, die sie einmal hatte. Verstehen Sie mich nicht falsch, es ist wohl allzu viel gewesen in den vergangenen Monaten. Irgendwann leidet die Qualität. Das ist ganz normal. Ich mag sie gar nicht fragen, ob sie Folgendes noch tun könnten …‹, und sie antwortete: ›Es war viel, Herr Eilsen, sehr viel, aber … kein Problem, ich bügele das aus, und übernehme gerne die Aufgabe, ehrlich, das wird schon werden.‹ Was sollte sie auch sonst tun? Schwäche zeigen gegenüber ihrem Vorgesetzten? Entgegnen, dass sie Urlaub bräuchte, eine Auszeit? Zugeben, dass sie den Aufgaben, im Moment zumindest, nicht gewachsen war? Nein, das war in einer Welt, in der es darum ging, zu funktionieren, nicht vorgesehen.

Dann landete ein komplizierter Fall auf ihrem Tisch. In der ostfriesischen Krummhörn hatte ein überarbeiteter und zu risikobereiter Banker angetrunken eine junge Frau angefahren und war kurz danach mit hoher Geschwindigkeit gegen einen Baum gerast. Dabei wäre er beinahe selbst umgekommen. Durch einen Fund der Spusi fanden sie heraus, dass noch mehr hinter diesem Vorfall steckte. Einige Pannen später lösten sie schließlich den Fall, nachdem einer der Verdächtigen sie zum Täter führte. Zwar hatte eben dieser Verdächtige bis zuletzt nicht immer die Wahrheit gesagt, das interessierte jedoch, als der Fall ad acta gelegt wurde, niemanden mehr. Ihre dahin gehenden Bemühungen liefen bei Polizeipräsident Eilsen völlig ins Leere. Ihm ging es um das angeschlagene Bild seiner Polizei in der Öffentlichkeit. Während der Ermittlungen zu diesem Fall bemerkte Tanja Itzenga ein ums andere Mal, dass ihre Konzentrationsfähigkeit, ihre Kombinationsgabe und ihre sichere Urteilsfähigkeit in Mitleidenschaft gezogen wurden. Sie schweifte ab, während sie Gesprächspartner, Verdächtige oder Kollegen wie durch einen Schleier ansah und dennoch mit ihnen sprach. Der Fall wurde, trotz einiger Ermittlungsfehler, gelöst, doch der Polizeipräsident machte ihr anschließend die Hölle heiß. So etwas hing nach, manchmal Jahre. War es nicht immer so, dass man die Fehler, die jemand gemacht hatte, noch nach langer Zeit im Kopf hatte, die vielen, oft tagtäglichen positiven Leistungen aber nicht weiter beachtet wurden? Da konnte jemand zehn Jahre gut arbeiten, machte einen Fehler und sogleich hieß es: ›Er ist gut, aber damals, da …‹

Dann kam der Moment, in dem sie einfach ohnmächtig wurde. Während einer Dienstbesprechung rutschte sie langsam vom Stuhl. Sie hatte verschlafen, war zur Arbeit gehastet, hatte nicht gefrühstückt und dann, viel zu schnell, zwei Tassen starken Kaffee getrunken, obwohl sie ansonsten längst dem Ostfriesentee frönte. Der herbeigerufene Arzt sagte: Da steckt mehr dahinter. Und Kolleginnen und Kollegen bestätigten, die Hauptkommissarin habe sich verändert, sie habe oft sehr lange gearbeitet und ein zunehmend dünneres Nervenkostüm. Das gleiche Adjektiv traf auf ihre Figur zu. Regelmäßiges Trinken und ebensolche Mahlzeiten waren über die vergangenen Monate zu kurz gekommen. Weiter, immer weiter, schneller, besser, und nur keine Schwäche zeigen!

Die Hauptkommissarin fand sich im Krankenhaus wieder, wurde nach ihrer Entlassung mit zwei Wochen Zwangsurlaub versehen und der beinahe verpflichtend ausgesprochenen Empfehlung, sich in eine Kur zu begeben, die sie wieder auf beide Füße stellen sollte. Erstaunlicherweise setzte sich der Polizeipräsident persönlich dafür ein, und Kollege Ulferts raunte ihr zu: ›Der hat ein schlechtes Gewissen – der weiß genau, was er an dir hat!‹ Sie wusste nicht so recht, ob das stimmte, nahm sich aber vor, ihre Lebensweise zu überdenken und die Zeit zu nutzen, auch grundlegendere Fragen zu Sinn und Zweck des für jeden doch nur einmaligen Lebens zu stellen.

Entgegen ärztlichem Rat, aufgrund dessen sie in die Berge geschickt werden sollte, argumentierte Itzenga bereits beim ersten Gespräch zum Thema Kur, dass sie eine Insel kenne, quasi vor der Haustür, das wäre der richtige Ort.

Und hier war sie nun. Sie schloss die Augen. Ein bisschen schlafen und sich die laue Brise um die Nase wehen lassen … Dann noch einmal kurz in die Nordsee springen, bevor es gegen Abend zu einem Therapiegespräch ging. Bereits in der ersten zwei Wochen hatte sie gelernt, den Schalter umzulegen, wenn negative Gedanken kamen: Fehler, die geschehen waren, würde sie kein zweites Mal machen. Die Geschehnisse im Privaten tauchten wie vereinzelt aufleuchtende Flammen von Zeit zu Zeit in ihren Gedanken auf. Trennungen, Sterbefälle, Meinungsverschiedenheiten … Man konnte nicht ewig über all das grübeln. Ihre Gedanken wanderten wieder den Strand entlang, zur Massage am nächsten Morgen, und ein wohliges Kribbeln lief ihr über den Rücken. Der Masseur war ein echter Profi, ihre Rückenbeschwerden schienen wie weggeblasen. Und dazu war er noch nett und humorvoll. Danach ein Salat mit Krabben und, vielleicht, nach vielen Wochen, mal wieder ein kühles Bier, ein friesisch-herbes? Hatte nicht neulich der leitende Arzt selbst die alte Weisheit bestätigt: ›Ein Gläschen Wein oder ein Bier, das schadet niemandem, im Gegenteil!‹

Wieder überflog eine Silbermöwe gackernd ihren Strandkorb. Schnell wurde ihr Geschrei mit dem Rauschen der Nordsee und dem Pfeifen des Windes weggetragen. Der Traum, den Tanja Itzenga jetzt träumte, hatte nichts mit Tsunamis und Reaktorunfällen, nichts mit Raub, Mord und Totschlag zu tun. Für all dies war im Moment kein Platz in ihrem Kopf.

3

Der Mann war groß und sportlich, ein Hüne, den scheinbar nichts erschüttern konnte. Doch jetzt zeigte sich auf seinem Gesicht Entsetzen. Das Hemd war nass geschwitzt und klebte an Brust und Rücken. Er war braun gebrannt und konnte sich auf sein Aussehen einiges einbilden, angesichts der Tatsache, dass er nicht mehr der Allerjüngste war, was diverse, beim genaueren Hinsehen deutlich sichtbare graue Haare verrieten.

Das Wetter war gut und wenn nicht alle gewusst hätten, dass gerade aus heiterem Himmel zwei Schüsse gefallen waren, wovon einer den Mann am Oberarm gestreift hatte, würde man meinen, er läge dort im Gras, um sich an diesem herrlichen Sommertag ein Nickerchen zu gönnen.

Die Ruderer hatten guter Dinge und ahnungslos in dem neuen Doppelvierer gesessen, der Steuermann erzählte einen Döntje nach dem anderen und man genoss den Tag. Plötzlich hatte es geknallt. Vollkommen unerwartet.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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