Bundesverdienstkreuz - Marius Schmieda - E-Book

Bundesverdienstkreuz E-Book

Marius Schmieda

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Beschreibung

"So war er gewillt, etwas aufzubauen. Auf den Trümmern seiner Existenz und des ganzen Landes sollte etwas Neues entstehen." Die Chronik einer münsteraner Familie über vier Generationen vor dem Hintergrund bundesrepublikanischer Geschichte. Historische Persönlichkeiten und Tatsachen treffen hier auf die fiktiven Geschehnisse rund um die Familie Nienhoff.

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Meiner Mutter und Elisabeth Klempnauer gewidmet

Du siehst Dinge und fragst "Warum?", doch ich träume von Dingen und sage "Warum nicht?"

George Bernard Shaw

Es soll sich die Politik zum Teufel scheren, die - um welcher Prinzipien auch immer - den Menschen das Leben nicht leichter zu machen sucht.

Willy Brandt

Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.

Helmut Schmidt

Inhaltsverzeichnis

Wiederkehr

Widerstand

Wendepunkte

Epilog

Wiederkehr

Kalus Einheit lag bei Letschin im östlichsten Teil von Brandenburg. Karl Ludger Nienhoff, von allen nur Kalu genannt, befand sich im 26. Lebensjahr und hoffte, seinen Heimatort Münster bald wieder betreten zu können. Die Chancen standen allerdings nicht gut, denn er befand sich tief eingegraben mit hunderten angsterfüllter Gestalten in Uniform im Dreck in Erwartung von Tod und Verderben. Es war still, nur vielerlei Vogelstimmen waren um diese Tageszeit zu hören. Nebel lag über den taufrischen Wiesen und der Morgen dämmerte zaghaft am Horizont. Wie gemalt erhob sich die liebliche Landschaft aus der milchigen Verschleierung. Windmühlen, die wie Schachfiguren in der Umgebung standen, warteten geduldig auf Wind. Nur das Passepartout für dieses Gemälde war Angst. Kalu hatte diese Angst oft erlebt, aber sich nie daran gewöhnt. Gewiss, sein Darm entleerte sich nicht mehr, wie bei all jenen, die ihre Feuertaufe erhielten. Auch er hatte das erlebt, als die ersten Granaten um ihn herum einschlugen. Ein Unteroffizier schlug ihm damals mit verständnisvollem Blick auf die Schulter – er kam aus Wien – und sagte: „Der tickt bei dem Lärm wenigstens normal. Der sagt sich einfach: `geh scheiß’n`.“ Wenig später lag er tot in einem Granattrichter.

Nun war Kalu selbst Unteroffizier und versuchte seine Jungs so gut es ging zu beruhigen. Einige von ihnen waren noch nicht mal 17 Jahre alt und schlecht ausgebildet. Sie schauten ihn mit angsterfüllten Augen an und hofften wohl insgeheim, dass er sie gleich wieder nach Hause schickte. Doch nichts dergleichen passierte und die trügerische Stille spannte die Nerven wie Bogensehnen und schien unerträglich. Sie umklammerten ihre Gewehre als wären es Rettungsanker. Wie viele von ihnen würden den Tag nicht überleben oder als Krüppel heimkehren? Kalu wurde im Nahkampf zweimal leicht verwundet, hatte jedoch drei russische Soldaten mit seinem Spaten erschlagen. Dafür erhielt er das eiserne Kreuz und die Nahkampfspange. Er wollte einfach nur überleben und hatte dabei drei andere Leben ausgelöscht. Wie viele er mit dem Gewehr getötet hatte, wusste er nicht mehr, vielleicht ein paar Dutzend. Es war sehr leicht, denn die Russen gingen recht verschwenderisch mit dem Leben ihrer Soldaten um. Er tötete, weil er keine andere Wahl hatte, aber er fühlte sich trotzdem wie ein Mörder. Er trug seine Orden daher wie ein Kainsmal und empfand sein Soldat-sein als erzwungene Schande und er verachtete all die Kameraden, die noch strammer vor ihm standen, wenn sie sein Lametta sahen.

Ein Hase kroch aus seinem Bau und schnupperte ausgiebig, ob die Luft rein sei. Die vielen Stahlhelme, die verdreckte Gesichter verhüllten, schienen ihn nicht zu beunruhigen. Auch die Mündungen unzähliger Gewehre nicht, als ob Meister Lampe wusste, dass sie diesmal nicht ihm galten.

Niemand redete. Ab und an hörte man Gebetsfetzen. Zigarettenrauch stieg empor und weit hinter den Gräben sah man schemenhaft Gestalten, die 88er Flak-Geschütze luden und ausrichteten.

Richtung Osten ging die Sonne auf. Dort irgendwo lag der Russe, der genauso zitterte, betete und nach seiner Mutter schreien wird. Gleich werden wir uns wieder erbarmungslos zerfleischen, als ob wir uns hassen würden. Kalu wusste, dass er wieder töten würde. Sein Gewissen fragte gar nicht mehr danach. Aber er erinnerte sich dunkel daran, ein Mensch zu sein. Genauso, wie die da drüben, auch wenn man uns das ausreden will, dachte er bei sich. Er wusste, wie man einem Menschen das Bajonett in den Körper rammt, aber nicht mehr, wie man sich umarmt. Jeder Mensch ist ein Kosmos. Jeder Gedanke, jede Erinnerung und jedes Gefühl darin ist ein Stern. Man darf einen Menschen nicht in die Knie zwingen, sondern muss vor ihm auf die Knie gehen. Während er noch so vor sich hin sinnierte, öffneten sich die Schlünde der Hölle, begleitet von den Orgelklängen der Katjuschas und dem Trommelfeuer der russischen Artillerie, gleich einem teuflischen Hochamt. Die Erde um ihn herum wurde umgepflügt und dabei prasselte ein harter Gegenstand gegen seinen Helm und machte Kalu bewusstlos. Als er erwachte, lagen um ihn herum verwundete Kameraden und bewaffnete sowjetische Soldaten, die auf und ab marschierten – seine Gefangenschaft begann.

Im Kriegsgefangenenlager 454 bei Rjasan musste Kalu nun die nächsten drei Jahre in einem Stahlwalzwerk schuften. In dem mit Mücken verseuchten Lager holte er sich Malaria und die Ruhr, welche er beide glücklich überstand. Sporadisch kam auch mal Post aus der Heimat von seinen Eltern und seiner Frau Maria.

Seine Frau Maria hatte er 1940 kennengelernt. Auf der öffentlichen Kundgebung auf dem Schlossplatz zum Tag der Arbeit war sie ihm im Gedränge auf den Fuß getreten. Seine Reaktion war ein heftiger Schlag mit der flachen Hand auf ihr Hinterteil, was sie wiederum mit einer Ohrfeige beantwortete. Die beiden schauten sich in die Augen und lächelten sich an.

„Entschuldigen Sie bitte meine Unachtsamkeit. Ich heiße Maria, Maria Klausener.“

„Nein, verzeihen Sie mir, bitte. Ich bin Karl Ludger Nienhoff, aber alle sagen Kalu zu mir.“ „Also gut Kalu, wollen wir ein bisschen bummeln gehen? Mir ist es hier zu voll.“

Gauleiter Alfred Meyer, jener Meyer, der 1942 bei der sogenannten ‚Wannseekonferenz‘ teilnehmen wird, hielt eine flammende, den Führer in metaphysische Höhen erhebende Rede. Die Massen schrien ekstatisch HEIL.“

„Ja Maria. Das wollte ich auch gerade vorschlagen.“

Die beiden spazierten über die Promenade zum Aasee. Sie erzählte ihm, dass sie in Klein-Muffi, einem Arbeiterviertel Münsters lebt und einer Hafenarbeiterfamilie entstammt. Sie hatte sechs Geschwister, ihr Vater war KPD-Aktivist und hatte die Folter der Gestapo nicht überlebt. Er hatte dichtgehalten und die Namen seiner Mitgenossen nicht verraten.

„Warum erzählst du mir das? Ich könnte es der Gestapo weitergeben.“

„Nein Kalu, du bist kein Nazi.“

Am Aasee angekommen, holte sich Maria eine Zigarette aus der Bluse. Dabei fiel ihr ein Zettel auf den Boden. Kalu hob ihn auf und sah darauf ein Portrait von Josef Stalin.

„Hoppla“, sagte er, „du lebst gefährlich.“

Blitzartig warf sie die Zigarette weg, zog ihn an sich und küsste ihn lange und intensiv. Ihre selbstbewusste Art imponierte ihm. Die Tatsache, dass sie Kommunistin war, schreckte ihn nicht ab, im Gegenteil. Er strich ihr durch das glatte, blonde Haar, das schulterlang ihr schmales Gesicht umrahmte. Sie hatte braune Augen, war von zierlicher Gestalt und hatte eine lange, dünne Nase und einen kleinen Mund, aus dem eine kräftige und tiefe Stimme erklang. Die etwas rauen, männlichen Anteile in ihrer insgesamt sehr weiblichen Erscheinung machten sie für Kalu sehr erotisch. Er fühlte sich mehr und mehr zu ihr hingezogen. Es war keine tiefe Liebe, aber er empfand warme Zuneigung zu ihr und Respekt. So entschloss er sich später, sie zu heiraten. Vielleicht auch aus Trotz, weil er es den Nazis heimzahlen wollte. Denn er hasste sie und er hatte Grund dazu.

Am 20. Juni 1941 heiratete er Maria. Einen Tag später kam der Befehl zum Ausrücken und er wurde Teil des Unternehmens Barbarossa. Seinen letzten Heimaturlaub hatte er im Spätsommer 1943 und im Mai 1944 kam sein Sohn Albert Ludger zur Welt. Als er im Sommer 1944 noch einmal Urlaub beantragte, wurde ihm dieser aus unerfindlichen Gründen nicht genehmigt.

Jetzt, knapp fünf Jahre später, befand er sich seit acht Tagen auf der Heimreise durch vertrautes Feindesland. Seit dieser Zeit herrschte nun endlich ungewohnte Ruhe: kein Kasernenhofgebrüll, kein Schlachtenlärm und kein Geschrei von Sterbenden mehr.

Kalu genoss das monotone Rattern des Zuges, das sanfte Gemurmel im Wagon und selbst das Rauschen, wenn jemand in den Blecheimer urinierte. Er musste dabei an seine Kindheit denken, als er und seine Freunde im heimischen Garten um die Wette pinkelten. Sein Kumpel Walter hatte stets den längsten Strahl. Er kam dabei vom Rand der Terrasse beinahe bis zur Gartenmauer des Nachbargrundstücks. Einmal durfte der Sieger als Preis seiner älteren Schwester, der schönen Klara, einen Kuss geben. Als Walter ihr den Kuss allerdings auf den Mund drücken wollte, hob sie ruckartig ihre Knie in seinen Schritt und er schrie laut auf. Klara und Walter waren später ein Paar, jedoch nur kurz.

Die Nienhoffs wohnten in Münster, Frauenstraße 21, in einer gutbürgerlichen geräumigem Wohnung im Parterre. Außer ihnen lebten noch zwei weitere Familien in dem Haus – Overbergs und Uekötters mit ihren beiden Söhnen. Kalus Vater war Kirchenmusiker und Organist in der Liebfrauenkirche. Er war im Ersten Weltkrieg Soldat und kämpfte am Chemin de Dames und Kemmelberg an der Westfront. Aufgrund einer Gasverletzung kam er frühzeitig nach Hause. Friedrich Nienhoff schwieg lange über das Erlebte, als aber Hitler an die Macht kam, nahm er Karl Ludger in sein Zimmer und schilderte ihm detailliert das Grauen des Krieges.

„Was immer man dir Heldenhaftes aus dem Krieg erzählt, ist erstunken und erlogen. Du darfst es niemals glauben. Im Krieg gibt es keine Helden.“

In Bezug auf Hitler sagte er: „Dieser Mensch hält die Fackel in der Hand. Und er wird sie werfen.“

Seine Mutter, gut katholisch und kaisertreu, entstammte einem wohlhabenden Gestüt im Münsterland und liebte Pferde über alles. Magdalena Nienhoff konnte diesen ‚österreichischen Luftsack‘, wie sie Hitler nannte, schon aus ästhetischen Gründen nicht ausstehen. Nach dem Anschluss Österreichs war sie aber bereit seine Leistung anzuerkennen. Als die deutsche Wehrmacht in Polen einfiel, war jedoch damit Schluss und sie rückte politisch wieder enger an die katholischen Positionen ihrer Heldengestalt von Galen, dem Bischof von Münster, heran.

Kalu geriet äußerlich nach der Mutter, mit braunen Augen und noch dunklerem, gelocktem Haar. Seine Interessen galten jedoch ganz der Literatur und Geschichte, welche er mit seinem Großvater teilte. Der Nationalsozialismus war für ihn wie eine Art Abenteuerspielplatz, mit Lagerfeuer, Wandern und Krieg spielen. Man war stolz, jung zu sein, denn der Führer selbst hob die deutsche Jugend empor. Die HJ gehörte selbstverständlich dazu, auch wenn die wöchentliche ideologische Unterweisung für die meisten nervtötend langweilig war. Wenn Kalu aus dem Rasseunterricht erzählte, schüttelte sein Vater immer wieder den Kopf.

„Die Juden sind unser Unglück, so. so... Die Juden sind unsere älteren Brüder. Ohne Judentum, kein Christentum. Und der Unfug mit der Rasse, ja sind wir denn Hunde oder Pferde?“

Kalu verstand diese Feindschaft der Nazis nicht, glaubte aber auch nicht, dass es so schlimm werden würde. Die Helden seiner jungen Jahre waren Heinrich Heine, Joseph Roth und Stefan Zweig, allesamt jüdische Deutsche. Und seine erste große Liebe war eine Jüdin. Elana, die bildhübsche Tochter der Mendelsteins, einer Apothekerfamilie aus der Nachbarschaft.

Er war aus diesem Grund oft zu Besuch bei den Mendelsteins. Sie waren wohlhabend und sehr gastfreundlich.

Einmal war er am jüdischen Jom-Kippur-Fest zu Gast und Elana saß neben ihm. Sie schwieg die ganze Zeit, lächelte jedoch verlegen.

Als es zum Nachtisch jüdischen Honigkuchen gab, griff sie unter dem Tisch nach Kalus Hand und ließ sie nicht mehr los. Kalu durchströmte ein fast unerträgliches Glücksgefühl und schloss kurz die Augen. Elanas Mutter begriff, was vor sich ging und schaute beide verschmitzt an. Vater Mendelstein politisierte derweil unentwegt. Er war ein sehr patriotischer Mann. Im Weltkrieg erhielt er das eiserne Kreuz erster Klasse und den Versailler Frieden hielt er für eine Schande. Friedrich Ebert und seine Sozis waren für ihn schlichtweg Vaterlandsverräter. Kalu kam nun täglich, um Elana nahe zu sein. Ihre Liebe ließ sich nun nicht mehr verbergen und sie verbrachten Stunden auf ihren Zimmern in berauschender Zweisamkeit. Auch die Nienhoffs schlossen Elana in ihr Herz und so kamen sich beide Familien näher, nicht ohne misstrauische Blicke der Nachbarschaft. Aber man ließ sie in Ruhe. Noch.

Kalu bewunderte die riesige Bibliothek im Salon und noch mehr die gewaltige Briefmarkensammlung. Kalu durfte sie bestaunen, ja mehr noch. Jakob Mendelstein beauftragte Kalu, sie zu ordnen und zu katalogisieren. Er schätzte ihren Wert auf über 20 000 Reichsmark.

Eines Tages bat Herr Mendelstein Kalu darum, sie beim örtlichen Briefmarkenhändler in der Salzstraße zu verkaufen.

„Karl, sei so lieb, verkaufe du sie. Wir Juden dürfen das ja nicht mehr. Wir brauchen das Geld, jetzt, wo wir die Apotheke schließen mussten. Ich vertraue dir - es soll dein Schaden nicht sein.“

Er holte ein verstaubtes, dickes Album aus dem Tresor, das er noch nie gesehen hatte.

„Hier, das stammt von meinem Großvater. Er war in der preußischen Armee von 1864– 1872. Von allen Feldzügen hatte er Briefmarken mitgebracht. Aus Frankreich Österreich und den deutschen Kleinstaaten. Vielleicht ist es ja was wert.“

Kalu stockte der Atem. „Herr Mendelstein, das ist ja ein Vermögen. Sie können es mir unmöglich schenken.“

„Ach Karl, in diesen Zeiten ist Geld sicher nützlich, aber nicht wichtig. Dir steht die Welt noch offen beziehungsweise euch. Pass auf meine Elana auf.“

„Bei Gott, das werde ich.“

„Adonái elohénu, adonái echad. Der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einzig.“

Vater Mendelstein war eigentlich nicht sehr religiös, schien aber in diesem Sommer 1938 sehr besorgt zu sein. Er sollte Recht behalten.

Denn eines Tages waren sie weg. Von einem Tag zum nächsten. Spurlos. Und keiner konnte oder wollte ihm über den Verbleib der Familie Mendelstein Auskunft geben.

Kalu war verzweifelt. Wo immer er nachfragte, stieß er auf eisige Gleichgültigkeit oder schadenfrohe Missachtung. Seine unschuldige Welt zerbrach nun für immer. Elana, Elana ...

Der Zug verlangsamte sein Tempo, vermutlich um Kohle aufzuladen. In einem mit heruntergekommenen, ausgemergelten und mumifizierten männlichen Gestalten überfüllten Viehwaggon, trugen alle zerschlissene Wehrmachtsuniformen. Kalu schob die schwere Eisentür auf und ein befreites Stöhnen begleitete das schleifende Geräusch. Er zündete sich eine halb aufgerauchte Zigarette an, die sein quälendes Hungergefühl etwas mildern sollte.

„Hey Kalu,“ rief eine der Gestalten aus dem schweißgetränkten Nebel des Waggons, „hast du vielleicht noch etwas von dem Stalinhäcksel?“

Er schaute in die Packung mit der kyrillischen Aufschrift „Belomorkanal“, zählte noch drei Exemplare und zog eine heraus.

„Hier, das Zeug ist wahrlich Stalins Rache – schlimmer als 10 Jahre Gulag.“

„Na ja, er raucht`s ja selbst.“

„Dann kann es ja auch nicht mehr so lange mit ihm dauern.“

Schwaches Lachen kam aus dem Halbdunkel und erlosch sofort wieder. Kalu blickte auf die weite baumlose Landschaft, in der sich ein Heer von Landarbeiterinnen über das abgeerntete Feld hermachte und Strohballen formte. Eine der Frauen erblickte den Zug und sah, was er transportierte. Sie rief den anderen etwas zu, ballte die Faust und schrie wutentbrannt etwas in Kalus Richtung. Er verstand es nicht, aber die Wörter „Nemec“ und „Faschist“ hörte er deutlich heraus. Sie legten augenblicklich ihre Arbeit nieder und liefen auf den Zug zu. Auf dem Bahndamm blieben sie stehen, griffen sich Steine und schleuderten sie auf den Zug. Kalu nahm die Wut, aber auch das Leid in ihren Gesichtern und Stimmen wahr. Nur eine Frau nicht, die ihn stumm ansah und ihn zutiefst erschütterte. Eine junge Frau mit alten Augen, eine Frau, die ihr Leben vor sich hatte und es dennoch scheinbar abgeschlossen hatte. Ein Blick, zu müde für Wut, aber voller fragender Verzweiflung.

„Naswanje?“, rief Kalu ihr reflexhaft zu, „dein Name?“

„Helena, … Helena Kirschfeld.“

Überrascht von seiner Neugier und ihrer Reaktion, zog er sich ins Innere des Waggons zurück und ließ sich verwirrt ins Stroh fallen. Hatte sie Helena gesagt, nicht doch Elana? Sein Herz krümmte sich.

„Na bravo,“ hörte er eine Stimme aus der Gruppe sagen, „das war ja ein ziemlich scharfer Feger.“ Dann spuckte er aus und sagte leise: „Judenschlampe.“

Kalu sprang wutentbrannt auf und griff sich den sichtlich Irritierten.

„Verdammtes Arschloch, hast du es noch nicht begriffen? Wo sind wir hingekommen?“

„Ach, leck mich ...“

Der im Unterhemd stehende hünenhafte, überaus stolz und arrogant blickende Krieger streckte seine Arme aus und gab seine Tätowierung unter dem linken Oberarm preis – Blutgruppe 0. Er war bei der SS.

Hagen Kappler, SS-Oberscharführer bei der SS-Panzergrenadierdivision „Das Reich“, ragte in jeder Hinsicht aus der zerlumpten Schar ehemaliger Soldaten heraus. Er war 1,85 Meter groß, hatte grüne Augen und schmale Lippen. Sein scharfkantiges Gesicht wurde überragt von einer langen, spitzen Nase. Das Kinn war auffällig zweigeteilt in zwei Höcker. Die harte Erscheinung seines Profils wurde allerdings konterkariert durch seinen melancholischen Silberblick und seine weiche Stimme. Er geriet 1943 bei Prokhorovka, im Rahmen des Unternehmens ‚Zitadelle‘, in Gefangenschaft. Er war in verschiedenen sowjetischen Lagern in Sibirien und hatte offenbar seine Treue zu Führer und Reich nicht verloren. Überhaupt erstaunlich, dass er die Gefangenschaft überlebt hatte. Er war der Einzige im Waggon, der sich regelmäßig rasierte und sein rotblondes Haar mit einem Seitenscheitel versah.

„Mensch, jeden Morgen verschiebt der seine Divisionen an Haarläusen uff’m Kopp und lässt sie dann noch Heil Hitler rufen.“

Dietmar Krause, Arbeiterspross aus dem Berliner Wedding, war der Clown unter den Uniformierten. Untersetzt und kahlköpfig, aber mit Piratenbart und pockennarbigem Gesicht versehen, war er der Einzige, der den SS-Mann unablässig provozierte. Ihm blitzte der Schalk aus den Augen und seine Schlagfertigkeit war beinahe legendär. Es hieß, dass selbst der Tod seinen Spott fürchte und daher einen großen Bogen um ihn machte.

„Sackratten hat er jedenfalls keene, denn die hätten bei ihm ja eh‘ nichts zu beißen, stimmt‘s Hagen?“

Der verzog nur verächtlich die Mundwinkel, während allgemeine Heiterkeit herrschte. Kappler war weitgehend isoliert, bemühte sich aber auch nicht um Anschluss. Nur ein Unteroffizier namens Erhard Kähler unterhielt sich gelegentlich mit ihm. Die Themen kreisten um Heimat, Frauen und gelegentlich um Kriegserlebnisse. Nichts Besonderes, denn damit waren alle beschäftigt. Nur eines Abends nicht, als die beiden sich im Dunkeln vergewisserten, dass alle im Waggon schliefen und sie betont leise tuschelten. Kalu, der verhältnismäßig dicht bei den beiden lag, spitzte die Ohren, tat so, als ob er schlief und vernahm einige Gesprächsfetzen.

„Erhard, was hast du eigentlich vor dem Krieg getrieben?“

„Ich war beim Landgericht in Saarlouis im mittleren Dienst.“

„Also bei der Justiz.“

„Na ja, als Justizwachtmeister, zum Richter hat es nicht ganz gelangt. Und du Hagen?“

„Landwirt, in Ebstorf bei Uelzen.“

„Aha, Lüneburger Heide!“

„Weißt du, wir waren mit die Ersten, die treu zum Führer standen. Darauf sind wir ‚Heidschnucken‘ tüchtig stolz.“

„Und wieso bist du bei der SS gelandet?“

„Na, wegen der Weiber. Die waren ja auf die schwarzen Uniformen ganz scharf. Da konntest du nach Schweinestall stinken, das war denen scheißegal.“

Offensichtlich waren sie vor Jahren gemeinsam an einem Ort in der Ukraine stationiert, den Kalu noch nie zuvor gehört hatte: „Babi Yar“.

Er hörte Kappler sagen: „Die haben uns vorher schon gesagt, dass das eine ziemliche Sauerei wird und das war‘s dann ja auch.“

„War bei uns auch so. Da kam irgendwann mal so ein Hauptmann und hat nach Freiwilligen gefragt. Im Hinterland müsse man mal mit dem Partisanenpack aufräumen. Anschließend gäbe es verlängerten Sonderurlaub, hieß es. Das dann aber auch Weiber und Kinder dabei waren, …“

„Dann stehst du da mit deinem Karabiner fünf Meter vor dem Gesindel, alle nackt, auch Weiber und Kinder...und dann… buff… kullerten sie in die Grube. Wenn jemand noch lebte, gab es sofort hinterher den Gnadenschuss. Man ist ja kein Unmensch. Na ja, erst kotzte noch, aber irgendwann … du weißt schon.“

„Ich saß hinter einem MG, da kannst du auch mal die Augen zumachen, aber das Geschrei...“

„Wir haben die Drecksarbeit gemacht, weil es notwendig war. Aber Undank ist der Welten Lohn. Irgendwann wird man es einsehen.“

„Das bleibt zu hoffen.“

„Der Volksgenosse hier, das scheint mir so ein Judenfreund zu sein, wir sollten aufpassen.“

„Ach was, der weiß doch nichts und überhaupt: wer würde ihm das glauben.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher.“

Kalu lief es kalt den Rücken runter. Sie meinten ihn und sie hatten Ungeheuerliches zu verbergen, das war ihm klar.

Plötzlich wurde Kalu schlecht und er rannte zum Blecheimer hinter dem Vorhang und erbrach sich. Erschöpft kehrte er zu seinem Lagerplatz zurück.

„Na, musstest wohl gerade an dein Judenpüppchen denken.“

„Nein, Hagen. Ich habe eben von dir geträumt.“

Er konnte sehen, wie er seine Faust ballte, aber Erhard hielt ihn zurück und flüsterte:

„Lass gut sein, Hagen, bringt doch nichts.“

So entspannte sich die Situation und Kalu ließ sich auf das Stroh fallen. Er achtete nicht mehr auf das Gemurmel neben ihm. Die junge Frau vom Bahndamm ging ihm nicht aus dem Sinn. Warum hatte er sie nach ihrem Namen gefragt und wieso hatte sie ihm spontan geantwortet? Jetzt aus der Erinnerung wurde alles schemenhaft um ihn herum. Ein Riss schien sich durch den Moment zu ziehen, der alles Umliegende verschluckte. Er fand keine Antwort. Dann übermannte ihn die Müdigkeit und er schlief ein.

Am nächsten Morgen weckte ihn das Schnaufen des Zuges und durchdringende Bremsgeräusche. Das Licht des frühen Morgens versuchte sich durch die Ritzen der Verkleidung des Waggons zu schleichen und das beständige zarte Auf- und Abklingen des Lerchenzwitscherns erfüllte die Luft. Kalu schob die Tür vorsichtig auf, damit frische Luft den beißenden Gestank verjagen konnte. Der Zug fuhr ein in das Schienengeflecht eines großen Bahnhofs. Auf einem rostigen Schild konnte er den Namen „Brest-Litowsk“ in kyrillischer und lateinischer Schrift lesen. Nach neun Tagen scheinbar endloser Bahnfahrt, hatte er erstmals das Gefühl, dass der Krieg zu Ende geht und die Sehnsucht nach zuhause sich erfüllen wird. Aber was würde ihn dort erwarten?

Zunächst galt es aber abzuwarten, denn das Überwechseln auf die geringere Spurbreite beanspruchte eine gewisse Zeit.

Ein polnischer Bauer kam mit einem Panjewagen vorbei und verkaufte Tabak und Wodka.

Kalu holte ein paar Rubel aus seinem Mantel, die es nach der Entlassung für jeden Gefangenen gab und hielt sie dem Mann hin.

„Papierosy, prosza.”

Der Bauer war sichtlich erfreut, dass ein Deutscher etwas auf Polnisch sagte und gab ihm gleich zwei Packungen Zigaretten.

„Deutschland kaputt, Hitler kaputt, aber jetzt besser.“

„So soll es sein, vielen dank. Dziekuje.“

Kalu gab ihm seine restlichen Rubel und schüttelte ihm die Hand. Dieser wollte sie gar nicht mehr loslassen und überschüttete ihn mit einem polnischen Wortschwall und Segnungen. Schon erstaunlich, dachte er, wie freundlich diese Menschen uns Deutschen nach all den fürchterlichen Jahren noch begegnen.

Kalu zündete sich eine neue Zigarette an und sog den Rauch ein, der ihm milder und irgendwie vertrauter vorkam.

Die Stimmung im ganzen Zug wurde lebhafter und lockerer.

„Vielleicht gibt es hier ja irgendwo Weiber. Zeit genug hätten wir ja.“‘

„Mensch, endlich mal wieder ein herrlicher Morgenfick, dafür würde ich jeden Schweinebraten stehen lassen.“

„Momentan kannst du dir beides nicht leisten, Hermann. Und überhaupt schab’ dir erstmal den Schimmel von deiner Bockwurst.“