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David Scott-Moncrieff war einer der ganz großen Auto-Exzentriker. Diese von Halwart Schrader herausgegebene Biografie ist zugleich ein Abenteuerroman und ein Buch, das Liebhaber klassischer Automobile - so wie David Scott-Moncrieff (Jahrgang 1907) selbst einer war - begeistern wird. Das Leben dieses Gentleman - zeitweilig tituliert als "weltgrößter Rolls-Royce-Gebrauchtwagenhändler" und von seinen Freunden "Bunty" genannt - verlief äußerst kurvenreich. Vom Kompressor-Mercedes SSK - in Venedig einem Waffenhändler abgekauft - bis zum fragilen Bugatti-Rennwagen oder einem Dampfmobil Baujahr 1905, hat der automobilsüchtige Bunty so ziemlich alles Ungewöhnliche auf der Straße bewegt. In Großbritannien war er schon zu Lebzeiten eine Legende und im Rest der Welt liebte und fürchtete ihn nicht nur seine Rolls-Royce-Klientel. Wäre der Geschichtenerzähler Bunty zur Bühne gegangen, hätte er wohl allabendlich eine Rekordzahl von Vorhängen bekommen.
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Seitenzahl: 344
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Halwart Schrader, »Bunty – Erinnerungen an einen Gentleman aus bester schottisch-irischer Familie«
© 2014 Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster
Gesetzt aus der Minion Pro. Satz: Lydia Kersting
Druck und Bindung: Monsenstein und Vannerdat
ISBN 978-3-942153-24-9
www.monsenstein-und-vannerdat.de
eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net
BUNTY
Erinnerungen an einen Gentleman aus bester schottisch-irischer Familie
mit Vergnügen notiert vonHalwart Schrader
MONSENSTEIN & VANNERDAT
Inhalt
Vorwort
Besuch aus England. Oh Tannenbaum!
Chips ohne fish
»Call me Bunty«
Warum nicht ein Rolls-Royce …?
Tapfer und des Schwimmens kundig
Von der Mutter die Autoleidenschaft
Da flogen schon mal Tintenfässer
Im Dinnerjacket der Razzia entwischt
Onkel Horace’ verderbender Einfluss
Lieferant des Adels und vornehmer Stände
Kein Astloch für einen Karussellpferdarsch
Kleiner Wunsch des Maharadschas
Talent zum Katastrophen-Stuntman
Spaß mit Loreley auf dem Rücksitz
Ein Rennwagen für einen One-night-stand
Ein Gentleman möchte Stalin warnen
Küss die Hand, Herr Hitler!
Bunty denkt ans Heiraten
Ewige Liebe zu Mercedes
Mädchenhemden brennen heller
Londons Verkehr zum Erliegen gebracht
Junge Dame aus gutem Hause
Der Spion mit dem Diamanten in der Seife
Mit einem Zwölfzylinder ins Exil
Hinter, vor und zwischen den Fronten
Nur eine zweizinkige Gabel
Bugatti statt Motoryacht
Die Reise nach Skandinavien
Buntys erstes Buch
Nur nicht aufgeben!
Stalin musste sich gedulden
Einmal Bugatti, immer Bugatti
Flirt mit Daimler-Benz
Buntys Leben auf dem Lande
Hühnerzüchter, Ferkelmäster, Mercedesträumer
Bill Boddys Besuch beim englischen Landadel
Mit dem TVR durch Kuhfladen
Ein Herz für Lagonda
Ein faszinierender, unerträglicher Boss
Life’s Handicap (nach Rudyard Kipling)
Der weinende Wurm, Büroklammern im Bier
Fünfhundert Zehndollarnoten in der Hose
Unterwegs mit der flotten Charlotte
Leichenwagen sterben nicht
Kein Kinovergnügen
Would you be a sweety?
Timothy, der Glasverzehrer
Der Botschafter britischer Automobilkultur
Chance verschlafen
Katastrophe an der Zollkontrolle
Das Echo von Umtata
Mit dem Abschleppwagen zur Kirche
Captain Bunty
Nach Wien, der Freudenhäuser wegen!
Bunty entdeckt seine Passion für Citroën
Kleiner Grenzverkehr
Kein Rolls-Royce auf dem Südsee-Atoll
Im Gullwing durch Australien
Mit dem Busen auf Frühzündung
Je öller, je döller
Das Mädchen Rosemary
Als Pflegefall nach Indien
Die Augen, der Kreislauf, das Gedächtnis
Auch das noch: Peking-Paris
Keine Hilfe vom hilfreichen Drachen
Ein letzter Traum geht in Erfüllung
»We never close!«
Diese Buch widme ich Hazel Robinson, die ihren Chef so sehr verehrte, ihn ein halbes Leben lang mit Tapferkeit ertrug und ohne deren umfangreiche, mir liebenswürdigerweise zur Verfügung gestellten Aufzeichnungen vieles aus Buntys Dasein nicht überliefert worden wäre.
Die Natur bringt schon wunderliche Käuz’ ans Licht!
(Shakespeare, der Kaufmann von Venedig, 1.1)
Vorwort
Dieses Buch hätte Bunty am besten selbst geschrieben. Wenigstens ist er indirekt Mitverfasser, denn für das Manuskript zu diesem Buch habe ich viel von der Substanz seiner Tagebucheintragungen, seiner Briefe und anderer Aufzeichnungen verwendet, die ich von Bunty besitze oder die mir aus anderen Quellen vorlagen.
Was Bunty bei vielen Gelegenheiten erzählt oder in Briefen geschrieben hat, versuche ich so nahe wie möglich am Originalton wiederzugeben.
Einen großen Teil der Informationen über Bunty und etliche Geschichten aus Buntys aktivsten Lebensjahren verdanke ich Hazel Robinson. Ihr werden Sie auf den folgenden Seiten häufig begegnen. Hazel vertraute mir Aufzeichnungen an, die sie über ihren Chef wie Protokolle zu führen pflegte. Sie bot ihr Elaborat mit dem Titel »Would you be a Sweety« einigen Verlagen in England an, doch ohne Erfolg: Fast schien es, als sei die Figur der Hauptrolle, um die es ging, von ihr ausgerechnet mit jemandem besetzt worden, den die Lektoren nicht leiden konnten. Wir werden es nicht (mehr) erfahren.
Meine zahlreichen Begegnungen mit Bunty, bei denen er stets kuriose, aufregende, haarsträubende Begebnisse zum Besten gab, manchmal leider nur bruchstückhaft, dafür aber sehr detailliert, Tagebuch- und andere Aufzeichnungen sowie das, was Hazel festgehalten hat, ergaben also den Stoff für dieses Buch. Buntys Neigung zur Mitteilsamkeit werden alle, die ihn kannten, sicher bestätigen; daher wissen wir eine ganze Menge über ihn. Es war jedoch nicht leicht, die vielen Übertreibungen und ins Burleske gehenden Ausschmückungen seiner Storys auszufiltern, um am Ende das übrig zu behalten, was sich wirklich zugetragen hatte. Hier und da mögen die Schilderungen bestimmter Begebenheiten sich immer noch als übertrieben darstellen, oder auch untertrieben, je nachdem. Nicht in allen Fällen schafften separat geführte Gespräche mit Geschäftspartnern, Freunden, Mittätern, Opfern oder anderen Zeugen seiner Handlungen (im Laufe der Jahre hatte ich das Vergnügen, viele von ihnen kennen zu lernen) eindeutige Klarheit. Leider waren gerade jene Zeitgenossen, in deren Gesellschaft Bunty die interessantesten Abenteuer erlebt und Katastrophen überlebt hatte, zum Zeitpunkt seiner Kolportage längst nicht mehr am Leben, so dass ich keine Gelegenheit hatte, mir ihre Version der einen oder anderen Geschichte vortragen zu lassen.
Die Tatsache, dass Bunty teils schottischer, teils irischer Herkunft war, erklärt manche Facette seiner Wesensart. Buntys bürgerlicher Name lautete David William Hardy Scott-Moncrieff. Wer ihn jedoch mit »schön, Sie wiederzusehen, Mr. Scott-Moncrieff« ansprach, etwa auf einer Party oder einer Beerdigung, oder wer am Telefon nach »meinem guten alten Freund David« fragte, enttarnte sich dadurch als jemand, der ihm nie zuvor begegnet war. Mancher, der von Bunty – in welchem Zusammenhang auch immer – gehört hatte, suchte bei passender oder unpassender Gelegenheit die Bekanntschaft mit ihm und tat sich dabei wichtig, wollte mit ihm gesehen werden und biederte sich an. Meistens durften solche Leute dann Buntys Rechnung im Restaurant, in der Werkstatt oder an der Tankstelle begleichen, wollten sie ihr Gesicht nicht verlieren.
Einige Male, in den frühen Perioden seines achtzigjährigen Lebens, fiel Bunty in ein tiefes Loch. Dann war er wirklich beinahe am Ende, hatte keinen Penny mehr und musste sich dringend etwas einfallen lassen. Was dem passionierten Optimisten aber keine Schwierigkeiten bereitete, denn an Einfällen, ein solches Tief zu überwinden, mangelte es ihm nie. So gesehen, sorgte also ein gütiges Schicksal dafür, dass er – ganz im Gegensatz zu der berühmten Scheibe Frühstücksbrot – stets mit der Marmeladenseite nach oben auf dem Boden landete. Bunty fand immer jemanden, der im richtigen Augenblick Mitleid mit ihm hatte, ihm eine dramatische Geschichte abkaufte und glücklich war, dem armen Kerl aus der Patsche helfen zu dürfen.
Freiwillige oder auch unfreiwillige Opfer seines Schnorrertums wurden also nicht nur Anbiederer, sondern auch arglose Sympathisanten und viele andere mildtätig veranlagte Zeitgenossen, zu denen wohl auch ich gehöre. Wir dürfen uns zugutehalten, einen gewissen Teil zur Bekämpfung der Armut auf dieser Welt beigetragen zu haben, indem wir den ärmsten aller armen Rolls-Royce-Händler Großbritanniens vor Hunger oder Durst oder zeitweiliger Obdachlosigkeit, kurz: vor irgendeiner schlimmen englischen Krankheit bewahrten (von einigen anderen körperlichen Gebrechen blieb er leider nicht verschont). Bunty gefällig zu sein und auch mal für ihn bezahlen zu dürfen, war letztlich ein Äquivalent für all das, was der fröhliche Entertainer seiner Gesellschaft zu bieten hatte. Er wusste sich stets zu revanchieren. Bunty gefiel sich in dieser Rolle natürlich selbst gut.
Einige seiner Geschäftspartner fanden ihn allerdings weder lustig noch liebenswert. Das waren solche, etwa im fernen Amerika, die von ihm einen Rolls-Royce erwarben, ohne das Auto vorher besichtigt zu haben. Die aber auch ungeübt im Dechiffrieren von Kleinanzeigentexten sowie der irrigen Ansicht waren, »the best car of the world« sei in jedem Erhaltungszustand, selbst als exhumierte Moorleiche, stets und immer eben das allerbeste Auto der Welt.
Er hat zwar nie davon gesprochen, aber Bunty war vermutlich davon überzeugt, dass die Fülle seiner merkwürdigen Erlebnisse und gewagten Unternehmungen, seiner überlebten Katastrophen, seiner kuriosen Begegnungen und galanten Abenteuer, seiner geschäftlichen Vabanquerien und einfallsreichen Improvisationen zu Wasser und zu Lande ausreichend Stoff für ein amüsantes, sogar lehrreiches Buch abgeben würde. Und ein Untertitel, der ihn als einen Gentleman aus bester schottischer Familie bezeichnet, der hätte ihm bestimmt gefallen.
Auch Averil – sie verstarb im März 2006 – sowie Humphrey Scott- Moncrieff schulde ich Dank für so manches Gespräch mit der Darlegung skurriler Sachverhalte und für die mir mit großer Liebenswürdigkeit gewährten Einblicke in diverse Aufzeichnungen. Einen Teil der Fotos lieh man mir aus Buntys Nachlass; einige hatte er mir indessen schon zu Lebzeiten überlassen.
Halwart Schrader
Eine Klarstellung: Träger des traditionsreichen Doppelnamens Scott-Moncrieff sind besonders in Schottland zahlreich anzutreffen, aber auch anderswo in Großbritannien, ebenso in Australien, Kanada und in den USA. Unter ihnen waren und sind angesehene Ärzte, Juristen, Literaten, Wissenschaftler. Wer sich die Zeit nimmt und im Internet nachschaut, findet bestätigt, dass es viele Scott-Moncrieffs zu Bekanntheit gebracht haben.
Mit keinem anderen Namensträger David Scott-Moncrieff als mit »Bunty«, seiner Frau Averil, geborene Sneyd, und deren beiden Söhnen Humphrey und Ambrose habe ich je etwas zu tun gehabt, und niemand als die Genannten sind im Kontext mit meinen Aufzeichnungen gemeint. Ich versichere außerdem, dass es mir fern liegt, mit diesem Versuch der Biografie eines ungewöhnlichen Menschen jemanden auch nur im Geringsten zu diffamieren. Auch die Nennung der Namen jener Personen, die in Buntys Lebensgeschichte eine Rolle spielen und im Nachfolgenden unverschlüsselt genannt werden, geschah in dokumentarischer, keineswegs etwa wertender Absicht. Wo immer zufällige Namensgleichheiten mit anderen Personen auftreten, was ja niemals auszuschließen ist, bitte ich all jene um Vergebung, die sich in einem solchen Falle möglicherweise betroffen fühlen. Das Gleiche gilt für Missinterpretationen, sofern sie sich aus dem einen oder anderen zitierten Gespräch ergeben haben sollten, für die eine oder andere Verwechselung, Auslassung, Ungenauigkeit oder Fehlzuordnung. Um Bunty zu zitieren: »Es ist nicht schwer zu entschieden, was in ein Buch hinein kommen soll. Schwer ist es, zu entscheiden, was nicht hinein kommen soll …«
Halwart Schrader
Besuch aus England. Oh Tannenbaum!
Ende Oktober 1970. An einem jener sonnig-goldenen, föhnig-warmen Herbsttage, die den Münchner Biergärten noch einmal eine unerwartete Belebung bescheren, gleichwohl unwiderruflich den Saisonabschluss markieren, holt mich, der ich nicht in einem Biergarten, sondern am Schreibtisch sitze, das Klingeln des Telefons aus meinen Gedanken. Noch ehe ein Wort aus dem Hörer an mein Ohr dringt, weiß ich, wer der Anrufende ist: Bunty. Am ersten Schnaufer kann man das wahrnehmen. Ausnahmsweise lässt er sich nicht von seiner Sekretärin Hazel verbinden oder sie um einen Rückruf bitten; er hat es aus wichtigem Anlass offenbar vorgezogen, meine Nummer selbst zu wählen.
»Mein lieber guter Freund, this is old Bunty speaking. Kannst du mich verstehen?«
Ja, natürlich, Bunty! Was kann ich für dich tun? Wolltest du nicht im Herbst nach München kommen …?
»Yes, indeed. Wie schön, dass du das nicht vergessen hast. Ja, ich werde in München Station machen auf meiner Reise nach Italien. Bei dieser Gelegenheit würde ich mit Averil gern das Oktoberfest besuchen und benötige also ein Zimmer für zwei Nächte. Aber denk’ daran, dass wir fürchterlich sparen müssen, also finde bitte das billigste Hotelzimmer, das es in München gibt. Am Sonnabend werden wir im Laufe des Tages eintreffen.«
Bunty, die Wies’n endet immer am ersten Wochenende des Oktober, und das ist jetzt fast drei Wochen her. Sorry, no Oktoberfest!
Er scheint überhaupt nicht zuzuhören. »Ich freue mich schon sehr darauf, you know, ich erinnere mich nämlich gut an das erste Oktoberfest in München, das ich erlebt habe, das muss 1938 gewesen sein, aber das Bier wird immer noch so gut sein, denke ich! Du wirst es doch nicht schwer haben, das Zimmer zu besorgen? Damals wohnte ich in einem Hotel, das hieß Tannenbaum, das war sehr günstig, wirklich. Finde doch bitte heraus, ob es das Haus noch gibt. Sag’ den Leuten, der komische Engländer von 1938 käme wieder einmal nach München, sie werden sich gewiss an ihn erinnern, und er würde sich glücklich schätzen, wenn er wieder das billige kleine Zimmer zur Straße hinaus …«
Ich versuche, Bunty zu unterbrechen, aber es gelingt mir nicht. Ich möchte ihm nämlich gerne mitteilen, dass er und seine Gattin Averil bei uns im Wohnzimmer nächtigen könnten, theoretisch jedenfalls, denn praktisch geht es derzeit nicht, weil wir bereits Logierbesuch in Aussicht haben, leider.
»Also bis Sonnabend, und ich werde dann gleich zum Tannenbaum fahren, und dann geht’s ab zur Walpurgisnacht auf dem Oktoberfest, hi-hi-hi …«
Walpurgisnacht: Eines der Lieblingswörter Buntys, die er in fast akzentfreiem Deutsch hersagen kann, und er bezeichnet damit im Allgemeinen eine abendliche Zechtour in deutsch-fröhlicher Runde.
Bunty ruft selten an, lieber schreibt er Briefe. Wenn wir schon fernmündlich kommunizieren, dann bin entweder ich es, der über den »Operator« Churnetside 300 anwählen lässt (Selbstwählen ins Ausland ist noch Zukunftsmusik), oder ich erhalte von Hazel einen freundlichen, aber knapp gehaltenen Anruf des Inhalts, ich möge »um die tea time« bitte zurückrufen, Bunty habe etwas auf dem Herzen, nur sei er momentan nicht da. Dann weiß ich, dass er neben ihr hockt und ihr dies zu sagen auftrug.
Buntys Vorfahren stammen aus Schottland. Und Schotten sind für ihre Sparsamkeit bekannt. Schon vor Erfindung des Telefons waren sie sparsam. Bunty verleugnet seine Herkunft keineswegs, siehe Hotel Tannenbaum.
Ja, das Hotel Zum Tannenbaum existiert noch. Ich reserviere also das kleine Zimmer nach vorne ’raus für seine Frau und ihn und erfahre, dass es in der Großstadt München doch tatsächlich möglich ist, im Jahre 1970 noch für 24 Mark (ohne Frühstück, versteht sich) in einem so genannten Hotel zu übernachten.
Buntys und Averils Anreise vollzieht sich in einem Auto Baujahr 1926. Es ist für die beiden das Selbstverständlichste auf der Welt, in Fahrzeugen dieser Art durch Europa zu kutschieren. Ihr italienischer O.M. bietet so wenig Gelegenheit zur Mitnahme von Gepäck, dass zwei mittelgroße Koffer, durch Lederriemen gehalten, auf dem Heck des Zweisitzers befestigt werden müssen und ein Reserve-Benzinkanister an der linken Wagenseite verzurrt ist.
Bunty ist enttäuscht, als er erfährt, dass einer seiner Gründe, auf seiner Reise von Rock Cottage in Staffordshire nach Santa Margherita in München Station zu machen, entfallen ist: »Du hättest mir sagen müssen, mein Junge, dass euer Oktoberfest vorzeitig abgebrochen wurde. Oh, es war doch nicht wegen der Suez-Krise? Die Amerikaner reagieren neuerdings auf alles auch wirklich sehr empfindlich. Euch hätten sie da raushalten sollen. Well, meine persönlichen Erfahrungen mit den Amerikanern sind da sehr unterschiedlich, also wir hatten erst kürzlich Besuch von einem Mafiaboss aus Chicago, weißt du, das muss ich dir gleich mal erzählen …«
Das Oktoberfest wurde durchaus nicht abgebrochen, Bunty, es endet immer am ersten Oktober-Wochenende, und was die Suez-Krise betrifft, die ist doch längst vorüber …
Keiner lässt den anderen ausreden. »Eh’ ich es vergesse, mein Lieber, ich muss noch heute zum Tanken fahren. Von einem Ende der Suez-Krise habe ich noch nichts gehört, und falls es nahe sein sollte, wird das Benzin auch nicht billiger. Ich habe mich bereits nach der preisgünstigsten Tankstelle in München erkundigt. Sie liegt in einem Stadtteil, der heißt Germering. Du weißt doch sicher, wo das ist, mein Lieber? Hättest du die Güte, mich dorthin zu begleiten?«
Germering spricht er etwa wie »Germany« aus. Ich bekomme zuerst gar nicht mit, wo in Germany er zum Tanken hinfahren will. Aha, Germering! Nein, die Güte ihn zu begleiten möchte ich ausnahmsweise nicht haben, denn für mich steht heute noch Dringendes zu erledigen an, zumal daheim Logierbesuch meine Anwesenheit erfordert, und außerdem liegt Germering sehr weit weg vom Hotel Zum Tannenbaum, so dass es sich der Ersparnis wegen kaum lohnen würde, eigens zum Tanken die vielen Kilometer dorthin zu fahren. Ich rate Bunty ab – was ihn in seinem Vorhaben nur bestärkt. Und er bringt es tatsächlich fertig, mich doch zu überreden, mitzufahren, trotz meines anfänglichen Sträubens, aber er weiß, wie er mich an meiner schwächsten Stelle packen kann: »Selbstverständlich fährst du den Wagen, mit so etwas verstehst du doch umzugehen, nicht wahr?« Bunty ist schließlich im Bilde, dass ich einen 1931er Lagonda und einen 1929er Riley besitze und Autos dieser Kategorie mindestens ebenso gern fahre wie er selbst.
Buntys Bedauern, dass er im Hotelzimmer seine Geldbörse habe liegen lassen, ist meisterhaft gespielt. Dem Tankwart ist das, was Bunty diesbezüglich vorzutragen hat, völlig wurscht, er versteht dessen Deutschenglisch ohnehin nicht und wendet sich an mich: »Zweiundvierzig fünfunddreißg. Eine Quittung?«
»Du musst so gut sein und dem freundlichen Herrn erklären, warum du mir den Betrag auslegst und das Benzin bezahlst, mein Guter, es ist mir nämlich schrecklich unangenehm, zumal ich noch das Zigarrengeschäft in der Perusastraße aufsuchen möchte, dort gab es schon 1933 so wunderbare Havannas, ich hatte damals meinen Mercedes mit kochendem Kühler vor jenem Geschäft abstellen müssen …« Buntys Augen blitzen erwartungsvoll, sein zottiger Schnauzbart hüpft auf und nieder.
Mir ist vollkommen klar: Die Füllung des Tanks und des voluminösen Reservekanisters versteht Bunty als eine (wenn auch nicht eingestandene) Verpflichtung seitens des Gastgebers. Ich bin ja keineswegs das erste Mal mit Bunty zusammen. Wir kennen einander seit gut fünf Jahren. Aber seine Tankstellenrechnungen habe ich bisher noch nie bezahlen dürfen – zum Glück, denn wenn er mit einem seiner Rolls-Royce-Veteranen auf Reisen ist, mit seinem großen Vauxhall 30/98 oder mit seinem schokoladenbraunen Bentley 3.5 Litre namens Charlotte, dann gute Nacht: Das Fassungsvermögen der Behältnisse in jenen Autos ist mindestens doppelt so groß wie das eines zweisitzigen O.M. Roadsters.
Perusastraße: Sechs Havannas zu je vier fünfzig und sechs weitere zu zwei zwanzig. Es ist Buntys Walpurgistag!
»Das Geschäft ist genau so, wie ich es in Erinnerung habe,« lautet Buntys Kommentar beim Hinausgehen. »Nur hatten sie damals nicht so schwule Verkäufer, hi-hi-hi.« Den O.M. haben wir im Halteverbot abgestellt, wo auch sonst, und es wartet schon eine Politesse neben ihm, als Bunty und ich uns nähern. Bunty scheint sie gar nicht zu bemerken, oder er will sie einfach nicht wahrnehmen, und ich schaue ebenfalls angestrengt woanders hin, damit es so aussehen möge, als hielt ich sie für eine Postbotin oder irgend eine andere Uniformträgerin, zumal die Dame uns auch nicht anspricht, und befleißige mich eines sehr englischen Englischs, als ich dem älteren, hinkenden und seufzenden Herrn im abgewetzten braunen Cordanzug auf den Beifahrersitz dieser antiken, reichlich schmutzigen und Staffordshire-Kennzeichen versehenen Fahrmaschine hieve – are you allright, Sir? Ooouh, we will manage it, won’t we, Sir? Of course we will, here we gooouh! –, mich hinter das Lenkrad klemme und durch das Betätigen des Anlasserknopfs am Armaturenbrett dem Motor zu einer Lärmentfaltung verhelfe, die das arme Mädchen mit dem schicken Dienstkäppi nicht nur zwei Schritte zurückschnellen lässt, sondern auch von seinem Vorhaben abbringt, einen Strafzettel auszuschreiben.
»Hast du sie gesehen, die süße kleine Zuckermaus mit dem Kugelschreiber, hi-hi?« krächzt Bunty herüber, als wir vor dem Tannenbaum – diesmal legal – parken und lässt vor Vergnügen seinen Schnauzbart wackeln.
»Du musst die meter maids glattweg ignorieren, selbst die besonders hübschen. Ich habe noch nie ein Ticket bezahlen müssen. Aber eine mal in den Po gekniffen, hi-hi-hi. Und sogar das hat nichts gekostet. But don’t tell Averil, please …«
In der Münchner Innenstadt einen einigermaßen wertvollen Autoveteranen über Nacht einfach am Straßenrand zu parken, hätte eine böse Überraschung zur Folge haben können. Bunty hatte jedoch Vertrauen in bayerische Spitzbuben, falls es solche überhaupt gäbe: »Die würden doch eher einem teuren Porsche die Antenne verbiegen als so unfreundlich zu sein, einem klapprigen O.M. das Reserverad zu stehlen«, meinte er, »alles andere nehmen wir sowieso mit aufs Zimmer!« Es hätte ihn gereut, zehn Mark oder mehr für einen Stellplatz im Parkhaus auszugeben. Wozu ich ihm geraten hatte. Lieber schleppten er und Averil ihr gesamtes Reisegepäck mit aufs Zimmer. Frau Tannenbaum konnte gerade noch verhindern, dass sie auch noch den gefüllten Reservekanister mit hinauf nahmen.
Anderntags treffen wir uns kurz nach zwölf beim Augustiner am Hauptbahnhof. Über das ausgelegte Geld für Benzin und Zigarren reden wir nicht. Dafür spendiere ich Bunty, während Averil ein Warenhaus in Stachus-Nähe nach dem anderen von innen besichtigt, eine Maß und ein knödelhaltiges Mittagessen und ein Stück Torte mit Kakao zum Dessert und am Ende noch eine Halbe und einen Obstler, und dann begeben wir uns zu zwei Autozubehörgeschäften in der Schwanthaler Straße, in denen sich Bunty nach billigen Ventilatorriemen, Scheinwerferbirnen und Zündkerzen erkundigt, einige Dinge sogar gegen Barzahlung in D-Mark – ich bin einigermaßen überrascht – gleich mitnimmt. Nein, für den O.M. brauche er dergleichen im Augenblick nicht, aber vielleicht für den einen oder anderen Wagen daheim.
Zu Buntys Verwunderung führt keines der beiden Geschäfte, weder die Südmotor GmbH noch Altmeister Fahnebrock, Original-Rolls-Royce-Ersatzteile aus der Vorkriegszeit. »Die hätte ich sicher besonders günstig bekommen können, denn wer braucht hier solche Ladenhüter schon …« Die höflich vorgebrachte Frage nach einer Toilette beantwortet man dem schrulligen Kunden sogar auf Englisch: »The klo is after the office, and the waschbecken can you there also benutzen.« Anderthalb Liter Augustinerbier sind aber auch wirklich eine Menge Flüssigkeit.
Chips ohne fish
Februar 1971. Ich hatte mich in London mit dem Fotografen Charles Wilp verabredet; wir kundschafteten Plätze für Gauloises-Werbemotive aus und besprachen tausendundein Detail. Ein Perfektionist wie Wilp (»alles ist in Afri-Kola«) überließ nichts dem Zufall des Augenblicks. Während meines dreitägigen Aufenthalts war ich auch auf einer Oldtimer-Auktion. Mich hat es nicht überrascht, Bunty dort zu begegnen. Für Britanniens prominentesten Rolls-Royce-Gebrauchtwagenhändler ist der Besuch einschlägiger Versteigerungen eine Pflicht.
»Oh, how nice to see you again! Bernard hat in meinem Auftrag den grünen Silver Wraith dort drüben und den schwarzen Bentley R-Type ersteigert. Bernard kennst du doch?«
Ja, ich kenne Bernard.
»Ich habe zwar viel zu viel Geld für die Schlitten ausgegeben, weil der Auktionator wieder mal alles rausgeholt hat … aber es ist verdammt gut angelegt, weißt du, diese wunderschönen Autos werde ich nach Amerika verkaufen …« und es folgt ein langer Exkurs über die interessanten, höchst aufnahmefähigen Rolls-Royce-Märkte in Kalifornien, in Texas, in New Jersey, Oklahoma, Illinois, Louisiana und vor allem in Arizona: »Mein Lieber, da wartet man nur so auf meine Ware!«
Die Auktion ist zu Ende, Bernard ist dabei, ein Auto nach dem anderen irgendwohin zu fahren. Ladies and Gentlemen – das Haus Christie’s übernimmt keine Verantwortung für nicht abgeholte Ware! hat der Auktionator The Right Hon. Patrick Lindsay nach dem letzten Zuschlag verkündet. Patrick ist ein Ass in seinem Job, besitzt selbst einige antike Bentleys und hebt hin und wieder mit einem seiner kleinen Flugzeuge ab – Aufklärungsmaschinen der Royal Air Force aus dem Zweiten Weltkrieg. Patrick ist auf der britischen Oldtimerbühne fast ebenso berüchtigt wie Bunty, und deshalb gehen sie einander auch nach Möglichkeit aus dem Wege.
Meine Zeit drängt, ich muss zur Victoria Station und möchte meinen Zug nach Dover nicht verpassen. »Frank Dale wird dich hinbringen, ich mache dich mit ihm bekannt, und Victoria liegt genau in seiner Richtung! Franks Geschäft ist am Sloane Square, weißt du! Wenn wir aber noch ein Stündchen Zeit haben sollten …«
Aber wirklich nur ein Stündchen, mehr nicht, sage ich zu Bunty, die 20-Uhr-Fähre ist meine letzte Chance! In Oostende möchte ich den Mitternachtszug nach Brüssel erwischen.
»Oh wie wundervoll, dann gehen wir jetzt erst einmal etwas essen … Frank kennt sicher ein gutes Lokal in der Nähe. Ich kann ihn nur gerade nirgendwo entdecken, wo steckt der gute Junge nur …«
Frank Dale wird wohl ebenfalls ein von ihm ersteigertes Auto in Sicherheit bringen, nehme ich an. Also ein Taxi! Es dauert und dauert, ehe eins hält. Natürlich reicht die Zeit nicht mehr für einen Lunch, denn der Verkehr ist dicht, und für die letzten Meter zur Victoria Station benötigen wir eine Ewigkeit. Bunty ist wie immer nicht gut zu Fuß, besteht aber darauf, mich bis an den Zug zu begleiten. Und dann geschieht das Unerwartete: »Mein guter Junge, ich schulde dir ja so viel, du warst neulich in München so spendabel. Ich hätte dich wahnsinnig gern zu einem Lunch eingeladen. Ich bin traurig, es betrübt mich aufs Tiefste, dass dazu nun keine Zeit mehr ist, das musst du mir glauben.«
Die Tränen, die ihm dabei in den Augen stehen, sind sicher nicht solche der Rührung, eher der Zugluft auf dem Bahnsteig. So wie der Dauertropfen an seiner Nase nicht unbedingt ein Zeichen von Erkältung ist.
Ich besteige den Zug; es sind noch etwa fünf oder sieben Minuten bis zur Abfahrt. Buntys Redefluss, so sehr er auch durch viele lange, klangvolle »hmmms« und »ääähs« durchsetzt ist, plätschert ohne Unterlass; heute ist er besonders gesprächig, der Gute. Wahrscheinlich hat er auf der Versteigerung einen Superdeal landen können und schon die Dollars errechnet, die ihm der Weiterverkauf der beiden alten Autos nach Amerika bringen wird.
»Du bist hungrig, dessen bin ich mir ganz sicher, und ich habe dich nicht zum Lunch einladen können! Aber ich weiß, was sich gehört, du kennst mich gut genug, nicht wahr? Also warte bitte einen kleinen Moment, mein Junge, so lasse ich dich nicht einfach zurück nach Deutschland fahren!« Dreht sich um, humpelt davon, kehrt Sekunden vor dem Abpfiff mit einer Tüte zurück und reicht sie mir herauf: »Endlich kann ich all das wieder gut machen, was ich dir schuldig bin! Und ruf’ mich an, wenn du zu Hause angekommen bist, aber nicht vor fünf Uhr bitte, ich habe dir noch so unendlich viel zu erzählen! Hast du zum Beispiel gewusst, dass Frank den Phantom Two Continental, der vorhin für zwanzigtausend wegging, für nur siebentausendfünfhundert hereingenommen hatte? Soll ich dir verraten, was ich geboten hätte? Keine zwölf! Das war nämlich das Auto der Lady Ashcroft, du weißt schon, die ihre beiden Chauffeure umgebracht hat, alle beide vergiftet! Oder hast du das nicht gewusst? Keine zwölf hätte ich geboten, äääh, hmmm, vielleicht dreizehn. Vergiftet hat sie alle beide, einen nach dem anderen. Das wird sie natürlich niemals zugeben, der Staatsanwalt hatte ja auch keine echten Beweise, aber auf dem Wagen lastet jedenfalls ein Fluch! Hoffentlich widerfährt dem guten Frank kein Unglück, er schuldet mir schließlich noch zwanzig Pfund … Ach, und versuch doch bitte, ob du in dem Geschäft in der Schwanthaler Straße noch einmal zwei Dutzend von diesen Zündkerzen auftreiben kannst. Sie müssen dir Rabatt geben. Nenn’ einfach meinen Namen! Und wenn du anrufst, vergiss nicht, mich auf meine geplante Reise auf der Donau anzusprechen. Ich brauche da deinen fachmännischen Rat, ich bin doch jetzt Besitzer eines Schiffes, äääh – und mein Neffe in der Royal Geographic Society …«
Es ist das erste Mal, dass Bunty mir gegenüber ein Schiff erwähnt. Was für ein Schiff? Hat er es für einen seiner Rolls-Royce-Veteranen in Zahlung genommen?
Auch ich war ja mal Besitzer eines Motorkutters (wenn auch leider ohne Motor) gewesen und interessierte mich daher für dieses Thema. Hätte ich etwas früher erfahren, dass Bunty und ich eine weitere Passion teilen, wäre ich bereit gewesen, meinen Aufenthalt zu verlängern, um mir sein Schiff anzusehen. Ich musste meine Neugier nun erst einmal im Zaume halten und beschloss, Bunty per Brief umgehend nach Einzelheiten zu fragen, zumal er ja vorzuhaben schien, sich damit auf Europas Binnenwasserstraßen zu begeben. Für heute war es zu spät, und erfahrungsgemäß hätte Bunty sehr weit ausgeholt, um mir die Schiffsgeschichte zu erzählen. Denn dieses Schiff war ja auch keineswegs sein erstes, wie ich später in Erfahrung brachte.
Noch bevor ich all das, was Bunty von der Bahnsteigkante zu mir hoch fistelt, zu sortieren vermag, setzt sich der Zug in Bewegung – »don’t forget those spark plugs, and ask for a decent discount!«, höre ich Bunty noch rufen; ich schließe das Abteilfenster, winke ihm noch einmal zu und widme mich dem lauwarmen, kräftig gesalzenen Inhalt der Papiertüte. Fish and chips sollen es sein, leider without fish. Pappige, muffige Pommes. An Bord der Fähre habe ich zum Glück Zeit und Gelegenheit, etwas ausgiebiger zu dinieren. Ich leere dazu eine halbe Flasche St. Emilion – drei Gläser auf das Wohl des Schiffseigners Bunty. Und freue mich auf ein baldiges Wiedersehen mit dem schrulligen Gentleman von Rock Cottage, dem alten Geizkragen, den wir alle so sehr mögen. Warum nur? Wegen seines Charmes? Wegen seiner Witzigkeit und seiner Begabung, lustige Geschichten zu erzählen, wegen seiner mit so viel Liebenswürdigkeit dargebotenen Unverschämtheiten, seiner gern provozierten Situationskomik, seiner Kunst, sich zu verstellen und immer wieder so überzeugend den Ahnungslosen zu spielen?
»Call me Bunty«
Meine erste Begegnung mit Bunty hatte sich unter ähnlichen Umständen zugetragen, wie sie mir später auch von anderen Besuchern geschildert wurden, etwa von meinem Freund Albert Leonhard. Mit dem Unterschied, dass sie Rock Cottage erstens bei Tageslicht und zweitens mit dem Auto aufsuchten. Ich traf bei Dunkelheit und als Fußgänger dort ein.
Ich hätte am Flughafen Manchester einen Leihwagen nehmen können, doch ich zog es vor, das Abenteuer auf mich zu nehmen, England auch mal als Omnibus-Fahrgast kennen zu lernen. Kann sein, dass ich darüber eine Geschichte schreiben wollte; so genau erinnere mich daran nicht mehr. Wohl aber an viele Einzelheiten meiner Visite in Rock Cottage.
Mein Flieger war mit einer Stunde Verspätung gestartet und gelandet; dumm genug. Es ist ein nasskalter Herbstabend, wie er typisch englischer nicht sein könnte. Zum Fürchten, Frösteln, Fluchen. Ich stehe an einer Bushaltestelle irgendwo auf dem Lande, der grüne Überlandbus hat mich an der Station Basford Hall meinem Schicksal überlassen, und das kehrt sich momentan in mehrfacher Hinsicht gegen mich.
Denn es ist nicht nur nass und kalt und windig und dunkel, sondern ich habe auch Hunger und Durst und einen Kamerakoffer in der Hand und kann niemand nach dem Weg fragen, weil jeder normal veranlagte Engländer jetzt zu Hause ist und seine Füße vor dem elektrisch beleuchteten Kamin ausstreckt, und weil, soweit ich es bei der Finsternis zu erkennen vermag, Basford Hall weder ein Dorf noch irgend eine andere Art von Ansiedlung zu sein scheint, sondern nur ein geografischer, ansonsten aber wohl unbedeutender Orientierungspunkt auf der Regionalkarte der Grafschaft Staffordshire.
Was habe ich hier bloß zu suchen. Ich hätte die Nacht über am Flughafen bleiben können, in einem Hotel, und am nächsten Morgen – oder zumindest zu einer Zeit, in der selbst im englischen November eine Andeutung von Tageslicht zu erwarten ist – den Weg nach Basford Hall antreten können, um das Rock Cottage eines gewissen Mr. Scott-Moncrieff zu finden.
Es war der letzte Bus, und dort, wo er mich abgesetzt hat, steht weder eines der roten Telefonhäuschen, von dem aus eine Miss Operator mich mit Churnetside 300 hätte verbinden können, jener Nummer, die auf der Zeitungsannonce stand, noch gibt es hier eine Tankstelle, ein Pub, überhaupt irgend etwas. Ich hatte vorgehabt, diesen Teil Britanniens noch bei Tageslicht zu erreichen und mich zum Rock Cottage durchzufragen, um Mr. Scott-Moncrieff meine Aufwartung zu machen. Als Journalist aus Deutschland, der neugierig geworden war – auf eine Begegnung mit dem angeblich größten Rolls-Royce-Gebrauchtwagenhändler der Welt. Wieso hatte der sein Domizil eigentlich ausgerechnet hier im Niemandsland, warum nicht in London, Birmingham, Liverpool, Manchester …?
Vierzig bis fünfzig second-hand Rolls-Royce, angefangen vom Silver Ghost 1912 bis zum jüngsten Silver Wraith: Was für eine Story! Meine Hasselblad kann es kaum erwarten, »klackschalupp« zu machen (Blende elf, ’ne Fünfundzwanzigstel, auf Ilford FP4 und mit Stativ natürlich). Aber im Augenblick bin ich mir gar nicht sicher, ob ich dem Herrn, dem ich mein Kommen per Brief angekündigt habe, jemals begegnen werde. Viel wahrscheinlicher ist, dass mich innerhalb der nächsten Stunde wilde englische Tiere verschlingen werden, zum Beispiel die berühmten Hunde von Baskerville, oder dass ich in einen tiefen Graben aus der Zeit der römischen Besetzung Britanniens stürze. Und erst im August hat es diesen Postraub im Lande gegeben, bei dem die Täter mit 2,63 Millionen Pfund unerkannt fliehen konnten. Wie gefährlich es sich doch in England lebt! Ronald Biggs und seine Kumpane hatten den Postzug von Glasgow nach London durch manipulierte Signale an einer einsamen Stelle zum Stehen gebracht, den Lokführer bewusstlos geschlagen und waren mit der Lokomotive und dem Geldwaggon weiter bis zur Bridego Bridge gefahren, um dort die Behälter mit den Banknoten in ein bereitstehendes Fluchtfahrzeug zu laden.
Es sind laut Conan Doyle aber auch schon geringerer Beträge wegen schlimme Verbrechen in dieser Region begangen worden …
Ich könnte so lange warten, bis ein Auto vorbei kommt, es anzuhalten versuchen und den Fahrer nach dem Weg fragen. Den größten Rolls-Royce-Gebrauchtwagenhändler der Welt müsste hier doch jeder kennen. Die Zeitschrift, der ich die Geschichte verkaufen möchte, heißt »twen« und wird, obwohl ihr Name etwas anderes vermuten lässt, von Leuten über dreißig, teils über vierzig gemacht. Denen das Thema Rolls-Royce, als ich es erwähnte, auf Anhieb gefiel. Echte Twens wären wohl eher auf flotte Alfa Romeos oder auf eine witzige Geschichte über die Ente von Citroën abgefahren.
Ich möchte jedoch nicht einfach am Straßenrand stehen bleiben und mich bis zum Morgengrauen krankenhausreif frieren. Eine kleine Grippe tut es ja auch, wenn es denn schon etwas Unangenehmes sein soll.
Apropos Churnetside: Wie Basford Hall, hatte ich eine Ortschaft dieses Namens auf der Karte ebenso wenig entdecken können. Aber selbst wenn ich erführe, dass es ein Dorf dieses Namens gibt, im Unterschied zum ganz gewiss nicht existierenden Basford Hall, würde mir es jetzt ebenso wenig nützen – und selbst ein tröstlicher Hinweis wie zum Beispiel »3¼ miles« auf weiß lackiertem Gusseisen, würde ich ihn denn entdecken, bedeutete eine kalte, nasse Stunde Fußmarsch. Mindestens.
Nach so viel Selbstbemitleidung darf ich immerhin feststellen, dass es zu regnen aufgehört und der Wind Bewegung in die Wolkenschichten gebracht hat, was ich vor allem deshalb mit Erleichterung zur Kenntnis nehme, weil von einer himmlischen Ecke her so etwas wie Mondlicht diesen Teil der Grafschaft Staffordshire zu erhellen beginnt. Erhellen ist übertrieben, doch zuminderst vermag ich den Verlauf der Landstraße zu erkennen, an der man mich abgesetzt hat. In kurzen Intervallen fetzen Wolken vor meiner Lichtquelle vorüber.
Ich setze meine Füße in Bewegung, und zwar in eine Richtung, von der ich nur hoffen kann, dass sie mich meinem Ziel näher bringt. Und tatsächlich: Schon nach wenigen Schritten komme ich an eine Abzweigung mit einem Straßenschild, das erkennen lässt, dass die unbefestigte Straße zu meiner Linken zum Rock Cottage führt. Eine Art Waldweg, mit ausgefahrenen Spuren von Ackerschleppern und vielleicht auch Landrovern. Ob sich auch Rolls-Royce-Reifen markiert haben, kann ich nicht erkennen – erstens ist es dazu zu finster, zweitens hätte der Regen sie ohnehin verschlammt, und drittens bin ich auf dem Gebiet der Reifenspurenkunde ziemlich unbewandert.
Eine Angabe der Entfernung hat sich der Schildermaler erspart. Eine Meile? Fünf Meilen? Zehn?
Ein kofferschleppender Jüngling aus Deutschland, frierend und hungrig, im nassen Trenchcoat und mit für Waldwege untauglichen Schuhen, der ausgezogen ist, um einen spleenigen Autohändler zu interviewen, tappst durch den westenglischen Forst und hat keine Ahnung, was ihn erwartet. Ein arroganter Nobleman mit ebensolchem Butler? Ein betrunkener Raufbold, der vor dem Kamin eingeschlafen ist? Eine ängstliche Mrs. Scott-Moncrieff, die nachts keinem Fremden die Tür aufmacht, während ihr Herr Gemahl auf Geschäftsreise in Australien weilt? Eine Antwort auf meine Besuchsankündigung habe ich nicht abgewartet, bin acht Tage später einfach losgefahren.
Wo werde ich überhaupt nächtigen? Ich kann doch nicht erwarten, dass Mr. Scott-Moncrieff für einen ihm völlig unbekannten, möglicherweise sogar unwillkommenen Besucher ein Gästebett bereit hält.
Die in den Waldweg gegrabenen Traktorspuren führen tatsächlich an mein Ziel. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist; meine Armbanduhr hat keine Leuchtziffern. Dass ich mich Rock Cottage nähere, lassen die Silhouetten von drei oder vier überdimensionalen Autokarosserien erkennen, in einer Größe, die mir im durchbrochenen Mondlicht gigantisch scheint. Sie sind ohne Scheiben, hohl, sehr kubisch. Sie passen nicht in mein Bild vom Mythos Rolls-Royce. Wie Leichenwagen sehen sie aus, die darauf warten, selbst beerdigt zu werden.
In einiger Entfernung hinter diesem makabren Monument ist ein Lichtschimmer auszumachen. Gern würde ich meine Schritte jetzt beschleunigen, bleibe aber erst einmal in knöcheltiefem Schlamm mit Kuhfladenbeimischung stecken, muss mich dann durch eine Brennesselkultur hindurcharbeiten, stolpere über am Boden liegende, im Gras eingewachsene Gegenstände unterschiedlichen Materials. Ich glaube, es sind Zylinderköpfe, Hinterachsen, Lenkräder …
Umrisse eines Hauses werden erkennbar. Eines Hauses? Es ist ein Spukschloss, mit zwei kleinen Turmspitzen und riesigen Kaminschloten an den Giebeln. Immerhin: Eines der Fenster im Erdgeschoss ist erleuchtet.
Rock Cottage! Ich hab’s geschafft!
Es gibt ein eisernes Gartentor, das offen steht, flankiert von weiteren Automobilruinen davor und dahinter, und direkt vor der Eingangstür einen mit dicken Feldsteinen eingefassten, jedoch außer Betrieb befindlichen Goldfischteich mit einer allegorischen Figur an Steuerbord, die in der Halbfinsternis so aussieht, als hocke da ein Kind, ein armes frierendes englisches. Und in den leeren Teich stürze ich beinahe hinein, weil ich so sehr auf das Licht fixiert bin, das aus dem Fenster scheint, und weil die letzten Meter (nein: Yards natürlich) zum Teich weitgehend verstellt sind. Mit weiteren Autos oder Teilen davon. Sie scheinen etwas kleiner zu sein als die hohlfenstrigen Leichenwagen oder was ich dafür hielt.
Ich finde dennoch den Weg zur Eingangstür. Ich klopfe, laut und kräftig. Und erwarte ein »come in, please« oder das Erscheinen eines Menschen, ganz gleich, ob freundlich oder unfreundlich, erstaunt oder erschrocken, misstrauisch oder herzlich, männlich oder weiblich …
Stattdessen vernehme ich eine schwache Stimme, beinahe tonlos, und nur zu verstehen, weil ich das Ohr direkt an die Türspalte lege. Ich stelle meinen Fotokoffer auf den Boden und lausche, bevor ich den Türgriff zu drehen versuche, der Botschaft, die dem fremden Gast zuteil wird:
»Halten Sie sich um Himmels willen von der Türe fern! You risk your life! Rodney hätte das Gesims schon letztes Jahr reparieren sollen, jeden Tag fallen ein paar Steine herunter … Gehen Sie links zum Eingang am Giebel, durch das Pfauengehege, in die Küche … Sie werden’s schon finden …«
Der Käfig mit den Pfauen – zu sehen sind sie nicht – ist dann meine letzte Prüfung, die mir auferlegt ist, um den Zutritt zum Rock Cottage zu erlangen. Am Maschendraht bleibe ich mit dem Mantel hängen, ich kann deutlich hören, wie ein Dreiangel im Gewebe entsteht. Doesn’t matter, jetzt. Pfauen sehe ich nicht. Die sollen Fremden gegenüber ja aggressiv werden können.
Die Tür zur Küche ist unverschlossen. Die zum dahinter liegenden Raum ebenfalls. Es ist der, aus dem das Licht durchs Fenster fiel.
Der zweite Teil des Abenteuers kann beginnen: Der meiner Begegnung mit David Scott-Moncrieff.
Nur ein einziges Mal habe ich ihn so nennen dürfen, nämlich als ich mich vorstelle und sage: »Good evening, Mr. Scott-Moncrieff, my name is …« – und schon lässt mich der Hausherr wissen, dass er mit Bunty angesprochen zu werden wünsche, ein für allemal.
Allright then, Mister Bunty!
Bunty. Keines meiner Bilder, das ich mir von ihm gemacht hatte, trifft auch nur im Entferntesten auf den alten Herrn zu, der mich jetzt auf Rock Cottage Willkommen heißt. Er ist herzlich, als seien wir alte Bekannte. Ja, meinen Brief habe er erhalten und mit meinem für heute angekündigten Besuch fest gerechnet. Die Deutschen seien zuverlässige Menschen, und wenn sie sagen, am Mittwoch kämen sie, dann kämen sie auch wirklich am Mittwoch, und nicht am Freitag. Oh, er habe keine schlechte Meinung von den Deutschen, except the Nazis of course and a few stupid bandits of that kind, und ob ich nicht Platz nehmen möge.
Bunty – ohne Mister, please – hat sich zur Begrüßung seines erwarteten Gastes nicht aus dem ledernen Ohrensessel erhoben, denn er ist zur Zeit Invalide. Sein linker Fuß ist in Gips, wie ich erkennen kann, und ruht auf einem kleinen Polsterhocker. Der dazugehörige Körper steckt in einem karierten Anzug schwer definierbarer Farbe, die Hose ragt ihm fast bis unter die Achseln und wird von leuchtend roten Hosenträgern in dieser Position fixiert. Die gestreifte Clubkrawatte lässt zwischen einer Ansammlung von Flecken unterschiedlichster Art und Größe kräftige blaue und grüne Elemente erkennen. Immerhin befindet sich eine silberne Nadel mit einer Perle in halber Höhe zwischen Bauch und Kragen. Und oberhalb des Kragens befindet sich das Interessanteste am Landlord of Rock Cottage: sein von platinfarbenen Haarbüscheln besetzter Kopf mit Knubbelohren, Knubbelnase, Knubbelkinn und zwischen Gebirgen von Falten verborgenen Blinzelaugen.
Es gibt Äpfel, die so aussehen, nämlich wenn man sie zwei Monate nach Weihnachten noch immer nicht zu Bratobst verschmort hat. Mit roten Bäckchen zwar, aber verschrumpelt und von Furchen und Narben durchzogen und mit ein paar Flecken und weichen Stellen drin. Bei Buntys wasserblauen Augen muss der Vergleich schon wieder aufhören. Sie glänzen und zwinkern listig-lustig eher in vorweihnachtlicher Erwartung und blicken mich treuherzig und zugleich bohrend an – Santa Claus! –, während unter dem zerzausten Schnauzbart, irgendwo zwischen Knubbelnase und Knubbelkinn, eine schwache Stimme ertönt, deren Melodie und Farbe gar nichts weihnachtsmännisches hat, sondern britischer nicht sein kann, auch lassen Artikulation und Prononcierung des Gesprochenen nur einen Schluss zu: Cambridge! Nicht etwa Oxford, Eton, Harrow …
Bunty spricht und spricht – leise zwar, aber gut vernehmbar, und er flicht seine Sätze zu lustigen Girlanden und Mäandern, die nirgendwo anfangen und nirgendwo enden, immer wieder Unterbrechungen und Einschübe erfahren, lauter Neben-Mäander und kleine Rokokozöpfchen bekommen, verbunden durch Brücken oder auch nur Stricke, in denen er sich zuweilen selbst verfängt – ich muss sehr aufpassen, dass ich dem inhaltsreichen Monolog zu folgen vermag, zumal Buntys dritte Zähne so manches Wort eher ungern, zumindest undeutlich freigeben. Der Living Room, in welchem wir uns befinden, ist vollgestopft mit Stapeln von Zeitungen und Büchern, Schachteln und antikem Kleinmobiliar; die Türen der Glasschränke an den Wänden stehen offen, und auch aus ihnen quellen Bücher, Schriftstücke, Kataloge, Landkarten, Magazine. Jeder freie Wandzentimeter ist mit Bildern, Fotografien, Regalen voller Nippes und Zinnkrügen und Keramik-Kitsch sowie großen, alten Kühlerfiguren bestückt. Natürlich sind die meisten Figuren Rolls-Royce-Emilies. Aber es befindet sich unter den knienden und hockenden und schwebenden Engeln auch ein majestätischer Mercedesstern auf schwarzem Sockel. Mit dem es, wie mit dem dazugehörigen Auto, eine ganz besondere Bewandtnis hat. Das erfahre ich aber erst sehr viel später.
»Ich verspüre ein wenig Hunger, mein junger Freund, und Sie sicher auch. Meine gute Averil ist heute mittag nach London gefahren und wird erst morgen zurückkommen. Oh, übrigens, haben Sie von dem dreisten Postraub gehört? Mehr als zwei Millionen Pfund haben sie abladen können. Mein Gott, so viel Geld, nicht wahr? Averil ist eine so liebe Frau, Gott beschütze sie unterwegs vor Unglück. Aber so lange sie nicht da ist, müssen wir uns selbst versorgen, wenn wir nicht Hungers sterben wollen. Seien Sie doch so gut, mein junger Freund, und gehen Sie in die Küche und sehen Sie nach, ob Sie dort etwas Essbares finden. Und machen Sie uns einen Tee.«