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Da ist nicht immer Licht, wo eine Flamme brennt. Wurde die Rebellion zerschlagen? Ben ist verschwunden und die Verbündeten sind in alle Winde zerstreut. In der Hoffnung sie wieder zu vereinen, bleibt Ava nichts anderes übrig, als das Schattenreich auf eigene Faust zu durchstreifen. Dabei folgt ihr der Einfluss des Namenlosen auf Schritt und Tritt. Einzig der Dolch kann ihren Feind noch aufhalten und so setzt Ava alles daran, diese Waffe zu finden.
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Seitenzahl: 288
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Lieber Leser, für das Interesse an meinem Werk bin ich überaus dankbar. Diese Geschichte soll für dich jedoch keine Bürde sein. Wenn sensiblere Inhalte, wie z. B. Tod, Trauerprozess, Darstellungen von Gewalt und/oder der Konsum von Rauschmitteln dir zusetzen, würde ich dir davon abraten, weiterzulesen. Pass auf dich auf. Jess.
Für euch Kämpfer.
»In diesen Zeiten
kann ich es mir nicht leisten,
jemanden zu mögen.
Ich kann es mir nicht leisten,
mich zu verlieben.«
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
»Bring uns zurück!«, schrie ich. »Wir müssen zurück!«
Ich zog an Maisie, schlug gegen ihren Bauch. Ich griff nach ihren Händen und presste sie an meinen Körper.
»Maisie!«, schluchzte ich frustriert, weil sie nicht reagierte. »Maisie, bitte! Wir können ihn nicht dort lassen!«
Ihr Körper zitterte. Sie sah stur über mich hinweg und krümmte keinen Finger. Der Ausdruck in ihren Augen war leer und distanziert, als wäre sie weit entfernt.
Wir waren nicht allein. Um uns herum sammelte sich eine kleine Gruppe von Schatten, aber ich beachtete sie nicht. Es war mir egal, dass sie hier waren und mich so sahen, wie verzweifelt ich war. Schwach.
Immer wieder rief ich Maisies Namen, während meine Stimme leiser und krächzender wurde. Schnell war mir klar, dass sie uns nicht zurück in den Wald bringen würde, und doch konnte ich es nicht akzeptieren oder die Hoffnung ziehen lassen. Wie besessen rüttelte ich weiter an ihr, versuchte dadurch, sie zur Besinnung zu bringen, wachzurütteln.
So lange, bis sie irgendwann erschöpft die Lider schloss. Ich wusste nicht, welchen Grund es hatte, dass ausgerechnet diese Geste meinen Körper taub werden ließ. Vielleicht, weil es so resignierend war und ich genau das nicht wollte: aufgeben. Noch immer schluchzend ließ ich mich gegen sie kippen. Unfähig, mich weiterhin aufrecht zu halten. Mein Kopf fiel auf ihre Brust und die Tränen benetzten ihr T-Shirt.
Die Erkenntnis war hart. Ben war verloren. Fest presste ich die Lider aufeinander. Als würde es die Existenz dieser Wahrheit auslöschen.
»Was ist passiert?«, hörte ich Camillas sanfte Stimme irgendwann neben mir.
Maisie blieb steif wie ein Brett. Unter meinem Ohr konnte ich ihren stolpernden Atem spüren. Ein feines Zucken ging durch ihren Körper. Sie schien den Kopf zu schütteln.
Stille setzte ein, die so vollkommen war, dass es als Beleidigung gelten würde, sie zu unterbrechen.
Schließlich war es Theos raues Flüstern, das genug Dreistigkeit besaß. »Wurde er eliminiert?«
Seine Worte ließen mich herumwirbeln. Maisie hatte gar nicht die Chance zu antworten, bevor ich aufsprang und völlig unkontrolliert rief: »Wir müssen ihn holen! Wir müssen ihn retten! Er wird ihn umbringen!«
Mein Blick huschte gehetzt über die Anwesenden. Es fiel mir schwer, mich auf einen von ihnen zu konzentrieren. Außer Cam, Theo und Mian waren noch weitere Schatten anwesend. Keines der Gesichter kam mir bekannt vor und ich hatte auch nicht den Nerv, sie mir einzuprägen. Für mich gab es Wichtigeres. Ben.
»Er tut ihm etwas viel Schlimmeres an«, fegte Maisies Stimme unheilvoll über uns hinweg und stoppte damit meine Atmung. Die Gesichter der anderen Schatten wurden bleich und sorgenvoll. Ihre Worte drangen tief in mich und lösten dort Panik aus.
»Was meinst du mit schlimm?«, fragte ich schließlich, während ich mich auf den Absätzen zu ihr umdrehte.
Ihre Lippen erzitterten kaum merklich und eine Träne rollte über ihre Wange, die sie hastig wegwischte. Ihr Blick verlor sich kurz, während sie sich räusperte. Maisie straffte die Schultern und dann erschien eine so harte Endgültigkeit auf ihren Gesichtszügen, dass sich ein eiskalter Schauer über mich ergoss.
»Ich verstehe das nicht«, presste ich hervor und merkte, wie mir die Sicht bei jedem Wort mehr verschwamm.
Niemand antwortete. Keiner schaute mich an. Bis auf Theo wichen alle meinem Blick aus. Er hatte die Lippen verbissen zusammengepresst und seine Nasenflügel bebten. Ich konnte den Qualm des Feuers beinahe riechen, das ihm durch die Venen strömte.
Ihm würde ich meine Frage stellen und ich betete inbrünstig für eine Bestätigung. »Aber er ist noch am Leben, oder?«
»Wenn man das Leben nennen kann, dann ja.« Seine Kiefermuskeln traten stark hervor.
Eine kurze Salve an Glück durchströmte mich. Er lebte. Wenigstens das. Er lebte.
Seine Worte ließen mich aber ebenfalls die Stirn runzeln. Nicht zu wissen, welche Aussage sich wirklich dahinter verbarg, war womöglich ein Segen. Gleichzeitig ließ es eine Menge Raum für meine Fantasie, mir das Schlimmste vorzustellen.
»Ava muss hier weg.« Camillas Stimme klang gehetzt. Sie wischte sich über die nassen Wangen. Merkwürdigerweise beruhigte mich der Anblick ihrer Tränen. Es machte die ganze Sache … normaler, menschlicher und weniger einsam. Sie alle benahmen sich anders als sonst. Keiner schien zu wissen, was sie mit sich anfangen sollten. Es war unbehaglich und tröstend zugleich, weil es mir ebenso ging und ich gleichzeitig hoffe, dass jemand eine Lösung hatte, einen Plan, sagen konnte, was wir nun tun sollten. Meine Gefühle waren eine seltsame Mischung, die ich in die Arme schließen und im selben Moment von mir stoßen wollte.
Der Kloß in meiner Kehle wuchs und wuchs.
Theo presste sich einen Handballen auf die Stirn, sodass die Haut darum weiß wurde. Dann nickte er angestrengt. »Cam hat recht. Wir müssen Ava in Sicherheit bringen.«
»Aber was ist mit Ben?«, fiel ich dazwischen. Wir konnten doch nicht einfach nichts tun! Mein Puls schoss so schnell in die Höhe, dass ich Schwierigkeiten hatte, bei Atem zu bleiben. »Wollen wir ihn einfach so aufgeben? Um mich können wir uns später kümmern …« Ich unterbrach mich, verschluckte den Rest. Oder gar nicht.
Der Namenlose würde mich früher oder später finden, egal, wo ich wäre. »Wir müssen einen Plan machen.« Irritiert blickte ich in die finsteren Gesichter der Schatten. Keiner von ihnen schien auf mich eingehen zu wollen.
Mian, der die ganze Zeit über die Augen auf den Boden geheftet hatte, meldete sich zu Wort. »Wir können ihm nicht helfen«, zischte er knapp. Wie die anderen sah er Bens Schicksal als besiegelt an.
In meiner Brust wurde es eng. Die Luft um mich herum surrte. Ohnmacht griff nach mir und ich suchte verzweifelt nach etwas, an dem ich mich festklammern konnte, um nicht darin zu ertrinken.
Cam trat zu mir heran. Sie schlang einen Arm um meine bebenden Schultern. »Im Moment können wir nichts für Ben tun. Wir müssen dafür sorgen, dass wir anderen außerhalb der Reichweite des Namenlosen sind. Wenn sich alles beruhigt hat, werden wir ihn suchen«, versprach sie mir. Ihre Stimme war größtenteils fest, aber ein leises Knistern verriet sie. Der Gedanke daran, sie könnte lügen, durchzuckte mich. Sie log und doch gaben mir ihre Worte Hoffnung.
»Aber du kannst etwas tun, Ava. Du kannst dich in Sicherheit bringen, das würde Ben wollen«, führte sie weiter aus und musterte mich mit Nachdruck. Sie nickte und ich imitierte ihre Bewegung. »Der Namenlose kann Maisie nicht kontrollieren. Selbst wenn er sie in die Finger bekommt, könnte sie ihm deinen Aufenthaltsort verschweigen. Sie bringt dich an einen Ort, den keiner von uns kennt. Sie wird dich hier in der Schattenwelt versteckt halten und sich um dich kümmern. Dir wird nichts geschehen.«
»Und ihr sucht solange nach ihm?«, flüsterte ich und sofort wurde Cams Miene dunkel, aber sie nickte verbissen weiter.
Erschöpft schloss ich die Augen. Diese Front schien verloren. »Was ist mit meiner Familie?«
»Für den Namenlosen haben sie keinen Zweck. Er wird sie in Ruhe lassen«, kam es von Maisie wie aus der Pistole geschossen. Ihre hastige und harte Antwort beruhigte mich nicht im Geringsten.
»Aber ich muss ihnen sagen, wo ich bin …«
Sie schüttelte entschieden den Kopf. Ihre Geister schienen zu neuem Leben erwacht zu sein. »Zu riskant. Sicher ist jemand in der Nähe, der sie beschatten soll.«
»Sie müssen gewarnt werden …« Ich brach ab. Diesen Gedankengang wollte ich nicht betreten. Mein Mageninhalt machte eine Rolle und wurde augenblicklich um ein Vielfaches schwerer.
»Sobald die Lage es zulässt, kümmere ich mich darum«, meinte sie.
Ich runzelte sorgenvoll die Stirn, was sie erneut die Augen schließen ließ. »Versprochen«, sagte sie mit einem Seufzen.
Theo kam zwischen uns und sah hastig von einer zur anderen. Sein Blick war vorwurfsvoll. »Wir können hier nicht länger rumstehen und Däumchen drehen!«, drängte er. »Über all das könnt ihr später noch sprechen. Ihr müsst los.«
Er hatte recht. Und ich hasste diese Tatsache.
Doch wir könnten nur noch Sekunden davon entfernt sein, alle dem Namenlosen und damit unserem Ende gegenüberzustehen.
Ich warf einen Blick in die Runde. Der Gedanke, es könnte das letzte Mal sein, dass ich ihre Gesichter sah, durchströmte mich.
Sie hatten Angst und waren verstört. Mir ging es genauso. Ihre Augen huschten durch die Gegend und ihre Körper schienen unter Strom zu stehen.
Es fiel mir schwer, sie zurückzulassen.
Es fiel mir schwer, mein ganzes Leben zurückzulassen.
Es fiel mir schwer, Ben zurückzulassen.
Mit einem tiefen Seufzen ließ ich das Buch sinken und beobachtete die Schneeflocken, die vor dem Fenster tanzten.
Seit ungefähr drei Wochen war ich nun mehr hier an diesem Ort. Über die erste Zeit fiel es mir schwer, ein Zeitgefühl zu behalten, aber Maisie half mir. Mittlerweile hatte ich mich an die verschwommenen Tage gewöhnt.
Die Besonderheit der Schattenwelt war eine blasse Erinnerung. Nur selten blitzte etwas auf, was mir diesen gewohnten Schauer über die Wirbelsäule jagte.
So wie die Schneeflocken. Ihr Glitzern hatte einen Nachhall. Sie brachen das Sonnenlicht nur für eine Sekunde und doch sandte es jedes Mal ein Gefühl zu mir, das mein Inneres erschüttern ließ.
Mit schweren Gliedern erhob ich mich und rieb mir energisch über das Gesicht, nachdem ich das Buch zu den anderen auf den Kaffeetisch gelegt hatte.
Maisie hatte mich in einer verlassenen Hütte hoch in den Bergen versteckt. Sie hatte mir nicht gesagt, in welchem Land ich mich befand, wäre ich an dieser Stelle in der Menschenwelt. Vielleicht, damit ich ihre Anweisung befolgte, nicht vor die Tür zu treten. Ohne irgendwelche Anhaltspunkte würde ich mich leicht verlaufen können und nicht absehen, ob ich zurückfinden würde.
Das hielt mich jedoch nicht ab. Ich fischte den dicken Mantel aus dem Schrank und trat vor die Tür, sog die kalte Luft ein. Wie könnte ich auch widerstehen?
Der Anblick, der sich hier vor mir bot, glich einer Postkarte. Schnee so hoch, dass er meine Knie erreichte. Vereiste Tannenzweige und Kiefernzapfen. In der Ferne konnte ich Bergausläufe sehen und einen kleinen Zipfel vereiste Wasseroberfläche.
Bis auf ein paar Tierspuren und die dunklen Gestalten, die ihre Besitzer in die Schattenwelt warfen, war alles unberührt. Es erinnerte mich an Dokumentationen der Taiga zur Winterzeit oder an die Beschreibungen in Büchern zu Norwegens verschneiten Landschaften. Eine weiße Idylle.
Gerade beobachtete ich zwei kleine durchscheinende Schatten, die aussahen wie Eichhörnchen und sich gegenseitig von einem Baum zum nächsten jagten. Mein Atem bildete weiße Wölkchen vor meinem Gesicht und ich schlang die Arme fest um mich.
Als ich die Hütte wieder betrat, den Schnee abstampfte und den Mantel zurück an seinen Platz brachte, sog ich dabei genüsslich den warmen Geruch des Holzes ein. Beinahe alles hier, der Boden, die Decke, die Wände, die Möbel, bestand aus hell gestrichenen Birkenlatten. Es war alles schon lange nicht mehr im Gebrauch und sah dementsprechend aus, aber es war alles da, was ich brauchte.
Trotzdem hatte es eine ganze Weile gedauert, mich daran zu gewöhnen, dass es weder Elektrizität noch fließendes Wasser gab. So abgeschieden und hoch oben war meine Unterbringung. Besonders der Kamin und der winzige Verschlag hinter dem Haus hatten mich abgeschreckt.
Der Raum, in dem ich mich die meiste Zeit aufhielt, war in zwei Bereiche aufgeteilt. Auf der einen Seite gab es die altertümliche Küche inklusive eines Tisches mit vier Stühlen und auf der anderen standen ein paar Sofas, die um einen niedrigen Kaffeetisch platziert waren. Die ursprüngliche Farbe der Polster war längst verblasst und ließ den braunen Ton nur noch erahnen. An manchen Stellen hatte das Teil Risse, aus denen die Füllung herausquoll.
Genau in der Mitte gegenüber der Eingangstür stand eine hohe Kommode. Mit beiden Händen umklammerte ich sie, um mich darauf zu stützen, während ich einen Blick in den Spiegel, der darüber hing, riskierte.
Meine Haut war blasser als sonst. Dunkle Schatten lagen unter den geschwollenen Augen, obwohl ich kaum etwas anderes tat, als zu schlafen. Ich zwang mir ein Lächeln auf, aber es erreichte meine Augen nicht. Schnell gab ich es wieder auf, als die Mundwinkel zu sehr wackelten.
Zum tausendsten Mal ging ich den Abend durch. Wir hätten so viel anders machen sollen. Allem voran war es ein Fehler gewesen, das Orakel aufzusuchen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto unverständlicher war es, wieso Ben es nicht hatte kommen sehen, nicht damit gerechnet hatte, dass der Namenlose und sein Bruder zusammenhielten. Aber war das so selbstverständlich? Die Erinnerung an den Ausdruck im Gesicht des Orakels, bevor er uns ein Fluchtfenster ermöglicht hatte, ließ mich die Stirn runzeln. Was hatte er gesehen? Oder hatte er wirklich nur versucht, die eigene Haut zu retten?
»Argh«, ließ ich einen frustrierten Laut zwischen den Zähnen entweichen, während ich mir die Haare raufte. All diese Fragen.
Es nervte mich, dass alles in der Schwebe hing, es keine eindeutigen Antworten für mich gab. Wer trug die Schuld an der Situation, in der Ben sich nun befand? Wie hätten wir es verhindern können?
Ein Rascheln ließ mich herumfahren. Zuerst konnte ich nichts erkennen, aber dann fiel mir auf, dass eine der Ecken des Raums um einiges dunkler war als die anderen.
Ich kniff die Augen zusammen und fasste die Kommode in meinem Rücken fester. Dann trat jemand aus den Schatten und prompt schlug mein Herz so heftig, dass mir die Brust wehtat. Das war doch nicht möglich! Oder doch?
»Mom?«
Was geschah hier?
»Mom, was tust du hier?«, fragte ich und konnte die leise Freude nicht unterdrücken, die meine Stimme übernahm.
Wie konnte das sein? Gedanken meldeten sich am Rande meiner Wahrnehmung, die mich zur Vorsicht riefen, die meinen Geisteszustand infrage stellten. War es so weit? Hatte die Schattenwelt meinen Verstand endgültig zu Mus verarbeitet?
Moms Gesicht zu sehen, ließ vor allem mein Herz übersprudeln. Am liebsten wäre ich ihr direkt um den Hals gefallen und fast hätte ich das auch getan und wäre auf sie zu gestürmt, aber etwas hielt mich zurück.
»Ich dachte, du könntest ein bisschen Gesellschaft gebrauchen«, sagte sie und breitete die Arme synchron zu ihrem Lächeln aus.
Mom. Ich vermisste sie. Ich vermisse dich so sehr. »Halluziniere ich?«, fragte ich sie flüsternd.
Sie legte den Kopf schräg. »Nein«, antwortete sie kichernd und zwinkerte mir zu. Kritisch beobachtete ich ihre Mimik. Dann überrollte mich eine Welle der Kälte.
Ich kannte meine Mutter. Die Geste war untypisch für sie. Jetzt wurde mir bewusst, dass auch ihre anderen Bewegungen nicht zu ihr zu passten.
Mir rutschte das Herz in die Hose. Die Enttäuschung brannte ein Loch in meine Kehle.
Das Zwinkern jedoch kam mir bekannt vor. »Maisie.«
Wie auf Kommando erfasste eine rauchende Wolke die Erscheinung meiner Mutter und veränderte den Körper an den Stellen, die sie passierte. Bis nicht mehr Mom, sondern Maisie vor mir stand. Sie schulterte einen schwer aussehenden Rucksack und grinste breit.
»Tu das nie wieder«, zischte ich zwischen zusammengepressten Zähnen hindurch. Ich hatte meine Kiefer so hart aufeinandergedrückt, dass mir der Schmerz durch Mark und Bein ging. Meine Augen brannten verräterisch, aber ich erlaubt ihnen nicht, loszulassen.
»Spielverderberin«, schnaubte Maisie und verdrehte die Augen. »Ich wollte dir nur ein bisschen Zuhause herbringen. Damit du dich nicht so einsam fühlst.«
Sie hievte den Rucksack auf den Holztisch. Dann ließ sie einen Jutebeutel von ihrer Schulter rutschen, den sie mir daraufhin reichte.
»Das Einzige, was du mir gebracht hast, ist, dass ich sie jetzt noch mehr vermisse …«, murmelte ich missmutig und riss ihr den Beutel förmlich aus den Händen. Sie verstand nicht, was sie mir eben angetan hatte, doch ich nahm es ihr nicht übel. Sie hatte mir helfen wollen und es gut gemeint.
Mit einem Grinsen deutete sie auf den Rucksack. »Das stimmt nicht.« Maisie fing an, ihn auszuräumen. »Ich habe dir auch Bücher und was zu essen mitgebracht.«
Prüfend sah ich den Inhalt durch, den sie für mich in der Menschenwelt hatte mitgehen lassen. Ich ließ den Blick über die Buchrücken schweifen, während ich sie auf den Tisch packte. In den vergangenen Wochen hatte sie mich regelmäßig mit Vorräten versorgt.
Es hatte keinen Sinn, sich über Maisie zu ärgern. Ihre Intention war eine gute gewesen und abgesehen davon, fand sie es lustig, mich sauer zu machen. Je mehr ich mich aufregte, desto mehr freute es sie.
»Du kannst dich in Menschen verwandeln?«, fragte ich, ohne aufzusehen.
Sie schnaubte belustigt. »Nein.«
Hinter meiner Stirn kribbelte es.
Kurz unterbrach sie ihr Treiben und kam zu mir an den Tisch heran. Sie hielt mir ihre Hand vors Gesicht und ließ sie zu Schatten zerfließen. Es sah aus, als würden durchsichtige Flammen aus einem Schwarz-Weiß-Film vor meinen Augen tanzen. »Hallo? Ich bin ein Schatten. Wortwörtlich. Und ich kann mich in alles formen, was ich will.«
Ich musterte den dunklen Rauch, bis er sich zurück zu ihrer Hand formte. Dann griff diese in den Rucksack und holte dort einen Joghurtbecher heraus.
»Können das alle Schatten?«, fragte ich, als Maisie sich zu der Schublade mit dem Besteck umdrehte.
Sie zog den Deckel ab, ließ einen Löffel hineingleiten und reichte mir den Becher. Ich griff danach und sah sie erwartungsvoll an, während sie die Joghurtreste von der Folie in ihrer Hand leckte.
»Das Morphing ist eine unserer Fähigkeiten«, erklärte sie und warf den sauberen Deckel in den Müll.
»Das habe ich vorher noch nie gesehen«, sinnierte ich, setzte mich an den Tisch und steckte mir den ersten Löffel mit Joghurt in den Mund. Er schmeckte fruchtig und ein wenig sauer. Ich bewegte die cremige Struktur auf der Zunge und besah den Becher.
Die Schrift darauf beschrieb eine Sprache, die ich nicht kannte, und zeigte zum Teil Buchstaben auf, die ich vielleicht einmal gesehen hatte, weil ich versehentlich irgendwelche Tastenkombinationen auf der Tastatur getippt hatte. Ansonsten war das Etikett schlicht und vor allem in Weiß gehalten. Vereinzelt waren ein paar Beeren abgebildet.
Als ich den letzten Rest aß, legte ich den Löffel in den Becher und beobachtete darin meine Reflexion. Ich faltete die Hände übereinander und ließ sie auf der Tischplatte ruhen.
Ob Maisie selbst meine Gestalt annehmen könnte? Sicherlich. So, wie sie es schilderte, müsste absolut alles möglich sein.
Mir kam der Gedanke an Geschichten, in denen jemand geliebte Familienmenschen sah, obwohl diese bereits verstorben waren. War das des Rätsels Lösung? War es das, was hinter diesen Geistersichtungen steckte? Schatten, die sich einen Spaß erlaubten?
Ich beobachtete Maisie.
Ein Schauder durchzog kaum merklich meinen Körper. Gruselig, war das Wort, das mir durch den Kopf ging. Sie hatte Moms Gestalt angenommen und ich hatte kaum einen Unterschied zwischen ihnen erkennen können. Optisch war sie eine perfekte Kopie gewesen. Wäre das Zwinkern nicht gewesen, hätte ich es vielleicht nie bemerkt.
»Hast du nach meiner Familie gesehen?«, fragte ich und versuchte, beiläufig zu klingen.
Maisie räumte weiter Konserven weg. »Ja«, antwortete sie knapp.
»Und?«, hakte ich ungeduldig nach. Meine Gereiztheit war auf dem Zenit und es kratzte mir unangenehm im Hals. Ich wollte keinen Streit mit Maisie anfangen, aber es war mir kaum noch möglich, meinen Ärger zu zügeln. Warum musste ich ihr alles aus der Nase ziehen? Sie wusste doch, dass ich mich sorgte und auf Neuigkeiten von meinen Liebsten brannte.
Ein leises Seufzen prallte von den Küchenschränken ab. Maisie drehte sich mit einem Schulterzucken langsam zu mir um. »Und nichts. Sie leben weiter ihr Leben.«
Sie … was? Keine Trauer oder Sorge um mich? Es war eine positive Nachricht, dass es meiner Familie gut ging, aber ich hatte etwas anderes erwartet. Mich darauf vorbereitet, dass Maisie mir sagen würde, sie wären am Boden zerstört und hatte mein schlechtes Gewissen beinahe schon gespürt.
»Du meinst, ich fehle ihnen gar nicht?« Ein dumpfes schmerzendes Gefühl ergriff mich.
»Ich meine, sie denken, dass du verschwunden bist, weil du es selbst so wolltest.« Mit verschränkten Armen lehnte sie sich gegen die Arbeitsfläche. »Sie versuchen, weiterzumachen.« Das hörte sich so an, als fiele es ihnen schwer.
»Also vermissen sie mich?«, hakte ich noch einmal nach, aber Maises Gesichtszüge blieben hart. »Kommt dir gar nicht in den Sinn, wie verletzend es für mich ist, dass du mir sagst, sie würden einfach weiterleben, als wäre nichts?« Nun kamen mir die bitteren Worte über die Lippen.
»Wäre es dir lieber, ich würde dir erzählen, wie deine Mutter sich jede Nacht in den Schlaf weint und Nathan Fragen zu einer Situation stellt, die er nicht versteht?«
Meine Kehle wurde trocken und ich wandte den Blick ab. Nein. Nein, das wollte ich wirklich nicht hören, auch wenn ich es erwartet hatte, weil das die Reaktion einer Familie, die sich um ein verschwundenes Kind sorgte, nun einmal war.
»Ich will es für dich nicht noch schlimmer machen, als es sowieso schon ist«, murmelte sie nach einer Weile.
»Deshalb nervt es dich jedes Mal, wenn ich nach ihnen frage?«, schnaufte ich, bevor ich die Worte aufhalten konnte. Maisie verschwand und kam wieder. Meine erste Frage war immer die nach meiner Familie. Maisies Reaktion darauf war abweisend, kühl und vor allem schweigsam. Heute hatte sie mir zum ersten Mal etwas mehr erzählt.
Sie musterte mich einen Moment, ohne die Miene zu verziehen. Ihr Mund öffnete sich, doch sie schloss ihn sofort wieder. Ich hob herausfordernd die Brauen. »Du hast doch sonst keine Probleme damit, mit der Sprache rauszurücken.« Warum konnte sie mir jetzt nicht auch die Wahrheit ins Gesicht knallen?
»Es nervt mich nicht, dass du nach ihnen fragst, Ava«, erklärte sie knapp.
»Sondern?«
»Mehr habe ich einfach nicht zu sagen.« Sie wandte mir wieder den Rücken zu. »Wir sollten jetzt das Thema wechseln.«
»Vielleicht könnte ich sie einmal sehen, wenn …« Ich unterbrach mich, weil sie demonstrativ den Kopf schüttelte. Ertappt biss ich auf die Innenseite meiner Wange. Wie von selbst legten sich meine Finger über den Narwal an meinem Hals. Ich wusste, es war zu gefährlich, aber der Wunsch, meine Familie zu sehen, war allgegenwärtig für mich. Ein Strudel, der mich weiter in den Abgrund zog, je länger ich von ihnen getrennt war.
»Es ist immer ein Schatten in ihrer Nähe. Er behält sie im Auge. Sicher hat er mich auch ein paar Mal dabei erwischt, als ich nach ihnen gesehen habe.« Sie pausierte, drehte sich wieder herum und sah mich bedeutungsvoll an. »Das Risiko ist … sehr hoch.«
Besiegt ließ ich den Kopf hängen. Mir war bewusst, dass sie recht hatte, aber die Hoffnung, die mir so schmerzhaft in der Brust zerrte, bat um mehr. Ich vermisste meine Familie so sehr.
Eine Hand legte sich so auf mein Schulterblatt, als wäre ich eine zerbrechliche Kostbarkeit. Das brachte mich dazu, aufzusehen. Maisie sah mitleidig zu mir herunter. »Tut mir leid, Ava«, flüsterte sie. »Glaub nicht, ich wüsste nicht, wie sehr du leidest. Aber …«
»Das Risiko ist zu hoch«, wiederholte ich mit belegter Stimme.
»Gutes Mädchen.« Sie ließ mich los und ging zu den Sofas rüber. Mit Schwung warf sie sich auf das längste davon, legte einen Unterarm auf die Stirn und schloss die Augen, während sie die Stiefel von den Füßen streifte.
Ich begutachtete den leeren Joghurtbecher. »Habt ihr Ben gefunden?«
»Nein«, war ihre Antwort, ohne dass sie mich auch nur eines Blickes würdigte.
»Wirst du mir irgendwann sagen, was mit ihm ist?«, fragte ich weiter.
»Nein.«
Nach ihm zu fragen, konnte ich mir eigentlich genauso sparen wie die Sache mit meiner Familie. Aber sobald etwas in ihre Richtung deutete, erfasste mich Unruhe.
Kaum, dass ich auch nur an Bens Namen dachte, erfüllte er kurz darauf mein ganzes Selbst. Er wirbelte Glanzpunkte in meinem Inneren auf, bis ich glühte. Ich vermisste ihn mit einer alles verzehrenden Sehnsucht.
Er hatte sich für die Sache geopfert.
Er hatte sich für mich geopfert.
Und er fehlte jeden Tag.
Ich schluckte den Kloß herunter, der so groß war wie ein Medizinball. Dann steckte ich einen Korken in die Öffnung, durch die diese Gefühle in mich hineinspülten. Bis er wieder herausploppen würde, was früher oder später der Fall wäre. Gefühle, lange niederzuhalten, hatte immer die Konsequenz, dass diese irgendwann, meist ohne Vorwarnung, zurückschlugen, sich wehrten gegen die Unterdrückung und unaufhörlich auf einen einprasselten.
Ich befand mich an der Grenze zum Wahnsinn und solche Gedanken würden mich definitiv über die Kante schubsen; in eine Welt, die dunkler nicht sein könnte.
»Wie geht es den anderen?«, fragte ich, während der Schmerz des Vermissens langsam verblasste.
Maisie nahm den Arm von ihrem Gesicht und öffnete die Augen, um an die Decke zu starren. »Der Namenlose hat sie im Auge. Er überhäuft sie mit Arbeit und hofft, dass sie einen Fehler machen«, erklärte sie. »Er hofft, jemand führt sie zu dir oder zu mir.«
Das war auch der Grund, warum wir nicht gemeinsam untertauchten und Maisie nur ab und zu nach mir sah. So war es für den Namenlosen und seine treue Gesellschaft noch schwieriger, uns ausfindig zu machen. Zudem hatte es den entscheidenden Vorteil, dass sie, falls sie erfolgreich sein würden, nur einen von uns schnappten. Maisies Antwort auf meine Sorgen war stets, dass sie wusste, wie sie auf sich aufzupassen hatte und soweit ich das beurteilen konnte, schien es zu stimmen.
Sie musste in Bewegung bleiben, weil sie der einzige Schatten war, den der Namenlose nicht kontrollieren oder bespitzeln lassen konnte. Jemand musste Ben finden, einen Überblick behalten und mich versorgen. Nur sie war in der Lage, diese Aufgaben zu erfüllen.
Sie besuchte mich einmal die Woche. Heute blieb sie besonders lang. Wir sprachen kaum, aber ich genoss das Gefühl, nicht allein zu sein. Ich stellte keine weiteren Fragen, sondern las in einem der neuen Bücher. Maisie lag weiter auf dem Sofa, die Augen wieder geschlossen und wippte die Füße.
Als sie sich zum Gehen aufmachte, sah ich nicht von dem Buch auf, mit dem ich es mir im Sessel bequem gemacht hatte, aber ich konnte mir den nächsten Satz nicht verdrücken. Dabei versuchte ich, meine Stimme so emotionslos wie möglich klingen zu lassen. »Wenn du auf die Idee kommst, das nächste Mal als mein Bruder hier aufzutauchen, sehe ich mich leider dazu gezwungen, den Dolch gegen dich einzusetzen, gleich nachdem ich mit dem Namenlosen fertig bin.«
Ich meinte es als Scherz. Gleichzeitig jagte mir die Vorstellung von ihr als Nathan einen Schauer über den Rücken.
Schließlich war ich doch zu neugierig auf ihre Reaktion und hob den Kopf. Ihre Augen leuchteten belustigt. »Verstanden«, stimmte sie nickend zu.
Meine Sorgen darüber, dass Maisie mir erneut einen Streich spielen würde, hatten sich jedoch als nichtig herausgestellt. Denn unser letztes Gespräch lag einige Tage zurück. Seitdem blieb sie verschwunden.
Ich war über alle Maßen dankbar dafür, dass Maisie mir einen üppigen Vorrat an Konserven und Wasserflaschen beschafft hatte.
Irgendwann, als mir auffiel, dass meine Ressourcen knapp wurden, begann ich, mir Rationen einzuteilen und eine Strichliste über die weiteren Tage zu führen, die sie wegblieb. Es waren bereits zwölf.
Eine allgegenwärtige Unruhe hatte Besitz von mir ergriffen. Ich tigerte über den knarrenden Boden der Hütte und versuchte, mich von der Panik nicht übermannen zu lassen.
Maisie musste etwas passiert sein. Sie musste geschnappt worden sein. Es gab keine andere Erklärung dafür, dass sie hier nicht mehr auftauchte. Ihr Fernbleiben verhieß nichts Gutes.
Es bedeutete auch, dass der Namenlose über kurz oder lang hier auftauchen würde. Zwar war ich mir sicher, dass Maisie einer Menge standhalten könnte, aber wer wusste schon, was er mit ihr machte, um an die Informationen zu kommen, die er haben wollte.
Was sollte ich jetzt tun? Für eine derartige Situation hatten wir uns weder abgesprochen noch einen Plan ausgeheckt. Hätte sie doch nur auf mich gehört. Ein paar Mal hatte ich dafür plädiert, uns auch für den Worst Case vorzubereiten. Immer wieder hatte Maisie mich abgeschmettert. »Das wird nicht nötig sein«, war jedes Mal ihre Antwort gewesen. Doch jetzt war es nötig.
»Verdammt«, knurrte ich. »Sieh nur, wohin uns dein Stolz geführt hat.«
Frustriert raufte ich mir die Haare. Ich brauchte dringend einen Plan. Meine Vorräte hielten nicht mehr lange, auch wenn ich sparsam damit umging. Wie sollte es weitergehen? Wo sollte ich hin? Wie sollte ich mit den anderen in Kontakt treten, ohne uns alle in Gefahr zu bringen?
Ich ließ mich auf das Sofa fallen und wippte aggressiv vor und zurück. Dabei griff ich mir an die Schultern und presste die Unterarme gegen den Hals, in der Hoffnung es würde das ausdehnende Gefühl der Panik in meiner Brust stoppen. Als das nichts half, brachte ich die Hände vor mich und fing an, an den Holzfasern herumzuspielen, die aus der Oberfläche des Couchtisches herausstanden. Immer wieder spannte ich die Kiefermuskeln an, während ich die Astlöcher in der Wand zählte.
Eine halbe Ewigkeit saß ich so da. In meinen Gedanken tobte ein Wirbelsturm.
Plötzlich holte ich tief Luft und erhob mich schwungvoll. Mit flinken Schritten rannte ich durch die Räume, kramte eine Tasche hervor und begann, sie mit den restlichen Vorräten zu befüllen. Wie im Wahn sammelte ich meine anderen Sachen ein. Nur das Nötigste, weil nicht alles in den staubigen Rucksack passte.
Es dauerte nicht lang, bis ich damit fertig war. Dann griff ich mir den Mantel und trat an die Kommode. Dort kramte ich die Sonnenbrille hervor, die ich darin gefunden hatte. Leidlich pustete ich den Staub von dem schlichten Gestell. Es war ein altes Modell und ein wenig verbogen. Seinen Zweck würde es aber erfüllen. Umständlich zog ich den Saum eines Ärmels unter der Jacke hervor und rieb damit über die dunklen Gläser.
Kurzerhand setzte ich die Brille auf und eilte zur Tür. Mit einer Hand umschloss ich den Knauf, wartete einen Moment. Als würde Maisie genau jetzt plötzlich auftauchen und alles wieder gut werden.
»Maisie. Zeig dich«, flüsterte ich gegen das schüttere Holz der Tür. Nichts passierte.
Prüfend musterte ich die Ecken des Raumes und warf einen letzten Blick auf die Möbel. Ich hatte die Bücher fein säuberlich nach Titel sortiert und auf der Kommode platziert. In Gedanken sprach ich eine kurze Verabschiedung aus.
Das kam mir albern vor, aber ganz ohne einen letzten Blick zu gehen, obwohl ich hier so viel Zeit verbracht hatte, wäre seltsam. Hatte es mir doch Sicherheit und einen Ort zum Ausharren gegeben.
Dann trat ich hinaus. Weiße Hügel und schneebedeckte Tannen säumten die Umgebung um das Holzhäuschen herum.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, inmitten des Schnees zu stehen, aber keine Kälte zu empfinden, obwohl ich Kleidung trug, die mich nicht davor schützte.
Unschlüssig stand ich auf dem kurzen hölzernen Steg, der das Haus umgab, und hielt den Atem an.
Erwartungsvoll ließ ich den Blick über die vielen Bäume wandern. Als würde sich jeden Augenblick eine unheilige Menge an Schatten auf mich stürzen, um mich an den Namenlosen auszuliefern, was keinen Sinn ergab. Sie hätten das auch tun können, solange ich allein war und gänzlich ohne Maisie auskommen musste. Trotzdem fühlte ich mich jetzt seltsam ausgeliefert. Schutzlos. Bei der Hütte zu sein, hatte mir Sicherheit vermittelt. Nun stand ich vor dem Nichts und hatte keine Ahnung, wo ich als Nächstes mein Lager aufschlagen würde. Oder wer dort draußen auf mich wartete …
Ich schnaubte entschlossen und setzte mich in Bewegung.
Von Wegen und Straßen hielt ich mich fern. Welche Richtung ich auch immer einschlug, ich kontrollierte zuerst, ob sich in der Ferne eine Bewegung erahnen ließ und zu wem diese gehörte.
Das Einzige, was meinen Weg kreuzte, waren die schattenartigen Gestalten der Menschen, die in der Menschenwelt die Stelle passierten, an der ich mich in der Schattenwelt befand.
Ihr Schleier hing schwer über der Umgebung und lenkte meine Sinne ab. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war und wo ich nach Cam und den anderen suchen sollte. Es wurde dunkel und wieder hell, aber ich konnte mich nicht orientieren. Wo war ich hier? Die Stadt, die in den roten Stein gehauen war, kam mir in den Sinn. Doch wie ich dort hinkommen sollte, wusste ich nicht. Aber vielleicht gab es ein Äquivalent. Eine andere Stadt mit denselben Strukturen.
Gäbe es so etwas, woran würde ich es erkennen? Wie könnte ich diese Stadt finden?
Nachts versteckte ich mich in Gebüschen oder verlassenen Hütten, um etwas zu schlafen. Am Tag stapfte ich tapfer durch den tiefen Schnee und wechselte immer wieder die Schulter, über der ich die Tasche trug. Sie war über die Zeit leichter geworden. Mein Proviant neigte sich dem Ende, was mich zunehmend nervös machte. Besonders als ich in den vielen Hütten zwar Essbares fand, es jedoch nicht essen konnte. Kaum, dass ich es mir in den Mund gesteckt hatte, zerfloss es zwischen meinen Zähnen zu Asche und löste sich in Luft auf. Deshalb hatte Maisie mir Essen aus der Menschenwelt mitgebracht.
Die Schattenwelt war der Schatten der Menschenwelt. Eine Kopie ohne Substanz.
Alles, was mich hier umgab, eingeschlossen.
In der Ecke eines spärlich beleuchteten Wohnzimmers hatte ich mich zusammengerollt und beobachtete mehrere Schattengestalten, die dort beisammensaßen. Ihren Bewegungen nach zu urteilen, spielten sie ein Kartenspiel und hatten eine Menge Spaß dabei.
Ich fühlte mich wie ein Eindringling. Wie ein ungebetener Gast. Wie ein Geist, den sie zwar nicht sehen konnten, aber der sie im Stillen beobachtete.
Das erinnerte mich an die Spieleabende mit meiner Familie. Und es hielt mir noch eine weitere schmerzliche Wahrheit vor Augen: Ich war allein.
Diese Erkenntnis versetzte mich in Panik.
Schließlich traf ich die Entscheidung, dass es an der Zeit war, aktiv zu werden. Niemals würde ich Camilla und die anderen finden, wenn ich mich weiterhin abseits von allem bewegte.
Versuchen, die Schatten zu meiden, würde mich nicht an mein Ziel führen. Es war an der Zeit, sich mit Absicht in ihre Nähe zu bringen.
Es waren nun drei Tage, an denen ich ohne Essen und mit den letzten Wasserresten unterwegs war. Meine Lippen waren spröde, fühlten sich wie Schleifpapier an und ich kam nicht umhin, wieder und wieder mit der Zunge darüber zu fahren, was es nur schlimmer machte.
Noch immer hatte ich keinen einzigen Schatten gefunden und erst jetzt kam ich in einem größeren Ort an.
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