Geheimnis der Schattenwanderer - Jessica M. Rhodes - E-Book

Geheimnis der Schattenwanderer E-Book

Jessica M. Rhodes

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Beschreibung

Auch Schatten sind der Dunkelheit ausgeliefert. An das Übernatürliche glaubt Ava nicht. Nur in ihren Büchern begibt sie sich auf Reisen zu spektakulären Welten. Bis sie eines Tages auf Ben trifft. Kaum kommt sie ihm näher, lässt der mysteriöse Bibliothekar ihr Leben zu Schatten zerfließen. Sie lernt, dass manche Schauermärchen wahr sind. Ava betritt eine ungeahnte Welt, die ebenso schön wie gefährlich ist und in der man bereits auf sie wartet ...

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Lieber Leser,

für das Interesse an meinem Werk bin ich überaus

dankbar. Diese Geschichte soll für dich jedoch keine

Bürde sein. Wenn sensiblere Inhalte, wie z. B. Tod,

Trauerprozess, Darstellungen von Gewalt und/oder

der Konsum von Rauschmitteln dir zusetzen, würde

ich dir davon abraten, weiterzulesen.

Pass auf dich auf.

Jess.

Für euch Warmherzigen.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Mein ganzes Leben verbrachte ich zur falschen Zeit am falschen Ort. So fühlte es sich zumindest an. Als würde in der Ferne ein Nebelhorn meinen Namen rufen, das nur ich hören konnte. Ich verzehrte mich nach einer höheren Aufgabe, von der ich aber nicht einmal selbst wusste, wie sie lautete.

Diese Sehnsucht nach einem mehr wurde gerade wieder unerträglich. Sodass ich mich kaum noch selbst erkannte und absolut jede Entscheidung in meinem Leben infrage stellte. Kein guter Tag.

Zu meinem Glück war es aber auch der eine Tag in der Woche, den mein Halbbruder und ich in der Stadtbibliothek verbrachten. Hier fühlte ich mich wohl. Der himmlische Geruch der alten Bücher fing mich völlig ein.

Dieser spezielle Duft hatte mich schon immer beschäftigt und vor Kurzem war ich sogar über eine Studie dazu gestolpert, die erklärte, warum Bücher überhaupt einen Geruch absonderten. Es lag daran, dass beim Voranschreiten der Zeit im Papier chemische Verbindungen entstanden. Komplexe Stoffe, von denen man manche kaum aussprechen konnte. Jedoch drei davon blieben in meinem Gedächtnis hängen.

Bittermandel, Essig und Vanille.

Ich schritt die wuchtigen Regale ab und erwischte mich dabei, wie ich die Luft nach diesen Bestandteilen beschnupperte. Vielleicht war es dem Umstand geschuldet, dass ich durch die Studie von ihnen wusste, und mir jetzt einbildete, sie deutlich identifizieren zu können. Sie schwebten geradewegs aus den Geschichten zwischen den Buchdeckeln heraus und an mich heran.

Beschwingt drehte ich mich einmal herum und ließ meinen Blick dabei genüsslich über das dunkle Holz der Regale schweifen und über die Abenteuer, die dazwischen aufgereiht standen. So ein Besuch in der Bibliothek half mir dabei, Tage zu überstehen, die ich vorüber wissen wollte. Nur zu gern ließ ich mich von den Geschichten vereinnahmen. Flüchtete in sie hinein.

Die Bestandteile eines Geruchs waren das eine. Den eigentlichen Reiz machten die Erinnerungen aus, die man damit verband. Bücher ließen mich immer an Augenblicke mit meinem Dad denken und die vertraute Wärme darin. Die Art, mit der er die Lippen schürzte, während er mir den Dialog zwischen Fabelwesen vorlas. Meine eigene Vorfreude, wenn er voller Heiterkeit Gebäck vorbereitete. Seine Umarmungen. Sein Lächeln, das ich schon so lange nicht mehr gesehen hatte. Wie sehr ich es vermisste. Ihn vermisste.

Der Holzboden knarzte unter meinen Schritten. Das Geräusch hallte von den hohen Steinwänden zurück. Oft betrachtete ich die Kratzer und Rillen darin. Wie viele Menschen hier wohl schon entlanggegangen waren?

Die Bücherei war der ganze Stolz dieses Stadtteils und trotzdem fehlten die finanziellen Ressourcen, um das Inventar zu sanieren oder regelmäßig neue Bücher anzuschaffen. Kurzum, sie wurde vor allem gerne besucht und angesehen, gelesen wurde hier selten. Der ehrwürdige Charme dieser Einrichtung ließ mein Herz höherschlagen, wann immer ich hier war.

Ich spielte an dem silbernen Narwal-Anhänger herum, der kurz über dem Schlüsselbein kühl auf meiner Haut ruhte. Mit der anderen Hand fuhr ich in einer angedeuteten Berührung über die Buchrücken und überflog dabei die Titel.

An jedes Werk, das ich schon einmal gelesen hatte, machte ich im Geiste einen Haken. Sicher hätte ich eines herausziehen und mitnehmen können, um es erneut zu lesen. Doch ich wollte weiterhin in der sanften Umarmung der Umgebung verweilen, die mir so vertraut war. Trotzdem machte sich zunehmend ein flaues Gefühl in meinem Magen breit. Ich ärgerte mich über mich selbst, weil mich wieder diese wütende Sehnsucht überkam. Der Drang nach mehr.

Schwer legte er sich auf meine Brust und schnürte mir die Luft ab. Kurz schloss ich die Augen und ließ es zu. Nur für einen Moment gab ich mich ihm hin. Als sich mein schlechtes Gewissen meldete, zwang ich mich, im Geiste die Dinge aufzuzählen, die so viel Dankbarkeit in mir auslösten und die mein Leben zu dem machten, was es war. Allem voran meine Familie. Meine herrlich verrückte Familie.

Es half. Langsam ebbte das Gefühl der Beklemmung wieder ab. Es verzog sich zurück in die Ecke meines Hirns, wo es stetig lauerte und nur darauf wartete, laut zu werden.

Noch während meiner Zeit am College hatte ich durch Mom eine Stelle in der Buchhaltungsabteilung einer Marketingagentur ergattern können. Meine Arbeit hatte darin bestanden, die unterschiedlichsten Botengänge zu erledigen. Nach meinem Abschluss war ich dennoch geblieben, was sich für mich gelohnt hatte. Mittlerweile war ich seit drei Jahren dort und für die wesentlichen Tätigkeiten zuständig. Es war nicht der aufregendste Job, aber ich konnte die Rechnungen bezahlen und wusste mich abgesichert.

Trotzdem kam ich nicht an diesem Kratzen im Inneren vorbei. Das, was mir zuflüsterte, es müsste noch mehr für mich geben. Dort draußen wartete eine Welt voller Möglichkeiten. Stattdessen jonglierte ich als Buchhalterin Zahlen in einem klimatisierten Raum ohne Fenster.

Gedankenverloren biss ich mir auf die schmalen Lippen. Sie passten zu der spitzen Nase und den feinen Zügen, die mein Gesicht zierten. Ich nahm einen tiefen Atemzug und schüttelte die Schultern aus, die über mein Grübeln steif geworden waren. Geräuschvoll ließ ich die Luft wieder durch meinen Mund entweichen und ergriff den nächstbesten Titel, der vor mir stand.

Bücher. Sie waren meine Rettung. In ihnen konnte ich reisen, wohin ich wollte.

Ich musterte das Cover in meiner Hand, als im Augenwinkel etwas meine Aufmerksamkeit erregte. Sofort hob ich den Blick wieder und blinzelte angestrengt in die Lücke, in der das Buch eben noch gestanden hatte.

Ein spitzer Schrei löste sich aus meiner Kehle und ich wich so heftig zurück, dass mir die langen blonden Haare einen Moment die Sicht nahmen und ich gegen das nächste Regal stieß. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in meinem Rücken aus und rang mir ein Zischen ab.

Mein Rock bauschte sich auf, als ich langsam an dem Holz zu Boden rutschte, während ich mit pochendem Herzen und weit aufgerissenen Augen noch immer die Stelle anstarrte. Ich suchte nach einer rationalen Erklärung, aber konnte die Gänsehaut nicht leugnen, die dafür gesorgt hatte, dass sich jedes Haar an meinem Körper aufstellte. Zwar war mir die Sicht darauf nun versperrt, aber der Anblick hatte sich auf meine Netzhaut gebrannt.

Zwischen den Büchern hatte mich jemand beobachtet. Jemand, dessen Augen tiefschwarz waren. Zumindest glaubte ich, dass es so gewesen war. Ich hatte weder das Weiß gesehen noch eine Iris oder Pupille.

Nur einen Augapfel so dunkel wie die Tiefsee.

»O Shit! Entschuldige!«, hörte ich eine aufgeregte Stimme.

In meinem Kopf rasten die Gedanken, aber ich konnte mich kein Stück bewegen. Wie versteinert beobachtete ich den Mann, der in meinen Gang geeilt kam. Ich verengte die Augen zu Schlitzen, weil mein Sichtfeld anfing zu pulsieren. Vielleicht hatte ich mir den Kopf doch heftiger gestoßen, als zunächst angenommen. Ich erkannte die gebräunte Haut, den Bart und die buschigen Augenbrauen. Es war das Gesicht, auf das ich durch den Spalt im Bücherregal einen Blick werfen konnte, aber jetzt sahen seine Augen normal aus.

Voller Verwirrung blinzelte ich ein paar Mal, während sich meine Atmung langsam beruhigte und sich die Sicht etwas klärte.

Hier saß ich, platt, auf meinem Hintern, und hielt mir eine Hand auf die Brust. Jetzt da die Gefahr so schnell gebannt schien, musste ich innerlich über meine Reaktion lachen. Zwar war ich schon fünfundzwanzig Jahre alt, dem Schrei nach zu urteilen, hätte man mich aber auf höchstens zwölf geschätzt.

Der Mann ließ den Bücherwagen, den er an der Hand führte, hinter sich auf dem Flur stehen und ging vor mir in die Hocke. Wofür ich ihm dankbar war, denn er war ziemlich groß. »Hast du dir wehgetan?« Seine Stimme war warm und klar.

Ich schätzte, dass er ungefähr in meinem Alter war. Vielleicht ein wenig älter. Sein Bart war dicht und genauso schwarz wie seine Augenbrauen und die kurzen Haare.

Er trug ein Flanellhemd mit groben Karos in Rot- und Schwarztönen, das er nicht zugeknöpft hatte. Die Ärmel waren hochgekrempelt, sodass ich die Sehnen an seinen Unterarmen, die er auf den Oberschenkeln ruhen ließ, hervortreten sah. Über der Brust lag dunkelgrauer Stoff eng an und die Anhänger der beiden Ketten schwangen davor hin und her.

Meine Aufmerksamkeit wanderte zu seinen Augen. Ich nahm sie genau unter die Lupe. Zwar hatte ich nur eine Sekunde gebraucht, um mich für verrückt zu erklären und einzusehen, dass ich mich verguckt haben musste, trotzdem wollte ich sichergehen.

Die Form seiner Augen war dieselbe, aber sie waren hell und stahlgrau. Nicht schwarz. Die Lichtverhältnisse mussten mir einen Streich gespielt haben.

Ich bemerkte, dass sich seine Augenbrauen bewegten und er den Kopf schräg legte. Da wurde mir bewusst, wie lange ich ihn schon anstarrte.

Meine Wangen standen in Flammen. Außerdem war ich ihm noch eine Antwort schuldig. »Nein. Nichts passiert«, stotterte ich und fing an, mich an dem Regal in meinem Rücken hochzuziehen.

Ich riskierte einen weiteren schnellen Blick, doch seine Augen waren noch immer hell. Der Kontrast zu dem dunklen Haar war beinahe surreal und raubte mir den Atem. Es lenkte mich so sehr ab, dass ich nicht mitbekam, wo ich meine Finger anlegte. Sie rutschten auf dem Regalbrett zur Seite und ließen ein paar Bücher herunterfallen. Ich stieß einen lautlosen Fluch aus und bückte mich schnell danach, um sie einzusammeln.

»Es ist ein Verbrechen, Bücher rumzuwerfen«, sagte ich mit zittriger Stimme und lachte nervös, als ich mich wieder erhob. Kurz wandte ich ihm den Rücken zu, um den kleinen Stapel ins Regal zu sortieren.

»Was schlägst du als Strafe vor?« Sein Lachen klang kehlig und aktivierte etwas in meinem Magen, das freudig hüpfte.

Darum bemüht, mir das nicht anmerken zu lassen, hielt ich inne und sah ihn abschätzend an. Ich hatte das Gefühl, etwas klarstellen zu müssen. »Was?«

Ein spitzbübisches Lächeln breitete sich auf seinen schmalen Lippen aus. Ich konnte nicht anders, als es ihm nachzumachen. Mist!

»Ich bin Ben.«

»Amelia«, hauchte ich. Sofort räusperte ich mich und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Amelia Valery. Aber die meisten nennen mich Ava.« Für mein Gestottere hätte ich mich ohrfeigen können. So peinlich!

»Wegen der Anfangsbuchstaben deiner Namen?«, fragte er und setzte sich in Bewegung, um zu seinem Wagen zurückzukehren.

Ich folgte ihm und nickte.

»Freut mich, dich kennenzulernen, Ava.« Er wandte sich der Unordnung auf dem Wagen zu und stapelte ein paar der Bücher übereinander. Meine Zerstreutheit schien ihm gar nicht aufzufallen. Oder er ignorierte sie geschickt.

»Das mit den Büchern sei dir verziehen.« Ein Zwinkern huschte über sein Gesicht. »Ich habe nicht damit gerechnet, hier jemanden zu treffen. Tut mir leid, dass du dich erschreckt hast«, sagte er.

»Das macht nichts. Heute ist sowieso nicht mein Tag.«

Wieder legte Ben den Kopf schräg und seine Augen nahmen einen fragenden Ausdruck an. Den Stapel Bücher in seiner Hand legte er auf dem Wagen ab und bedeutete mir mit einer Geste, dies auch zu tun. »Solche Tage kenne ich leider nur zu gut. Willst du darüber sprechen?«

»Das ist wirklich nett, aber ich komme schon klar.« Ich musste seinem Blick ausweichen, weil mich das Angebot so unvorbereitet traf. Es war wirklich freundlich von ihm, aber wir kannten uns doch gar nicht.

»Also, ansonsten …« Er legte die großen Hände auf den langen Griff des Wagens, der dadurch noch schmaler wirkte. »Ich bin kein Barkeeper, dem man sein Herz ausschütten kann, nur Bibliothekar, aber …«

Meine Augen wurden groß. »Ach, du bist der neue Bibliothekar!«

»Du weißt über die Einstellungsverhältnisse dieser Bücherei Bescheid?«, stutzte er und die Fältchen an seinen Augen wurden länger. »Wie klein ist diese Stadt?«

Das entlockte mir ein Lachen. Portland war ganz sicher alles, nur nicht klein. »Nein. Es ist nur … Mrs. Banner erzählte meinem Bruder und mir vor etwa drei Wochen, dass sie jemanden suchen will, der sie hier unterstützt.«

Er grinste und hob kurz die Hände, wobei er mir seine Handflächen zeigte. »Nun, sie hat jemanden gefunden.« Als er erneut den Wagen ergriff, zögerte er kurz. »Der kleine vorwitzige Junge unten gehört also zu dir?«

Bei dem Gedanken an Nathan, wie er im Erdgeschoss auf einem der Sitzsäcke in der Kinderabteilung saß und die Mitarbeiter ärgerte, presste ich belustigt die Lippen aufeinander. Sicher verschlang er ein Buch nach dem anderen und teilte sein Wissen nur zu gern. Bescheidenheit war keine Stärke, die mein Bruder oft zum Besten gab. »Kurze braune Haare? Zehn Jahre alt? Und hat dich darauf hingewiesen, dass du niemals so viel lesen könntest wie er?«

»Ja«, bestätigte Ben und lachte gedehnt. »Mir wurde so etwas in der Art gesagt. Und er hat mir in aller Ausführlichkeit erklärt, dass er hier so viel lesen muss, wie er kann, weil er nur noch zehn Bücher pro Woche ausleihen darf.«

Die Erinnerung daran ließ mich breit grinsen. »Mrs. Banners Anweisung war da sehr konkret formuliert.«

»Seid ihr denn wirklich jede Woche hier?«

»Jap, immer dienstags.« Ich zuckte mit den Achseln.

»Schön.« Für einen Moment senkte er die Lider. Schließlich setzte er den Wagen in Bewegung und das Grinsen, mit dem er mich bedachte, war noch breiter als zuvor. »Dann werden wir uns sicher wiedersehen.« Mit diesen Worten drehte er sich um und verschwand in einem anderen Gang.

Ein Lächeln umspielte meine Lippen, während ich ihm nachsah. Der Duft der Bibliothek vereinnahmte mich wieder nach und nach. Bittermandel kitzelte mir in der Nase. Es war wirklich faszinierend, entstand der Geruch alter Bücher letztlich doch aus Verfall. Das Papier wurde alt und im schlimmsten Fall zerfiel es sogar zu Staub.

Eine Symphonie aus Schönheit und Verderben.

Moms Lachen war eine Mischung aus Glockenklang und Koboldgeheul. Es war das glücklichste, lauteste und vor allem verrückteste, das ich kannte. Wann immer sie lachte, musste jeder mit einstimmen. Jetzt gerade konnte sie nicht an sich halten, weil ich ihr von der Diskussion berichtete, die Nathan mit Mrs. Banner gehabt hatte, als wir die Bücherei wieder verlassen wollten.

Ich zählte ihr die enorme Menge an, wie ich fand, sehr validen Argumenten auf. Er hatte versucht, der Bibliothekarin glaubhaft zu machen, dass die vierzehn Bücher, die er ausleihen wollte, technisch gesehen nur zehn wären.

»Er wird diese arme Frau noch ins Grab bringen.« Mom wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und ihre vollen Lippen formten ein Lächeln.

Ich stützte mich mit den Händen auf die Arbeitsfläche der Küche und lehnte die Hüfte gegen den Schrank darunter. Das dümmliche Grinsen auf meinen Lippen war mir mehr als bewusst und auch, dass es nicht nur Nathans Debattierkünsten geschuldet war.

»Ist das nicht schön?«, fragte ich meine Mutter, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. »Er liebt Bücher genauso wie ich.«

Ihr fröhlicher Gesichtsausdruck formte tiefe Grübchen in ihren Wangen, für die ich sie schon immer beneidet hatte. Ihre braunen Haare waren von feinen blonden Strähnen durchzogen. Sie trug die langen Locken halb hochgesteckt, damit sie ihr nicht ins Essen fielen. Unter den definierten Brauen leuchtete das Haselnussbraun in ihren Augen beinahe golden. In diesem Augenblick wurde mir mal wieder bewusst, wie ähnlich mein Äußeres dem meines Vaters war, denn mit Mom hatte ich nicht viel gemein.

»Dein Bruder liebt dich«, erklärte sie feierlich und ihre Augen waren voller Zuneigung. »Wenn du Kaugummis von der Straße sammeln würdest, würde er auch das mit Freuden tun.«

Dafür hatte ich nur einen sparsamen Gesichtsausdruck übrig.

»Aber ich unterstütze die Bücher.« Sie zeigte erst auf sich und dann in die Luft, bevor sie sich wieder kichernd ihrem Kochtopf widmete.

Durch die geöffneten Flügeltüren beobachtete ich Nathan, der im Wintergarten an einem drahtigen Metalltisch saß und Hausaufgaben machte. Eifrig ließ er seinen Bleistift über das Papier wandern und rieb sich dabei immer wieder über die Stirn.

»Du hast heute ja besonders gute Laune. Ist auf der Arbeit etwas Schönes passiert?«

Ich sah sie nicht an, aber mein ganzer Körper versteifte sich. Sie könnte nicht weiter von der Wahrheit entfernt liegen. »Weder noch«, log ich und wechselte prompt das Thema. »Gibt es eigentlich einen besonderen Grund dafür, dass das Wohnzimmer in Pappkartons ertrinkt?«

»So schlimm ist es nun auch wieder nicht.« Mom lachte und schüttete ein paar Gewürze in den Eintopf. »Marcus hat die Sachen von einer Londoner Universität zugeschickt bekommen. Es sind Leihgaben. Mit seiner letzten Veröffentlichung hat er die Möglichkeit bekommen, ein paar Papiere und Gegenstände zu sichten.«

Mein Stiefvater, Marcus, war Professor für Okkultes an der Universität hier in Portland und sogar über die Grenzen von Maine hinaus für seine Arbeit bekannt. Er beschäftigte sich vor allem mit der Erforschung von Legenden zu Wesenheiten, die unter dem Begriff der Shadow People zusammengefasst wurden.

»Gut, aber was hat das Zeug dann in eurem Wohnzimmer zu suchen?« Ich hob eine Augenbraue.

Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Das musst du Marcus fragen. Sie können hier wohl besser arbeiten.«

In meiner Brust flammte ein Stich auf. Ohne, dass ich es hätte verhindern können, presste ich die Zähne so fest aufeinander, dass es schmerzte. »Sie?«

»Jason ist da.«

Sofort wandte ich mich ihr zu. Mom hatte alle Bewegung eingestellt und sah seitlich zu mir herauf.

»Klasse Zeitpunkt, um das zu enthüllen.« Ich spürte ein wütendes Kribbeln auf meiner Kopfhaut. »Als ich den Tisch gedeckt habe, ist dir der fehlende Teller für ihn nicht aufgefallen?«, fragte ich sie spitz.

»Du weißt, dass er öfter da ist«, rügte sie mich.

»Hätte ich das vorher gewusst, wäre ich nach Hause gefahren.« Ich stieß mich vom Küchenschrank ab und ging ein paar Schritte in den Raum hinein, ohne wirklich ein Ziel zu verfolgen.

»Du weißt, ich respektiere deine Wünsche. Aber du weißt auch, wie ich darüber denke. Wenn du Marcus etwas sagen würdest, dann …«

»Das möchte ich aber nicht«, unterbrach ich sie harsch.

»Wenn du es mich erzählen lassen würdest …« Den Vorschlag hatte sie schon oft gemacht und entsprechend demütig brachte sie ihn auch dieses Mal vor.

Mir fiel es schwer, nicht völlig die Fassung zu verlieren. »Auch das möchte ich nicht. Es ist meine Sache. Meine Entscheidung.«

»Wüsste er, was damals wirklich zwischen euch passiert ist, dann würde er sicher nicht mehr mit ihm arbeiten. Er würde ihn sogar hochkant rauswerfen«, wies sie mich auf das Offensichtliche hin. »Meinst du, es ist leicht für mich, ihn ständig hier zu haben?«

Marcus hatten wir erzählt, die Trennung von Jason und mir wäre einvernehmlich und ruhig verlaufen. Dass wir uns einfach nicht mehr glücklich machten, uns nicht mehr liebten, uns aber noch immer viel aneinander lag.

Was für eine riesige Lüge. Aber ich hatte es nicht übers Herz gebracht, Jason alles zu nehmen.

»Dass du mich schützen willst, verstehe ich, Mom«, gab ich mich zunächst einsichtig. »Aber ich muss vor ihm nicht geschützt werden und ich möchte auch nicht, dass Jason rausgeworfen wird.« Frustriert warf ich die Hände in die Luft und wirbelte zu ihr herum.

Mom hatte eine Hand in die Hüfte gestemmt und schürzte die Lippen. »Und was sollen wir dann anderes machen?«

»Ich bin doch kein Teenager mehr. Es ist egal, was zwischen uns vorgefallen ist. Deshalb sollte er nicht seinen Job verlieren. Und was meinst du, wie es mit Marcus’ Reputation aussehen würde, wenn er Jason wegen Privatangelegenheiten loswerden würde.«

»Ich weiß, nur …«

»Mom«, unterbrach ich sie bestimmt.

Kopfschüttelnd hob sie die Hände. »Schon gut. Ich halte den Mund.« Sie tippte auf den Herd und wischte sich über ihre Schürze, bevor sie sie über den Kopf auszog. »Das Essen ist fertig. Ich gehe die beiden holen.«

»Mommy!«, rief Nathan gerade, als sie das Kleidungsstück über einen der Stühle hängen wollte, und fuchtelte gleich mit beiden Händen in der Luft herum.

Mom warf mir einen kurzen Blick zu, seufzte und wandte sich dann meinem Bruder zu. »Mommy ist sofort bei dir, mein kleiner Komet. Ich muss nur eben Jason und deinem Vater Bescheid geben.«

Genervt stöhnte ich augenrollend auf. »Schon gut. Ich hole sie.«

Bevor sie etwas entgegnen konnte, hatte ich schon auf dem Absatz kehrtgemacht und lief zielgerichtet durchs Wohnzimmer auf den Flur zu.

Aber plötzlich bremste mich etwas, während ich mich zwischen den Kartonsäulen hindurchschlängelte. Unschlüssig runzelte ich die Stirn und versuchte, dieses Gefühl einzuordnen, das mich da gerade überkam. Es war wie ein Sog.

Auf dem Kaffeetisch vor dem Kamin stand ein halb geöffnetes Paket inmitten von heillosem Durcheinander. Wie von selbst richtete sich mein Körper dazu aus und ich konnte nicht anders, als den Raum zu durchqueren. Ich musste hineinsehen.

Die braune Pappe und das Paketband standen im Kontrast zu dem verschnörkelten Truhendeckel, der dazwischen zum Vorschein kam.

Das Kupfer war hier und da angelaufen und zum Teil grün verfärbt. Ein blauer Stoff war daran entlang gearbeitet, matt und teilweise ausgeblichen. Die Schnörkel wuchsen zu ganzen Blumen und Blättern heran. Erst auf den zweiten Blick erkannte man all die eingearbeiteten Szenen. Immer unter dem Schutz eines anderen Blattes waren sechs Figuren zu sehen, die beisammenstanden und wie im Standbild eingefroren waren. Manchmal hatten sie etwas in der Hand oder dunkle Flecken hinter sich. In den unteren Szenen wurden sie immer weniger, bis es nur noch eine Figur war, die dort stand.

Es war faszinierend, wie detailreich hier gearbeitet worden war.

Das Bild von dem schwarzen Auge in der Bibliothek leuchtete in meinem Geiste auf. Warum es gerade jetzt aufkam, konnte ich mir nicht erklären. Es war nur eine ungünstige Schattenspiegelung, sagte ich mir ein ums andere Mal. Aber die Erinnerung schlich sich mir dennoch immer wieder in den Kopf.

Wie von selbst begann ich damit, mit den Zähnen über die Innenseite meiner Wange zu fahren.

»Nicht anfassen!« Der Donner in der Stimme, die mich von hinten erfasste, ließ mich heftig zusammenzucken und zog mich aus einer Art Trance heraus, der ich mir nicht bewusst war.

Erst jetzt bemerkte ich, dass ich meine Hand nach der Truhe ausgestreckt hatte, mich nur noch wenige Zentimeter davon entfernten. Die Ränder meines Sichtfeldes waren verschwommen.

Langsam zog ich die Hand zurück und blinzelte mehrmals. »Ich wollte es gar nicht anfassen«, sagte ich atemlos, obwohl ich gar nicht genau wusste, was ich gerade hatte tun wollen. Ich erinnerte mich nicht einmal daran, wie ich die Hand bewegt hatte.

Dann wurde mir klar, wer mich so harsch daran gehindert hatte, das Teil anzufassen, und die Verwirrung war wie weggewischt.

»Klar, sieht auch so aus.« Die Ader auf Jasons Stirn, der jetzt neben mir stand, trat deutlich hervor. Er verschränkte die Arme vor der Brust und das dunkle Braun seiner kleinen Augen funkelte mich überheblich an.

Er trug die brünetten Locken jetzt länger. Eine Strähne ringelte sich auf der Stirn. Alles an ihm war wie eine Beleidigung für mich. Selbst den Anblick seiner Augenbrauen, die ich früher einmal so lustig gefunden hatte, weil sie sich so seltsam kräuselten, konnte ich kaum ertragen.

Was ich ihm in diesem Moment am liebsten alles an den Kopf geworfen hätte … In mir pochte das Bedürfnis, ihm auf die Nase zu schlagen. Wie konnte er es wagen, so mit mir zu reden?

Das Minimum, das er mir schuldete, war eine Entschuldigung. Aber selbst die hatte ich bis heute nicht von ihm gehört.

Ich schnaubte. »Wie auch immer. Es gibt Essen.«

Als ich an diesem Abend endlich den Schlüssel in der Wohnungstür drehte, konnte ich einen tiefen Seufzer nicht unterdrücken.

Nach dem Essen hatte Marcus die großartige Idee, Jason auch noch zum Spieleabend einzuladen. Ich hatte also eine ganze Menge Jason und recht wenig Spaß hinter mir.

Mit dem Fuß schloss ich die Tür, nachdem ich meine Wohnung betreten hatte. Ein wenig umständlich beugte ich mich über die Kommode und ließ die Briefe, die ich zwischen den Zähnen hielt, darauf fallen.

Zuerst manövrierte ich mich in der Dunkelheit durch die Küche und verstaute die Reste, die Mom mir aufgedrückt hatte, im Kühlschrank. Die Tasche mit den ausgeliehenen Büchern stellte ich im Durchgang zur Wohnungstür neben der Kommode auf den Boden. Jetzt, da meine Hände frei waren, schaltete ich das Licht ein. Ich zog die Jacke aus und warf einen Blick auf die Briefe, die ich danach hochnahm, um sie genauer durchzusehen.

Rechnung, Rechnung, Rechnung …

Langsam begab ich mich vom Eingangsbereich weiter ins Wohnzimmer und machte die Lichterkette an. Meine Möbel waren in gedeckten Farben gehalten. Allerdings musste ich mir eingestehen, dass ich beim Einkauf von Dekoartikeln gerne mal über die Stränge schlug. Alles, was auch nur halbwegs als Abstellfläche genutzt werden konnte, beherbergte Pflanzentöpfe, Kerzen, dekorative Figuren oder Bilderrahmen. Auch die Sitzmöbel waren vor mir nicht sicher. Ich hatte sie wild mit Kissen und Decken übersät.

Ein Rascheln ließ mich innehalten und aufsehen. Ich starrte die hellen, hauchdünnen Gardinen an, die das große Fenster bedeckten. Mich überkam derselbe seltsame Sog, den ich schon zuvor bei der Truhe verspürt hatte. Zögernd blickte ich mich im Wohnzimmer um und blieb an dem Türbogen hängen, der in mein Schlafzimmer führte.

Dort war die Dunkelheit so vollkommen, undurchdringbar und dennoch bildete ich mir ein, dass ich Bewegungen in ihr erkennen konnte. Trotz der alles einnehmenden Düsternis konnte ich Wellen schlagen sehen, die sich darin abzeichneten. Wieso nur war es so dunkel? Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, dass ich die Jalousie geschlossen hatte. Scheinbar war es noch in der Hektik geschehen, bevor ich zu meinen Eltern gefahren war, um Nathan abzuholen.

»Ava.«

Gänsehaut kroch über meinen Körper, während mir das Herz in die Hose rutschte. Quälend langsam drehte ich mich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Betete mit rasenden Gedanken dafür, dass ich es mir nur eingebildet hatte.

Ich wollte nicht sehen, was das Gegenteil davon bedeutete. In dem kleinen Durchgang zwischen Wohnzimmer und Wohnungstür stand ein Mann.

Jeder Muskel in mir erstarrte. Ich konnte keinen Finger rühren. Meine Brust hob und senkte sich schnell. Ich starrte in das Gesicht vor mir, während mich die unterschiedlichsten Gefühle überschwemmten. Sie schwappten ineinander über, bis nur noch eines übrig blieb: Wut.

»Dad?«, fragte ich ungläubig.

Zwar setzte ich alles daran, dass mein Puls sich beruhigte, aber es funktionierte nicht. Ich presste die Kiefer aufeinander, um nicht direkt auf ihn loszugehen.

Ein Rauschen machte es sich in meinen Ohren bequem. »Du bist hier nicht wirklich eingebrochen, oder?«

Es war fast fünfzehn Jahre her, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Mit einer Geschichte brachte er mich damals ins Bett und ich erinnerte mich noch daran, dass ich verwundert war, weil er mit seinen Lippen länger als sonst auf meinem Scheitel verharrte. Wie von der Tarantel gestochen war er dann aus dem Kinderzimmer gestürmt. Am nächsten Tag war er verschwunden und hatte nichts weiter hinterlassen als die unterschriebenen Scheidungspapiere.

Das Licht aus dem Wohnzimmer warf einen sanften Schein auf ihn. Er war alt geworden. Sein dunkelblondes Haar schütter, mit weißen Strähnen durchzogen. Tiefe Ringe umgaben die wässrig grünen Augen, die in zuckenden Bewegungen hin und her hüpften. Ein unordentlicher Bart zierte seine eingefallenen Wangen und die Kleidung, die er trug, saß locker. An manchen Stellen war sie schmutzig oder sogar beschädigt.

»Tut mir leid«, sagte er, als wäre er nur leicht gegen mich gestoßen, und hätte nicht gerade ein Verbrechen begangen. Mit flinken Schritten ging er rüber zu meiner Stehlampe im Wohnzimmer, die ich gerne nutzte, um in dem Sessel darunter zu lesen. Er schaltete sie ein und dimmte sie direkt.

»Ich wollte kein Aufsehen erregen. Wir müssen dringend reden.« Das Raumlicht ging aus, als er den Schalter dafür betätigte. Wir befanden uns jetzt nur noch im schummrigen Schein der Leselampe. Wieso löschte er dafür das Licht? Hätte mich seine Aussage nicht so aufgeregt, wäre das geradezu gruselig gewesen. Mich überkam ein ungutes Gefühl.

Kein Aufsehen? »Was zum … Was tust du da?«, presste ich hervor, immer noch bemüht, ihn nicht anzufallen.

»Bitte.« Mit einer Hand deutete er auf den Sessel, aber ich bewegte mich kein Stück.

»Wie höflich, dass du mir meinen eigenen Sessel anbietest.«

Er rieb sich über den Arm und machte einen unschlüssigen Schritt auf mich zu. Als ich entschieden zurückwich, hob er beschwichtigend die Hände. »Ich muss wirklich dringend mit dir reden.«

»Ich sollte die Polizei rufen.«

»Bitte«, wiederholte er. Diesmal flehend.

Ich konnte ihn nicht einmal mehr ansehen. Stattdessen musterte ich nun die weiße Tapete. Hinter meinen Augen breitete sich ein Druck aus, aber ich hielt die Tränen verbissen zurück. Meine Gliedmaßen fühlten sich an, als wären sie aus Stein und wurden von Sekunde zu Sekunde kälter. Als er von uns fortgegangen war, Mom und mich allein zurückgelassen hatte, platzierte sein Fehlen ein Loch in meiner Brust. Ein Sehnen nach unserer gemeinsamen Zeit. Es hatte immer etwas gefehlt.

Wie oft hatte ich mir gewünscht, dass er zu mir zurückkam? Wie oft hatte ich mir eingeredet, es gäbe einen anderen Grund für sein Verschwinden, als dass er es selbst so gewollt hatte? Wie oft hatte ich geträumt, ein Wunder würde mir meinen Daddy zurückbringen?

Und hier stand er nun. Dieses Mal hatte ich ihn mir jedoch nicht hergewünscht.

Das konnte nicht real sein.

Welchem Wunder ich es auch immer zu verdanken hatte, ich wollte es nicht.

»Schatz, ich …«

»Nenn mich nicht so!«, fauchte ich und kniff die Augen zusammen.

Er erschrak regelrecht beim Anblick des Feuers, das er in meinem Gesicht zu sehen bekommen musste. Sein Adamsapfel hüpfte, bevor er ein »Okay« murmelte. »Ich weiß, du bist aufgebracht …«

»Ich bin nicht aufgebracht. Ich bin wütend.«

»Lass mich ausreden.« Seine Stimme wurde fest und er schob die Augenbrauen zusammen, bis sich tiefe Falten an seiner Nasenwurzel bildeten.

»Ich wüsste nicht, was wir zu bereden hätten. Zumindest nichts, was mich interessieren würde.« Ich spürte, wie sich meine Nasenflügel aufblähten. »Was denkst du dir eigentlich? Du bist verschwunden! Und ich hätte nichts dagegen, wenn du es geblieben wärst.« Ich wollte in Richtung der Eingangstür stampfen, um ihn auf der Stelle rauszuwerfen. Aber er umrundete mich und warf sich davor.

»Wirklich?«, fragte ich und hätte beinahe laut aufgelacht.

»Ava.« Mein Name, mit seiner Stimme ausgesprochen, brachte mich zum Stolpern. Kindheitserinnerungen sprudelten auf, aber wurden direkt von Enttäuschungen eingeholt. Mir wurde schwindelig und mein Magen war kurz davor zu rebellieren.

»Ich muss dich warnen und ich habe nicht viel Zeit.«

»Was redest du da?« Genervt kniff ich die Augen zusammen und rieb mir über die Stirn.

»Hast du meine Briefe bekommen?«

Ich musterte ihn eingehend. Es war, als hätte er mir einen Eimer Wasser ins Gesicht geschüttet. Ist das dein Ernst? »Welche Briefe?«

Seine Augen wurden groß. Er wendete den Blick ab und seufzte verzweifelt. Kurz holte er tief Luft, bevor er mich wieder ansah. »Jedes Jahr zu deinem Geburtstag habe ich dir einen Brief geschrieben«, sagte er.

Ich rollte mit den Augen. »So einen Bockmist habe ich selten gehört«, zischte ich. Aber als er nichts entgegnete, außer mich völlig verloren anzusehen, wurde mir klar, dass das tatsächlich sein Ernst war. Seufzend erklärte ich also: »So einen Brief habe ich nie bekommen.«

»Dann muss deine Mom …«

»Zieh Mom da nicht mit rein!«, unterbrach ich ihn augenblicklich.

Er ließ hörbar Atem entweichen. »Hör zu.« Auf Brusthöhe legte er seine Fingerspitzen aneinander. »Ich habe die Briefe nicht mit der Post verschickt, sondern selbst bei euch eingeworfen.«

Mir war klar, was er damit sagen wollte. Wenn er sie eigenhändig eingeworfen hatte, waren sie nicht frankiert gewesen. Sehr wahrscheinlich stand auch kein Absender darauf, aber Mom kannte seine Handschrift. Gerade verfluchte ich den Umstand, dass das Leeren unseres Briefkastens nie zu meinen Aufgaben im Haushalt gehört hatte.

»Es ist wichtig, dass du diese Briefe liest. Alles, was du wissen musst, steht da drin.«

Ich runzelte die Stirn. »Kannst du mir das nicht jetzt erklären, wenn es so wichtig ist?«

»Nein.« Er verzog das Gesicht. »Verstehst du nicht? Die Wände haben Ohren.« Den letzten Teil flüsterte er und weitete dabei bedeutungsvoll die Augen.

Sein Verhalten ließ mich stutzen und ich spürte, wie in mir die Perspektive wechselte. Die Wärme und das Lächeln, das ihn früher ausgemacht hatten, fehlten gänzlich. Dieser Mann war mir völlig fremd.

»Ich habe keine Zeit. Es fällt schon bald auf, dass ich verschwunden bin und dann werden sie mich suchen kommen«, sagte er nun eine Spur eindringlicher.

»Was meinst du?« Die Worte fühlten sich schwer auf der Zunge an. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Wer sucht dich?«

»Dafür ist jetzt keine Zeit«, wiederholte er. »Versprich mir, dass du deine Mom nach den Briefen fragen wirst.«

Nun hatte er die Handflächen aneinandergelegt und drückte die Fingerspitzen gegen sein Kinn. Seine Augen funkelten erwartungsvoll. »Dein Leben hängt davon ab.«

Mir kamen Gedanken an mögliche psychische Zustände. Vielleicht suchten ihn die Leute deshalb. War er von einem Ort fortgelaufen, an dem ihm geholfen werden sollte? Einer Einrichtung für psychisch Kranke vielleicht? »Dad«, sagte ich nun in einem weichen Ton. »Geht es dir gut? Vielleicht sollten wir einen Krankenwagen rufen?«

Sein Blick flackerte und er atmete stoßend aus. »Mir geht es gut.«

»Vielleicht wollen dir die Leute, die dich suchen, nur helfen.«

»Nein, das wollen sie nicht. Solche Leute sind das nicht.« Das Wort spuckte er mir beinahe entgegen und lachte dabei freudlos. »Bitte, such nach den Briefen.«

»Okay«, versprach ich. Mehr, um ihn zu beruhigen, als dass ich wirklich darüber nachdachte.

Er schloss die Augen und lächelte dann. »Gut.«

Als hätte es irgendein Zeichen gegeben, das ich nicht mitbekommen hatte, rauschte er an mir vorbei auf die Wohnungstür zu. »Ich muss jetzt gehen«, rief er gehetzt und schwang sich einen ramponierten, schwer aussehenden Rucksack auf den Rücken.

Es passierte so schnell und unerwartet, dass ich gar nicht darauf reagieren konnte. Er griff schon nach dem Knauf, hielt dann aber inne. Das schummrige Licht der Stehlampe unterstrich den düsteren Ausdruck in seinem Gesicht. »Halt dich von den Schatten fern«, sagte er mit einem dunklen Unterton.

»Schatten?«, wiederholte ich. Zuerst kam es mir wie ein Sprichwort vor, aber dann ließ es mich stutzen. »Meinst du die Schatten, die Marcus erforscht?«

Er nutzte den Begriff oft als Synonym für seine Shadow People.

»Marcus?« Dad stockte.

»Ja, mein Stiefvater.«

»Ich weiß, wer das ist«, unterbrach er mich barsch und hob abwehrend eine Hand. »Er erforscht sie? Bist du dir sicher?«

Ich runzelte die Stirn. »Er ist dafür bekannt. Schattenmenschen sind sein Spezialgebiet.«

Mein Vater musterte mich lange und wirkte dabei so, als würde er im Kopf eine schwere Matheaufgabe lösen. Dann fiel sein Blick plötzlich auf die Tasche am Boden, in der die Bücher lagen. »Freut mich, dass du noch immer so viel liest.«

Ich folgte seinem Blick, aber bevor ich etwas entgegnen konnte, hatte er schon die Tür hinter sich zugeworfen. Ohne Zögern lief ich darauf zu und ließ das Schloss klicken.

Noch Tage danach nagte die Begegnung mit meinem Vater an mir. Es war so verwirrend, dass ich mich öfter fragte, ob ich mir nicht alles nur eingebildet hatte.

Gerade konnte ich nicht mehr weiter darüber nachdenken, denn das wöchentliche Familienessen stand an.

Ich war früh dran. Wie immer, denn ich liebte es einfach, Mom in der Küche Gesellschaft zu leisten. Ihr beim Kochen zuzusehen – denn mehr durfte ich nicht dazu beitragen – hatte eine vertraute Wirkung auf mich und erinnerte mich auf beste Weise an früher.

»Hast du was?« Marcus betrat die Küche und erwischte mich dabei, wie ich ins Leere starrte.

Ich zuckte unmerklich zusammen, aber setzte sofort ein Lächeln auf. »Hab geträumt«, sagte ich das Erste, was mir einfiel.

»Sie ist schon die ganze Zeit so komisch«, gab meine Mutter zum Besten, ohne auch nur von der Schüssel aufzublicken. Mom hatte vorher schon die ganze Zeit versucht, mir auf den Zahn zu fühlen, und dann irgendwann schnaubend aufgegeben.

Während ich sie so von der Seite betrachtete, verfiel ich wieder ins Grübeln. Es brannte mir unter den Fingernägeln, sie nach den Briefen zu fragen, die Dad erwähnt hatte. Gleichzeitig aber hielt mich alles davon ab. Dieses Gespräch würde nicht ohne Streit verlaufen.

Die Vorstellung, dass Mom all diese Jahre etwas vor mir versteckt haben könnte, verletzte mich sehr. Allerdings glaubte ich nicht, dass es diese Briefe wirklich gab. Dafür wirkte mein Vater zu verwirrt auf mich.

Ich brauchte Klarheit. Auch wenn es sicher keine Freude werden würde, Mom zu eröffnen, dass ihr Ex-Mann wieder aufgetaucht war. Das allein würde sie schon völlig an die Decke gehen lassen. Weshalb ich auch plante, ihr das winzige Detail zu verschweigen, in dem er nachts bei ihrer Tochter eingebrochen war.

Nachdem Mom das Essen abgeschmeckt hatte, überlegte sie kurz. Dann drückte sie den Rücken durch und ging rüber zum Gewürzregal. Diese plötzliche Abwechslung in ihren Bewegungen holte mich wieder aus meinen Gedanken heraus.

»Deine Mutter und Liz werden uns heute nicht beehren?«, fragte Marcus wie beiläufig, aber er bedachte mich mit einem ruhigen Lächeln.

Mom kam zurück zur Schüssel und streute ein Pulver hinein. »Nein«, sagte sie mit einem Seufzen und fügte dann leiser hinzu, sodass selbst ich es kaum verstehen konnte, obwohl ich neben ihr stand: »Zum Glück.«

Ich unterdrückte ein Schmunzeln, war aber nur wenig erfolgreich und es trieb mir die Tränen in die Augen. Meine Großmutter und Tante waren, gelinde gesagt, etwas eigen. Sie kamen jede Woche zum Familienessen und es war immer anstrengend für Mom, sie um sich zu haben. Zwischen den dreien herrschte eine seltsame Dynamik. Trotzdem würde meine Mutter sie immer und immer wieder zum Familienessen bestellen.

»Sie haben heute anderweitig zu tun«, erklärte sie laut wie zur Antwort auf meine Gedanken.