Marmornacht - Jessica M. Rhodes - E-Book

Marmornacht E-Book

Jessica M. Rhodes

4,9

Beschreibung

Lass das Licht an ... Nach langer Abwesenheit kehrt Abigail Grant in ihre Heimatstadt zurück, um dort den Geburtstag ihrer Schwester zu feiern. Aufgrund der Spannungen zwischen ihr und ihrer Familie sind Probleme jedoch vorprogrammiert. Und Abby kann sich kaum vorstellen, dass es etwas gibt, das diese noch übertreffen könnte. Allerdings treiben übernatürliche Kreaturen ihr Unwesen auf Baltimores Straßen. Als der geheimnisvolle Will ihr das Leben rettet, entdeckt sie mit ihm und der Hilfe seiner Freunde, dass im Schatten ihrer gewohnten Welt etwas lauert, das furchterregender nicht sein könnte.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Epilog

Prolog

Die Corlson Group ist eine von Baltimores größten Software-Entwicklungsfirmen und Frank Andrew Johnson einer ihrer führenden Programmierer. Er ist ein Musterbeispiel für jene gesellschaftliche Metamorphose, wie sie sich wohl jeder Außenseiter für sein zukünftiges Leben wünscht. Als Kind war er, mit seiner pummligen Statur und seiner beinahe schon demütigen Schüchternheit, immer ein leichtes Ziel für allerlei soziale Schikane gewesen. Auch während der Collegezeit fiel es ihm schwer diese Laster abzulegen. Aber mit Corlson als Arbeitgeber fand er sich in einem Zustand wieder, der ihn massiv veränderte – ja, sogar prägte: Er war erfolgreich. Immens erfolgreich.

Außerdem lernte er für sich selbst, dass er sich mit Geld wirklich alles kaufen konnte. Er fand jemanden, der ihn mit seinem Äußeren beriet, der ihm eine Frisur und seine Kleidung aussuchte und für ihn einkaufen ging. Auch sein gesamtes Auftreten wurde mithilfe eines Verhaltenstrainers geschult und sein Körper von Personal Trainern gestählt. Binnen kurzer Zeit wurde aus dem mäusigen Frank ein anzugtragender, beneidenswerter Mr Johnson.

Er tauschte Brille gegen Kontaktlinsen. No-Name-Uhr gegen Rolex. Seine nerdige Blässe gegen Solariumbräune. Sein glattes Kinn gegen einen aufwändig in Szene gesetzten Bart und Abende vor dem PC gegen raue Barbesuche mit seinen Kumpels – häufig wechselnde Frauenbekanntschaften inklusive.

Man könnte meinen, er hätte jede seiner charakterlichen Eigenschaften im Laufe der Zeit verloren. Und für den Großteil dieser Eigenschaften stimmt das wohl auch. Allerdings blieb ihm eine klitzekleine Kleinigkeit aus Collegetagen erhalten: Johnson ist eine Nachteule. Zwar hatte er oft versucht, diesen Umstand zu ändern, fand sich aber dennoch immer wieder vor seinem Monitor, während die Digitaluhr an der Wand seines Collegezimmers sein Versagen dokumentierte. Schließlich gab er es irgendwann auf und akzeptierte den Umstand, dass er seine Nächte lieber durchmachte.

Zu seinem Glück lässt ihm die Corlson Group freie Hand, was seine Arbeitszeiten angeht und so kann er seine Schichten abarbeiten, wenn er am produktivsten ist.

Nachts.

So wie heute.

Es ist bereits vier Uhr in der Früh, als er den Whiteboard-Marker zurück auf die Ablage wirft.

Mit einem Schwung lässt er sich in seinen wuchtigen Bürostuhl fallen und reibt sich mit dem Handrücken über das kratzige Kinn, während sein Blick noch einmal prüfend über das Sequenzdiagramm schweift. Er hat es untypischerweise waagerecht an das Board skizziert, weil dieses zwar eine beachtliche Breite, aber eine fragwürdig geringe Höhe besitzt.

Nachdem er entschieden hat, dass er endlich zufrieden ist, macht er mit seinem Smartphone einige Fotos davon und schiebt dann den Bürostuhl zurück an seinen Platz hinter dem Schreibtisch. Er lässt die Rollos der riesigen Fensterfront herunter und verdeckt damit den grandiosen Blick auf die nachterleuchtete Innenstadt, vor der Kulisse des angedeuteten Sonnenaufgangs. Kurz darauf steht er auch schon auf dem Flur und verschließt die Bürotür hinter sich. Seine gesamte Etage ist leer. Die ersten Mitarbeiter würden frühestens in drei Stunden hier aufkreuzen. Die Lichter sind schon lange gelöscht und lediglich die EXIT-Schilder geben ein wenig Licht ab. Das stört Johnson allerdings nicht weiter. Er ist es gewohnt in der Dunkelheit das Büro zu verlassen.

Im hellerleuchteten Etagenvorraum, in dem sich die Fahrstühle befinden, muss er jedoch mehrmals blinzeln, bevor er dem Nachtwächter zunickt, der dort am Security-Pult sitzt. Dieser erwidert seine Geste lächelnd und fährt dann damit fort, mit verschränkten Armen die Überwachungsvideos zu inspizieren.

Johnson fährt ins Kellergeschoss und versucht sich energisch die Müdigkeit aus dem Gesicht zu reiben. Seine Gedanken bewegen sich abwechselnd zwischen dem Wunsch nach seinem Bett und der zu programmierenden Klassen hin und her. Unten angekommen folgt er dem langen, verwinkelten Flur, dessen weiße Wände ihn beinahe blenden. Er fährt sich durch die kurzen, dunklen Haare und aus dieser Bewegung heraus, beginnt er sich gedankenverloren über den Nacken zu reiben. Die Routine lässt ihn gar nicht bemerken, wie er durch die Tür in die Tiefgarage tritt. Erst als ihm bewusst wird, dass die Bewegungsmelder nicht ausgelöst haben und das Licht nicht angegangen ist, bleibt er irritiert stehen und sieht sich kurz um. Selbst sämtliche Leuchtschilder für die Ausgänge und Ähnliches sind ausgeschaltet.

Es ist stockfinster.

»Seltsam«, flüstert er vor sich hin und tut es damit für sich ab.

Er kramt in seiner Tasche nach dem Autoschlüssel und betätigt die Entriegelung, während er sich in Richtung seines Wagens bewegt. Aber es passiert nichts.

Es stehen nur sehr wenige Autos auf dem riesigen Parkplatz. Trotzdem holt er zunächst sein Handy heraus, als er an seinem Fahrzeug ankommt, um mit Hilfe des Displays zu kontrollieren, dass es tatsächlich sein Wagen ist. Es lässt sich nicht anschalten.

Akku leer?, fragt sich Johnson verwirrt. Dabei hat er es doch gerade erst benutzt …

Er ist sich nicht mehr völlig sicher, aber er glaubt sich daran erinnern zu können, dass etwas um die fünfzig Prozent für den Akku angezeigt worden waren.

Seine Augen haben sich mittlerweile halbwegs an die Dunkelheit gewöhnt und er kann schließlich sogar ohne einen helfenden Lichtschein das Nummernschild entziffern. Dies hier ist sein Auto. Dann müsste es nun reagieren, wenn er die Entriegelung betätigt.

Aber …

Nichts.

Er flucht. »Was zum Teufel?!«

Verärgert presst er mehrere Male energisch und unterschiedlich lang den Knopf der Fernbedienung, aber es regt sich rein gar nichts.

»Argh. Komm schon! Verdammtes Keyless Go.«

Plötzlich ertönt ein knirschendes Geräusch einige Meter hinter ihm und lässt ihn innehalten. Seine Nackenhaare scheinen sich langsam, eins nach dem anderen, aufzustellen, während er reglos in die Dunkelheit lauscht. Es klingt, als würde Metall über den Asphaltboden der Garage gezogen werden. Langsam dreht er sich um und versucht irgendwo eine Bewegung auszumachen, aber es ist einfach viel zu dunkel. Seine Kehle zieht sich zusammen und trocknet aus, während ihm das Herz in die Hose rutscht.

»H-Hallo?«, stottert er und schluckt schwer.

Das Geräusch stoppt und für einen Moment wird es wieder totenstill. Dann ertönt ein langgezogenes, tiefes Knurren, wie das eines wilden Tieres, aus einer Ecke des Raumes. Johnsons Atmung beschleunigt sich, aber er scheint am Boden festgewachsen zu sein. Seine Finger betätigen erneut die Entriegelung, obwohl sein Auto hinter ihm immer noch keinen Mucks von sich gibt. Fiebrig beginnt er zu überlegen, wie lange er wohl braucht, um zurück in den Flur zu fliehen.

Den Schlüssel aus der Fernbedienung zu brechen und den Türgriff der Fahrertür zu entfernen, um das Auto zu öffnen, würde ganz sicher zu lang dauern …

Jemand – oder Etwas – hat es auf ihn abgesehen. Der Gedanke wird immer mehr zu einer Gewissheit.

Das Knurren geht über in eine Art Schnarren, das zugleich metallisch und wie der Ruf eines exotischen Vogels klingt und sich nun schnell, von einer auf die andere Seite zu bewegen scheint.

Oder hatte es sich nur an mehreren Orten vervielfacht? Der blanke Horror kriecht ihm in die Knochen.

Wenn er schnell genug wäre, dann könnte er es vielleicht zur Einfahrt schaffen und von dort aus irgendwie entkommen. Wieder ertönt das Schaben und mischt sich unter die restlichen Geräusche. Diesmal ist es näher. Und diesmal kann er eine Bewegung hinter einem der anderen Autos ausmachen. Das lässt einen besonders kräftigen Ruck durch seinen Körper schießen und er sprintet endlich los, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Ein Brüllen ertönt und er ist sich nicht sicher, ob es von ihm … oder von etwas Anderem kommt.

Er ist schnell.

Seine Beine tagtäglich auf dem Laufband geübt und angefeuert durch das Adrenalin in seinen Adern, rennt er so schnell, wie noch nie in seinem Leben. Bald passiert er die erste Kurve. Die Einfahrt ist noch nicht zu sehen, aber wenn er noch einmal um die Ecke sprinten könnte, würde er sich auf die Straße flüchten können.

Doch schon im nächsten Moment, wird seinem Vorhaben ein jähes Ende gesetzt. Ein sengender, alles verzehrender Schmerz beginnt an seinem Nacken und breitet sich durch seinen Körper nach vorne aus. Er beobachtet, wie zwei Klingen aus seiner Brust herausstoßen und in grotesker Symmetrie zueinander immer länger und gebogener werden, bis sie fast seine Stirn berühren. Er spürt jeden quälenden Zentimeter ihrer Bewegungen.

Seine Füße verlassen den Boden, während er einige Zentimeter hochgehoben wird. Blut füllt seinen Mund und beginnt kurz darauf, daraus hervor zu sprudeln, sodass sein erschrockener Schrei nur ein klägliches Gurgeln ist.

Er stirbt schnell.

Sein Körper erschlafft und fällt wie eine Puppe zu Boden, während sich die Krallen wieder zurückziehen.

1

Drei Tage später.

Sicher kennt jeder diese seltsamen Individuen, die man in Supermärkten durch die Gänge tanzen sieht, während sich ihre Lippen stumm zum Songtext bewegen. Oder die im Restaurant nicht still essen können, sondern mit wippenden Kopfbewegungen die Melodie aus den rauschenden Lautsprechern begleiten. Oder in der Schulkantine neue Tanzmoves mit ihren Schulkameraden austesten.

Zu eben diesen Individuen zähle ich mich. Zählte ich mich …

Musik begleitet mich schon mein ganzes Leben. Dabei rangieren meine Lieblingslieder immer zwischen Klassik und Rock, wobei aber eigentlich jeder Beat meinen Körper zum Tanzen drängt.

Jetzt gerade dröhnt ein alter Linkin Park Song aus meinen Kopfhörern, während ich die armen Seelen, die diese Zugfahrt mit mir teilen müssen, damit zur Weißglut bringe, nervös den Takt mit zu klopfen. Aber auch ihre Zurechtweisungen bekommen mich nicht still. Ich wechsele die Bewegung lediglich von meinen Fingern zu meinen Füßen.

Für gewöhnlich habe ich mich eigentlich zumindest so weit unter Kontrolle, dass ich mich vorher vergewissere, niemandes Aufmerksamkeit zu sehr für mich zu beanspruchen. Damit keiner meiner Mitmenschen auf die Idee kommt, ich könnte einer Irrenanstalt entlaufen sein. In Anbetracht dessen, was ich vorhabe, kann ich diese Möglichkeit jedoch selbst nicht ganz ausschließen.

Als der Zug endlich in den Bahnhof einfährt, glaube ich einige Leute erleichtert aufseufzen zu hören. Ob das an mir liegt?

Zu diesem Zeitpunkt habe ich meine Familie mehr als zwei Jahre nicht gesehen. Kläglich, ich weiß. Wir haben lediglich ab und an telefoniert und uns zu Geburtstagen und anderen Familienfeiern kleine Geschenke zugeschickt. Zu sagen, dass wir unsere Probleme haben, wäre weit mehr als »nur ein wenig untertrieben« gewesen.

Sie drückte es etwas anders aus, aber als Haley – meine Schwester – mich am Telefon darauf hinwies, dass ich mich nicht ewig vor ihnen verstecken könnte und ihr Geburtstag der perfekte Anlass wäre, um ein Wochenende in der Hölle zu verbringen, blieb mir nichts anderes übrig, als ihr zuzustimmen. Aber auf die Frage, wann ich am Bahnhof ankommen würde, hielt ich meine Antwort eher vage. Gott behüte, wäre meine Mutter mich abholen gekommen. Deshalb warte ich nun auf ein Taxi und überlege mir währenddessen trotzdem um die hundert Ausreden, warum ich wieder umdrehen und zurück nach Philadelphia fahren könnte. Aber ich zwinge mich zu Stärke. Du machst das für Haley.

Aber in dem Moment, in dem das Taxi hinter mir wendet und mich mit meinem Köfferchen vor dem Haus allein lässt, bin ich mir da nicht mehr so sicher.

Auf einem kleinen, künstlich angelegten Hügel wächst ein perfekt getrimmter, saftig grüner Rasen. Dieser wird nur durch eine kunstvoll gestaltete Auffahrt und in Szene gesetzte Büsche unterbrochen. Hinter dem Rasen erhebt sich das Anwesen, einer Villa ähnlich, mit gleich einem Haufen einzeln angebrachter und teilweise überlappender Spitzdächer und einer weiß blitzenden Fassade. Drei große, ebenso weiße Bögen säumen die Veranda und die großzügig verteilten Fenster machen den vornehmen Eindruck komplett.

Hier stehe ich also auf dem Bürgersteig und starre versteinert das Gebäude an, in dem ich aufgewachsen bin. Erst als die Sorge, ein neugieriger Nachbar könnte mich beobachten, zu unangenehm wird, wage ich es endlich den Weg zur Haustür anzutreten. Dort angekommen, durchlebe ich die nächste Überwindung, während ich mit mir kämpfe die Klingel zu betätigen.

Als es, wie erhofft, Haley ist, die mir die Tür öffnet, merke ich, dass ich kurz die Luft angehalten hatte und seufze nun lächelnd.

»ABBY!«, ruft sie freudestrahlend und wirft sich mir so stürmisch um den Hals, dass ich kurz Probleme habe, das Gleichgewicht zu halten.

Obwohl sie drei Jahre jünger ist als ich, überragt sie mich mit mehr als einer Kopflänge. Sie ist aber noch um einiges schmäler und mit leichter Sorge registriere ich, dass sie in den letzten zwei Jahren noch mehr abgenommen zu haben scheint. Dabei hat meine Mutter wohl keine unwesentliche Rolle gespielt, denke ich grimmig und spüre einen enttäuschten Wutklumpen in seiner Verankerung wackeln.

»Du bist gekommen!«, grinst sie, nachdem sie mich endlich losgelassen hat – natürlich nicht, ohne mich noch einmal fest an sich gedrückt zu haben.

»Ja«, ich ziehe das Wort unheimlich lang. Dabei versuche ich wirklich, es mit genauso viel Freude herüberzubringen, wie Haley. Aber ich scheitere kläglich. Mein Mund entgleist in eine sehr viel weniger begeisterte Richtung.

Sie versteckt ihre blitzenden Zähne hinter einem wissenden Lächeln und sieht mich fast schon ein wenig tadelnd an, während sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr klemmt. Warum sie ihre Haare in diesem Ton färbt, der um einiges heller ist, als das natürliche Blond, das wir uns ansonsten teilen würden, werde ich wohl nie verstehen.

Man erkennt zwar eine Ähnlichkeit zwischen uns, aber eigentlich haben wir äußerlich eher wenig gemein. Tatsächlich sind meiner Meinung nach, die herzförmige Kopfform und unsere Stupsnasen die einzigen Merkmale, in denen wir uns ähneln. Haley hat immer einen eher kindlichen Ausdruck auf dem Gesicht, ist schon immer »das nette Mädchen von nebenan« gewesen, während ich mit meinen Zügen um einiges nachdenklicher und reifer wirke. Und ihre Haut ist ebenfalls noch um eine Nuance heller als meine und hier und da – vor allem um die Nase herum – mit leichten Sommersprossen übersäht.

Ihre Haare sind von dünner Struktur und die Enden reichen ihr bis zum Schlüsselbein und bilden dort eine perfekte, gerade Linie. Meine Haare, im Gegensatz, sind leicht gewellt, stufig, ziemlich fransig und reichen bis gerade so über meine Brust. Die grünen Augen hat sie von unserem Vater und ich die blauen Augen unserer Mutter.

Generell teilen meine Mutter und ich uns eine Vielzahl an äußerlichen Merkmalen. Tatsächlich könnte man behaupten, dass ich ihr unheimlich ähnlich sehe. Und ich hasse es.

»Wie war deine Fahrt?«

»Fantastisch«, gebe ich sarkastisch zurück. Viel zu kurz leider …

Sie lässt ein Kichern verlauten und bedeutet mir einzutreten.

Ein kaum merklicher Schauder überrollt mich, als mich der vertraute Geruch umfängt. Es ist ein angenehmer Duft und doch habe ich sofort das Bedürfnis fluchtartig das Haus zu verlassen.

»Wir essen gerade. Du kannst deinen Koffer vorerst an der Treppe stehen lassen. Wir bringen ihn dann später ins Gästezimmer«, flötet sie fröhlich vor sich hin und schlägt den Weg zum Esszimmer ein.

»Gästezimmer?«, frage ich verwirrt, erhalte aber keine Antwort mehr.

Am Inneren des Hauses, wie auch am Äußeren, hat sich rein gar nichts verändert. Dieselben eleganten Möbel stehen an denselben Plätzen, gepaart mit einer überschaubaren Anzahl an Dekorationsartikeln. Alles ist perfekt zu einander ausgerichtet und wohl durchdacht drapiert, damit jedes Zimmer mühelos in einem Hochglanz-Inneneinrichtungsmagazin abgebildet werden könnte.

Supersonderausgabe. Richten Sie Ihre Wohnräume ein, wie die Profis – Featuring Marilyn Grant. Extra: Marilyn im Interview: Ihre Gedanken zu ihrer missratenen Tochter Abigail, denke ich zynisch und hole noch einmal tief Luft bevor ich um die Ecke durch den Bogen ins Zimmer trete.

»Hallo«, gebe ich von mir und rolle innerlich verärgert mit den Augen, weil es so schüchtern klingt.

Bis auf den, für unsere vierköpfige Familie viel zu großen, Echtholztisch ist alles in dem Esszimmer ziemlich hell gehalten. Ich muss mich korrigieren. Etwas hat sich verändert: Ziemlich futuristisch aussehende, durchsichtige Stühlen umrunden großzügig den Esstisch – Die sind neu. Haley setzt sich gerade, als meine Eltern den Kopf heben, um mich zu grüßen.

»Oh, Abigail«, ruft meine Mutter aus und lächelt, als hätte sie nicht gewusst, dass ich heute kommen würde. Aber ihr Lächeln erreicht ihre Augen nicht.

Mein Vater sitzt, wie gewöhnlich, mit einer Zeitung in den Händen da. »Hallo, Prinzessin.« Er strahlt. »Setz dich doch. Wir wollten gerade essen.«

Als hätten sie nicht die ganze Zeit noch mit dem Essen auf mich gewartet …

Wozu das? Wieso ein Theaterstück aufführen?

Einen Moment stehe ich noch unschlüssig da. Ich hatte mich immer wieder erfolgreich davor drücken können, wieder einen Fuß in dieses Haus zu setzen. Und nun? Nach all der Zeit, die ich nicht mehr hier war, hatten sie nicht einmal eine Umarmung für mich übrig. Zu meiner Verwunderung muss ich zugeben, dass mich dieser Umstand sehr verletzt. Ich wiederhole es gerne: Es sind immerhin zwei ganze Jahre vergangen!

Aber, nein. Sie tun so, als wäre nichts gewesen und ich wäre gerade lediglich von der Schule wieder nach Hause gekommen.

Zögernd setze ich mich auf den Sitzplatz, auf dem ich schon immer gesessen habe, weil auch die anderen drei noch immer stur die Sitzordnung beibehalten, die schon vor meiner Geburt zu gelten schien.

»Soll ich dir etwas auftun?«, fragt Mum mich plötzlich, steht halb auf und deutet mir an, dass ich ihr meinen Teller reichen soll.

Langsam gebe ich ihn ihr. Verwirrt. »Ja, danke.«

Mum hat ein kantiges Gesicht und ausgeprägte Wangenknochen. Ihre Augen sind wachsam und streng. Sie glättet ihre schulterlangen Haare noch immer, was sie schon ganz strohig hat werden lassen. Von uns Vieren ist sie die Größte, während ich die Kleinste bin.

Welch‘ Ironie …

Nachdem sie lächelnd etwas von dem köstlich riechenden Essen auf meinen Teller gegeben hat, reicht sie ihn mir zurück.

»Hast du etwa zugenommen, mein Schatz?«, bemerkt sie dann.

Wundervoll. Gratis Portion Schuldgefühle zum Essen. Ich muss fest die Zähne zusammenbeißen, um aufgrund dieser »Taktik« nicht laut loszulachen. Seit jüngsten Kindertagen macht sie das mit uns. »Das nennt man Normalgewicht, Mum«, ist meine schnippische Bemerkung.

»So? Gibst du denn keine Ballettstunden mehr?«

»Doch.«

»Das kann man mit Normalgewicht?« Ich hasse es, wie sie das Wort betont. So provozierend. So, als will sie sich über mich lustig machen.

»Deshalb mache ich es ja, weil diese kleinen Mädchen einfach nur tanzen lernen wollen. Ihnen ist nicht so wichtig, ob ich in allem perfekt daher komme«, kopiere ich ihre Betonung.

»Klingt ja vielversprechend.« Einem Außenstehenden, käme es wie eine nette Bemerkung vor. Aber ich kenne meine Mutter und das war ihre Codesprache für »Keines dieser Mädchen wird es auf ein auch nur akzeptables Niveau bringen.« Weil das natürlich bei diesen sechs- bis zehnjährigen Mädchen, die ich unterrichte, auch schon absehbar wäre. Ich rolle erneut innerlich mit den Augen. Dabei sind einige von ihnen wirklich unheimlich gut. Aber danach wird nicht gefragt.

»Na, wenigstens hast du so überhaupt noch die Möglichkeit ein wenig zu tanzen.« Wieder ihre Codesprache. In mir beginnt es zu brodeln, aber ich bleibe still.

Tatsächlich beginnt sie im nächsten Moment zu essen und erlöst mich so fürs Erste von ihren verdrehten Worten. Zum ersten Mal kann ich wieder aufatmen und den Blick über den Tisch gleiten lassen. Haley hat die ganze Zeit über unserem Gespräch gelauscht. In der weisen Vorsicht, sich nicht einzumischen. Mein Gesicht muss ziemlich zerknautscht aussehen, denn sie wirft mir einen »Reg dich nicht auf. Sie hat ihr Pulver sicher noch nicht verschossen«-Blick zu.

Am anderen Ende des Tisches sitzt Dad mit seiner schlaksigen Statur und ist noch immer über seine Zeitung gebeugt. Er hat sehr kurzes, schütteres Haar, das bereits eine Halbglatze bildet. Das ehemalige Braun war schon lange einem dunklem Grau gewichen und müde, tiefe Falten haben sich um seine grünen Augen gesammelt. Ich bin mir zu hundert Prozent sicher, dass er unserem bisherigen Gespräch null gefolgt ist.

»Steht was Interessantes in der Zeitung?«, frage ich betont beiläufig, um irgendwie die gruselige Stille zu überspielen, bevor Mum noch auf die Idee kommt, etwas anderes zu sagen.

Er hebt den Blick und seine Stirn glättet sich sofort ein wenig. Bedächtig schiebt er seine silbern glänzende Brille ein Stück die Nase hoch, während er spricht. »Tja. Scheinbar beherbergt Baltimore seit Neuestem einen Serienkiller.«

»Müssen wir wirklich jetzt über so etwas sprechen?«

Noch haben wir über gar nichts gesprochen, denke ich bitter und Dad übergeht einfach den empörten Einwurf meiner Mutter. »Seit Wochen schon, liest man nur noch von diesen brutalen Morden. Es geht bergab mit unserer schönen Stadt. Dieser Bericht ist schon der siebte dieser Art. Diesmal wurde das Opfer in der Tiefgarage von Corlson gefunden.«

»Corlson?«, frage ich neugierig und schiebe mir ein wenig Kartoffelbrei in den Mund. Der Name kommt mir bekannt vor, aber wirklich einordnen kann ich ihn nicht.

»Das ist dieses Software-Unternehmen direkt in der Innenstadt«, hilft mir Haley aus.

Dad nickt. »Es ist einfach unglaublich. Die müssten doch eigentlich ein sehr strenges Sicherheitssystem haben. Aber es gibt gar keine Spuren und es klingt verdammt so, als hätte die Polizei nicht mal den kleinsten Verdacht.«

»Matthew, wir fluchen nicht zu Tisch.«

»Liebes«, Dad setzt, mit einem zuckersüßen Lächeln, zu einem versöhnlicheren Ton an, »schon auf der Arbeit muss ich nichts anderes als gestelzt reden. Lass mir doch zumindest Zuhause die paar Flüche.«

Ich kann ihr ansehen, dass sie damit nicht zufrieden ist, aber sie entscheidet sich wohl, es einfach zu ignorieren.

Dad sieht mich ernst an. »Auch die Schießereien häufen sich«, seufzt er.

»Eine konnten wir letzte Woche sogar hören. Das muss ganz in der Nähe gewesen sein. Hier! Es war nur ganz kurz, aber so laut. Ich konnte die ganze restliche Nacht kein Auge mehr zu machen«, erzählt Haley ganz aufgeregt und ich sehe sie erschrocken an.

»Da möchte ein guter, fleißiger amerikanischer Mann nach einem langen Arbeitstag nichts weiter als nach Hause kommen. Hat sich sicher die ganze Nacht über den Rücken krumm gearbeitet … Aber so ein Arsch–«

»Matthew!«, schreit meine Mutter fast und starrt ihn daraufhin rasend an.

»Entschuldige«, meint er seufzend und revidiert seinen Ausdruck dann. »Aber so ein Typ hat nichts Besseres zu tun, als ihn abzuschlachten.«

Ich muss ein Schmunzeln unterdrücken.

»Bist du jetzt endlich fertig?« Meine Mutter versucht gar nicht erst ihren Frust zu verstecken.

»Ja, ich bin fertig, Liebling.«

»Darf ich mal sehen?«, frage ich und ignoriere ihr ungläubiges Augenrollen.

Er reicht mir die Zeitung rüber. Es ist gleich auf dem Titelblatt: »Brutale Mordserie geht weiter – Muss sich Baltimore nun Sorgen machen?« Dazu ist ein Bild von dem Opfer abgebildet und darunter steht »F. A. Johnson, 35 Jahre«. Er trägt einen Anzug und hat die Arme verschränkt, während er verschmitzt in die Kamera lächelt. Allein das Foto suggeriert mir schon, dass er wohl ein absoluter Überflieger gewesen sein musste. Dafür muss ich nicht erst die Lobeshymne lesen, die der Anfang des Artikels anzudeuten scheint.

»Der Nachtwächter fand ihn in den frühen Morgenstunden … wurde mit einem besonders scharfen Gegenstand förmlich zerfleischt … es fehlten mehrere Organe … Polizei geht von einer rituellen Tötung aus, gibt aber ansonsten keine Auskunft über die Ermittlungen … von Täter und Tatwaffe fehlt jede Spur …«, überfliege ich den Text.

»Können wir jetzt über nettere Dinge sprechen?« Mums Stimme klingt gepresst und sie starrt fest auf einen Topf, während sich ihre Lippen verärgert kräuseln.

»Wie läuft das Pre-Law Programm, Abigail?«, tut mein Vater ihr den Gefallen.

Ich packe die Zeitung zusammen und lege sie beiseite. »Gut«, antworte ich dann.

»Wie liegt der Schnitt deiner letzten Prüfungen?«

»Naja. B+«, nicke ich zögerlich.

»Das klingt doch nicht schlecht.«

Ich weiß, dass er sich wohl etwas Anderes dazu denkt, aber überspiele es. »Nicht das, was ich mir erhofft hatte. Aber ich kann damit arbeiten.«

»Nun, apropos gute Leistungen«, ruft meine Mutter mit einem Klatschen aus, das mich zusammenzucken lässt. Sie scheint plötzlich tatsächlich reges Interesse daran zu haben, sich in das Gespräch einzubringen und das versetzt mich augenblicklich in Alarmbereitschaft.

»Mum«, höre ich Haley ermahnend nuscheln, während sie in ihrer winzigen Portion herumstochert.

Aber Mum hört nicht auf sie. »Haley hat einen Vertrag bei einer Company angeboten bekommen.«

»Oh mein Gott!«, rufe ich aus und mir bleibt der Mund offen stehen. Ich sehe Haley an. »Ist das wahr?«

Sie nickt zaghaft und reibt sich mit einer Grimasse den Nacken.

»Wow! Haley! Herzlichen Glückwunsch!« Ich kreische beinahe vor Freude und nehme sie quer über den Tisch in den Arm.

Sie sieht mich völlig verblüfft an und findet ihre Worte erst wieder, als ich mich wieder auf meinen Stuhl fallen lasse. »Ich, erm«, sie stockt. »Es bedeutet mir viel, dass du dich so für mich freust«, flüstert sie und ich sehe Tränen in ihren Augen glitzern.

Ich runzele kurz die Stirn und führe dann das Gespräch weiter. »Und? Welche Position?«

»Vorerst leider keine Solistin. Aber sie meinten, es wäre nicht ausgeschlossen.« Sie grinst freudestrahlend und kreuzt die Finger.

»Das ist fantastisch, Haley.«

»Naja. In ihrem Alter wärst du schon längst Solistin bei einer Company gewesen. Ohne den Unfall natürlich …«, wirft meine Mutter wenig beeindruckt ein.

Das ist so typisch. Es ist ein inniger, freudiger Moment. Es geht um Haley. Und dann grätscht sie galant dazwischen und wirft eine Granate. Stille legt sich über unsere kleine Runde. Alles in mir gefriert zu Eis. Aus den Augenwinkeln kann ich ganz genau sehen, wie Haley und Dad ihre Blicke auf ihr Essen heften. Ich mustere sie einen Moment, aber sie tun ganz unbeteiligt, auch wenn ich merke, wie sie unruhig auf ihren Stühlen herumrutschten. Da sind nur noch meine Mutter und ich an diesem Tisch. Ich bin ihr ausgeliefert und weder meine Schwester noch mein Vater würden mir zur Hilfe kommen. Panik und Wut vermischen sich und lassen meinen Herzschlag schneller werden. Wie ein verschrecktes Reh erstarre ich auf meinem Stuhl. Flucht ist nun mein einziger Ausweg.

Langsam wische ich mir mit einer Serviette über den Mund, während ich meinen letzten Bissen herunterwürge und darauf hoffe, dass meine Mutter nicht noch etwas dazu sagen würde. »Danke für das Essen, aber ich habe keinen Hunger mehr. Ich gehe mal auspacken«, nuschele ich und erhebe mich.

Damit will ich gehen, doch das genervte Schnauben meiner Mutter hält mich einen Moment zurück. Sie rollt mit den Augen. Ich hasse es, wenn sie das tut. Als wäre ich ein rebellischer Teenager. »Was denn?! Ich habe nichts Falsches gesagt«, zischt sie genervt und tut völlig unschuldig.

Zuerst will ich etwas erwidern. Etwas Freches. Etwas Verletzendes. Etwas Kindisches. Aber ich kann mich im letzten Moment noch zurückhalten und stürme einfach aus dem Raum.

»Junges Fräulein. Willst du nicht wenigstens deinen Teller wegräumen?«, ruft Mum mir hinterher, als wäre ich diejenige, die sich respektlos verhält.

»Ich mache das schon«, höre ich Haley, wie sie sie mit ihrem zarten Stimmchen zu beschwichtigen versucht.

Wie immer. Ich hasse das. Zwei Jahre bin ich genau hiervor geflüchtet, habe es hinter mir gelassen. Und wofür?! Damit es mich nun aus der Bahn wirft und all die alten Gewohnheiten in mir aufbrechen lässt.

Blind vor Wut bahne ich mir energisch meinen Weg durch das Haus. Ich will nur noch in mein Zimmer und für mich allein sein. Eine Tür zwischen mir und ihnen schließen. Mein Ärger bildet einen Kloß in meinem Hals und über all die bösen Worte, die ich meiner Mutter in meinem Kopf zuwerfe, bemerke ich gar nicht, wie ich an dem Gästezimmer vorbei und in mein altes Zimmer stampfe.

Aber als ich mir meines Fehlers bewusst werde, ist es schon zu spät. Ein langes, ungläubiges Keuchen entweicht mir.

Das Zimmer sieht so aus wie mein altes Zimmer. Aber nicht so, wie ich es verlassen hatte. Sondern so, wie es vor meinem Unfall ausgesehen hatte. Bevor ich die Tapeten von den Wänden und die Tücher, samt Lichterketten, von meinem Himmelbett gerissen hatte. Es ist alles wieder da. Auch meine alten Pokale, die ich eigentlich in Kisten verpackt in der Garage verstaut hatte, stehen perfekt aufgereiht auf meiner alten Kommode. Die Ballettstange ist wieder an der Wand angebracht und drei Paar Spitzenschuhe, die ich mit besonders prägenden Tänzen verband, hängen daneben an der Wand. Hinter dem Glas eines riesigen verschnörkelten Bilderrahmens wird eine Collage aus Tickets von Ballettvorstellungen und dazu passenden Fotos geschützt. Während eines Wutanfalls hatte ich diesen Rahmen, samt Inhalt, eigentlich auf dem Boden zerschmettert.

Ich will schreien, bin aber wie gelähmt. Die Wut in mir verpufft und weicht einem ungläubigen Schock. Es ist, als wäre ich durch die Tür in mein Zimmer gegangen, aber in der Vergangenheit gelandet. Mit geöffnetem Mund drehe ich mich um die eigene Achse und starre immer und immer wieder auf jedes einzelne Detail, von dem ich eigentlich überzeugt gewesen bin, es nie wieder zu sehen. Aber da sind sie. All diese Dinge, die mich schonungslos daran erinnern, dass von meinem ehemaligen Traum rein gar nichts mehr übrig ist.

Ich zucke ein wenig zu heftig zusammen, als Haley versucht mich an die Hand zu nehmen. Sie weicht sofort zurück. Durch einen feinen Tränenschleier kann ich sehen, wie ihre Lippen zu einem schmalen Strich werden, als sie mich besorgt mustert.

»Oh, Abby.«

»Was ist das hier?!« Meine Stimme rasselt. Das Museum der zerstörten Träume.

»Ich hatte ihr gesagt, sie soll es lassen. Aber–«, sie kommt wieder etwas näher und streicht sanft über meinen Arm. »Es bedeutet ihr so viel.«

»Das sind meine Sachen! Sie kann doch nicht einfach–«, ich unterbreche mich und atme tief durch. Fest presse ich meinen Kiefer zusammen und kämpfe nun den Knoten in meiner Kehle herunter. Dabei schweift mein Blick ein letztes Mal über die glänzenden, blassrosafarbenen Seidenbänder meiner Spitzenschuhe, von denen mir jedes Paar auf Maß angefertigt wurde. An meinen Füßen kann ich noch immer spüren, wie es sich angefühlt hat in ihnen zu tanzen. Ich spüre noch immer die sanfte Erschütterung, die meinen Körper bei jedem Hüpfer durchfuhr. Noch immer höre ich den Applaus und für den Wimpernschlag eines Augenblicks fühle ich den Stolz. Den Stolz, der mich erfüllte beim Entgegennehmen eines jeden Pokals, der vielen Preise und beim Lesen der schmeichelnden Zeitungsartikel.

Aber all das ist schon lange vorbei.

Ich reibe mir energisch mit einer Hand über das Gesicht und richte meinen Blick nun fest auf Haley, um den Eindrücken dieses Museums, dieses Mausoleums, zu entfliehen. »Lass uns hier verschwinden«, zische ich und trete entschlossen hinaus.

Mit flinken Schritten greife ich meinen Koffer am Treppenaufgang, stürme hinauf und auf das Gästezimmer zu.

Dass Haley mir still gefolgt ist, bemerke ich erst, als ich die Tür öffne und dann mit einer Hand auf meinem Mund ein ungläubiges Lachen zu unterdrücken versuche. Zusammen stolpern wir in das aufwändig eingerichtete, fliederfarbene Zimmer. Wohin man auch sieht, da sind Schleifen und Rüschen und auf dem Bett sind mindestens eine Trillionen Kissen verteilt.

»Hat Prinzessin Bubblegum für dieses Wochenende etwa abgesagt?«, lache ich nun doch.

»Sch«, macht Haley und hält sich dazu einen Finger an die Lippen, aber kichert selbst leise. »Mum ist total stolz auf die Einrichtung und liebt die Komplimente, die sie dafür bekommt. Wehe, du sagst ihr die Wahrheit.«

Ich schüttele belustigt den Kopf und stelle meinen Koffer auf den verschnörkelten Holzstuhl im Shabby-Chic-Look. Haley macht es sich auf dem Bett bequem und versinkt sogleich mit einem überraschten Quietschen in dem Kissenberg. Während sie sich mühsam wieder daraus befreit, setze ich mich zu ihr und lasse mich sofort rücklinks auf die Tagesdecke fallen. Ich beobachte lachend die Kissen, die über mich hinwegfliegen, bis Haley es endlich schafft sich aufzusetzen.

»Los. Gib mir ein Update«, grinst sie mit gespielter Atemnot.

Also erzähle ich ihr ein paar Anekdoten aus meinem Alltag und das Neuste von meinem Campus. Sie erzählt mir von wilden Abenden mit ihren Freunden und ich bekomme den Eindruck, dass in ihrem Leben scheinbar nichts wichtiger zu sein scheint, als diese. Ich versuche mit den wenigen Unternehmungen von mir und meinen Kommilitonen mitzuhalten. Aber all meine Erzählungen verblassen im Angesicht ihrer verrückten Geschichten.

Es ist schön, mit ihr herumzualbern und ich gebe mich bereitwillig der Illusion hin, es fühle sich an wie früher. Einfach nur zwei Schwestern, die nebeneinander im Bett liegen und zusammen über kindischen Blödsinn lachen. Wir starren an die Zimmerdecke, sinnieren über irgendwelche Pflegeprodukte und reden über Jungs. Wenn wir so mit Leichtigkeit über alles Mögliche reden, vergesse ich beinahe, wie kompliziert unsere Situation eigentlich ist.

Wie gesagt, beinahe. Haley fällt es im Laufe des Gesprächs zunehmend schwerer das Thema Ballett zu umschiffen. Immerhin ist es praktisch ihr Leben – so, wie es auch mal das Meine war. Ich kann es ihr nicht verdenken und spüre ganz genau, wie gern sie mir eigentlich davon erzählen würde.

Das Schmerzhafteste daran ist, dass es eigentlich nicht ihre Art ist, sich zurückzuhalten. Meine Schwester ist einer der extrovertiertesten, offensten Menschen, die ich kenne. Wäre ich nicht ihr Gegenüber, würde sie sich nicht großartig Gedanken darüber machen, was und wie sie es sagt. Aber sie hat Angst, mich zu verscheuchen, deshalb versucht sie mich mit Samthandschuhen anzufassen.

Am meisten daran beschämt mich, dass ich es einfach nicht über mich bringe, ihr diese Angst zu nehmen. Ich will nicht, dass sie sich für irgendjemanden verbiegt. Sie sollte sich auch nicht für mich verbiegen müssen.

Mit einem Mal dreht sie sich zur Seite und stützt sich auf einen Arm, während sie verlegen zu mir sieht. Also kopiere ich ihre Position und warte gespannt auf das, was sie zu sagen hat.

»Ein paar Freunde wollen mich heute in den Club einladen.« Ich weiß sofort von welchem Club sie spricht. Früher war ich auch oft dort. »Du weißt schon: ›Reinfeiern‹, weil ich ja morgen zwanzig werde. Aber wenn du willst, dann sage ich ihnen ab, damit wir was unternehmen können.«

Ich runzele die Stirn. »Nein, das musst du nicht. Es ist dein Geburtstag und den solltest du ruhig mit deinen Freunden feiern können.«

»Okay.« Sie lacht beinahe erleichtert.

Hatte sie etwa gedacht, ich würde darauf bestehen, dass sie mit mir hier versauert? Die Tür hat ein verschließbares Schloss. Ich könnte mich hier ja vor meiner Mutter verstecken und lernen oder etwas in der Art.

»Vielleicht …« Haley reißt mich aus meiner verheißungsvollen Abendplanung. »Du könntest ja mitkommen, wenn du Lust hast.«

Ich bin zu gleichen Teilen verblüfft und gerührt. Aber Haleys Freundinnen sind allesamt Ballerinas und gehen zusammen mit ihr auf die Tanzakademie. Bei dem Gedanken daran, dass sie wohl über nichts anderes als Ballett sprechen würden, wird mir ganz anders. Vielleicht ziehe ich es doch vor, ein Buch zu lesen und mich unter der Decke zu verkriechen. Andererseits weiß ich aber auch, dass ich langsam anfangen sollte, darüber hinweg zu kommen. Haley zuliebe. Sie ist eine Ballerina. Ich war einmal eine. Aber das muss nicht zwischen uns stehen.

Mein Zögern bleibt ihr nicht verborgen. »Du musst natürlich nicht, wenn du nicht willst. Aber ich würde mich freuen.«

»Ich komme mit.«

2

Es ist lauter, als ich es aus meinen jüngeren Tagen kenne. Der »Club« in den mich Haley und ihre Freundinnen schleppen, nachdem wir auf ihren Geburtstag angestoßen haben, ist schon immer ein besonders beliebtes Ziel unter den Jugendlichen gewesen, weil man hier bei Minderjährigen gleich beide Augen zudrückt.

Meine Erscheinung steht in einem harten Kontrast zu den anderen Mädchen. Während Haley und der Rest ihrer Girlband Kleidung tragen, als hätten sie sich für eine Edeldisko schick gemacht – eng und kurz, trage ich dieselben unkomplizierten und bequemen Sachen wie sonst auch: Flache Schuhe, eine Jeans und eine etwas weitere, durchscheinende Bluse über einem pastellfarbenen Top.

»Club« ist auf jeden Fall mehr als Spitzname für den Schuppen zu verstehen. Es handelt sich dabei lediglich um eine Kneipe mit einem kleinen Bereich, in dem gerade so viele Tische weggeräumt sind, dass der Inhaber behaupten kann, es handele sich hierbei um eine »Tanzfläche«.

Der Laden liegt zwar etwas außerhalb unseres Wohnbezirks, wäre von unserem Haus aus aber gemütlich zu Fuß zu erreichen gewesen. Trotzdem waren alle dafür, sich ein Taxi zu teilen. Alle, außer mir. Aber ich wurde ja auch gar nicht erst gefragt.

Kaum, dass wir angekommen sind, ziehen Haleys Freundinnen uns begeistert an einen bereits besiedelten Tisch. Sofort wird mir klar, dass es sich bei den Jungs ebenfalls um Mitschüler aus der Akademie handelt. Es wird laut gegrölt, wild gestikuliert und als wir uns endlich setzen, schwirrt mir ein wenig der Kopf. Auch wenn ich mich eher verhalten gebe und vorhatte nur vorsichtig mit einem Handzeichen in die Runde zu grüßen, stürzen sie sich auf mich. Auf Haleys Schwester. Sie sagen es nicht direkt, aber ich habe das Gefühl, dass jeder der Anwesenden genau weiß, wer ich bin. Besonders einer der Jungen, der schon einiges über den Durst getrunken hat, beißt sich an mir fest. Zuerst gibt er mir eine Einführung in sämtliche Namen der Gruppenmitglieder, von denen ich mir keinen einzigen merke, auch wenn ich den Benannten höflich zunicke. »Warst du nicht auch mal an unserer Schule?«, fragt der Junge danach.

Im Augenwinkel sehe ich, wie Haley mich mit geweiteten Augen ansieht, aber ich halte mich wacker. »Ja, war ich.«

Er legt den Kopf schräg und möchte noch etwas fragen, aber ein anderer erhebt plötzlich die Stimme. »Wo bleiben denn Peter und Will mit dem Bier?«, ruft dieser laut über unsere Köpfe hinweg und ich atme innerlich auf, als das den anderen augenblicklich ablenkt.

Die Gruppe beginnt einen Singsang und klopft rhythmisch auf die Tischplatte. »Wo ist das Bier?«, rufen sie und brechen dann in Jubel aus. Ich fühle mich ein wenig überfordert, starre in die Runde, als wären sie Bewohner eines anderen Sterns.

Sobald ich mich umdrehe, sehe ich den Grund ihrer Freude. Zwei Jungs mit Tabletts voller Bierkrüge kommen auf uns zu und einer von ihnen zieht augenblicklich meine Aufmerksamkeit auf sich. Er unterscheidet sich sehr von Haleys Tänzer-Freunden. Und das nicht nur wegen seiner dunklen Kleidung, den zerschlissenen Jeans oder der nicht so aufwendig gestylten Frisur. Die anderen Jungs sind, für ihre Tätigkeit typisch, eher klein und drahtig. Er aber trägt nicht nur ein sehr gesundes Körpergewicht mit sich herum, sondern auch mehr Muskeln, als es für normales Training üblich wäre.

Die Tabletts finden ihren Platz auf dem Tisch und ich versteife mich unmerklich, als er sich neben mir auf einen Stuhl fallen lässt. Ich lehne dankend ab, als er mir ein Bier anbietet und er schenkt mir ein freundliches Lächeln, bevor er sich auf seinem Stuhl zurücklehnt. Lässig legt er einen Arm nach hinten über die Stuhllehne und beginnt an seinem Bier zu nippen.

Die anderen am Tisch stürzen sich wie eine Horde Verdurstende auf die Krüge, während ich nach einem der leeren Gläser greife und mir etwas aus der Wasserflasche eingieße, die, wie überall sonst auch, in der Mitte unseres Tisches steht. Ich nehme einen Schluck und versuche irgendeinem Gespräch in meiner Nähe zu folgen. Komme dabei aber nicht umhin, aus den Augenwinkeln heraus immer wieder meinen Sitznachbarn zu mustern.

Er hat kurze, dunkelbraune Haare, ein spitzes Kinn und markante Wangenknochen. Wegen der schlechten Lichtverhältnisse kann ich seine Augenfarbe nur schwer erahnen, aber es scheint eine Farbe zwischen Blau und Grau zu sein. Ein dunkler Drei-Tage-Bart verdeckt eine sehr feine, eigentlich unscheinbare Narbe an seiner Wange, die mir nur wegen ihrer rosigen Färbung auffällt. Vermutlich ist es bloß ein winziger Schnitt, den er sich vor ein paar Tagen zugezogen hat.

Alles an ihm wirkt entspannt und ruhig, aber seine Augen huschen wachsam über die Gesichter der anderen und ich weiß, dass er keine Probleme damit hat den Gesprächen zu folgen.

»… oder was meinst du, Will?« Ich habe den Rest des Gesprächs nicht mitbekommen, doch mein Nachbar reagiert darauf.

Seine Augen blitzen. »Nicht wirklich mein Fall«, lacht er und lehnt sich noch ein wenig mehr zurück, um seinen Fuß auf einem Tischbein abzustellen. Die Jungs johlen. Einige anerkennend, andere stimmen ihm wohl eher nicht zu.

Will sendet eine gewisse Attraktivität aus und ich bemerke, wie auch ein paar der Mädchen immer mal wieder einen schüchternen Blick in seine Richtung werfen. Ich muss zugeben, dass er auch in mir ein Interesse weckt. Kein romantisches oder gar sexuelles, aber ich frage mich ernsthaft, warum er Teil von Haleys Gruppe ist, wo er doch so anders wirkt.

Eines der Mädchen stößt plötzlich einen Ausruf aus, der so laut und schrill ist, dass ich zusammenfahre. Irritiert blinzele ich in ihre Richtung, als würde mir ein starker Wind ins Gesicht pusten.

»Genug getankt, Leute! Ab auf die Tanzfläche! Lasst uns das Geburtstagskind feiern!«, ruft sie verzückt und mit rosigen Wangen aus.

Alle brechen sofort wieder in Jubel aus und erheben sich, während einige noch die letzten Schlucke auf einmal aus ihren Gläsern nehmen. Ich mache mir gar nicht erst die Mühe aufzustehen. Gemütlich trinke ich etwas von meinem Wasser und beobachte die lärmende Bande mit einem belustigten Schmunzeln. Sie besiedeln den Bereich vor der Jukebox, die schon kaputt war, als ich noch ein Stammgast gewesen bin, und tanzen wild zu der Musik aus den Lautsprechern. Jetzt, mit etwas Abstand, wird mir erst richtig bewusst, dass der Schuppen beinahe leer ist und erinnere mich peinlich berührt zurück an die Zeit, als ich eines dieser quietschenden Mädchen gewesen bin.

Eine Hand schiebt sich in mein Sichtfeld und ich stelle verblüfft fest, dass ich nicht die Einzige bin, die sich dafür entschieden hat, sitzen zu bleiben. Mein Sitznachbar ist wohl auch nicht so sehr für die vermeintliche Tanzfläche zu begeistern.

»Hi. Ich bin Will«, sagt er mit einem charmanten Lächeln.

»Abigail.« Ich schüttele ihm kurz die Hand. Sie ist rau, aber angenehm warm.

»Also – Abigail? Was tust du hier, wenn du offensichtlich nicht hier bist, um zu tanzen?«, fragt er in einem Plauderton und ich bin mir nicht sicher, ob er tatsächlich Interesse hat oder ob er einfach nur nett sein will.

»Ich bin wegen meiner Schwester hier«, antworte ich. »Die, die ihren Geburtstag feiert.«

»So? Und welche ist das genau?« Er schaut zu den Mädchen rüber, die einen Kreis gebildet haben und sich zum Rhythmus der Musik bewegen.

Ich stocke verwirrt und mustere ihn einen Moment skeptisch. Er ist wohl doch nicht so aufmerksam gewesen, wie es den Anschein gemacht hat. »Das blonde Mädchen dort in der Mitte«, sage ich und hebe kurz den Zeigefinger, um auf Haley zu zeigen.

Will macht einen erkennenden Laut und nickt, während er sich nachdenklich an seinem Arm kratzt. Dabei fällt mein Blick auf die feinen Linien eines Dreieck-Tattoos, das unter seinem Ärmel hervorblitzt und auf die Ringe, die seinen Unterarm auf der anderen Seite zieren. Wie aufgemalte Armreife gehen sie einmal ganz rum und sind mit unterschiedlichen Verzierungen versehen. Zwei sind dicht beieinander und etwas schlichter gehalten. Ein Dritter liegt ein kurzes Stück darüber und ist mit wilden Schnörkeln geschmückt.

»Ich dachte, du wärst einer von ihren Freunden«, bemerke ich.

»Oh. Nein. Ich kenne nicht einen von denen.« Er hebt abwehrend die Augenbrauen, sodass sich tiefe, geschwungene Furchen auf seiner Stirn bilden.

»Aber–«

»Aber wir sehen aus wie beste Freunde?«, rät er grinsend meine nächsten Worte und liegt damit gar nicht so falsch. »Ja, weißt du? Ich kenne nicht mal deren Namen. Aber die Jungs sind so betrunken, spendieren mir Bier und lachen über meine Witze, als wäre ich ein Held. Da bin ich eben geblieben«, er hält kurz inne, um von seinem Bier zu trinken, »Ich meine: Wer wäre da nicht geblieben, oder?«

Ich, zum Beispiel. Ich finde es eigenartig, dass er einfach so mit einer fremden Gruppe rumhängt, obwohl sie ganz klar eher nicht seiner sonstigen Gesellschaft entsprechen. Und das nur wegen Bier und ein paar Lachern.

»Und was machst du so, Abby?«, fragt er leichthin, weil ihm scheinbar aufgefallen ist, dass das Gespräch ins Stocken geraten ist.

Aber ich zögere einen Moment. Irritiert, weil er, wie selbstverständlich, meinen Spitznamen verwendet. Als würden wir uns schon ewig kennen. »Ich studiere Jura.«

Er lacht kurz. »Nein, ich meinte: Was machst du gern?«

»Wie kommst du darauf, dass ich das nicht gern tue?«

»Ach, komm schon. Jura?« Er sieht mich skeptisch an.

Prüfend mustere ich sein Gesicht. »Ich tanze gern«, meine ich daraufhin kurz angebunden. Ohne eine Miene zu verziehen oder irgendwie näher darauf einzugehen. Aber ich frage mich ernsthaft, wieso ich ihm das gerade einfach erzählt habe. Und das, obwohl er mir doch etwas suspekt zu sein scheint.

Seine Augen blitzen fast schon kampflustig. Er nickt in die Richtung der Tänzer und lächelt schief. »Aber ich sehe dich gar nicht tanzen.«

»Nicht diese Art von Tanz«, sage ich unbeeindruckt, obwohl das nur halb stimmt. »Ich tanze Ballett«, erkläre ich mich und wechsele dann das Thema, bevor er Luft holen kann, um etwas zu entgegnen. »Was machst du denn so, Will?«

Diesmal ist es an ihm, mich prüfend zu mustern. In seinem Gesicht blitzt zum ersten Mal diesen Abend etwas Ernstes auf. »Ich jage«, lautet seine knappe Antwort und er wirkt offenbar besonders interessiert an meiner Reaktion.

»Wow«, sage ich und verziehe missbilligend das Gesicht. »Du weißt wirklich, wie man sich beliebt macht. Bis gerade eben fand ich dich fast schon nett«, stichele ich und nehme einen Schluck aus meinem Glas, während Will schmunzelnd den Blick senkt.

Als er den Kopf wieder hebt, blitzen seine Augen verschmitzt. Er will etwas sagen, doch da erhebt sich wieder Trubel um uns herum, weil die anderen an unseren Tisch zurückkehren. Zwei Jungs reißen Will förmlich aus unserer Unterhaltung und ich bin fest entschlossen diese Chance für mich zu nutzen.

Ich erhebe mich, gehe mit zwei schnellen Schritten um den Tisch herum zu Haley und beuge mich zu ihr herunter, um mich ihr mitzuteilen, ohne dass gleich jeder etwas davon mitbekommt.

»Hey. Ich glaube, ich haue jetzt ab. Okay?«

»Oh, wieso das?«

»Ich bin müde und–« Weiter komme ich mit meiner schlechten Ausrede nicht, denn sie erhebt sich bereits, um mich zum Abschied zu umarmen.

»Danke, dass du mitgekommen bist«, sagt sie gedämpft an meinem Ohr.

»Nochmal Happy Birthday, kleine Schwester«, lächele ich, als sie sich wieder von mir löst. »Trink nicht noch mehr«, füge ich mit erhobenem Zeigefinger und in Großer-Schwester-Manier hinzu, bevor ich noch schnell ein paar Worte zum Abschied in die Runde werfe.

Vor dem Gebäude nehme ich einen tiefen Atemzug der wohltuenden Nachtluft. Es ist gerade so kühl, dass mir meine Strickjacke noch reicht, um mich warm zu halten. Kurz überlege ich, ob ich mir ein Taxi rufen soll, entscheide mich dann aber doch, dass ich wach genug bin, um zu laufen. Ich bin den Weg auch früher schon immer zu Fuß nach Hause gegangen. Guilford ist eine der eher ruhigeren Gegenden Baltimores und es sind knapp zwanzig Minuten Fußweg bis zu meinem Elternhaus.

Nächtliche Spaziergänge hatten schon immer eine ganz besondere Wirkung auf mich, mit dem Duft der Nacht und den Sternen über mir. Eine leichte Brise weht mir immer wieder angenehm um die Nase und ich lausche entspannt dem Zirpen der Grillen aus den Vorgärten der Häuser, die ich passiere. Es bereitet mir schon etwas Unbehagen hier ganz allein die Straßen entlang zu gehen, doch die Straßenlaternen geben genug Licht ab, damit ich immer genau sehe, wo ich hintrete und wiegen mich so in Sicherheit. Hinter ihnen erheben sich, ein wenig einschüchternd, die riesigen Häuser und allerlei Bäume.

Ich bin schon einige Minuten unterwegs, als mir ein herzhaftes Gähnen entweicht. Scheinbar bin ich doch müder, als ich es anfangs angenommen hatte. Aber es ist ja auch nicht mehr weit. Als ein Mäuschen über meinen Weg huscht, halte ich erschrocken inne und biege danach routiniert in die Straße ein, in der die reicheren Mitmenschen ihre Villen haben. Bei Tag ist es eine wunderschöne Allee aus Bäumen mit tiefhängenden Ästen und saftig grünen Blättern. Bei Nacht erinnert sie mich nur daran, dass hinter den Bäumen noch meterhohe, steinerne Zäune ragen, teilweise von Efeu und anderem Gestrüpp bewachsen, die den Blick auf die Häuser dahinter verbergen.

Plötzlich schiebt sich ein ungutes Gefühl in mein Bewusstsein und lässt mich frösteln. Ist das nicht typisch? Gerade in diesem Moment muss ich mich an den Horrorfilm von vor drei Wochen erinnern.

Ich ziehe meine Jacke ein wenig fester um mich und ermahne mich, rational zu denken. Aber mir stellen sich dennoch die Nackenhaare auf und ich beschleunige automatisch meinen Schritt. Zu allem Überfluss beginnen die Laternen vor mir plötzlich zu flackern. Erst nur eine, aber dann werden es ziemlich schnell immer mehr, bis ich verwundert stehen bleiben muss und ungläubig das blinkende Spektakel beobachte. Bis zum Ende der Straße produziert jede Laterne in ihrem eigenen Takt unterschiedlich starke Lichter und das für Minuten.

Ganz plötzlich stoppt es und für eine Sekunde stehe ich im Dunkeln. Dann leuchten sie wieder auf und alles ist wieder beim Alten. Wie erstarrt stehe ich verwirrt blinzelnd da. Habe ich mir das gerade bloß eingebildet? Immerhin bin ich mittlerweile wohl doch schon ziemlich müde. Oder machte sich da jemand einen Spaß mit mir? Wenn ja, so finde ich das jedoch absolut nicht lustig.

Unruhig sehe ich einmal in die eine und dann in die andere Richtung die Straße hinunter, kann aber nichts Verdächtiges sehen. Zögernd setze ich schließlich meinen Weg fort. Dabei versuche ich möglichst viel von meiner Umgebung im Blick zu behalten.

Die Laterne unmittelbar über mir leuchtet für einen kurzen Moment auf, gibt einen hellen, knackenden Ton von sich und wird mit einem kleinen Funkenregen dunkel. Mir entweicht ein erstickter Schreckenslaut. Gehetzt blicke ich von der erloschenen Glühbirne zur nächsten Laterne. Aber als ich bei ihr ankomme, passiert mit ihr dasselbe, genauso wie bei der darauffolgenden. Mit jeder Laterne beschleunige ich zwar meinen Schritt, aber die nächste Glühbirne brennt bereits durch, noch bevor ich mich in ihr Licht retten kann.

Was geht hier vor sich?!, ist alles, was ich denken kann, als ich erstarre und dabei zusehe, wie die Glühbirnen vor mir, eine nach der anderen, erlöschen. Sie lassen mich in zunehmender Dunkelheit und ich schlucke schwer. Ich spüre das Adrenalin in meinen Adern pulsieren.