Burn – Die Welt brennt wie Feuer - Patrick Ness - E-Book

Burn – Die Welt brennt wie Feuer E-Book

Patrick Ness

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Beschreibung

Drachen existieren – in all ihrer feuerspeienden Herrlichkeit!

In Sarahs Welt herrscht seit Hunderten von Jahren ein prekärer Friede zwischen Menschen und Drachen. Doch das Misstrauen gegenüber allem Fremden nimmt zu. In ihrer ländlichen Gemeinde kontrollieren rassistische Cops die Straßen und drangsalieren die Schwachen. Jemand wie Sarah, deren Mutter eine Schwarze war, muss immer auf der Hut sein. Als ihr Vater als Hilfe für die Rodung der Felder ausgerechnet einen der russischen blauen Drachen anheuert, schwankt sie zwischen Furcht und Faszination. Denn dieser Drache, der, wie alle seiner Art, angeblich keine Seele besitzt, blickt in die ihre, wie keiner je zuvor und ist in Wahrheit gekommen, um Sarah und ihre Welt vor dem Abgrund zu retten ...
Berührend, kraftvoll und aufrüttelnd eine Urban Fantasy wie ein Manifest unserer Zeit. Das neue Meisterwerk vom preisgekrönten Autor von »Sieben Minuten nach Mitternacht«

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Patrick Ness

Burn

Die Welt brennt wie Feuer

Aus dem Amerikanischen vonPetra Koob-Pawis

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© 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2020 Patrick Ness

Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel:

»Burn« bei Walker Books Ltd, London

Übersetzung: Petra Koob-Pawis

Umschlagkonzeption: Carolin Liepins, München

unter Verwendung des Originalcovers von © Alejandro Colucci

mit freundlicher Genehmigung von Walker Books Ltd, London

MP · Herstellung: UK

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-29496-0V001

www.cbj-verlag.de

Für Kim Curran,die goldene Seele

Teil 1

1

An einem kalten Sonntagabend zu Beginn des Jahres 1957 – genau an dem Tag, an dem Dwight David Eisenhower zum zweiten Mal den Amtseid als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika ablegte – wartete Sarah Dewhurst mit ihrem Vater auf dem Parkplatz der Chevron-Tankstelle auf den Drachen, den er für die Farm angeheuert hatte.

»Er ist spät dran«, sagte Sarah leise.

»Es«, erwiderte ihr Vater. Er spuckte auf den ölverschmierten Boden und traf die feinen Risse einer gefrorenen Pfütze. »Nenn das Tier nicht bei seinem Namen. Sag ihm auch deinen nicht. Es. Nicht er.«

Auf die angedeutete Frage, was wohl der Grund sein mochte, warum der Drache sich verspätete, ging ihr Vater nicht ein. Oder vielleicht doch, allein durch seine ernste Miene und das verächtliche Spucken.

»Es ist eiskalt hier draußen«, sagte sie.

»Es ist Winter.«

»Kann ich im Truck warten?«

»Du wolltest doch unbedingt mitkommen.«

»Ich wusste nicht, dass er sich verspäten würde. Es, meine ich.«

»Man kann ihnen nicht trauen.«

Warum stellst du ihn dann ein?, dachte Sarah, hütete sich aber, die Frage laut auszusprechen. Sie kannte ja die Antwort: Sie konnten es sich nicht leisten, Männer zu bezahlen, damit sie die beiden südlich gelegenen Felder rodeten. Diese Felder mussten bepflanzt werden, denn nur dann bestand eine Chance – eine kleine zwar, doch immerhin eine Chance –, dass sie die Farm nicht an die Bank verlieren würden. Wenn ein Drache ungefähr einen Monat damit zubrächte, die Bäume niederzubrennen und die Asche und die Überreste wegzuschaffen, konnte Gareth Dewhurst Ende Februar die verkohlte Erde mit einem Paar billig angemieteter Pferde und seinem seit dreißig Jahren veralteten Pflug beackern. Dann wären die neuen Felder vielleicht bis April für die Bepflanzung bereit. Und das würde vielleicht reichen, um die Gläubiger bis zur Ernte hinzuhalten.

Diese ungünstigen Variablen und die Folgen dieses Kreislaufs bestimmten die Gedanken von Sarah und ihrem Vater, seit die Arbeit in den zwei Jahren nach dem Tod ihrer Mutter allmählich nicht mehr von ihnen beiden allein zu bewältigen gewesen war und die Farm immer weiter in Schulden versank. Die Sorgen waren so groß geworden, dass sie die Trauer überlagerten, weshalb ihr Vater in jeder wachen Stunde arbeitete und Sarah in jeder Stunde, in der sie nicht in der Schule war.

Sarah hörte, wie ihr Vater tief durch die Nase ausatmete. Das war stets das erste Anzeichen dafür, dass er nachgab.

»Du kannst nach Hause fahren«, sagte er leise.

»Was ist mit Deputy Kelby?«, fragte sie, und ihr Magen verkrampfte sich wie immer bei dem Gedanken an diesen Mann.

»Glaubst du wirklich, ich würde mich mit einer angeheuerten Kralle treffen, wenn ich nicht genau wüsste, dass Kelby heute nicht im Dienst ist? Du kannst fahren.«

Sie stand anderthalb Meter hinter ihrem Vater, trotzdem verbarg sie ihr Lächeln vor ihm. »Danke, Dad«, sagte sie. Mit ihren fast sechzehn Jahren war sie nur noch wenige Monate von der Erteilung des Führerscheins des Staates Washington entfernt, aber im Interesse der Farmer wurden in ihrer ländlichen Gegend viele dieser Dinge lockerer gehandhabt.

Es sei denn, Deputy Kelby war derjenige, der sie ertappte. Es sei denn, man war Sarah Dewhurst, die ertappt wurde und deren Haut so viel dunkler war als die ihres Vaters und so viel heller als die ihrer geliebten verstorbenen Mutter. Deputy Kelby hatte zu solchen Dingen eine ganz eigene Einstellung. Deputy Kelby würde nur zu gerne Sarah Dewhurst, Tochter von Gareth und Darlene Dewhurst, illegal hinter dem Steuer eines Trucks erwischen. Und sie wollte gar nicht wissen, was er dann tun würde.

Sarah schlang ihren Mantel enger um sich und zog den Gürtel straff. Es war der Mantel ihrer Mutter, und sie war fast schon aus ihm herausgewachsen, aber noch nicht so sehr, dass es die Ausgabe für einen neuen gerechtfertigt hätte. Er spannte an den Schultern, aber wenigstens hielt er sie warm. Ein bisschen zumindest.

Als Sarah ihre Hände wieder in die Taschen steckte, hörte sie Flügelrauschen.

Es war noch eine Stunde bis Mitternacht – die Chevron-Tankstelle geschlossen, nur die Sicherheitsbeleuchtung brannte –, es war bitterkalt und der Himmel sternengesprenkelt, mit einem Spritzer Milchstraße in der Mitte. Dieser Teil des Landes war berühmt für seinen Regen, genauer gesagt für seine endlosen grauen Tage. Diese Nacht jedoch, der 20. Januar 1957, war klar. Der Dreiviertelmond stand tief und hell am Himmel, spielte aber nur eine Nebenrolle im Meer der unzähligen Sterne.

Unzählige Sterne, vor die sich jetzt ein Schatten geschoben hatte.

»Es wird dich nicht hypnotisieren«, sagte ihr Vater. »Das ist ein altes Ammenmärchen. Es ist nur ein Tier. Groß und gefährlich, aber ein Tier.«

»Ein Tier, das sprechen kann«, sagte sie.

»Ein Tier ohne Seele ist immer noch ein Tier, egal wie viele Worte es gelernt hat, um uns zu belügen.«

Die Menschen trauten den Drachen nicht, auch wenn zwischen beiden seit Hunderten von Jahren Frieden herrschte. Das Vorurteil ihres Vaters war für jemanden seines Alters nicht ungewöhnlich, aber Sarah fragte sich, wie viel davon darauf zurückzuführen war, dass die wortgewandten, geheimnisvollen Kreaturen die Menschen heutzutage vollkommen ignorierten – einmal abgesehen von den wenigen, die sich als Arbeitskräfte anheuern ließen. In Sarahs Generation hingegen fand sich kaum ein Teenager, der nicht selbst gerne ein Drache gewesen wäre oder einen gekannt hätte.

Dieser spezielle Drache hier kam aus dem Norden, und Sarah stellte sich nur zu gerne vor, dass er aus der großen Einöde Westkanadas stammte, einer der wenigen Naturlandschaften der Welt, in denen Drachen sich noch in freier Wildbahn bewegten, noch ihre eigenen Gemeinschaften hatten und noch ihre eigenen Geheimnisse bewahrten. Sie wusste aber, dass dies nur ihre eigene Wunschvorstellung war. Kanada lag fast zweihundert Meilen entfernt, dessen Westen noch weitere zweihundert Meilen. Außerdem hatten die kanadischen Drachen die offizielle Kommunikation mit den Menschen eingestellt, und dies bereits ein Jahrzehnt, bevor Sarahs Vater geboren worden war. Wer wusste also schon, was sie in den letzten fünfzig Jahren im Ödland getrieben hatten? Die wenigen Exemplare, die sich überhaupt als Arbeitskräfte verdingten, gaben darauf keine Antwort, so sie die überhaupt kannten. Dieses Tier kam sehr wahrscheinlich nur von einer anderen Farm, irgendeinem anderen Ort mit schlecht bezahlter Arbeit.

Es flog über sie hinweg.

Er, dachte Sarah. Er flog über sie hinweg. Der einzige Grund, warum sie nicht sie dachte, war eine Bemerkung, die ihrem Vater herausgerutscht war, als er zum ersten Mal davon gesprochen hatte, einen Drachen anheuern zu wollen. »Es ist nicht illegal«, hatte er ihr erklärt, obwohl Sarah das bereits wusste, »aber es wird auf jeden Fall Ärger geben. Wir halten den Mund, bis er schon bei der Arbeit ist und niemand ihn mehr wird aufhalten können.«

Sarah war sich nicht sicher, was in der vergangenen Woche passiert war, dass ihr Vater jetzt so eindeutig von er zu es übergegangen war.

Jenseits der Tankstellenlichter war der Drache nur als Silhouette zu erkennen, als er seine Kreise zog, dennoch war Sarah von seiner Größe überrascht. Fünfzehn Meter von Flügelspitze zu Flügelspitze, vielleicht etwas mehr.

Der Drache war klein.

»Dad?«, sagte sie fragend.

»Sei jetzt still.«

Sie beobachteten, wie der Drache noch einmal über sie hinwegflog und dann wieder in den Himmel aufstieg. Der Treffpunkt war nicht zufällig gewählt, ebenso wenig die Uhrzeit. Genug Licht und Zivilisation, damit sich der wartende Mensch sicher fühlte, genug Dunkelheit und keine weiteren Menschen, damit auch der Drache sich sicher fühlen konnte angesichts dessen, was ihr Vater als drohende Probleme ja schon angeführt hatte. Trotzdem war dieser Drache eindeutig vorsichtiger als die meisten seiner Art.

Als er schließlich landete, sah sie, warum. Sie begriff auch, warum er so klein war.

»Er ist blau«, sagte sie und brach damit gleich mehrere der Regeln, die ihr Vater aufgestellt hatte.

»Ich sage dir nicht noch mal, dass du still sein sollst«, erwiderte er, ohne sich umzudrehen. Er ließ den Drachen nicht aus den Augen.

Der Drache war ein Blauer. Genauer gesagt war es ein Blau, korrigierte sich Sarah, und natürlich kein echtes Blau, sondern ein dunkles Silbergrau, das im richtigen Licht bläulich schimmerte. Die Farbe war eindeutig nicht das verbrannte Schwarzrot der kanadischen Drachen, die sie gelegentlich bei der Arbeit auf Farmen oder beim Flug über die Berge in der Ferne gesehen hatte, auf ihrem Weg nach wer weiß wohin, zu wer weiß welchem Zweck.

Nein, ein Blauer. Blaue Drachen waren russisch, zumindest der Herkunft nach. Sie waren sehr selten; Sarah kannte sie nur aus Büchern und war ziemlich überrascht, dass sie noch keine Gerüchte über das Auftauchen von diesem hier erreicht hatten. Ein russischer Drache war auch aus anderen Gründen so überraschend wie beunruhigend, denn Chruschtschow, der Ministerpräsident der Sowjetunion, drohte in diesen Tagen ihrem Land fast jede Woche mit Vernichtung. Drachen mischten sich nicht in die Politik der Menschen ein, aber mit diesem Drachen auf ihrer Farm würden sich die Dewhursts gewiss keine neuen Freunde machen.

Der Drache war außerhalb des Lichtkegels des Tankstellenschilds gelandet, während Sarah und ihr Vater in seinem Schein standen. Der Boden hatte nicht gebebt, als der Drache gelandet war und aus dem Gleitflug mit einem schwungvollen Doppelschritt am Boden aufgesetzt hatte, aber er bebte nun, als der Drache auf sie zukam, seinen Kopf und den langen Hals nach unten neigte, während die Spitzen seiner Flügel die Erde streiften, weil er die Schwingen zu voller Spannweite ausgebreitet hatte, um noch größer und bedrohlicher zu wirken.

Als er endlich ins Licht trat, sah sie, dass er nur ein Auge hatte. Das andere war vernarbt und schien von dicken Nähten zusammengehalten zu werden. Doch mit dem einen Auge sah er genug, um auf sie zuzukommen, vor ihnen stehen zu bleiben und zweimal tief die Luft einzuziehen. Sarah hatte gewusst, dass er das tun würde. Drachennasen waren schärfer als die eines Bluthundes. Es hieß, sie könnten mehr als nur Gerüche wahrnehmen, deine Angst riechen oder ob du lügst – aber das war wahrscheinlich ebenso ein Märchen wie die Behauptung, sie könnten Menschen hypnotisieren.

Wahrscheinlich.

»Du bist der Mann?«, fragte er. Die Worte kamen so tief aus seiner Brust, dass Sarah sie eher fühlte als hörte.

»Wer sollte ich sonst sein?«, antwortete ihr Vater, und Sarah war überrascht, eine unterschwellige Angst herauszuhören. Das Auge des Drachen verengte sich misstrauisch. Er verstand ganz offensichtlich die Antwort ihres Vaters nicht, was auch ihr Vater zu begreifen schien, denn er fügte schnell hinzu: »Ich bin der Mann.«

Der Drache musterte ihn von oben bis unten, dann nahm er Sarah in Augenschein.

»Du wirst nicht mit ihr sprechen«, sagte ihr Vater. »Ich habe sie nur als Zeugin mitgebracht, so wie du es verlangt hast.«

Das war neu für Sarah. Eine Zeugin? Ihr Vater hatte so getan, als sei es ihre eigene, sehr lästige Idee gewesen, mitkommen zu wollen.

Der Drache hielt den Kopf gesenkt, wölbte aber den Hals noch weiter und sah jetzt aus wie eine Schlange kurz vor dem Zustoßen. Er brachte seine Nase so dicht an ihren Vater heran, dass er ihn mit einem einzigen Happs hätte verschlingen können.

Aber so etwas geschah nur noch selten.

»Bezahlung«, grummelte er. Eine Forderung, keine Frage.

»Danach«, sagte ihr Vater.

»Jetzt«, sagte der Drache und breitete seine Flügel aus.

»Oder was? Wirst du mich sonst verbrennen?«

Wieder kam ein tiefes Grollen aus der Brust des Drachen, und Sarah fragte sich einen Moment lang panisch, ob ihr Vater wohl zu weit gegangen war. Dieser Drache hatte ein Auge verloren. Vielleicht fühlte er sich nicht gebunden durch die –

Dann merkte sie, dass er lachte.

»Warum tötet der Drache keine Menschen mehr?«, fragte der Drache, und ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

Jetzt war ihr Vater an der Reihe, verwirrt zu sein. »Was?«

Der Drache beantwortete seine eigene Frage. »Wegen der Gesellschaft«, sagte er, und trotz seines nicht menschlichen (und übrigens auch nicht russischen) Akzents und seiner ganzen Seelenlosigkeit konnte Sarah aus diesem einen Wort amüsierte Verbitterung heraushören. »Die Hälfte«, sagte der Drache und verlegte sich aufs Verhandeln.

»Danach«, sagte ihr Vater.

»Die Hälfte jetzt.«

»Ein Viertel jetzt. Drei Viertel danach.«

Der Drache überlegte und für einen kurzen Moment ruhte sein Blick wieder auf Sarah. Er kann dich nicht hypnotisieren, rief sie sich in Erinnerung. Das kann er nicht.

»Nun gut«, knurrte der Drache und setzte sich wieder auf seine Hinterbeine, um die Bezahlung entgegenzunehmen. Gareth Dewhurst drehte sich zu seiner Tochter und nickte ihr kurz zu. Sie hatten bereits damit gerechnet, daher ging Sarah zum Truck, öffnete die Beifahrertür und griff in das Handschuhfach. Sie holte ein kleines glänzendes, wie ein Fischlein aussehendes Klümpchen, das ihr Vater durch Einschmelzen seines sehr einfachen Eherings geformt hatte. Es war alles, was sie besaßen. Sie hatten nichts mehr, um den Drachen nach Beendigung seiner Arbeit zu bezahlen, aber ihr Vater hatte alle Versuche Sarahs abgelehnt, dieses Problem zu besprechen. »Darum kümmere ich mich später«, sagte er immer nur. Sie nahm an, er wollte auch noch das Silberservice einschmelzen, ein Erbstück ihrer Mutter, in der Hoffnung, dass der Drache das minderwertigere Metall akzeptieren würde. Womit er wahrscheinlich sogar recht hatte.

Aber was, wenn der Drache sich weigerte? Was, wenn er es nicht leiden konnte, übers Ohr gehauen zu werden? Andererseits, welche Wahl hatte er denn? Nicht nur Kelby, sondern auch andere Gesetzeshüter würden sich garantiert kein Bein für einen unterbezahlten Drachen ausreißen. Trotzdem wurde ihr bei dem Gedanken flau im Magen. Wie bei so vielem anderen auch. Das war der Ort, an dem sich all ihre Ängste ballten. Und das waren in diesen Tagen eine ganze Menge.

Sie brachte das Klümpchen zu ihrem Vater. Er nickte ihr zu, ein Zeichen der Anerkennung für ihren Mut, wie sie annahm, und ergriff das Gold. Er hielt es hoch, damit der Drache daran schnüffeln konnte, was er auch tat, und zwar so heftig, dass es aussah, als wolle er das Gold regelrecht einsaugen.

»Dürftig«, sagte der Drache.

»So war es vereinbart«, sagte ihr Vater.

»Dann war die Vereinbarung dürftig.« Aber der Drache streckte seine offene Klaue vor und ihr Vater ließ das Gold hineinfallen.

»Unsere Abmachung wurde bezeugt«, erklärte ihr Vater nun. »Das Viertel ist gezahlt worden. Der Handel ist besiegelt.«

Nach einem Moment nickte der Drache.

»Weißt du, wo die Farm ist?«

Der Drache nickte erneut.

»Du schläfst auf den Feldern, die du rodest«, sagte ihr Vater. »Morgen früh wirst du mit der Arbeit beginnen.«

Der Drache nickte nicht, sondern lächelte nur, als wundere er sich selbst darüber, dass er sich so herumkommandieren ließ.

»Was?«, fragte ihr Vater. »Was ist los?«

Wieder stieg ein grollendes Lachen aus der Brust des Drachen auf, und wieder sagte er: »Gesellschaft.«

Dann erhob er sich so plötzlich in die Luft, dass Sarah und ihr Vater fast von den Füßen gefegt wurden. Schon im nächsten Moment war er nur noch ein Schatten am Himmel.

»Weiß er, wo die Farm ist?«, fragte sie.

»Es hat sich bereits einen Eindruck über die anstehende Arbeit verschafft«, sagte ihr Vater und ging zurück zum Truck.

»Und wo war ich da?«, fragte sie und folgte ihm. »Du hast gesagt, du hättest ihn über den Vermittler von Mr Inagawa –«

»Du musst nicht alles wissen.« Er setzte sich hinter das Lenkrad und schlug die Tür zu.

Sie öffnete die Beifahrertür, stieg aber nicht ein. »Du hast gesagt, ich könnte fahren.«

Er atmete wieder einmal tief durch die Nase ein und wieder aus. »Ja, das habe ich.«

Kurz darauf waren sie auf der Straße. Sarah betätigte geschickt die Gänge, und das, obwohl die Kupplung notorisch klemmte und es in diesem hügeligen Landstrich viele Kurven gab. Sie wich Schlaglöchern aus und blinkte, auch wenn meilenweit kein anderes Auto zu sehen war, und trat das Gaspedal auch nie bis zum Anschlag durch, weil das ihren Vater verrückt machte. Er hatte absolut keinen Grund zu meckern. Aber er beschwerte sich trotzdem.

»Nicht so schnell«, sagte er, als sie über das letzte Stück der gepflasterten Hauptstraße von Frome rollten, dem kleinen Dorf im Staat Washington, an dessen Rand sich ihre Farm befand. »Man muss immer damit rechnen, dass ein Reh auf die Fahrbahn springt.«

»Da ist ein Drache am Himmel«, sagte sie und schaute durch die Windschutzscheibe zu den Sternen hinauf. »Die Rehe werden sich verstecken.«

»Wenn sie klug sind, dann tun sie das«, sagte ihr Vater, aber wenigstens hörte er auf, ihre Fahrweise zu kommentieren. Abgesehen vom Lichtkegel ihrer Scheinwerfer lag die Straße schwarz vor ihnen. Keine Straßenlaternen, keine Lichter von nahe gelegenen Häusern, weil es in der Nähe keine gab, nur dichter Wald, der sie wie die Nacht zu umschließen schien. Sie fuhren eine Weile schweigend, und Sarah dachte daran, dass sie in sechs Stunden aufstehen und die Hühner und Schweine versorgen musste, bevor sie sich auf den Weg zur Schule machte.

Dann fiel ihr etwas ein. »Was sollte das mit dem Zeugen? Was habe ich denn bezeugt?«

»Drachen gehen immer davon aus, dass Menschen lügen«, sagte ihr Vater und lieferte ihr damit eine Erklärung, aber keine Entschuldigung. »Sie verlangen, dass mindestens ein Zeuge jede rechtliche Vereinbarung bestätigt.«

»Aber der Zeuge könnte doch auch lügen, oder nicht?«

»Natürlich, und genau das kommt auch vor, aber zumindest verteilt sich dann die Schuld. Dann sind zwei darin verwickelt, nicht nur einer.« Er zuckte mit den Schultern. »Drachenphilosophie.«

»Wir haben gelogen.«

Er warf ihr einen Blick zu.

»Das haben wir«, sagte sie. »Da ist kein Gold mehr, mit dem wir den Drachen bezahlen könnten.«

»Ich habe dir doch schon gesagt, dass braucht nicht deine Sorge sein.«

»Aber das ist es. Drachen sind gefährlich. Wir haben ihn angelogen. Ich war dabei, die Schuld trifft uns beide.«

»Du trägst keine Schuld, Sarah.« Sein Ton ließ keine weiteren Fragen zu, und schon gar nicht die Frage, wie viel Schuld er trug. »Außerdem geht es mehr darum, sie in die Pflicht zu nehmen. Darum, was es heißt, einem anderen sein Wort zu geben. Um das, was auch immer sie unter Prinzipien verstehen.«

Sie konnte sich nicht zurückhalten: »Also um das, was Lebewesen tun, die eine Seele haben.«

»Sarah«, sagte ihr Vater mit einem warnenden Unterton.

Plötzlich kam der Truck von der Straße ab.

Zuerst dachte Sarah, sie wäre in einen Graben gefahren, als der Wagen vornüberkippte und sie gegen das Lenkrad prallte. Ihr Vater schrie auf, allerdings mehr vor Überraschung als vor Schmerz, und fing sich gerade noch mit der Hand am Armaturenbrett ab. Sarah trat auf die Bremse, aber es tat sich nichts. Das Fahrzeug pendelte nach unten, als wollte es einen Salto machen …

Gleich darauf schwang es wieder zurück, und beide wurden in ihre Sitze gedrückt, da nun das Heck nach hinten wegkippte, als hingen sie über einer Klippe.

»Was zum Teufel?«, rief ihr Vater erschrocken.

Der Truck kippte erneut nach vorn und Sarah blickte auf die Straße.

Die weit unter ihnen lag.

»Er hat uns hochgehoben«, sagte ihr Vater und reckte sich, um durchs Rückfenster zu spähen.

Sarah blickte ebenfalls hinaus, allerdings nur kurz, weil sie Angst hatte, das Lenkrad loszulassen. Der Drache hatte mit seinen hinteren Klauen den Wagen auf beiden Seiten gepackt wie ein Adler, der einen Lachs gefangen hatte. Sarah blickte wieder nach vorne, auf die Straße und die Bäume, die nun unter ihnen vorbeizogen, während der Drache mit seinen großen Flügeln schlug und sie, wie Sarah hoffte, zu ihrer Farm brachte.

»Er hat uns hochgehoben«, wiederholte ihr Vater, der nur mühsam seine Wut beherrschen konnte und gar nicht merkte, dass er von dem Drachen als er gesprochen hatte.

»Wird er uns fallen lassen?«, fragte Sarah.

Sie sah ihrem Vater an, dass er keine Antwort darauf wusste.

Sie waren in den Klauen des Drachen. Sie hatten absolut keinen Einfluss darauf, was als Nächstes passieren würde.

2

Er schlug hart auf, griff nach seinem Handgelenk und verharrte so einen Augenblick am Boden, in der Hoffnung, dass nichts gebrochen war. Er konzentrierte sich darauf, ruhig zu atmen, und tatsächlich ließ der Schmerz nach, verebbte allmählich zu einem leichten Ziehen und schwoll nicht an zu dem scharfen Schmerz eines Knochenbruchs. Den kannte er nämlich, sein schiefes Schlüsselbein war der Beweis dafür. Vorsichtig rollte er sich auf die Seite und bewegte das Handgelenk. Es tat weh, aber es war noch funktionsfähig.

Ächzend kam er auf die Beine. Seine Tasche war etwa zwanzig Meter entfernt gelandet, wo er sie nach einer hektischen Suche fand. Wenn er sie verlor, würde es noch viel, viel schwieriger werden. Oder vielmehr: Wenn er sie verlor, würde es unmöglich werden.

Und das wäre das Ende von allem.

Aber da war sie, tief in einem Farn verborgen, dessen tote Sporen an seinem schweren Wintermantel kleben blieben, als er die Tasche von der Erde befreite. Er öffnete den Reißverschluss, überprüfte den Inhalt und schloss ihn wieder. Das Wichtigste war da, dazu noch die Vorräte an Nahrung und Wasser, damit er unterwegs mit möglichst wenig Menschen in Kontakt treten musste.

Ein gewisser Kontakt würde sich allerdings nicht vermeiden lassen. Das machte ihm jedoch keine Angst.

Er war vorbereitet.

Es war schon nach Mitternacht, aber er hatte einen langen Weg vor sich und wollte endlich aufbrechen. Ein klarer Himmel und der helle Mond wiesen ihm den Weg. Wie erwartet, befand er sich am Rande eines Waldes, nahe der Straße, die einem Flusslauf folgte. Meistens würde er sich an letzteren halten, aber zu dieser späten Stunde eignete sich die Straße am besten, um die ersten Meilen zurückzulegen.

Zuerst kniete er jedoch nieder, um zu beten. »Beschütze mich auf meinem Weg, Mitera Thea«, sagte er. »Bewahre mich vor Ablenkung. Bewahre mich vor allem, was nicht der Erfüllung meiner Aufgabe dient.«

Er betete nicht um eine sichere Rückkehr. Damit rechnete er ohnehin nicht.

Nachdem er sein Gebet abgeschlossen hatte, trat er so vorsichtig vom Gras auf die Straße, als könnte der Boden sich plötzlich aufbäumen und ihn beißen oder unter seinen derben Schuhen nachgeben. Beides geschah nicht. Er wandte sich nach Süden und setzte sich in Bewegung.

Es war kalt, aber auch was das anging, war er vorbereitet. Der Mantel über einem Wolloberteil, die dicke wollene Hose, Handschuhe und eine Mütze, die ihm bis über die Ohren reichte und sein Gesicht fast verdeckte. Es war ein Gesicht, dem andere vertrauen würden, hell und erstaunlich jung, ein Teenager mit blauen Augen, die weder bedrohten noch blendeten, dazu ein Lächeln, das bescheiden und ansprechend war und völlig harmlos wirkte.

Letzteres war absolut irreführend.

Die Tasche geschultert, ging er weiter durch die Nacht und betrachtete seine Atemwölkchen mit einer vergnügten Unschuld, die vielleicht etwas zu kindlich war für jemanden seines Alters. Er kam an ein paar Häusern vorbei, die weitab der Straße und voneinander isoliert dalagen, aber er sah kein einziges Auto.

Als er dann doch in der Ferne das Aufheulen eines Motors hörte, ging bereits die Sonne auf, und es war schon beinahe Zeit für eine erste Rast.

Ein großes gelbes Oldsmobile bog weiter vorn auf die Straße ein. Sich zu verstecken, war einfach; er verschwand in dem dichten Wald auf der flussabgewandten Seite der Straße und wartete. Er hockte sich hinter einen Baum und lauschte auf den lauter werdenden Motor. Er hatte keine Angst. Wahrscheinlich hatten sie ihn nicht gesehen, und selbst wenn – er war nur ein normaler junger Mann, der seines Weges ging. Er kramte in seiner Tasche nach einem kleinen Keks, während er darauf wartete, dass dieses Auto an ihm vorbeifuhr.

Er hatte den zweiten Bissen schon halb zum Mund geführt, als ihm auffiel, dass Tonhöhe und Lautstärke der Motorengeräusche sich verändert hatten.

Er lauschte. Ja. Der Motor lief noch, aber das Fahrzeug bewegte sich nicht mehr. Vorsichtig spähte er hinter dem Baumstamm hervor auf die Straße.

Das Auto war genau dort stehen geblieben, wo er den Wald betreten hatte. Es war riesig, mit gerundeten Formen und einer wuchtigen Karosserie, gedrungen wie ein Stier, der sich zum Angriff bereit macht. So wie es an diesem eisigen Morgen auf dem verlassenen Waldweg stand, wirkte es, als würde es auf ihn warten. Durch die Bäume hindurch konnte er nicht genau erkennen, wie viele Menschen sich darin befanden und was sie gerade taten. Dann ertönte ein leises Geräusch und das Auto schien sich abzusenken. Er vermutete, dass dies der Moment war, in dem es von Fahren auf Parken wechselte.

Er ließ den Keks wieder in seiner Tasche verschwinden und die messerscharfen Klingen, die er in seinen Ärmeln versteckt hatte, mit einer raschen Bewegung aus dem Gelenk in seine Handflächen gleiten.

Bei Sonnenaufgang war es still im Wald. Auch ohne Schnee lag dicker Frost. Noch summte kein Insekt, noch sang kein Morgenvogel. Das einzige Geräusch waren der Motor und sein eigener Atem.

Seine Augen weiteten sich. Sein Atem. Große dampfende Wolken, die seinen Standort so unweigerlich verrieten, als hätte er ein Feuer entzündet. Aber, dachte er, wer sagt denn, dass ich mich überhaupt verstecke? Vermutlich ist es sich nur um einen neugierigen Autofahrer, der zufällig hier vorbeigekommen ist und sich jetzt fragt, warum wohl jemand von der Straße in den Wald abbiegt. Auf den ersten Blick war ja sonst nichts Ungewöhnliches passiert.

Er hörte, wie erst eine, dann eine zweite Autotür geöffnet wurde. Geöffnet, aber nicht geschlossen, bei laufendem Motor. Einen zweiten Blick zu wagen, war äußerst riskant, aber natürlich konnte er nicht widerstehen. Er hielt den Atem an, ließ sich noch weiter hinuntersinken, bis er fast am Boden lag, und spähte dann langsam, langsam, langsam hinter dem dicken Stamm hervor.

Der erste Schuss zerfetzte die Seitenklappe seiner Mütze und die Spitze seines linken Ohrs. Die Kugel erreichte ihn vor dem Knall, und für ein paar schwindelerregende Sekunden hatte er Mühe, Ursache und Wirkung miteinander in Verbindung zu bringen, und dachte, er sei von einer Biene gestochen worden, auch wenn es eigentlich gar nicht die Saison dafür war. Der zweite Schuss zerfetzte ein Stück Rinde, erschreckend nah an seinem Gesicht. Er duckte sich wieder hinter den Stamm, als weitere Schüsse fielen. Sie trafen die Bäume um ihn herum. Holzsplitter regneten auf ihn herab.

Mittlerweile spürte er den Schmerz an seinem Ohr, und als er es berührte, hatte er beunruhigend viel Blut an der Hand. Er selbst hatte keine Pistole. Es hatte gute Gründe gegeben, warum er nur mit Messern und Klingen bewaffnet war, zudem war man nicht davon ausgegangen, dass mit größeren Gegenangriffen zu rechnen war, sodass er keine eigene Waffe benötigte.

Jetzt war es zu spät, um sich darüber zu beschweren.

Das Schießen hörte auf, und für einen Moment waren die einzigen Geräusche wieder der Motor und eine wütende, weit entfernte Krähe, die ihren Unmut darüber äußerte, so unsanft geweckt worden zu sein.

»Du kannst nicht entkommen, Malcolm«, rief eine Männerstimme von der Straße her.

Malcolm. Einer der Namen von jener Liste, die man ihm gegeben hatte, damit er im Bedarfsfall einen davon verwenden konnte.

»Wirf deine Waffen weg«, fuhr der Mann fort. »Ob du es glaubst oder nicht, Malcolm, wir wollen dich hier lebendig rausholen.«

»Sie haben mir ins Ohr geschossen«, rief er zurück.

»Wirf deine Waffen weg«, sagte der Mann erneut.

»Ich habe keine.«

»Das glaube ich dir nicht.«

»Dann haben wir ein Problem.«

»Nicht wir, Malcolm«, sagte der Mann. »Ich habe überhaupt kein Problem.«

Malcolm – er nahm den Namen fürs Erste an – zog seine Tasche herüber, in der Hoffnung, dass sie eine oder zwei Überraschungen enthielt, obgleich er wusste, dass dem nicht so war. Rechts von ihm knackte ein Ast – das war mit ziemlicher Sicherheit ein weiterer Mann, der sich ihm von der Seite näherte. Ein weiterer Mann mit einer weiteren Waffe.

Die Tasche enthielt nichts, womit er nicht gerechnet hatte. Der einzige Unterschied zu der Tasche von vor zwei Minuten war der blutige Handabdruck, der sich jetzt auf dem Stoff abzeichnete.

»Das kann nicht sein«, flüsterte er. »Das kann nicht das Ende sein, so kurz nach dem Anfang.« Er blickte hoch zu dem aufsteigenden Grau des Morgens, legte die Hand wieder an sein pochendes Ohr und flüsterte erneut eine Bitte, ein Gebet, einen Wunsch: »Mitera Thea, beschütze mich.«

Er hielt den Atem an und lauschte. Der Mann zu seiner Rechten war entweder stehen geblieben oder er setzte jetzt leiser einen Fuß vor den anderen. Der Mann auf der Straße war still, aber womöglich kam auch er immer näher.

Dann war da ein neues Geräusch. Eines, das die Männer noch nicht gehört haben konnten. Wohl aber Malcolm, denn er hatte darauf geachtet.

»Ich ergebe mich«, rief er.

Stille. »Wirklich?«, fragte der Mann auf der Straße.

»Wenn Sie mir einen Moment Zeit geben«, sagte Malcolm, »dann lege ich meine Waffen nieder und gehe ein paar Schritte zur Seite. Es muss niemand verletzt werden.«

»Ich stimme dir zu, Malcolm«, sagte der Mann, »aber woher weiß ich, dass du dein Wort hältst?«

»Ich vermute, Sie wissen, woher ich komme? Woran ich glaube?«

»Wir haben da so eine Ahnung, ja.«

»Dann wissen Sie auch, dass ich Sie nicht anlügen kann und will. Obwohl Sie auf mich geschossen haben, werde ich mich trotzdem ergeben.« Er drehte den Kopf, damit der erste Mann seine Stimme klarer verstand. »Es ist eine Frage des Prinzips.«

Malcolm konnte fast hören, wie der Mann nachdachte.

Der zweite Mann schien ebenfalls dessen Gedanken zu erraten, denn er rief dem ersten Mann verächtlich zu: »Das ist ein Trick! Du weißt doch, wie diese Leute sind. Sie sind Fanatiker. Und der Geheimdienst sagt –«

»Ja, ich weiß, wie diese Leute sind«, unterbrach ihn der Erste. »Deshalb weiß ich auch, was sie mit diesem Wort meinen. Prinzip.«

»Als könnte man Prinzipien nicht auch umgehen«, sagte der Zweite. »Nicht nur jedes Prinzip, sondern auch sein Gegenteil lässt sich rechtfertigen.«

»Sind Sie etwa Philosophen?«, fragte Malcolm, ehrlich neugierig.

Als Antwort schlug eine Kugel in den Baumstamm über seinem Kopf ein. »Philosophische Frage«, sagte der zweite Mann. »War das eine Warnung oder ein Fehlschuss?«

»Der philosophische Teil wäre, sich zu fragen, ob es nicht das Gleiche ist.«

»Ist es nicht.«

»Na also«, sagte Malcolm. »Da haben Sie Ihre Philosophie.«

»Halt die Klappe, Godwin!«, blaffte der erste Mann.

Godwin hielt die Klappe.

»Ich zähle jetzt bis zehn, Malcolm«, sagte der erste Mann. »Bei zehn stehst du mit erhobenen Händen da, sodass wir beide dich sehen können. Verstanden?«

Malcolm schloss die Augen und flüsterte ein Dankgebet, dann sagte er: »Verstanden.«

»Ich meine es ernst. Eine falsche Bewegung, und es ist für immer Schluss mit den philosophischen Fragen. Das ist eine Frage meines Prinzips. Ich fange an … eins.«

Malcolm holte tief Luft und versuchte, sein pochendes Ohr zu ignorieren.

»Zwei.«

Er stieß die Luft durch den Mund aus und beobachtete die hervorquellende große Atemwolke.

»Drei.«

Malcolm setzte sich auf.

»Vier.«

Er erhob sich. Jetzt konnte er Godwin auch sehen, einen stämmigen Mann und ganz anders, als Malcolm erwartet hatte.

»Fünf.«

»Hör auf, mich anzustarren, und beweg dich«, sagte Godwin.

»Sechs.«

»Es tut mir leid«, sagte Malcolm.

»Sieben.«

»Was tut dir leid?«, fragte Godwin und verging im selben Moment in einem Schwall aus Feuer. Malcolm suchte hinter einem Baum Deckung und verschwand dabei aus dem Schussfeld des ersten Mannes. Die Flammen schlugen gegen den Baumstamm, versengten ihn, fraßen sich aber nicht weiter.

Seine Tasche war natürlich feuerfest.

»Was zum Teufel war das?«, schrie der erste Mann. »Du hast gesagt, du ergibst dich.«

»Ja, das tue ich.« Malcolm drückte sich mit dem Rücken an den Baumstamm und wartete auf das, was gleich geschehen würde. »Aber vielleicht hat noch jemand ein Wörtchen mitzureden.«

Die Schreie setzten eine Sekunde später ein und endeten bereits nach zwei Sekunden, sodass der Mann wenigstens nicht lange leiden musste. Malcolm wartete, bis das ohrenbetäubende Brüllen aufhörte und das Rauschen der großen Flügel am Himmel verstummte und nur noch das Knistern von abkühlendem Metall und das Blubbern von zerschmolzenem Gummi zu hören war.

»Danke«, hauchte er in aufrichtiger Bewunderung. »Vielen Dank.«

Er sammelte seine Tasche ein. Er sah nicht hinüber zu der verkohlten, kreisförmigen Stelle im Wald, an der Godwin gestorben war, sondern kehrte schnell zur Straße zurück.

Das Oldsmobile war jetzt eine philosophische Frage für sich: War es noch ein Auto, wenn das meiste davon nicht mehr existierte und die Überreste in eine Pfütze passten? Besaß dieses Fahrzeug einen Geist, der weiterlebte, solange Malcolm sich daran erinnerte?

Er überquerte die Straße zehn Meter weiter weg, damit die Hitze des Asphalts seine Schuhe nicht zum Schmelzen brachte. Er trat zwischen die Bäume, die zum Flussufer führten, schulterte die Tasche und setzte seinen Weg fort, ohne sich noch einmal umzusehen.

Er würde sich später ausruhen.

Jetzt waren es noch gut hundertachtzig Meilen bis zur amerikanischen Grenze.

3

Wo hat dein Vater einen Blauen gefunden?«, fragte Jason Inagawa Sarah, als sie nach der Schule gemeinsam die unbefestigte Straße entlang nach Hause gingen.

»Von dem Vermittler, den dein Vater empfohlen hat«, antwortete Sarah überrascht.

Die Sonne schien, aber es war immer noch frostig. Sie gingen schnell, um sich warm zu halten; aus irgendeinem Grund schaffte es der Schulbus nie bis zu den Farmen des einzigen Mädchens mit Eltern unterschiedlicher Hautfarbe und eines der ganz wenigen Asiaten der Schule. Sehr seltsam.

»Ja, aber er hat nichts von einem Blauen erwähnt«, sagte Jason. »Ich habe noch nie von einem Blauen hier in der Gegend gehört.«

»Ich auch nicht. Dad hat gesagt, dass dein Vater sich auf was gefasst machen kann – nach allem, was der Drache gestern getan hat.«

Der Drache hatte sie nicht getötet. Natürlich nicht. Das machten Drachen inzwischen nicht mehr. Niemand konnte genau sagen, wie lange Drachen lebten, doch die Gerüchte über ihre Unsterblichkeit waren sicher genau das: Gerüchte. Deswegen würde kein Drache sein Leben unnötig aufs Spiel setzen, indem er Hunderte von Jahren alte Verträge mit einer Spezies brach, die sich als besonders findig in der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen erwiesen hatte. Die verlustreichen Kriege zwischen Drachen und Menschen, die über Jahrtausende hinweg immer wieder aufgeflammt waren, hatten im 18. Jahrhundert schließlich ein Ende gefunden.

Die Drachen hatten sich mehr oder weniger auf eigenen Wunsch hin in ihre Einöden auf der ganzen Welt zurückgezogen, und seither hatte der Frieden so lange angehalten, dass die Menschen dazu übergegangen waren, ihre Aggressionen gegeneinander zu richten. Der Erste und der Zweite Weltkrieg – aus denen sich die Drachen völlig herausgehalten hatten – waren die beiden offensichtlichsten Belege dafür, neben unzähligen anderen. Erst in dieser Woche hatte die Sowjetunion einen amerikanischen Piloten gefangen genommen, der als Spion enttarnt worden war. Eisenhower hatte mit Vergeltung gedroht, falls der Spion nicht aus der Gefangenschaft entlassen und zurückgegeben würde. Vergeltung, das bedeutete dieser Tage nichts anderes als Bomben, machtvoll genug, um ganze Städte auszulöschen. Sarah kannte Kinder aus der Schule, die jeden Abend darum beteten, am nächsten Morgen wieder aufzuwachen. Drachen, auch wenn sie dazu fähig waren, jeden Menschen mühelos zu zerquetschen, zu verschlingen oder zu verbrennen, rangierten auf der Liste der menschlichen Sorgen gerade ziemlich weit unten.

Was den Heimflug von Sarah und ihrem Vater im Truck nicht weniger nervenaufreibend gemacht hatte.

»Versuch so etwas noch ein einziges Mal, und ich …«, hatte ihr Vater losgepoltert, nachdem der Drache sie sicher in ihrer Einfahrt abgesetzt hatte.

»Ja, was dann?«, hatte der Drache geknurrt. »Wirst du mir dann noch weniger zahlen als ohnehin schon?« Er hatte amüsiert geklungen und nicht im Mindesten beunruhigt.

»Ich meine es ernst, Kralle«, sagte Sarahs Vater. »Die Behörden hier sind Drachen gegenüber nicht sehr freundlich gesinnt.«

»Die Behörden können nicht fliegen.« Mit diesen Worten hatte der Drache ihren Vater mitten im Satz stehen lassen, war in die Luft aufgestiegen und kreiste dann über dem ersten Feld, wo er – wie er offenbar bereits wusste – mit der Arbeit beginnen sollte. Sarah hatte zugesehen, wie er sich anschließend am Waldrand zusammenrollte. Sie wusste selbst nicht, warum, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass er auf der Stelle eingeschlafen war.

»Hisao Inagawa kann sich auf was gefasst machen«, hatte ihr Vater gesagt und war ins Haus gestapft.

»Ach, so was bekommt mein Vater ständig zu hören«, sagte Jason Inagawa jetzt. »Ist dir das noch nie aufgefallen?«

»Bei meiner Mutter war es das Gleiche«, sagte Sarah, und wie immer, wenn sie über ihre Mutter sprach, verspürte sie einen Stich in der Brust. »Vor allem damals, als sie Mr Hainault dabei erwischt hat, wie er sie im Lebensmittelladen übers Ohr hauen wollte.«

Jason verfiel in respektvolles Schweigen, so wie immer, wenn Sarah ihre verstorbene Mutter erwähnte. Auch er hatte zuvor die seine verloren – eine Seltenheit in einer Zeit, in der es meistens die Väter waren, die nicht aus dem Krieg zurückgekehrt waren und in den Familien fehlten. Das hatte die beiden noch mehr zusammengeschweißt, aber eigentlich reichte ihre Freundschaft (und manchmal war es mehr als das) bis in die Tage zurück, als sie kleine Kinder gewesen waren, die irgendwann begriffen hatten, dass sie anders aussahen als alle anderen. Sie waren fast gleichaltrig, nur drei Wochen trennten sie voneinander, und beide waren auf den Farmen ihrer Familien zur Welt gekommen. Jasons erste Erinnerungen stammten allerdings aus »Camp Harmony«, dem Internierungslager auf dem Jahrmarktsplatz in Puyallup, in das alle japanischen Familien der Staaten Washington und Alaska zwangsumgesiedelt worden waren. Später war er zusammen mit seiner Mutter und seinem Vater – beide in Tacoma geboren, beide US-Bürger, beide von der Regierung allein aufgrund ihrer Herkunft als potenzielle »feindliche Kollaborateure« eingestuft – in ein festes Lager in Minidoka, Idaho, weitergeschickt worden, wo seine Mutter nach zwei Jahren Zwangsaufenthalt an einer Lungenentzündung gestorben war.

Wenn die Leute über die Inagawas sprachen, dann benutzten sie oft den Ausdruck »immerhin«. Immerhin hatte Hisao es geschafft, seine Farm zurückzubekommen; nicht alle hatten so viel Glück gehabt. Immerhin waren sie in diesem Teil des Landes, wo außer ihnen immerhin noch ein paar andere japanische Familien lebten, nicht mehr ständigen Anfeindungen ausgesetzt, jedenfalls viel weniger als früher.

Sarah versuchte, in Jasons Gegenwart nicht immerhin zu sagen, wenn sie es vermeiden konnte. Sie gingen auch nie zum Jahrmarkt nach Puyallup, der jedes Jahr im September stattfand, egal wie oft die Leute in der Schule sagten, wie toll es dort war.

»Hat der Drache dir gesagt, wie er heißt?«, fragte Jason jetzt.

»Ich darf ihm nicht einmal sagen, wie ich heiße. Ich darf eigentlich nicht einmal er zu ihm sagen.«

Jason kickte einen Stein über die Straße, während sie weitergingen. »Die Rote, die für uns gearbeitet hat, als ich noch klein war, haben wir Grumpy genannt. Es schien sie nicht zu stören.«

»So wie den Zwerg in dem ›Cinderella‹-Film? Ich glaube, das würde unserem nicht gefallen.«

»Du könntest ihn Doc nennen. Oder Sneezy. Das sind gute Namen für einen Drachen.«

»Oder Frechdachs«, sagte Sarah. »Er ist einer, der sich nichts gefallen lässt.«

»Blaue sollen die Genies unter den Drachen sein. Superschlau, aber genauso tückisch.«

Sarah suchte den Horizont ab. »Wir müssten ihn von hier aus eigentlich schon sehen können.«

Sie umrundeten den letzten kleinen Hügel, der die Sicht auf den Hof von Sarahs Familie versperrte. Jasons Farm lag noch ein Stück dahinter, eine halbe Meile weiter die Straße hinunter. Die beiden Felder, die der Drache roden sollte, waren diejenigen, die am weitesten von der Straße entfernt lagen. Sie grenzten an den Fuß eines anderen Hügels, auf dem ein Funkturm stand, und hinter dem der Wald begann, der sich bis zum Mount Rainier erstreckte.

»Da!«, rief Sarah.

Inmitten blasser weißer Rauchsäulen glitt der Drache über das Feld, sein Feuer zu einem einzelnen, kontrollierten Flammenstrahl gebündelt. Das musste er auch, wenn er keinen Waldbrand entfachen wollte. Es war beinahe erschreckend, mit welcher Leichtigkeit Drachen ihre mächtigste Waffe beherrschten.

»Er ist klein«, sagte Jason.

»Blaue sind eben ein bisschen kleiner«, erwiderte Sarah, die plötzlich das Gefühl hatte, ihren Drachen verteidigen zu müssen. Obwohl er, wie sie sich eingestehen musste, keineswegs ihr Drache war. »Dafür ist er eigentlich sogar ziemlich groß.«

»Und wendig …« Der Drache wirbelte herum, vielleicht ein wenig dramatischer als nötig, bevor er in schneller Abfolge weiß glühende Flammenstöße auf drei der dickeren Bäume auf dem Feld abfeuerte, die mehr oder weniger im selben Moment zu drei weißen Rauchwolken verdampften.

»Jetzt will er angeben«, sagte Sarah.

»Er wird Aufmerksamkeit erregen«, sagte Jason beinahe prophetisch, denn im nächsten Moment tauchte – wie sollte es auch anders sein? – Deputy Kelby höchstpersönlich hinter ihnen auf.

»Verdammt«, murmelte Jason leise, als das Polizeiauto neben ihnen zum Stehen kam.

»Habt ihr zwei nichts zu arbeiten?«, fragte Deputy Kelby durch sein Fenster, das er trotz der Kälte offen gelassen hatte, damit er seinen Kautabak ausspucken konnte.

»Wir sind auf dem Heimweg von der Schule«, sagte Sarah.

Er grinste sie an, ließ seine von schwarzen Kautabakresten verschmierten Zähne sehen und spuckte dann aus – ganz zufällig direkt neben ihre Füße. »Ihr seid auf dem Heimweg von der Schule? Fehlt da nicht was?«

»Wir sind auf dem Heimweg von der Schule, Sir«, sagte Sarah.

»Hab gehört, dein Daddy hat eine Kralle angeheuert. Einen Russki, noch dazu.«

Sarah und Jason drehten sich um und sahen, wie der Drache jetzt verkohlte Baumstümpfe ausriss und sie beinahe schwungvoll auf einen Haufen warf. »Gute Detektivarbeit, Deputy«, sagte Jason.

Kelbys Züge verhärteten sich schlagartig. »Willst wohl frech werden, was, Junge?«

Sarah schaltete sich ein und versuchte zu beschwichtigen. »Es verstößt nicht gegen das Gesetz, einen Drachen anzuheuern, und sie haben auch nichts mit der russischen Regierung zu tun –«

»Es verstößt auch nicht gegen das Gesetz«, sagte Deputy Kelby, »außerhalb seinesgleichen zu heiraten.« Er spuckte wieder aus. »Das heißt nicht, dass es den Leuten gefallen muss.« Er blickte wieder auf das Feld hinaus zum Drachen. »Es heißt nicht, dass die Leute es akzeptieren müssen.«

»Na ja«, sagte Jason, »eigentlich heißt es genau das.«

»Jason«, zischte Sarah.

»Was hast du gerade zu mir gesagt?« Deputy Kelby richtete seine Aufmerksamkeit jetzt ganz auf Jason.

»Wenn etwas nicht gegen das Gesetz verstößt«, sagte Jason, »dann heißt das, die Leute müssen es akzeptieren. Genau so funktionieren Gesetze doch, oder?«

Einen Moment lang blieb Deputy Kelby reglos, dann setzte er seine Polizeimütze mit einer Entschlossenheit auf, die nichts Gutes verhieß.

»Welches Gesetz«, fragte er, »hat es deinem Land erlaubt, meine Landsleute in Pearl Harbor zu bombardieren?«

»Das ist mein Land«, sagte Jason. »Genau das, in dem wir hier und jetzt stehen.«

»Welches Gesetz«, fuhr Kelby fort und stieg aus seinem Auto, eine Hand an der Waffe, die andere am Schlagstock in seinem Gürtel, »hat ihnen das Recht gegeben, meinen Daddy in Guadalcanal zu töten?«

»Welches Gesetz hat das Kommando für die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki legitimiert?«, erwiderte Jason, den Blick auf Augenhöhe mit dem Deputy.

»Jason«, sagte Sarah erneut, entsetzt darüber, wie schnell die Situation aus dem Ruder gelaufen war. Und gleich würde es noch schlimmer werden. Kelby zog seinen Schlagstock aus dem Koppel.

»Menschenmädchen«, dröhnte da eine Stimme vom Himmel. Plötzlich war der Drache über ihnen und glitt so dicht an ihnen vorbei, dass Deputy Kelby sich duckte. Der Drache drehte eine Kurve, dann landete er vor ihnen auf der Straße und legte wie beiläufig eine lange, hakenförmige Vorderkralle auf die Motorhaube des Polizeiautos.

»Dein Vater will, dass du nach Hause kommst«, sagte er und wandte ihnen sein gutes Auge zu, um sie alle drei zu mustern.

»Nimm deine dreckige Klaue von meinem Wagen«, schnauzte Deputy Kelby, der nun die Klappe seines Waffenholsters öffnete.

»Ich überbringe nur eine Nachricht«, sagte der Drache.

»Dich hab ich hier noch nie gesehen«, sagte Kelby. »Und ich mache nicht gern die Bekanntschaft neuer Drachen.«

»Wie interessant. Das scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen, denn uns Drachen ergeht es mit Polizisten nicht sonderlich anders.«

Kelby zog seine Waffe, hielt sie aber auf die Straße gerichtet.

»Ich sagte, du sollst deine Klaue von meinem Wagen nehmen!«

Wieder schien der Drache zu lächeln. Wie machte er das nur?, fragte sich Sarah. Da war dieses beinahe unmerkliche Kräuseln seiner Lippe – aber wenn ein Drache lächelte, wurde einem erst richtig bewusst, wie viel von einem Lächeln im Funkeln der Augen lag. Oder dem des einen Auges, in diesem Fall.

Eines Auges, das sich nun Jason und Sarah zuwandte. »Brave Säugetiere wissen, wann sie nach Hause gehen sollten«, sagte der Drache und hob die Klaue, ohne auch nur einen Kratzer im Lack des Polizeiwagens zu hinterlassen. Das musste er Sarah nicht zweimal sagen. Sie schob Jason vor sich her die Straße entlang, vorbei an dem Drachen, der seine Aufmerksamkeit jetzt wieder auf Deputy Kelby richtete.

»Ein russischer Drache«, sagte der Deputy. »In meiner Stadt. Und das in diesen Zeiten! Bist du Kommunist?«

»Ich bin ein Drache«, sagte der schlicht.

»Stellst du eine Bedrohung für mein Land dar?«

»Das weiß ich nicht. Stellst du denn eine Bedrohung für meines dar?«, erwiderte der Drache, und obwohl Sarah sein Gesicht nicht mehr sehen konnte, da sie und Jason mit schnellen Schritten den Rest ihres Heimwegs zurücklegten, hätte sie schwören können, dass der Drache noch immer lächelte.

Als sie sicher sein konnte, dass Jason inzwischen zu Hause angekommen war, musste sich Sarah einen Weg durch eine Reihe von Trucks bahnen, um auf ihre eigene Farm zu gelangen. Es waren die der Schaulustigen von den umliegenden Farmen, die mit eigenen Augen sehen wollten, ob es stimmte, was man sich erzählte: dass ausgerechnet Gareth Dewhurst einen Blauen angeheuert hatte. Es stimmte. Der Drache war bereits zurück von seiner kleinen Unterhaltung mit Deputy Kelby; Sarah konnte ihn auf dem Feld sehen, wie er Bäume verbrannte und Wurzeln ausgrub.

»Hat dein Daddy jetzt völlig den Verstand verloren?«, fragte Mr McKeegan, einer der Nachbarn, aber sein Ton war freundlich.

»Halten Sie das für wahrscheinlich, Mr McKeegan?«

»Nein«, gluckste Mr McKeegan. »Wohl eher nicht.«

»Das wird noch Ärger geben«, sagte Mr Svoboda. Sein Tonfall war ganz und gar nicht freundlich.

»Möglich«, antwortete Sarah höflich und warf einen Blick zurück zum Ende ihrer langen Zufahrt, in die gerade der Polizeiwagen einbog. Ein allgemeines Aufstöhnen ging durch die Reihen und die Farmleute machten sich auf den Weg zurück zu ihren Trucks. Deputy Kelby war nicht gerade besonders beliebt.

Sarah war bereits in ihrem Zimmer, als Deputy Kelby endlich das Haus erreichte.

»Was kann ich für Sie tun, Deputy?«, hörte sie die laute, verärgerte Stimme ihres Vaters, der aus der Scheune trat, alles andere als glücklich über den Besuch.

Sie versuchte gar nicht erst, das Gespräch zu belauschen. Keine Zeit. Kelby war ein Idiot, aber er hatte recht, auf einer Farm ging die Arbeit nie aus, es gab immer etwas zu tun. Wenn ihr Vater sie beim Nichtstun erwischte, würde sie sich erklären müssen. Sie zog ihre abgetragenen Schulsachen aus und schlüpfte in Latzhose und Gummistiefel, in denen sie wie ein frecher Junge aussah – aber sie konnte es sich nicht leisten, wählerisch zu sein.

Sarah nahm den Hinterausgang, holte die Eimer für die Schweine und Hühner, füllte sie mit Futter aus dem Getreidespeicher und ging dann zu den Ställen. Die Schweine warteten schon auf sie. Alle drei waren Sauen: Eleanor, Bess und Mamie. Sie schnüffelten, als sie sich ihnen näherte, und begrüßten sie mit ihren Schweinelauten, die nicht im Mindesten wie »grunz« klangen.

»Bitte sehr, Mädels«, sagte Sarah und schüttete Futter in den Trog. Keine war derzeit trächtig. Den letzten Ferkelwurf hatte Sarahs Vater im Sommer an den Metzger verkauft. Jetzt fragten sie sich, womit sie Mr Svoboda dafür bezahlen sollten, dass er in ein paar Monaten seinen Eber vorbeibrachte, um sie wieder besamen zu lassen. Vielleicht war er deshalb so mürrisch gewesen. Sarah kraulte die drei abwechselnd zwischen den Ohren, während sie fraßen, so wie sie es mochten.

»Es sind nur Schweine«, sagte ihr Vater immer. Schweine, die mich erkennen, dachte Sarah dann jedes Mal, ohne es laut auszusprechen.

Als Nächstes waren die Hühner dran. Die erkannten niemanden, nicht einmal einander. Sarah gab sich Mühe, sie zu lieben, aber ehrlich gesagt hatte selbst Sellerie mehr Grips als das Federvieh. »Rein da«, rief sie und scheuchte die Hühner von der Stalltür weg. Sie behielt den Hahn im Blick, der sie immer für eine Bedrohung hielt, die er angreifen musste. Sarah hatte sich nicht die Mühe gemacht, ihm einen Namen zu geben, aber die Hühner hießen alle Martha. Allesamt. Die Marthas. Das machte die Sache einfacher.

»Dieser idiotische Mann«, hörte sie ihren Vater sagen, als er um das Haus herumkam. Ihr war klar, dass er sie bereits gesehen hatte und es für ihre Ohren bestimmt war. »Hat er dich belästigt?«

Sie streute weiter Hühnerfutter aus. Wenn sie auch nur für eine Sekunde aufhörte, würde der Hahn ihre Stiefel attackieren. »Er hat es versucht.«

»Halt dich bloß von ihm fern.«

Das war so ungerecht, dass sie nach Luft schnappte. »Und wie soll ich von der Schule nach Hause kommen? Zu Fuß über die Berge?«

»Kein Grund, frech zu werden.«

»Genau das hat er zu Jason gesagt.«

Die Stimmung ihres Vaters veränderte sich schlagartig. »Er hat Jason bedrängt?«

»Es wäre eskaliert, wenn du dem Drachen nicht gesagt hättest, er soll mich holen.«

»Dich holen?« Ihr Vater sah sie überrascht an. »Ich habe ihm gar nichts gesagt.«

Sarah hielt inne, die Körner zwischen den Fingern. »Warum ist er dann …?«

Beide blickten auf die Felder hinaus. Der Drache wuchtete gerade einen großen Felsbrocken in die Luft und schleuderte ihn mit beinahe anmaßender Mühelosigkeit in den Wald, wo er irgendwo zwischen den Bäumen aufschlug. Die Erschütterung war bis auf die Farm zu spüren.

»Das sollte er lieber lassen«, murmelte Sarahs Vater. Ihr entging nicht, dass der Drache plötzlich wieder zu einem er geworden war. »Der Drache hat gesagt, ich hätte ihn geschickt?«

»Ja, Sir.« Sie schob den Hahn, der jetzt ihre Ferse attackierte, sanft weg. »Zum Glück. Sonst wären wir noch in echte Schwierigkeiten geraten.«

»Hm«, sagte ihr Vater – seine Allzweck-Reaktion, die alles bedeuten konnte von: »Was du nicht sagst« bis zu: »Da liegst du falsch, aber es ist mir zu peinlich, das richtigzustellen.« In diesem Fall, überlegte Sarah, bedeutete es wohl einfach, dass ihr Vater mit etwas konfrontiert war, das er nicht verstand. Sie ebenso wenig. Aus welchem Grund sollte sich ein Drache für sie interessieren?

»Vielleicht mag er einfach keine Polizisten und war auf Ärger aus?«, schlug sie vor.

»Ja, das wird es wohl sein«, sagte ihr Vater. Aber während er sich auf den Weg zu den Feldern machte, wo der Drache arbeitete, dachte Sarah, dass er nicht besonders überzeugt geklungen hatte.

Sarah wartete, bis ihr Vater eingeschlafen war, bevor sie sich hinausschlich. Sie wusste genau, welche knarzigen Treppenstufen sie auslassen und wie sie die Hintertür zuziehen musste, damit sie lautlos ins Schloss fiel. Als Mädchen auf einer Farm bekam man früh Verantwortung, was bedeutete, dass man noch früher lernen musste, wie man die Regeln brach.

Der Drache hatte ihrem Vater am Nachmittag kein Wort verraten. Er hatte nicht einmal zugestanden, überhaupt mit Deputy Kelby gesprochen zu haben, was ziemlich lächerlich war, immerhin hatte Kelby ihrem Vater länger in den Ohren gelegen, als sie gebraucht hatte, um die Schweine zu füttern.

»Er hat nichts in der Hand«, sagte ihr Vater beim Abendessen. »Ich habe gegen kein Gesetz verstoßen.«

»Trotzdem, wir sollten lieber vorsichtig sein«, hatte Sarah gesagt. »Besser, wir geben ihm erst gar keinen Grund.«

»Wenn du glaubst, Deputy Kelby bräuchte jemals einen Grund, dann habe ich dir noch viel beizubringen über diese Welt.«

Bei diesen Worten hatte Sarah an ihre Mutter denken müssen. Auch sie hatte Sarah viel beibringen wollen über eine Welt, in der sie es nicht immer einfach haben würde. Wenn sie so viele Lektionen brauchte, um in dieser Welt zurechtzukommen, dann, so fand Sarah, musste etwas ganz und gar nicht in Ordnung sein mit dieser Welt.

Was den Drachen betraf, so hatte er – denn in ihren Gedanken war er inzwischen ein für alle Mal zu einem Er geworden – einfach so getan, als ob ihr Vater überhaupt keine Fragen stellen würde. »Ich bin für heute fertig«, hatte er gegrollt, als die Sonne untergegangen war, und sich wieder in dem noch von Gehölz überwachsenen Teil der Felder am Waldrand zusammengerollt.

Auf diesen Waldrand steuerte Sarah jetzt zu.

Der Winter war besorgniserregend trocken, wenn auch bitterkalt gewesen. Es war wieder eine dieser klaren Nächte, obwohl der Himmel um diese Jahreszeit normalerweise schon seit mehr als drei Monaten grau blieb. Aber da waren die Sterne. Da war der Mond. Da war ihr kristallener Atem, weiß in der Dunkelheit.

Sarah kannte kein anderes Zuhause als diese Farm. Nichts hier machte ihr Angst oder überraschte sie. Ihre Füße schlugen den Weg mit einer so intuitiven Sicherheit ein, dass sie keinen ihrer Schritte als bewusste Entscheidung hätte bezeichnen können. Hier war sie zu Hause, auf dem Grund und Boden ebenso wie in jeder ihrer Bewegungen darauf.

Der Drache, eine große Anomalie inmitten des Vertrauten, war nicht schwer zu finden.

Das erste Feld, das er bearbeitet hatte, schwelte noch immer leicht, ein mattes Glimmen im Licht des Mondes. Der Geruch war ein besserer Anhaltspunkt: Asche, ja, aber auch der Geruch von Hitze selbst, Kohle, und darunter ganz schwach der scharfe, chemische Geruch des Feuers, das Drachen in dem Organ direkt über der Lunge erzeugten. Ein Geruch, der so andersartig und unmenschlich war, dass eine kleine Stimme in Sarahs Kopf sich zu Wort meldete, die sie wie ihr Vater glauben machen wollte, dass Drachen keine Seele hätten. Wie konnte eine solche Kreatur überhaupt existieren? Wie konnte es sein, dass Drachen nicht einfach nur magische Fantasiegeschöpfe waren? Wenn sie nicht schon immer da gewesen wären, hätte niemand an sie geglaubt. Und doch träumte jeder Teenager, den Sarah kannte, davon, einer von ihnen zu sein, und es wurden unter ihnen endlose Debatten über die Vorzüge der fünf Arten (rot, blau, grün, weiß und wüstenfarben) geführt und darüber, welches Ödland auf dem Kontinent für sie am besten geeignet sein mochte und wie es wohl sein musste, fliegen zu können. Sarah wusste genau, für welche Drachenart sie sich entscheiden würde, auch wenn sie das niemals laut zugegeben hätte.

Der Drache hatte sich im Unterholz am Rand des Feldes zwischen einigen Bäumen zusammengerollt und schien zu schlafen. Sarah hatte allerdings keine Ahnung, woran sie erkennen konnte, ob ein Drache wach war oder nicht. Genauso wenig wusste sie, ob sie eine sehr große Dummheit beging, wenn sie sich einem schlafenden Drachen näherte....Ende der Leseprobe