13,99 €
Wie eine Mutter und ihre Tochter von Pellworm die Politik bezwungen haben Die Nordseeinseln Pellworm ist die Heimat von Sophie und Silke Backsen. Hier werden die Auswirkungen des Klimawandels besonders spürbar: Die Insel liegt heute bereits einen Meter unter dem Meeresspiegel, jede weitere Erhöhung desselben wäre katastrophal. Silke Backsen zog bereits 2019 für eine bessere Klimapolitik vor Gericht, aber Erfolg hatte erst ihre Tochter Sophie, als sie 2021 ein historisches Urteil erwirkte, das in der deutschen Presse als Sensationserfolg und Paukenschlag gewertet wurde und in der Tagesschau als "Entscheidung mit Signalwirkung" verkündet wurde. Einer jungen Studentin von Pellworm war es gelungen, die Politik zu neuem Handeln und Denken zu zwingen. In diesem Buch erzählen Silke und Sophie Backsen, wie das Leben auf Pellworm aussieht, wie sich ihr Leben seit diesem historischen Urteil verändert hat, und wie die Generationen es zusammen schaffen können, eine lebenswerte Zukunft für alle zu gestalten. Die wahre Geschichte einer Mutter und ihrer Tochter von Pellworm, die von ihrer Insel aus aufgebrochen sind, um mit einem historischen Gerichtsurteil die deutsche Klimapolitik entscheidend zu verändern. " Sophie hat mehr für das Klima getan als viele von uns ." Der Spiegel "Ein neuer Ansatz mit großer Signalwirkung." Tagesschau "Es ist ein unfassbar großer Tag für viele." Luisa Neubauer zum Urteil des Bundesverfassungsgericht "Das Urteil macht klar: Klimaschutz, und zwar jetzt und nicht erst in zehn Jahren, wenn er nichts mehr bringt, ist ein Grundgesetz der jungen Generation" Sophie Backsen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 211
Sophie Backsen | Silke Backsen
Butter bei die Fische
Wie wir von Pellworm aus die Klimapolitik verändert haben
Hoffmann und Campe
Sophie Ich hatte eine glückliche, unbeschwerte Kindheit. Meine drei Brüder und ich wuchsen auf einem Biobauernhof auf Pellworm auf, einer nordfriesischen Insel im schleswig-holsteinischen Wattenmeer. Gerade einmal sechs Kilometer lang und sieben breit. Unser Leben war so behütet und frei, wie sich das viele Kinder aus Städten vermutlich kaum vorstellen können. Wir waren so gut wie immer draußen. Die ganze Insel war unser Zuhause. Doch allein schon unser Hof bot jede Menge Platz zum Spielen. Biegt man von der Hauptstraße aus in unsere Auffahrt, so liegt auf der rechten Seite, etwas versteckt hinter Eschen, Pappeln und Weiden, ein Obstgarten. Hier steht man am Fuß unserer Warft, also einer der für Pellworm typischen aufgeschütteten, runden Erdhügel, auf denen die alten Höfe stehen. Von dort läuft man über einen kleinen Weg auf ein großes L-förmiges Haupthaus aus rotem Backstein zu. Zwischen dem Obstgarten und den landwirtschaftlichen Gebäuden befindet sich ein winziges Waldstück, das wir »unseren Wald« nennen. Für uns Kinder war das der schönste Ort, um jedes Jahr immer wieder von Neuem unsere eigene kleine Spielewelt zu entdecken. Aus alten Brettern und Planen, Kisten und Kartons, die wir auf dem Hof fanden, bauten wir uns hier alles Mögliche zusammen. Stundenlang konnten wir uns hier beschäftigen – im Sommer zusammen mit den vielen Kindern, die mit ihren Eltern Urlaub in einer unserer Ferienwohnungen machten.
Wer vom Obstgarten aus unseren »Wald« durchquert und über den großen Hofplatz geht, gelangt geradewegs zu den Ställen. Früher hatten wir hier noch Milchvieh. Doch seit 2004 stehen dort rund 200 Mastrinder, etwa 100 Schafe und zwei Pferde. Wir Kinder hatten im Stall unsere eigenen Aufgaben: Tiere füttern, Pferde striegeln und Stroh einstreuen. Aber auch hier fanden wir regelmäßig eine kleine, sichere Ecke zum Spielen. Wenn im Frühjahr die Lämmer geboren wurden, war das jedes Mal ein besonderer Höhepunkt für uns. Immer gab es dann auch welche, die von ihren Müttern nicht genug Milch bekamen und deshalb von uns mit der Flasche zugefüttert werden mussten. Und jedes Jahr war es das Gleiche: Zunächst rissen meine Brüder und ich uns geradezu darum, den süßen, kleinen Lämmern etwa alle vier Stunden ihr Fläschchen mit warmer Milch zu geben. Doch nach einer Weile wurde uns die Aufgabe zunehmend lästig. Zu unserem Glück gab es dann meistens Feriengäste, die begeistert bei der Fütterung der Lämmer halfen. Mit einer Miene, deren Ernsthaftigkeit dieser wichtigen Angelegenheit angemessen war, erklärten wir ihnen, wie sie die Flasche richtig halten mussten, damit das Lamm im Stehen saugen und dabei den Kopf nach oben heben konnte. Das ist für Anfänger*innen nicht so einfach und bedarf einiger Übung und Erfahrung.
Hatten wir selbst mal einen Rat oder Hilfe nötig, so reichte es, ein Stück die Straße runterzugehen. Nicht weit vom Haupthaus entfernt steht das Haus unserer Großeltern. Für uns Kinder war es toll, in einer Großfamilie aufzuwachsen. Denn so war eigentlich immer jemand da, wenn wir etwas brauchten – ob wir uns das Knie aufgeschürft hatten oder ob wir einfach nur etwas erzählen wollten. Die Großeltern haben uns das Plattdeutsche beigebracht, Geschichten von der Insel erzählt und die Familientraditionen weitergegeben. Zum Beispiel das Rezept für unseren Fliederbeersaft. Jedes Jahr halfen wir Kinder unserer Oma dabei, die vollen Dolden überall auf dem Hof einzusammeln. In ihrer Küche pulten wir dann die kleinen dunkelblauen Beeren von den Stängeln, wuschen sie und kochten sie in einem riesigen Topf zu einem kräftig herben Saft ein. Oder die Futtjes – kleine, in Fett gebackene Hefeteigkugeln, die, in Zucker gedippt, direkt aus der Hand gegessen werden und für Pellworm typisch sind. Normalerweise gibt es sie nur zu Weihnachten. Aber unsere Oma machte sie uns immer, wenn wir wollten. Es war schön, dass wir jederzeit bei den beiden zum Kaffeetrinken die Straße hochlaufen konnten. Ich sehe sie noch immer da draußen vor dem Haus auf ihrer Terrasse sitzen.
Um unseren Hof herum liegen Wiesen und Felder, also die für Pellworm typische Kulturlandschaft. Von oben betrachtet sieht die Insel dadurch aus wie ein Teppich aus grünen und braunen Flicken. Hier und dort sind ein paar einzelne Höfe oder andere Gebäude eingesprengselt. Kleinere Baumgruppen oder Tränkekuhlen erzeugen ein weiteres Muster. Ein grüner Deich rahmt sie rundherum ein, in Schuss gehalten von über dreitausend Schafen, die damit im Vergleich zu den gut 1200 Insulaner*innen deutlich in der Überzahl sind. Sobald meine Brüder und ich alt genug waren, mit dem Fahrrad unterwegs zu sein, wurde die ganze Insel zu unserem Reich. Als Kind auf Pellworm aufzuwachsen bedeutet vor allem, frei zu sein – und trotzdem behütet. Wir konnten den ganzen Tag unterwegs sein, ohne dass sich unsere Eltern große Sorgen machen mussten. Niemand kommt schließlich unbemerkt auf die Insel rauf oder von ihr runter. Und weil man mit dem Fahrrad von einem Ende Pellworms zum anderen nicht mehr als eine Dreiviertelstunde braucht, wussten unsere Eltern immer ungefähr, wo wir waren – und dass uns nichts passieren konnte. Denn selbst wenn wir mit unseren Rädern unterwegs mal einen Platten hatten oder hingefallen waren, war Hilfe nie weit. Und wer uns fand, wusste, wo er anrufen musste (und hatte auch die Telefonnummer). Auf einer Insel wie Pellworm kennt schließlich Jede*r jede*n.
Für die Kinder auf Pellworm endet die Freiheit des Insellebens mit der zehnten Klasse. Danach beginnt eine andere: Mit sechzehn Jahren ziehen die meisten Jugendlichen von Pellworm aufs Festland nach Husum, um dort eine Lehre zu beginnen oder ihr Abitur zu machen. Gemeinsam mit ihren Geschwistern oder Freund*innen wohnen sie von montags bis freitags in einer Wohnung oder in einem Haus und lernen dort, die Verantwortung für ihren Alltag selbst zu übernehmen. Wäsche waschen? Nicht mehr bei Mama! Kochen und die Wohnung in Ordnung halten, Hausaufgaben machen und einkaufen? Dafür ist man nun alleine zuständig. Jeden Freitagnachmittag geht es zwar nach Hause, und wenn man auf der Fähre in bekannte Gesichter blickt, fühlt man sich auch gleich wieder aufgehoben. Doch jeden Sonntagabend heißt es dann: zurück nach Husum. Als die Älteste von uns vier Geschwistern war ich auch die Erste, die auf diese Weise die Geborgenheit unseres Hofes hinter sich lassen musste. Das fiel mir anfangs ziemlich schwer. Doch schon nach wenigen Monaten fangen wir Pellwormer Jugendliche an, diese neue Freiheit zu genießen und zu nutzen. Über den Inselrand hinauszugucken, hat uns Lust auf mehr gemacht. So ist es vielleicht kein Zufall, dass es mich und meine Brüder noch während der Schulzeit weiter in die Welt hinauszog. Ich verbrachte das elfte Schuljahr in Irland und jobbte nach dem Abitur ein Jahr in Neuseeland. Beides interessanterweise wieder Inseln …
Dennoch fühle ich mich Pellworm zutiefst verbunden. Die Insel ist meine Heimat. Mein Zuhause. Mein Ankerplatz. Auch jetzt, wo ich in Kiel Landwirtschaft studiere, kehre ich fast jedes Wochenende zurück. Schon wenn ich die Fähre betrete, fällt bei mir der Stress ab. Wenn ich dann auf dem Hof helfe oder einen langen Spaziergang mit unserem Hund Mio über den Deich mache, wenn der Himmel grau ist, der Wind weht und ich umgeben von Schafen so richtig abschalten kann, dann weiß ich, dass es für mich nichts Schöneres gibt als ein Leben auf Pellworm.
Und so träume ich davon, nach meinem Studium auf die Insel zurückzukehren. Hier gehören Leben und Arbeiten noch untrennbar zusammen, und das hat für mich einen großen Reiz. Vielleicht kann ich sogar irgendwann den Hof übernehmen, der bereits seit 1703 im Besitz der Familie ist. Ich wäre stolz, wenn ich diese Tradition fortführen könnte. Vielleicht werde ich ja dann wie mein Vater jeden Morgen in die Küche kommen und das Barometer studieren. Vielleicht werde ich wie er jedes Mal über das Wetter schimpfen, das entweder zu kalt oder zu warm, zu nass oder zu trocken ist für das, was ich mir an dem Tag vorgenommen habe. Vielleicht wird mein Vater dann in dem Haus wohnen, in dem bis vor wenigen Jahren noch die Großeltern lebten. Und vielleicht werden es dann irgendwann später meine Kinder sein, die in unserem Wald Bretterburgen bauen, im Frühjahr die Lämmer füttern oder zu Opa rüberlaufen, weil uns Butter fehlt oder Mehl oder Zucker. Vielleicht. Denn die Zukunft unseres Betriebs auf der Insel ist mehr als ungewiss.
Silke Es war ein wunderschöner Tag Mitte Juni 2018. Monatelang hatte es bei uns auf Pellworm geschüttet wie aus Kübeln. Nun sah es so aus, als ob wir alle endlich ein wenig durchatmen könnten. Langsam, aber sicher trockneten die überschwemmten Wiesen und Felder. Unsere Rinder konnten wieder auf die Weide, die Schafe auf den Deich.
Ich hatte mein Auto am Straßenrand abgestellt. Die Sonne schien, ich saß im Wagen und hielt mit dem Fernglas Ausschau nach Wiesenvögeln. Wie die meisten Bewohner*innen von Pellworm habe auch ich mehrere Berufe. Damals war ich nicht nur Mutter von vier Kindern, kümmerte mich um die Schafe und betreute die fünf Ferienwohnungen auf unserem Biobauernhof auf der Edenswarf im Süden Pellworms. Seit 2012 war ich auch für den Naturschutzbund (NABU) als Biologin im Wiesenvogelschutz unterwegs. Die Inseln Föhr und Pellworm haben hier eine besondere Bedeutung, ja Verantwortung, weil es auf ihnen keine für die Vögel gefährlichen Kleinsäuger wie Füchse oder Hermeline gibt. Und so halte ich im Frühjahr tagelang Ausschau nach Kiebitzen, Uferschnepfen, Austernfischern und anderen geschützten Wiesenvögeln. Sobald ich irgendwo Brutpaare entdecke, spreche ich mit den Bauern und Bäuerinnen und finde gemeinsam mit ihnen eine Möglichkeit, wie wir die Vögel und ihre Gelege schützen können.
Die Regenmassen der zurückliegenden Monate waren nicht nur ungewöhnlich gewesen, sondern besorgniserregend. Natürlich ist Wetter nicht gleich Klima. Schon immer hat es besonders nasse, verregnete Winter gegeben. Dennoch war mir als Biologin klar, dass derart extreme Wetterereignisse inzwischen immer deutlicher auf einen Zusammenhang mit der Klimakrise hinwiesen: Weil die Erwärmung durch den Klimawandel sich auch besonders stark auf die Arktis auswirkt, wird der Temperaturunterschied zum Äquator kleiner und das vermindert die Stärke der Jetstreams. Das sind starke Windbänder, die in Schlangenlinien rund um die Erde wehen und auf diese Weise Hoch- und Tiefdruckgebiete erzeugen. Lässt ihre Dynamik nach, bleiben zum Beispiel Tiefdruckgebiete wesentlich länger hängen, als wir das bislang gewohnt sind. Bereits in den Jahren zuvor hatte ich beobachtet, dass die Stürme, die uns früher stets im Herbst getroffen hatten, das Meer nun immer öfter schon im späten Frühjahr oder im Frühsommer an die Deiche peitschten. Mit fatalen Folgen für Vögel wie die Austernfischer, die vor den Deichen im Vorland – also zur Meerseite hin – brüten. Ihre Gelege wurden von dem unerwartet hohen Wasserstand dieser Sommerhochwasser einfach fortgespült. Da halfen auch keine Extraschichten und Sondereinsätze, bei denen ich versuchte, die Eier irgendwie abzufangen und zu retten. Doch in diesem Jahr war es noch mal anders. Es war schlimmer. Vom Herbst 2017 bis zum Frühling 2018 regnete es auf der Insel so unvorstellbar heftig und anhaltend, wie wir es alle bisher noch nicht erlebt hatten.
Pellworm hat sich schon immer verändert – manchmal auch radikal. Vor Ende des 11. Jahrhunderts war es beispielsweise noch gar keine Insel, sondern Teil einer großen Ebene. Die nordfriesischen Inseln existierten damals noch nicht. Husum war eine kleine Siedlung im Hinterland. Von Sylt bis zur Höhe der Eidermündung zog sich ein natürlicher Wall aus Sanddünen, die von der letzten Eiszeit angeschwemmt worden waren und das tiefliegende Marschland von der Nordsee abschirmten. Doch sicher war ihr Schutz nicht. Große Sturmfluten rissen immer wieder Teile der Ebene weg. Vor allem die Sturmfluten der Jahre 1362 und 1634, auch bekannt als die »Groten Mandränken« (das große Ertrinken), veränderten die deutsche Nordseeküste von Ostfriesland bis Nordfriesland massiv. Während der ersten Groten Mandränke im Januar 1362 ging die sagenumwobene Siedlung Rungholt zusammen mit sieben anderen Gemeinden in den eiskalten Fluten unter. Noch heute kann man bei einem Spaziergang im Wattenmeer rund um Pellworm alte Scherben, Knochen und andere Überreste dieser früheren Siedlungen finden. Denn auch in der Gegend, in der heute unsere Insel liegt, verloren die Marschbauern und Marschbäuerinnen große Flächen ihres Landes. Deshalb reagierten sie. Zum einen versuchten sie durch bessere Deiche dem Meer das verloren gegangene Land wieder abzuringen. Zum anderen bauten die Menschen ihre Häuser nun auf sogenannten Warften.
Doch auch das konnte sie nicht vor der zweiten Groten Mandränke im Oktober 1634 bewahren. Diese war noch schrecklicher als die erste und verwüstete die Küste bis hinunter zur Elbmündung. Das Wasser soll damals rund vier Meter über dem Tidehochwasser gestanden haben. Das entspricht in etwa dem Stand der Flut von 1976, die als eine der größten Sturmfluten in der Geschichte der deutschen Nordseeküste gilt. Obwohl die Menschen ihre Dämme verbessert hatten, brachen sie an mehreren Hundert Stellen. Nach historischen Belegen ertranken damals rund 8000 Menschen allein in Nordfriesland.
Die ganze Landschaft veränderte sich grundlegend: Husum lag auf einmal nicht mehr im Landesinneren, sondern an der Küste. Die Menschen bauten einen Hafen, und die Siedlung entwickelte sich innerhalb kurzer Zeit zu einer bedeutenden Handelsstadt. Außerdem zerrissen die Wassermassen die Insel Strand in die Halbinsel Nordstrand, die Hallig Nordstrandischmoor und die Insel Pellworm. Dazwischen fließt seitdem der Priel Norderhever, also ein Wattstrom, der sich bis zu 30 Meter tief ins Watt eingegraben hat. Viele verließen damals ihre Heimat. Doch es gab auch welche, die blieben und sich daranmachten, das Stück Land dem Meer auf Dauer abzutrotzen. Drei Jahre später, 1637, hatten sie es mit Hilfe niederländischer Siedler*innen geschafft: Ein knapp 30 Kilometer langer Deich schützt bis heute das trockengelegte Marschland, die sogenannten Köge, vor Überflutungen. Unser Hof steht auf der Edenswarf und liegt im Großen Koog der Insel. Heute ist Pellworm die drittgrößte nordfriesische Insel mitten im Nationalpark Wattenmeer und im Biosphärenreservat Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde der Deich um Pellworm bereits mehrmals erhöht – auf heute acht bis neun Meter.[1] Durch die Klimakrise dürfte der Meeresspiegel bei uns an der Küste Schleswig-Holsteins nach derzeitigen Schätzungen bis Ende dieses Jahrhunderts um rund 0,75 bis 0,8 Meter steigen, sodass wir die Deiche in Zukunft noch weiter erhöhen müssen. Das alleine ist aber vermutlich nicht die größte Gefahr. Das Problem ist vielmehr, dass durch die Erderwärmung auch die Zahl großer Sturmfluten zunimmt. Der steigende mittlere Meeresspiegel plus weitere große Sturmfluten könnten dafür sorgen, dass extreme Wasserstände künftig deutlich höher liegen als bei den beiden Groten Mandränken und anderen historischen Sturmfluten. Modellberechnungen zeigen, dass wir Menschen an der südlichen Nordsee schon bei einem mittleren Meeresspiegelanstieg von rund einem halben Meter mit zehnmal mehr extremen Wasserständen zu rechnen haben. Den größten Anstieg prognostiziert die Wissenschaft bei uns an der schleswig-holsteinischen Küste.[2] Um sich darauf vorzubereiten, sollen auch auf Pellworm sogenannte Klimadeiche gebaut werden. Sie sind nicht nur höher und stärker als die bisherigen Deiche. Sie sind mit rund 100 Metern im Querschnitt auch wesentlich breiter als früher. Dank ihrer besonders flachen Böschungen sollen sie dafür sorgen, dass die Wellen einer Sturmflut langsam auslaufen können. Sie prallen also nicht mit voller Wucht auf den Deich und höhlen diesen daher nicht aus. Auch die Krone der Klimadeiche ist deutlich breiter. So gibt es eine Baureserve für künftige Aufstockungen. Technisch ist es heutzutage also noch möglich, unsere Deiche an den steigenden Meeresspiegel und die immer stärkeren Sturmfluten anzupassen. Die Frage ist nur, wie lange und wie oft wir das noch tun können.
Dass der Meeresspiegel als Folge der Klimakrise steigt, ist ein eingängiges Bild, das sich in Kinofilmen actionreich inszenieren lässt. Man kann sich die Konsequenzen gut ausmalen: Zahlreiche Großstädte weltweit liegen an Küsten und sehen sich von dem steigenden Meeresspiegel bedroht. Viele Menschen sind in Gefahr. Solche Szenarien können einem schon Angst machen.
Zugleich ist der Anstieg des Meeresspiegels ein komplexer Vorgang. Gerade im Wattenmeer wird sich die Veränderung vermutlich über so viele Jahrzehnte erstrecken, dass die Deiche von Pellworm zu meinen Lebzeiten noch standhalten. Aber für meine Kinder sieht die Sache schon anders aus. Sturmfluten haben das Leben der Menschen an der schleswig-holsteinischen Küste zwar schon immer geprägt, und so wird es auch in Zukunft sein. Doch wir Menschen beschleunigen die Erderwärmung momentan in einem enormen Tempo, bei dem niemand die Konsequenzen richtig abschätzen kann. Das ist für uns Pellwormer*innen umso bedrohlicher, als die Gefahr durch den Klimawandel nicht nur vom Meer kommt. Für uns kommt sie auch von oben, in Form von Starkregen.
Was das bedeutet, konnten meine Familie und ich zwischen Herbst 2017 und Frühsommer 2018 gewissermaßen im Zeitraffer beobachten. Dazu mussten wir nur in unserer Küche aus den Fenstern blicken: Seit Wochen regnete es bei uns auf der Insel – und zwar heftig. Nach vorne raus standen die alten Obstbäume komplett unter Wasser. Zur anderen Seite hin sah die Lage auf den Wiesen und Äckern unseres Hofes noch schlechter aus. Dort war nur noch nasser Matsch. Wir konnten förmlich dabei zugucken, wie das Wasser in den Gräben stieg und stieg und stieg. Mein Mann Jörg hatte noch versucht, das Wasser auf den Feldern und Weiden zusätzlich abzugraben, aber vergeblich.
Dazu muss man wissen, dass weite Teile von Pellworm unter dem Meeresspiegel liegen. Der Deich, der die Insel komplett umgibt, schützt uns zwar vor der Überflutung durch das Meer. Er macht Pellworm aber gleichzeitig auch zu einer Art Wanne. Fällt starker Regen, kann das Wasser nicht einfach so ablaufen. Es folgt normalerweise dem Gefälle der Insel über ein Netz aus Gräben und Sielzügen. So gelangt es von den Außenkögen, also den Randzonen der Insel, zur Mitte in den Großen Koog und von dort in eine sogenannte Spülkuhle am Hafen. Hier gibt es ein Sieltor im Seedeich, das sich bei Flut schließt, wenn der Wasserpegel des Meeres über dem der Insel liegt. Erst bei Ebbe öffnet es sich, und nur dann kann überschüssiges Wasser von der Insel ablaufen. Bei so starken und anhaltenden Niederschlägen wie in den Jahren 2017 und 2018 läuft Pellworm voll wie eine Badewanne. Im Süderkoog liegen einige Häuser – anders als unser Hof – sehr tief. Dort wurde es richtig dramatisch. Abwasserrohre liefen über, Toilettenspülungen funktionierten nicht mehr, und Keller wurden überflutet. Das Technische Hilfswerk musste Unmengen von Wasser über die Deiche pumpen. Spätestens als wir das sahen, wurde uns endgültig klar, dass wir es hier mit einer vollkommen neuen Dimension zu tun hatten.
Bei weiter steigenden Durchschnittstemperaturen werden so extreme Niederschläge wie 2017 und Anfang 2018 in Zukunft noch häufiger und noch heftiger auftreten. Ich weiß noch, wie wir damals über den Regen schimpften. Wir machten uns Sorgen um die Staunässe auf den Feldern. Große Sorgen. Denn wenn das Wasser wie 2017 und 2018 auf den Feldern steht, können wir auf der Edenswarf weniger Futter für unsere Tiere anbauen und ernten. Es wird schwierig, solche Extremwetter mit hohen wirtschaftlichen Einbußen über einen längeren Zeitraum auszuhalten. Was wir nicht ahnten, war, dass die folgende Dürre noch viel schlimmer für unser Land und für unsere Tiere sein würde.
Silke Das Thema Umweltschutz spielte bei uns zu Hause eigentlich immer schon eine Rolle: Es war mein Mann, der den Betrieb auf ökologischen Landbau umstellte. Auf den Dächern unseres Stalls erzeugen wir Sonnenstrom, wir versuchen Plastik zu vermeiden und konsumieren generell wenig. Dennoch gehören wir zu den ganz normalen Bürger*innen dieses Landes. Wir essen Fleisch, haben einen alten Diesel-VW-Bus im Hof stehen und sind auch mal in den Urlaub geflogen.
Wir könnten und müssten eigentlich noch viel mehr tun, überlegte ich, während ich an jenem Tag im Juni 2018 im Auto saß und mit dem Fernglas zwei Austernfischer beobachtete. Aber wie sollte das aussehen? Und was konnte ich alleine schon ausrichten? Ich erinnerte mich an die Vorlesungen des Klimaforschers Mojib Latif, die ich während meines Biologiestudiums in Kiel besucht hatte. Schon damals, vor über dreißig Jahren, war es längst keine neue Erkenntnis mehr, dass wir etwas gegen die Erderwärmung tun müssen. Auch wenn wir die Klimaveränderungen nicht mehr komplett würden verhindern können, so müssten wir doch alles daransetzen, ihre Auswirkungen so weit wie möglich einzudämmen. Geschehen ist seither dennoch viel zu wenig. Mich machte und macht das wütend. Ich saß in meinem Auto, dachte an die Austernfischer und an den Hof, den unsere Kinder gerne übernehmen würden. Unsere Tochter Sophie wollte Landwirtschaft in Kiel studieren und wünschte sich ein Leben auf Pellworm. Aber konnten wir ihr guten Gewissens dazu raten, einen Hof zu führen, dessen Wirtschaftlichkeit durch den Klimawandel auf dem Spiel steht?
Ich zuckte zusammen, als plötzlich das Handy klingelte und mich aus meinen Gedanken riss. »Hallo, hier ist Anike Peters von Greenpeace«, meldete sich eine junge Frauenstimme. Sie sei Campaignerin für Klima und Energie. Mein erster Gedanke war: Bestimmt will sie, dass ich für eine aktuelle Kampagne spende, und eigentlich passt es mir gerade gar nicht. Doch schon nach wenigen Sätzen wurde mir klar, dass das Ziel ihres Anrufs wesentlich aufregender war. »Wir wollten Sie fragen, ob Sie und Ihr Mann die Bundesregierung verklagen wollen, weil sie sich nicht an ihre eigenen Klimaschutzziele hält«, kam sie relativ schnell auf den Punkt. Wir mit unserem Biobauernhof auf einer Insel wie Pellworm hätten möglicherweise gute Aussichten, die Bundesregierung auf diesem Weg zu einem ehrgeizigeren Klimaschutz zu bringen. Heute sagt Anike, dass ich sofort und ohne zu zögern mit »Ja, klar« geantwortet hätte. Doch in meiner Erinnerung ist es so, dass ich zwar mit dem Herzen sofort dabei war. Endlich bot sich mir die Gelegenheit, selbst etwas zu tun. Wirklich etwas zu bewegen. Mein Verstand aber sagte mir, dass ich zunächst mit meinem Mann und unseren Kindern über die Angelegenheit sprechen sollte. So eine gewagte Sache kam für mich nur infrage, wenn wir als ganze Familie dahinterstanden.
Meine Tochter Sophie war damals gerade mal zwanzig Jahre alt. Sie war dabei, ihr Abitur zu machen und wollte im Herbst nach Neuseeland reisen. Ihre Brüder Paul, Hannes und Jakob waren 18, 16 und 14 Jahre alt. Keine kleinen Kinder mehr, die wir hätten beschützen müssen, aber doch alle jeweils in einer Lebensphase, wie sie kaum umwälzender hätte sein können: die Pubertät, der Umzug nach Husum, das Abitur, der Aufbruch in die Welt … Also vereinbarten Anike und ich ein weiteres Telefonat. Als ich aufgelegt hatte, saß ich noch eine Weile im Auto und ließ den Anruf sacken. Dann startete ich den Motor und fuhr nach Hause zum Hof, um die aufregende Neuigkeit mit meinem Mann zu besprechen.
Der große Holztisch in unserer Wohnküche war gedeckt. Getöpferte Teller und Tassen und ein Apfelkuchen standen bereit. Der Kaffee lief gurgelnd durch die Maschine. Draußen wehte eine leichte Brise. Vom wolkenlosen Himmel schien die Sonne, während wir gespannt auf unsere Gäste warteten. Es war Mitte August 2018, und Anike wollte uns zusammen mit der Rechtsanwältin Roda Verheyen und ihrem Kollegen Séverin Pabsch besuchen. Auch Roda Verheyens Tochter Flora würde dabei sein. Als die vier schließlich ankamen, waren wir uns auf Anhieb sympathisch. Flora freundete sich sofort mit unserem Hund Mio an. Anike ist eine junge empathische Frau, die eine große Entschlossenheit ausstrahlt. Bereits seit Jahren setzt sie sich bei Greenpeace mit unterschiedlichsten Kampagnen für den Klimaschutz und die Energiewende ein. Roda Verheyen engagiert sich seit den neunziger Jahren als Klimaschutzaktivistin, unter anderem bei »Friends for the Earth«. Später war sie Mitglied der deutschen Delegation zur Klima-Rahmenkonvention der UN. Heute ist sie Partnerin in der Rechtsanwaltskanzlei Günther in Hamburg. Sie erzählte uns, dass sie 2007 nur wegen der vielen damals geplanten Kohlekraftwerke Rechtsanwältin geworden sei. Sie spezialisierte sich schnell auf Klimarecht und sorgte immer wieder für aufsehenerregende Gerichtsverfahren. Zum Beispiel mit der Klage des peruanischen Bauern Saúl Luciano Lliuya gegen den Energiekonzern RWE. Saúl und sie wollen beweisen, dass der Konzern mit den Emissionen aus seinen Kohle- und Gaskraftwerken dazu beiträgt, dass das Schmelzen eines Gletschers oberhalb von Saúls Heimatstadt Huaraz zu existenzbedrohenden Flutkatastrophen führt. Rodas Wahlspruch gefällt mir: »Was man nicht versucht, kann man auch nicht gewinnen.«[3]
Wir waren aufgeregt, als wir endlich alle um den Kaffeetisch saßen. Solche ungewöhnlichen Menschen haben wir nicht jeden Tag zu Gast. Und dann auch noch mit der Aussicht auf eine gemeinsame Klage. Noch aber waren nicht alle in der Familie restlos überzeugt. Meine beiden ältesten Kinder und mein Mann waren wie ich sofort Feuer und Flamme gewesen. Doch die beiden jüngsten, Hannes und Jakob, zögerten noch. Kein Wunder, waren sie damals doch erst 14 und 16 Jahre alt. Eine Klage gegen die Bundesregierung war für sie ziemlich abstrakt. Sie konnten sich nicht so recht vorstellen, was das konkret bedeuten würde. Und so blieben Anike, Roda und Séverin nicht lange beim Small Talk, sondern kamen schnell zur Sache.
Sie erklärten uns, dass es ein großes Defizit gebe zwischen dem, was die Wissenschaft an dringendem Handlungsbedarf beim Klimaschutz sehe, und dem, was die Politik im Rahmen ihrer Klimapolitik und Finanzierung durch den Haushalt tatsächlich tue. Bereits 2007 hat sich Deutschland dazu verpflichtet, den CO2-Ausstoß bis zum Jahr 2020 um 40 Prozent im Vergleich zu dem im Jahr 1990 zu senken. Damit wollte Deutschland die führende Klimaschutznation werden. Weltweit betrachtet wäre das natürlich nicht ausreichend, um die Klimakrise aufzuhalten. Dennoch, so Roda, müsse die Regierung ihr Versprechen einlösen und gleichzeitig klarmachen, dass es ein endliches Treibhausgasbudget gibt, an das sich jeder Staat halten muss. Ebenfalls im Jahr 2018 zeigte der Sonderreport des Weltklimarates, dass die Menschheit insgesamt nur noch 420 Gigatonnen CO2 emittieren darf, wenn sie das im Pariser Klimaabkommen von 2015 vereinbarte Ziel einhalten will: die globale Erwärmung auf deutlich unter 2 Grad, möglichst aber auf 1,5 Grad (im Vergleich zum vorindustriellen Niveau) zu begrenzen. [4] Zwar wären selbst bei diesem scheinbar geringen durchschnittlichen Temperaturanstieg die Auswirkungen immer noch enorm. Immerhin aber geht die Wissenschaft davon aus, dass wir dann noch in der Lage wären, uns durch massive Anpassungen in unserer Gesellschaft und unserer Infrastruktur darauf vorzubereiten und unseren Lebensstil auf dem heutigen Niveau zu halten. Auch Pellworm wäre bei einem globalen Temperaturanstieg von 1,5 Grad sicher.
Aus dem genannten Gesamtbudget, so Roda Verheyen, lässt sich ein Restbudget ableiten, also eine Menge an CO2