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Wigald Boning ist bekannt für seinen Hang zu ungewöhnlichen Hobbys (Nachtsport!), seine Leidenschaft gegenüber scheinbar nebensächlichen Dingen, seine Recherchelust und Phantasie. Diesmal sind Einkaufszettel Gegenstand seiner Betrachtungen. Wann immer er einen fand – auf Supermarktparkplätzen, in Fußgängerzonen oder achtlos zurückgelassen in Einkaufswagen – hat er sie mitgenommen und untersucht: Welche Dinge sollen besorgt werden? Lässt die Kombination Schlüsse über die Pläne des Einkäufers zu? Wollte er verreisen, groß kochen, Maschinen konstruieren? Was sagt die Schrift über den Verfasser aus? Verblüffend, was Wigald Boning aus den auf den ersten Blick schnöde anmutenden Listen herausliest, unterhaltend, welche Hypothesen er über Herkunft, Charakter und Geschlecht des Urhebers aufstellt. Ein echtes Lesevergnügen!
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Seitenzahl: 103
Wigald Boning
Butter, Brot und Läusespray
Was Einkaufszettel über uns verraten
Eines Tages wird man diese Schlagzeilen in der Boulevardpresse lesen, und Sie, liebe Leser, werden nach Lektüre des vorliegenden Buches alle Hintergründe dieser Nachricht kennen. Es ist tatsächlich so, dass ich gerne in Mülltonnen herumstöbere, vorzugsweise in solchen, die im Eingangsbereich von Supermärkten aufgestellt sind. Allerdings suche ich in den Tonnen nicht nach Essbarem, Altmetall oder sonstigem Edelmüll, sondern ich bin auf der Suche nach Einkaufszetteln. Genau, Einkaufszettel. Hiermit meine ich, um dieses mir recht häufig begegnende Missverständnis gleich zu Beginn meines Buches aufzuklären, keine ausgedruckten Kassenbons, nein, ich meine jene Zettel, auf denen die meisten von uns Endkonsumenten notieren, was im Haushalt fehlt und eingekauft werden muss.
Jetzt mögen Sie sich fragen, warum ein Herr in seinen besten Jahren um Himmels willen seine Zeit mit dem Suchen von Schmierpapieren vergeudet, auf denen im Normalfall Wörter wie «Butter» oder «Brot» zu lesen sind, selten allerdings auch Spezialitäten wie «Läusespray». Nun ja, der eine sammelt Briefmarken, der zweite besiedelt seine Sofalandschaft mit Plüschtieren, und neulich hörte ich sogar von einem Araber, der sich angeblich einen ganzen Hangar für seine Fahrradsammlung in die Wüste setzen ließ. Bei mir sind eben Einkaufszettel Objekte der Begierde. Wie es dazu kam und was sich durch die Analyse dieser Schriftstücke über ihre Autoren im Besonderen und die Menschheit im Allgemeinen lernen lässt, das erfahren Sie in diesem Buch.
Einkaufszettel sammele ich seit 1999.Wie es dazu kam? Ein fieses Tiefdruckgebiet goss tagelang kalten Regen über meine Wahlheimat, das Ostallgäu, und um nicht in den eigenen vier Wänden brägenklöterig zu werden, beschloss ich einen Zerstreuungsausflug in den nächstbesten Supermarkt, den «V-Markt 1000». Mit seinem Filialleiter, Herrn Schramm, hatte ich mich als treuer Kunde über die Jahre angefreundet, und wie bei jedem Besuch in seiner Kaufhalle verstrickten wir uns in ein freundliches Kurzgespräch. Herr Schramm verriet mir einige interessante Details aus der Welt des Einzelhandels, dass etwa scharfe Lakritz ausschließlich in Norddeutschland verzehrt werde, der schwarze Schlickersnack im Süden jedoch nahezu unverkäuflich sei. Während er dies sagte, fiel mein Blick zufällig auf eine hüftstarke Dame im lila Frotteeanzug, in der einen Hand den Schiebegriff eines pickepacke vollbeladenen Einkaufswagens, in der anderen einen Einkaufszettel, den sie mit gerunzelter Stirn studierte. Frisch inspiriert fragte ich den Filialleiter, was eigentlich mit all den Einkaufszetteln passiere, welche die Kunden in ihrem Caddie liegenlassen würden? Ob man die Listen kurzerhand im Abfall entsorge? Oder würden die gesammelt? Könnte doch ganz aufschlussreich sein, zu lesen, was die Leut’ so notieren, nicht zuletzt für die Marktforschung, oder? Herr Schramm gab schmunzelnd zu, sich mit dieser Frage noch nie befasst zu haben, und schlug vor, mir ein paar Exemplare beiseitezulegen, wenn er mal beim Aufräumen auf Lesenswertes stoßen sollte. Aber gerne!
Ein paar Tage später kreuzte ich wieder im «V-Markt 1000» auf, und Herr Schramm überreichte mir freudestrahlend seine Ausbeute: ein dreckiges Dutzend Einkaufszettel, den Grundstock meiner heutigen Sammlung. Ich dankte artig, fuhr nach Hause und begutachtete schmunzelnd die Gabe des netten Einzelhändlers. Dann verschwanden die Listen in einer Spezialschublade für unsortierbare Kuriosa.
Zehn Jahre später. Beim Großreinemachen stolpere ich über die Spezialschublade, welcher ich seit 1999 keinerlei Beachtung geschenkt habe. Ich ziehe sie aus der Kommode, mein Blick fällt auf die beschriftete Rückseite eines Kassenbons, und ich beginne zu lesen: «Getränke», gefolgt von einem langen Nichts. Nanu. Warum die Lücke? Ist die Schrift verblichen? Wollte der Einkäufer an dieser Stelle später etwas nachtragen und hat dies dann vergessen? Will er ein «Nichts» kaufen? Oder sind derartige Lücken auf Einkaufszetteln völlig normal? Oder bin ich eventuell einfach nur blöd und stell die falschen Fragen? In diesem Moment fällt mir auf, dass ich mich mit der Welt der Notizologie noch nie beschäftigt habe. So groß wie die Lücke, die auf diesem Zettel den «Getränken» folgt, so groß ist meine Wissenslücke, wenn’s um die geheimen Botschaften geht, die sich in und zwischen den Zeilen derartiger Zettel verbergen. Und weil ich gerade nichts Dringenderes zu tun habe, versuche ich, das Lücken-Rätsel zu lösen. Ich ziehe also die Stirn in Falten, denke ein Minütchen scharf nach, versuche mich dann vorsichtig an einer Interpretation. Also: Die Flüssigkeitsversorgung steht für den Schreiber dieser Liste ganz obenan. Okay, die Betonung der Hydration ist wahrscheinlich nichts Besonderes, der Einkäufer hat eben Durst, er ist ein Mensch wie du und ich. Mein Interesse ist jedenfalls geweckt, und ich lese weiter. «Milch, Maggi-Zeug, Blumenerde». Hm. Bei diesen Wörtern schießt mir sogleich allerhand durch den Kopf: die Mutterbrust, dann die sprachliche Herabwürdigung der Würze, also im Umkehrschluss die Preisung der Frugalität, des einfachen Lebens, und schließlich stecken in der «Blumenerde» Heimat, dampfende Scholle, Werden und Vergehen. Können Sie mir folgen? Falls nicht, lesen Sie die Wörter «Milch», «Maggi-Zeug» und «Blumenerde» einmal laut, langsam und überdeutlich vor und spüren dem Klang der Wörter hinterher. So jedenfalls gehe ich in diesem Moment vor, und es durchflutet mich heiß; lange habe ich nichts so Fesselndes, so Tiefsinnig-Anrührendes gelesen wie just in diesem Moment. Weiter im Text: «Graue Hose, Brötchen». Ich schließe langsam die Augen und sehe einen älteren Herrn, der sich von Brötchen, Milch und Maggi ernährt und ansonsten allen leiblichen Genüssen abhold ist. Seine Sympathie, seine Sorge gehören den Blumen im Garten; und um die Pracht seiner blühenden Zöglinge zu maximieren, lässt er selber sich gleichsam verschwinden, tarnt sich mit einem unauffälligen Beinkleid. Auch hier sind Sie herzlich eingeladen, selber zu deklamieren. Indem man «graue Hose, Brötchen!», mit Verve zum Fenster hinausschmettert, wird einem schlagartig vieles klar, glauben Sie mir.
Diese Liste jedenfalls ist ein Dokument der Uneigennützigkeit, der Selbstaufgabe, der hehren Liebe zur Schöpfung.
Mich deucht, dass es sich bei dieser Handvoll Einkaufszettel in meiner Schublade um eine literarische Preziose handelt, um ein Zeugnis menschlichen Daseins im Konsumzeitalter. Oder ist meine Interpretationsfreude gar zu ausgeprägt? Glitsche ich soeben in die trüben Wasser der Unseriosität ab? Kontrollhalber greife ich nach dem nächsten Zettel.
«Sportstudio Hirsch» in der Bockschützstraße 14 – diese Adresse hat eine angenehm alberne Note, wenigstens für mich, der mit «Harry Hirsch» und «Null Bock» aufgewachsen ist und der noch weiß, was für ein Gegenstand über der Telefonnummer abgebildet ist. Habt ihr’s erkannt, liebe Kinder? Richtig, es handelt sich um ein Telefon mit Wählscheibe, heute ähnlich selten im Einsatz wie Anlasserkurbel oder Zündnadelgewehr. Der Zeichner hat hier eine Wackelbewegung angedeutet. Diese, liebe Kinder, geht nicht auf einen Vibrationsalarm zurück, sondern auf eine mechanische Klingel mit Schelle und Schlägel. Das Dingsbums, das da an eine Farbpalette oder einen Schlagring erinnert, ist eine Wählscheibe. In diese musste der Fernsprechwillige den Finger hineinstecken und drehen – um dann die Scheibe selbsttätig zurücklaufen zu lassen, und zwar vollständig, bis ganz zurück auf die Ausgangsposition; wer keine Geduld mitbrachte und vor abgeschlossenem Rücklauf der Scheibe die nächste Nummer wählte, wurde falsch verbunden.
Kann man anhand der Produktauswahl das Alter des Einkaufszettels ermitteln? In diesem Fall eher nicht; selbst die etwas befremdliche Kombi «Süßes Kid’s/Hackfleisch» atmet nicht den Geist einer bestimmten Epoche.
Grundsätzlich jedoch könnte die übergreifende Analyse des Papiers, eventueller Aufdrucke, des Notierten und all der anderen Parameter eine Altersbestimmung erlauben; so ähnlich wie mit der Radiokarbonmethode in der Archäologie.
Ein Weilchen denke ich über diese These nach, dann gedenke ich seufzend all jener Wählscheiben, die mein Leben begleitet haben: etwa jene am grauen Telefon mit der kurzen Schnur, das bei meinen Eltern der Garderobe gegenüber stand, daneben ein Notizbuch mit Anschlussnummern, dann am fichtenfarbenen Telefon jener Bremer WG, in der ich während meines Zivildienstes wohnte, und während ich so die Wählscheiben meines Lebens Revue passieren lasse, passiert’s: Ich verliebe mich in die Einkaufszettelei. Hals über Kopf. Bis über beide Ohren. Auweia.
Zum Grundstock meines Schriftschatzes gehört auch dieses Exemplar. «39.Woche des Jahres 1999» lesen wir rechts oben; das ausgerissene Kalenderblatt dokumentiert somit präzise das Gründungsdatum meiner Sammlung. Auf Schweinefett folgt hier Schlemmerfille. Oder ist -filet gemeint? Mehrere Schreibweisen sind notiert, und zwar übereinander – ein Phänomen, das, wie ich mit der Zeit feststellen sollte, auf Einkaufszetteln nicht eben selten ist. Wo sonst sind Schrift und Form so frei und zügellos, wo sonst darf der Homme de Lettres sich so geben, wie er wirklich ist – denn normalerweise schreibt der Einkäufer im Bewusstsein, dass nur er selbst diesen Zettel jemals wieder studieren wird. Damit stehen die Konsumnotizen in der Welt der Literatur ziemlich alleine: Bereits die intimsten Tagebücher werden vom Verfasser in der unterschwelligen Annahme, Hoffnung oder Furcht geschrieben, dass sie dereinst auch von fremden Leseratten begutachtet werden könnten – nur der Einkaufszettel präsentiert also das Ich des Autors gänzlich unverstellt und ermöglicht dem kundigen Leser einen Direktblick in die Seele des Verfassers, wie mir justament aufgeht. Wer uns Menschen wirklich kennenlernen möchte, aller Camouflage entkleidet, roh und ungarniert, der beschäftige sich mit diesem Solitär unter den Literaturgattungen, mit dem Einkaufszettel – so jedenfalls mutmaße ich in jenen Tagen, und auf dieser Annahme fußt meine bis heute lodernde Leidenschaft.
Hinter dieser Liste jedenfalls steckt jemand, der einen Kuchen backen will. Zucker, Sultaninen, Rumaroma und Rasierklingen: Keine Frage, der Zettel wurde von einer Gangsterbraut verfasst, die ihren Macker aus dem Gefängnis befreien will. Eine Feile wäre wahrscheinlich sinnvoller, aber das muss ja jeder selber wissen.
Frisch verliebt in die, wie sagt man eigentlich? Orsus-Colligatie? Also Zettel-Sammlung? Ich bin kein Lateiner, aber da muss es doch auch einen hübschen Fachbegriff geben à la Philatelie oder Numismatik, jedenfalls: Seit meinem Schubladenfund am Großreinemachtag widme ich viel Zeit meiner Sammlung; sie wächst durchschnittlich um knappe drei Zettel pro Tag.
Nun war ich also auf Droge, allein, es stellte sich die Frage: Wie kam ich nun an den Stoff? Ohne Großgrübelei begab ich mich in Richtung «V-Markt 1000», jenen Supermarkt, wo mich Herr Schramm Jahre zuvor angefixt hatte. Herr Schramm hatte mittlerweile in eine andere Filiale gewechselt, mein Dealer war weg, und mir drohte der berüchtigte Cold Turkey. Schon rollten die ersten Schweißperlen über meine Stirn, begannen meine Hände zu tremolieren, als mir die Einkaufswagenburg am Eingang auffiel. Dort, so kombinierte ich, müsste die Chance am größten sein, auf achtlos liegengelassene Zettel zu stoßen. Und aus heutiger Sicht kann ich diese Spontanannahme nur bestätigen; im langjährigen Mittel befindet sich am Ende eines Werktages in jedem 29.Einkaufswagen ein Zettel, wobei Qualität und Frequenz der Fuhrparkpflege von Supermarkt zu Supermarkt stark variieren. Doch bereits auf dem Weg zum Einzelhändler passiert der Sammler interessante Jagdgründe. Zuallererst seien jene Rabatten genannt, welche die Parkplätze vor den Zugängen einhegen. Je dichter der Rabattenbewuchs, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass sich im Laufe der Zeit neben Kassenbons und Verpackungsmüll auch Einkaufszettel in den Stauden verfangen. Typische Rabattenzettel sind zumeist deutlich erkennbar. Dieses Exemplar verrät seine Herkunft einerseits durch die gelbbraunen Flecken, die auf sogenannte Tannine zurückzuführen sind, farbaktive Inhaltsstoffe der Mulchschicht am Boden. Zum anderen sind die Löcher im Zellstoff verräterisch; an diesem Einkaufszettel hat sich offenbar eine spanische Wegschnecke, Arion Vulgaris, gütlich getan, eine mediterrane Nacktschnecke, die seit den 70er Jahren die einheimischen Gastropoden weitgehend verdrängt hat. Auf dem papiernen Schneckenspeiserest sind Knäcke, Eier und Handwasu notiert. Tja… «Wasu-FM» ist der Name eines Lokalradios in der Ortschaft Boone, North Carolina, und sendet dort auf der Frequenz UKW 90,5.Ferner steht die Abkürzung für «Worcestershire Association of Service Users», eine Organisation, die sich u.a. darum bemüht, Senioren zu helfen. Welches «Wasu» in diesem Fall gemeint ist, geht aus dem Zettel nicht hervor.
Das liederliche Schriftbild darf jedenfalls durchaus mit dem Fundort in Beziehung gesetzt werden; womöglich werfen Schmierfinken ihr Krickelkrackel häufiger in Blumenbeete als akkurate Schönschreiber. Beweisen kann ich diesen Zusammenhang natürlich nicht – aber die These klingt plausibel.
Auch diesen Zettel habe ich aus einem Parkplatzbeet aufgelesen. Die Bissspuren lassen sich vom Fachmann problemlos einem Tausendfüßer zuordnen; unterm Mikroskop könnte man sogar deren Fußabdrücke durchzählen, wenn man ein bisserl Zeit mitbrächte. Die Löcher rechts gehen allerdings nicht auf Tausendfüßer zurück, sondern auf einen Locher. Inhaltlich handelt es sich um einen typischen Baumarktzettel; bei den Leisten, Balken und Paneelen könnte es sich um die Zutaten für einen Fahrradschuppen handeln. Mit einer Deckenhöhe von 2m kann es sich natürlich auch um ein Häuschen für einen sehr großen Hund handeln oder für eine sehr kleine Giraffe oder für ein hormongestörtes Meerschweinchen mit bestem Appetit.