Lauf, Wigald, lauf - Wigald Boning - E-Book + Hörbuch

Lauf, Wigald, lauf Hörbuch

Wigald Boning

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Beschreibung

 Wigald Bonings herrlich schräge Liebeserklärung an die Langstrecke   Wo Wigald Boning auftritt, ist der Lachmuskel-Kater danach garantiert. Egal, ob in seinen legendären Beiträgen für "RTL Samstag Nacht", im Gesangsduo mit Olli Dittrich, als Experte für - ja, wofür eigentlich? - im "Quiz-Champion" oder ein Jahr lang unterwegs mit dem Zelt durch Deutschland. In "Lauf, Wigald, lauf!" nimmt er uns mit auf sein neuestes und bislang kühnstes Abenteuer: Jede Woche einen Marathon. Ein Jahr lang. Aber nicht irgendeinen Marathon: 42 Kilometer in Crocs oder Cordhose, mit dem Papa im Rollstuhl durch die norddeutsche Heimat, auf dem Balkon einer Berghütte im Zillertal, auf abenteuerlichen Wegen um den Ammersee oder auf dem Laufband im Homeoffice ... "Lauf, Wigald, lauf!" ist das ultimative Buch für alle Wigald Boning-Fans und ein Geschenk für alle, die das Laufen lieben.    »Ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein sehr langer Lauf für mich.« Wigald Boning   »Wigald Boning ist der unterschätzteste Sportler, der in Deutschland rumläuft.« Barbara Schöneberger   

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Zeit:7 Std. 55 min

Sprecher:Wigald Boning
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Impressum

© eBook: 2022 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2022 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

Gräfe und Unzer Edition ist eine eingetragene Marke der GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, www.gu.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Redaktion und Projektmanagement: Silke Tauscher

Lektorat: Christiane Schwabbaur

Bildredaktion: Silke Tauscher

Schlusskorrektur: Chris Tomas

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

eBook-Herstellung: Amelie Scherzl

ISBN 978-3-8464-0895-7

2. Auflage 2022

Bildnachweis

Coverabbildung: Jörg Koch

Fotos: Jörg Koch, Wigald Boning, Leander Völker, Carolin Weidemann, Teresa Boning, Leaflet | © Komoot | Map data © OpenStreetMap-Mitwirkende, Steffi Riehl, Günter Karl, Carsten Schneehage, Sanitätshaus Wiggers

Syndication: www.seasons.agency

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Das vorliegende E-Book basiert auf der 2. Auflage der Printausgabe.

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»Ich bin kein Sportmuffel, noch nie gewesen und lief mit 33 meinen ersten Marathon, in Winterthur. Zu den größten Siegen meines Lebens gehört es, die Durchschnittlichkeit meines Talents akzeptiert zu haben und mich nicht von der Tatsache beirren zu lassen, dass ich mit der Weltspitze nichts, aber auch gar nichts zu tun habe, und ich habe gelernt, meine Mittelmäßigkeit zu genießen. Ankommen ist alles!

Ich bin 100 km in Biel gelaufen, bin mit Freunden in 58 Stunden 1000 km von Füssen nach Rom geradelt, habe bei einem 24-Stunden-Schwimmen im Hallenbad Haar bei München 28 km zurückgelegt und im darauffolgenden Sommer den Bodensee durchschwommen – in der langsamsten Zeit, die je für einen offiziellen Bodensee-Durchquerer registriert wurde, was mir in der Ultraweitschwimmer-Szene den Ehrentitel ›Weltmeister im Langsamschwimmen‹ einbrachte.

Kurzum: Dass ich ein toller Hecht bin, habe ich mir bereits hinlänglich bewiesen. Ich könnte mich getrost in einen Ohrensessel fläzen, meinem Bauch beim Wachsen zuschauen und ansonsten zufrieden vor mich hin verwittern. Warum also ackere ich mich hier in Zeitlupe den Waldweg hinauf, mit leerer Trinkblase und staubtrockenem Mund?«

WIGALD BONING

Ist er verrückt geworden?

Uff. Vor mir liegt eine endlose Gerade, ein grob geschotterter Waldweg, dessen Ende in der flirrenden Hitze eines zentnerschwer drückenden Sommertages verschwimmt. Schweiß rinnt mir ins Auge. Ich schnaufe wie eine verrostete Kleinbahn-Lokomotive, doch während auch die mickrigste Lokomotive den vor mir liegenden Anstieg wacker bewältigen würde, setze ich zaghafte Schrittchen, scheine auf der Stelle zu trippeln.

Durst! Gierig stecke ich mir den Schlauch meines Trinkrucksackes in den Mund, beiße auf das Mundstück und sauge. Ich zwinge einige wenige Resttropfen aus der Blase, dann ist Ebbe.

Das hat mir gerade noch gefehlt! Jetzt würde ich sie alle gerne verfluchen: den leeren, nichtsdestotrotz beschwerlichen Rucksack, den öden Weg, die unbarmherzige Hitze, mich und mein bescheuertes Unterfangen – aber zum herzhaften Fluchen bin ich zu schwach.

Stattdessen stelle ich mir bange Fragen: Was laufe, ach was, stolpere ich hier so buchstäblich halbgar durch die Gegend? Welcher Teufel ritt mich, als ich mir vornahm, im Jahr 2021 meinen sportlichen Lebenshöhepunkt zu, nun ja, zu feiern, und ausnahmslos jede Woche einen Marathon zu absolvieren? Am Stück natürlich, komme, was wolle? Geltungsbedürfnis, blanke Angeberei? Bittere Frucht einer späten Midlife-Crisis? So eine Art asexueller Masochismus, Flucht vor Was-weiß-ich oder ganz schlicht: Blödheit?

Nein, natürlich weiß ich noch genau, wie es dazu kam: Am Anfang war Corona.

Meine Frau Teresa und ich kümmerten uns in unserer Münchener Wohnung um unsere Kinder Theodor (2) und Mathilda (1), nachdem die meisten unserer Auftritte abgesagt worden waren. Teresa ist von Beruf Opernsängerin, Koloratursopran, allerdings nicht mit Festanstellung, sondern freiberuflich – in der Pandemie nicht eben von Vorteil.

Ich schrieb nebenbei eine Art Corona-Tagebuch und stellte es ins Internet, was Tag für Tag kontroverse Diskussionen auslöste. Mal brachte ich Hygiene-Jakobiner, mal Querdenker gegen mich auf. Ansonsten drehte ich ab und an eine Runde auf dem Rennrad, hielt mich emsig an alle AHA-Regeln und schnabulierte nicht weniger emsig – eine Pandemiebewältigungstaktik, der ich mich in jenen Tagen nicht ganz allein zu bedienen schien.

Natürlich weiß ich nur zu gut, dass es sich bei der melonenhaften Wölbung, die meine Körpermitte ziert, nicht ausschließlich um Corona-Speck handelt. Und auch nicht um Muskelmasse oder um einen Blähbauch, wie ich mir schon manches Mal einzureden versuchte.

Die Wölbung entstand im Laufe der letzten zehn Jahre. Sie mag mit der Verlangsamung der Stoffwechselprozesse bei Herren in ihren besten Jahren zusammenhängen, lässt sich aber wesentlich einfacher mit einem einzigen Wort erklären: Happa-Happa.

Ich esse einfach furchtbar gerne, ob mit Lockdown oder ohne, und ich bin nicht sonderlich wählerisch bei der Auswahl meiner Lebensmittel. Ja, ich genieße es, hochwertige Kraftstoffe zu tanken, gerne auch vegan. Aber wenn nichts anderes da ist, pfeife ich mir auch schon mal ein Paket Nürnberger Bratwürste rein, um anschließend den Abend mit einer Familienpackung Speiseeis zu krönen.

Im Frühsommer 2020 jedenfalls stand ich bestens im Futter, und ich hielt eine Extraportion Leibesübung für angezeigt. Im Sommer gesellte sich zur Suche nach einem geeigneten sportlichen Ziel eine gewisse Unlust, mich weiterhin nahezu ausschließlich mit dem leidigen Covid-19-Thema zu beschäftigen, zumal mir als tendenziell eher harmoniebedürftigem Zeitgenossen das Remmidemmi der sozialen Netzwerke regelmäßig die Laune verhagelt.

Klarer Fall: Ein sportliches Vorhaben musste her, wenigstens ein großer Vorsatz, der mich eine Weile beflügeln könnte. Über Sinn und Unsinn körperlicher Betätigung an der frischen Luft gibt es nichts zu streiten, nicht einmal bei Facebook und Co – dachte ich jedenfalls damals.

Mitte August 2020, ich zeichnete gerade für Sat.1 mit Hugo Egon Balder und Hella von Sinnen die letzten »Genial daneben«-Folgen in Köln auf, begann ich einen sogenannten »Streak«.

»Streak« kommt aus dem Englischen, heißt »Strähne« und bezeichnet eine spezielle Form des Dauerlaufs, nämlich: Man läuft ausnahmslos jeden Tag, wobei die Länge der Laufstrecke nicht entscheidend ist. Nach dem Reglement der »United States Running Streak Association« reicht eine einzige gelaufene Meile pro Tag aus, um einen Streak fortzuführen, also schlappe 1,61 Kilometer.

Klingt machbar, ist jedoch in der Realität gar nicht ohne – doch dazu später mehr.

In diesem Sommer jedenfalls lief ich morgens die acht Kilometer vom Savoy Hotel am Kölner Hauptbahnhof zum Fernsehstudio in Köln-Ossendorf, manchmal auch wieder abends zurück. Einmal pro Woche verlängerte ich die Strecke, und an manchen Tagen beließ ich es bei drei, vier Erholungskilometern. Hella und Hugo, meine alten Weggefährten, konnte ich mit meinem Steckenpferd nicht schocken, sie wissen um meine Sport-Obsession. Anstecken konnte ich sie mit meinem Fimmel nie. Wenn das Thema aufs Laufen kommt, kramt Hugo immer gerne seinen liebsten Jogging-Witz hervor, und der geht so: »Marathon? Bin ich auch schon gelaufen. In Frankfurt. Mit zwei Übernachtungen.«

Die Kraft der zwei Eier

Ich bin, wie gesagt, kein Sportmuffel, noch nie gewesen. Womöglich liegt der Drang nach regelmäßiger Bewegung in meiner Familie: Viele meiner Vorfahren waren kleine Moorbauern, sogenannte Köter, und nicht wenige starben mit 40 an Altersschwäche.

Mein Opa Georg war Eierhändler in der niedersächsischen Kleinstadt Wildeshausen und klapperte allmorgendlich mit einem Handwagen die Bauernhöfe in der Umgegend ab, um seine Ware einzusammeln. In Wildeshausen scherzte man, er habe mit zwei Eiern angefangen und daraus ein Imperium gemacht. Ihre Söhne zog das Eierhändler-Ehepaar Boning vornehmlich mit sogenanntem Knick-Ei groß – das waren jene Eier, die etwa den Handwagen-Transport nicht heil überstanden.

Einer dieser Söhne ist mein Papa Heinrich, mittlerweile pensionierter Bankkaufmann, 50 Jahre lang Richter der Wildeshauser Schützengilde (auch dazu später mehr) und ein unerschrockener Kritiker aller neumodischen Irrwege, nicht zuletzt des übertriebenen Sportelns und der häufig damit einhergehenden ausgewogenen Ernährung.

Die Tradition des abundanten Eierkonsums wurde von ihm an mich weitergegeben; meine Cholesterin-Werte jagen meinen Hausärzten seit Jahrzehnten kalte Schauer über den Rücken, aber immerhin stelle ich diesem Gesundheitsminus lebenslang ein Plus in Form ausgiebiger Spaziergänge, Wanderungen und Dauerläufe entgegen.

Als Jugendlicher war ich ein begeisterter Leichtathlet. Ich brachte es immerhin zum letzten Platz der Niedersächsischen Landesmeisterschaften im Diskuswurf der Schüler-A (drei Fehlversuche), entdeckte als junger Twen das Bergwandern für mich und lief mit 33 meinen ersten Marathon, in Winterthur.

Zu den größten Siegen meines Lebens gehört es, die Durchschnittlichkeit meines Talents akzeptiert zu haben und mich nicht von der Tatsache entmutigen zu lassen, dass ich mit der Weltspitze nichts, aber auch gar nichts zu tun habe. Selbst bei Feld-Wald-und-Wiesenläufen auf Kreisebene lande ich eher im hinteren Mittelfeld, und ich habe gelernt, meine Mittelmäßigkeit zu genießen. Ankommen ist alles!

Ich bin 100 Kilometer in Biel gelaufen, habe gemeinsam mit meinem Freund Hannes Skilanglauf-Veranstaltungen organisiert (»Ski Heul!«), darunter ein 24-Stunden-Rennen mit beeindruckenden vier Teilnehmern (einer davon war ich), bin mit Freunden in 58 Stunden 1000 Kilometer von Füssen nach Rom geradelt, habe bei einem 24-Stunden-Schwimmen im Hallenbad Haar bei München 28 Kilometer zurückgelegt und im darauffolgenden Sommer den Bodensee durchschwommen, von Friedrichshafen nach Romanshorn, in der langsamsten Zeit, die je für einen offiziellen Bodensee-Durchquerer registriert wurde: sieben Stunden und 24 Minuten, was mir in der Ultraweitschwimmer-Szene den Ehrentitel »Weltmeister im Langsamschwimmen« einbrachte.

Kurzum: Dass ich einer der größten Sportler aller Zeiten bin, habe ich mir bereits hinlänglich bewiesen. Ich könnte mich getrost in einen Ohrensessel fläzen, meinem Bauch beim Wachsen zuschauen und ansonsten zufrieden vor mich hin verwittern.

Warum also ackere ich mich hier in Zeitlupe den Waldweg hinauf, mit leerer Trinkblase und staubtrockenem Mund? Ich bin bei Kilometer 36, noch sechs Kilometer bis zum Eigenheim, in dem meine Frau Teresa und die Kinder auf mich warten.

Aus dem Weg, es naht eine verrostete Kleinbahn-Lokomotive!

Die Luft vor mir flirrt wie in einem Italo-Western, von Ferne meine ich die Mundharmonika aus »Spiel mir das Lied vom Tod« zu hören, und in diesem Moment halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass auch mein Gesichtsausdruck dem eines sehr schlecht gelaunten Klaus Kinski als Sombrero tragendem Bösewicht ähnelt.

Mein Magen knurrt tonlos. Zwar habe ich nur spärlich gefrühstückt und Hunger wäre angezeigt, aber ich bin bereits zu schlapp, um diesen zu verspüren und mir etwas Essbares in den Mund zu stecken. Wasser wäre eh dringender, aber da ist keine Tränke, kein Bächlein, keine Pfütze weit und breit. Meine Beine fühlen sich an wie mit Waschbeton ausgegossene Ofenrohre, mein Kopf hingegen macht einen eher leeren Eindruck: Keinen Gedanken kann ich beim Schlawittchen packen, geschweige denn zu Ende denken, und so bleibt mir nichts anderes übrig, als dumpf dösend heimwärts zu traben, mich dort ein Stündchen unter das kalte Wasser aus dem Gartenschlauch zu stellen, mir einen Humpen Gänsewein einzuverleiben und womöglich noch ein schattiges Nickerchen anzuschließen.

Erst dann, so seufze ich, werde ich den Weg zu meinem Marathonjahr eingehender rekonstruieren können.

Schweinehunde schlafen lang

So, daheim und ausgeruht. Warum fing ich überhaupt mit dem »Streak-Running« an? Ich hätte ja auch dreimal die Woche laufen können, oder viermal, oder – verblüffend simpel – einfach immer dann, wenn mir danach ist? Welchen Vorteil hat es, jeden Tag zu laufen?

Gut möglich, dass mir am »Streak«-Konzept die unkomplizierte Struktur gefiel – da ist schon mal ein Tagesordnungspunkt, auf den man sich verlassen kann, gerade in der Pandemie.

Für fahrendes Volk, Musiker, »Freunde des Humors und aller umliegenden Ortschaften« (Schnack meines Vaters) bietet eine Pandemie mit ihrem Absagehagel nicht eben die festesten Lebensfundamente. Der darbende Artist kommt ins Grübeln, und mit kleinen Kindern gesellt sich ein weiterer Unsicherheitsfaktor hinzu.

Gewisse Korsettstangen im Alltag geben mir womöglich das traute Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben. Beispiel: Ich liebe es, den Tag mit meiner 70 Jahre alten, hölzernen Kaffeemühle einzuläuten. Für drei Minuten gilt: Ich mahle, also bin ich. Solange ich mahle, weiß ich mich in völliger Sicherheit, und der Kaffee, den ich anschließend genieße, ist wenigstens teilweise mein Werk – kein Starbucks, kein Vollautomat kann dieses beruhigende Gefühl des Schöpferstolzes vermitteln.

Das ist das Geheimnis der Kaffeemühle: Es gibt nichts, was einen Menschen zufriedener macht als ein selbst erarbeiteter Erfolg. Auf der Bühne zum Beispiel kann ich noch so viel ackern, mich penibel vorbereiten, mir Mühe geben – wenn das Publikum irgendeinem Zeitgeschmack folgend lieber, sagen wir mal, normalsichtige, großgewachsene Halbkamele mit Bienenkorbfrisur die »Internationale« schmettern hören möchte, habe ich halt Pech gehabt.

Ganz anders ist die Sache beim Kaffeemahlen – und beim Sport.

Zweifelsohne erfordert regelmäßiges Ausdauertraining eine gewisse Disziplin – von jedem. Glauben Sie nicht, dass der berühmte innere Schweinehund ein seltenes Tier ist, es gehört zu uns Menschen wie die Darmflora – so wie wir alle innerlich von Kleinstlebewesen bewohnt sind, so steckt auch in uns allen der berühmte Schweinehund, sogar in mir.

Ich lebe mit meinem Exemplar in grundsätzlicher Eintracht, lasse mich gerne von ihm aufs Sofa zwingen, allerdings habe ich seine charakterliche Schwachstelle identifiziert: Am sehr frühen Morgen, wenn alle Welt noch schläft, pennt auch er.

Überraschung: Meine Kaffeemühle lässt sich nicht per App steuern.

Diese offene Flanke heißt es listig zu nutzen; leise schleiche ich mich zu meiner Kaffeemühle und kurbele mich in Schwung, brühe mir eine Tasse Kaffee, schlüpfe in den Sportdress und stehle mich hinaus an den Busen der Natur. Und wenn der Schweinehund wach wird, bin ich normalerweise bereits über alle Berge.

Diese Morgenroutine klappt umso besser, je fester sie in meinem Gesamt-Tagesablauf verankert ist, und sportfreie Tage, womöglich sogar mehrere hintereinander, sind für diese Verankerung Gift. Bei meiner sportlichen Alltagsplanung orientiere ich mich am von mir so getauften Zahnpflegemodell: Wir alle (äh, will sagen: die meisten von uns) putzen täglich unsere Zähne und denken nicht vor jeder Bürstung lange über deren Notwendigkeit nach. Und so, wie ich mir die Beißerchen pflege, so widme ich mich auch meinem Restkörper: am besten täglich und gedankenlos.

Der längste Streak wurde übrigens von Ron Hill aus England gelaufen, vom 21. Dezember 1964 bis zum 29. Januar 2017, also satte 52 Jahre und 39 Tage. Keine Sorge; ich habe nicht vor, in diesen Bereich vorzustoßen, wäre auch vor dem Hintergrund meiner restlichen Lebenserwartung ein recht anspruchsvolles Vorhaben.

Und warum überhaupt laufen? Fahrradfahren macht mir genauso viel Spaß wie Laufen. Ein Nachteil des Radelns ist vielleicht die Tatsache, dass ein Rad hierfür unverzichtbar ist, was in meinem reisereichen Job mitunter erhöhten logistischen Aufwand nach sich zieht. Aber ich bin darin geübt, allzeit ein Faltrad im Gepäck zu haben, kenne alle Radwege zwischen Hotels, Studios und Flughäfen in Deutschland aus dem Effeff. Dass ich mich fürs Laufen entscheide, hat vor allem mit dem zeitlichen Aufwand zu tun. Um den Körper in vergleichbarer Weise zu strapazieren, müsste ich in der Ebene etwa die dreifachen Umfänge auf dem Rad absolvieren. Und so viel Freizeit gibt mein Kontingent derzeit nicht her. Am liebsten komme ich vom Sporteln heim, wenn die restliche Familie noch schläft, also etwa gegen acht Uhr. Schwimmen wäre auch denkbar, aber bis auf Weiteres haben die Hallenbäder eh zu. Also ist Laufen Trumpf.

Und so streake ich mich durch den Herbst. Die Corona-Inzidenzen steigen, ein neuer Lockdown zeichnet sich ab und in mir wächst das Bedürfnis, der vermaledeiten Pandemie etwas Einmaliges, etwas Großes entgegenzusetzen – irgendetwas, was mich später, bei Kaminabenden im Altersheim etwa, positiv an das werte Virus erinnern wird.

So ’n Streak ist ja schön und gut, aber mir schwebt etwas weit Kühneres vor, tollkühn gar, vielleicht sogar ein echter Grenzgang – so nennt Reinhold Messner jene Unternehmungen, bei denen man im Vorhinein nicht weiß, ob man sie überhaupt zu Ende führen kann. Wirkliche Abenteuer halt.

Aber wie könnte ein solches Abenteuer im Coronäum beschaffen sein? Sportwettbewerbe jibbet einstweilen nicht, weite Reisen scheiden bis auf Weiteres aus, und wie streng die gegen das Virus ergriffenen Maßnahmen ausfallen, lässt sich Ende 2020 kaum sagen. Womöglich, so sage ich mir mit einem Stoßseufzer, gibt es sogar bundesweite Ausgangssperren. Das Abenteuer muss zur Not also im eigenen Garten, auf der Terrasse, in den eigenen vier Wänden durchführbar sein, ich muss Herr über die entscheidenden Parameter sein, unabhängig von Söder und Söhnen, und: Ich werde das Abenteuer allein durchleben müssen, um auch bei striktesten Kontaktbeschränkungen handlungsfähig zu bleiben.

Lauf-Apps: Gorbi ist schuld!

Kurz vor Weihnachten kommt mir die entscheidende Idee: Jede Woche ein Marathon. Der Gedanke ist mir nicht ganz neu. Ich hegte ihn schon einmal, vor 20 Jahren, ließ die Sache dann aber doch bleiben, weil mir das Unterfangen zu anspruchsvoll und der Reiseaufwand zu groß erschien – damals dachte ich an Wettbewerbe, Stadt-, Land- und Bergmarathons zwischen Karlsruhe und Kalkutta, Flensburg und den Fidschi-Inseln.

Aber, von Corona mal ganz abgesehen: Erstens sind derlei Kerosinverschwendungen heutzutage eh nicht mehr vertretbar, zweitens passen solch wilde Weltreisen nicht wirklich zur Lebensrealität mit kleinen Kindern, und drittens gibt es inzwischen Apps, mit denen man sich und einem interessierten Publikum beweisen kann, dass man’s ins Ziel geschafft hat, wo auch immer sich dieses befindet. Um Marathons nachprüfbar einzulaufen, braucht man jedenfalls nicht mehr zu reisen. Früher bekam man im Ziel eine Finisher-Medaille um den Hals gehängt, heute postet man die absolvierte Heldentat einfach bei »Strava«, und alle wissen Bescheid.

Es gibt natürlich noch einige andere, nicht weniger taugliche Apps wie zum Beispiel »Runtastic« oder »Komoot«, aber ich nenne nicht ohne Grund Strava zuerst, da ich in deren Community die ambitioniertesten Sportsfreunde vermute, die, aus welchen Gründen auch immer, den Satz geprägt haben: »Ist es nicht auf Strava, ist es nicht passiert.«

So sieht sie aus, die totale Transparenz.

Das hat sich Gorbatschow sicher ganz anders vorgestellt, als er »Glasnost« predigte.

Ich bin beileibe nicht der erste Mensch, der sich vornimmt, einen Marathon nach dem anderen zu laufen. Weithin bekannt ist etwa der Hamburger Arzt Christian Hottas, einer der weltführenden Marathonsammler, der eine eigene Wettkampfreihe ins Leben gerufen hat. Die »Teichwiesen-Marathons« sind sogar beim Deutschen Leichtathletik-Verband angemeldet und werden auf einer Laufstrecke bei ihm hinterm Haus absolviert (oder so ähnlich – teilgenommen habe ich da noch nie).

Butter bei die Fische? Der Weg vom Wälzen der Idee bis zum Beschluss geht rasend schnell, umgekehrt proportional zum Zögern der Ministerpräsidentenkonferenz, die in diesen vorweihnachtlichen Tagen 2020 eher betulich auf die steigenden Corona-Inzidenzzahlen reagiert.

Ein wenig bang blicke ich auf meinen Trainingszustand: Zwar bin ich seit dem 12. August ausnahmslos jeden Tag gelaufen, aber die Zahl meiner Läufe über mehr als 20 Kilometer lässt sich an einer Hand abzählen. Eigentlich, so steht es in jedem anständigen Fachbuch zum Thema Lauftraining, sollte ein Marathon mit längeren Läufen vorbereitet werden, also mit solchen jenseits der 30 Kilometer. Aber, so sinniere ich, ist der Unterschied zwischen, sagen-wir-mal, 35 und 42 Kilometer wirklich entscheidend? Kann man nicht gleich von null auf 100, äh, von 25 auf 42 gehen?

Als erstes erzähle ich meiner Gattin Teresa von der Idee.

»Schatz, was hältst du davon, wenn ich ab sofort jeden Freitag einen Marathon laufe?«

»Du meinst einen ganzen? Zweiundvierzigkommairgendwas Kilometer? Warum?«

»...« (Schulterzucken)

»Na, dann viel Glück!«

Sicherheitshalber plane ich eine Generalprobe: Zwischen den Jahren, am Tag nach dem Weihnachtsfest, das ich zusammen mit all meinen Kindern, meiner Frau und meinen Eltern bei Grünkohl und Pinkel in München verbringe, will ich das – innerlich bereits beschlossene – Vorhaben testen.

Unterm Weihnachtsbaum mache ich alle Anwesenden mit meiner Idee vertraut. Meine großen Söhne, die 23-jährigen Zwillinge Leander und Cyprian, nicken respektvoll.

Cyprian ist begeisterter Alpinist, studiert in Innsbruck Sporttourismus, er ist quasi vom Fach. Leander studiert in Amberg Medientechnik und Produktion, auch er hat im Lockdown den Laufsport für sich entdeckt. Beide können meiner Idee sogleich einiges abgewinnen.

Im Gesicht meiner Mutter meine ich eine gewisse Sorge zu erahnen, aber vielleicht überinterpretiere ich ihren Blick. Lediglich mein 84-jähriger Vater lässt sich zu einem kornklaren Kommentar hinreißen: »Völliger Quatsch, diese übertriebene Lauferei. Wozu gibt es Autos!?«

Mit vollem Bauch und einem Aquavit in der Hand genieße ich das langsam in mir ansteigende Lampenfieber. Weiß ich, worauf ich mich einlasse? Weiß meine Frau, was sie tut, wenn sie beteuert, mich nach Kräften unterstützen zu wollen? Momentan ist mein Arbeitskalender pandemiebedingt leer, aber was soll werden, wenn sich die Lage normalisiert und ich wochenlang in irgendeinem Studio schuften darf? Was tun, wenn ich umknicke, mir die Haxen breche, mich mit Corona infiziere? Okay, bei einem milden Verlauf, so antworte ich mir sogleich voller Optimismus, würde ich einfach in der Quarantäne von der Schrankwand zum Sofa und zurückwandern, so lange, bis ich 42 Kilometer auf der Uhr habe. »Du liebe Güte, wie naiv«, schilt mich meine innere Stimme der Vernunft, und ich nicke einsichtig. Besser wäre es, sich gar nicht erst zu infizieren, und ich beschließe, die AHA-Regeln zukünftig noch ein wenig ernster zu nehmen als bisher.

Ein anderes Problem ist unsere Wohnsituation: Erst kürzlich haben wir unsere Wohnung gekündigt (die hohe Miete erschien uns in Anbetracht unserer beschränkten Auftrittstätigkeit nicht mehr vertretbar), und die Suche nach einer neuen Bleibe gestaltet sich im Großraum München, oh Wunder, schwierig. Eines Tages jedoch werden wir ein Heim gefunden haben (müssen), und dann heißt es, viel Zeit in Umzug und Co zu stecken. Nehme ich mir zu viel vor?

Und schließlich: Bin ich überhaupt orthopädisch zum geplanten Exzess in der Lage? Knie- und Hüftschmerzen als Überlastungssymptome sind mir nicht unbekannt, und bereits als junger Marathonläufer (also vor 20 Jahren) zwang mich eine Sehnenreizung am Schienbein (Insider sprechen von »Shin Splints«) zu einer zweiwöchigen Laufpause.

Lauter Unwägbarkeiten, in denen sich einer der großen Reize meines Projekts offenbart: Ein ganzes Jahr ist ein unerhört langer Zeitraum. Niemand kann seriöse Prognosen über eine komplette Sonnenumrundung der Erde abgeben – ich persönlich würde es nicht einmal ausschließen wollen, dass die Erde auf ihrem Weg irgendwann sagt: »Pustekuchen, mir ist fad, ich kehre um, fliege wieder zurück Richtung Januar.« Oder dass die Sonne einfach aufhört zu leuchten, was womöglich den Weiterflug der Erde gar nicht verhindern würde, aber wir Lebewesen könnten ihn nur noch kurze Zeit genießen.

Kaum weniger wage ich, mein persönliches Schicksal vorherzusagen. Die Erfahrung lehrt, dass jede Treppe, jede Haushaltsleiter gleichsam vom Tod miterklommen wird, dass der Sensenmann nicht nur zu Hause, sondern genauso bei jeder Reise mit auf der Droschke sitzt, und auch bei Fußreisen ist er zugegen, er läuft allzeit hinter mir her – manchmal meine ich sogar zu spüren, wie seine Sense mein Haupthaar touchiert. Und wenn man sich meinen Hinterkopf genau anschaut, kann man die Stelle sogar sehen!

Auch in meinem Innern, unter dem Resthaar, lauern womöglich Risiken: Vor einem Jahrzehnt habe ich mich mal einem 24-Stunden-EKG unterzogen, um der Ursache meiner unregelmäßigen Asthma-Anfälle auf die Spur zu kommen. Die Ursache konnte nie ermittelt werden, aber weil mein Ruhepuls im Schlaf unterhalb der Schwelle dessen fiel, was vom EKG messbar war, reagierte mein damaliger Hausarzt ernsthaft geschockt und wollte mich umgehend zum Kardiologen schicken.

Noch heute pumpt mein Herz in Ruhe weniger als 40-mal pro Minute, und ich bilde mir ein, mit diesem Wert ein völlig unbesiegbarer, unzerstörbarer, ja unsterblicher Halbgott zu sein, so was wie Zeus’ Kuckuckskind Minotaurus, halb Stier, halb Mensch – das käme von der Herzfrequenz her ungefähr hin. Was, wenn meine Unbesiegbarkeit blanke Autosuggestion ist und ich tatsächlich wegen eines schwerwiegenden Defekts in ärztliche Obhut gehöre?

Eine heimliche Myokarditis, ein Aneurysma, der Puls ist zu hoch, und – zack! – läge ich im Rinnstein und würgte ein letztes Dankeschön heraus.

Jenseits des Jenseits: Wer sagt mir, dass ich nicht irgendwann die Lust verliere und stantepede stehenbleibe, etwa weil mich die Leidenschaft für etwas völlig anderes ergriffen hat, Tischtennis, Landschaftsmalerei in Öl, Vogelbeobachtung auf den Färöern oder ganz schlicht: Sitzen? Es wäre nicht das erste Mal, dass ich mich von einer Passion abwende, um mich nahezu gleichzeitig in ein neues Abenteuer zu stürzen.

Wenn ich also mir selber verspreche, ein Jahr lang zäh bei der Sache zu bleiben, unterwerfe ich mich eventuell einem Zwang, der mir noch böse auf die Füße fallen kann.

Als ich meine sportlichen Jahresvorsätze spätabends bei Facebook poste, werde ich zudem von so manchem Kommentator auf mein fortgeschrittenes Alter hingewiesen, was mir allerdings reichlich uncharmant vorkommt.

Mit schlohweißen Nasenhaaren fing es an

Natürlich bin ich als Mittfünfziger nicht mehr auf dem absoluten Höhepunkt meiner körperlichen Leistungsfähigkeit. Eigentlich beginnt der Verfall schon mit Mitte 20: Als erstes lässt die Sprintfähigkeit nach, sodann muss für den Erhalt von Maximalkraft und Kraftausdauer ein mit den Jahren immer größer werdendes Trainingspensum absolviert werden. Nur die Ausdauer lässt sich bis ins hohe Alter ohne Verluste optimieren.

Mein persönlicher Alterungsprozess wurde mir mit Ende 30 erstmals so richtig bewusst. Ich drehte 2005 einen Zuspieler für »Clever – die Show, die Wissen schafft« auf einem Seenotrettungskreuzer in Warnemünde. Am Vorabend des Drehs zupfte ich mir ein unattraktiv aus dem linken Nasenloch ragendes Nasenhaar aus, betrachtete es und erschrak: Es war schlohweiß. Wenig später wurde ich für einen Werbespot geschminkt (»Schwippschwapp«), und die Maskenbildnerin fragte, ob sie wegen meiner Haare »etwas machen« solle. Auf Nachfrage erfuhr ich, dass es Streuhaar gäbe, wahrscheinlich zusammengekehrte Abfälle aus Friseursalons, die farblich sortiert, kleingehäckselt und in Puderzuckerdosen gefüllt werden. In die schütteren Reste meines Deckhaars eingestreut, vermitteln sie dem Betrachter den Eindruck knackiger Fülle, und ich ließ mich auf das Spielchen gerne ein.

Seither stehen immer größere Puderzuckerdosen-Arsenale in den Schminkräumen der Fernsehanstalten bereit, wenn ich aufkreuze. Klar, ich könnte mir ein Stück Rückenbehaarung auf den Hinterkopf transplantieren lassen, einige Soden würden reichen. Aber was ist, wenn der Vergreisungsprozess auf meinem Döz unvermindert weitergeht, und nur die Rückenhaare bleiben kräftig, dicht und dunkel, wie eine fabrikneue Schuhbürste?

Nein, ich habe beschlossen, auf Haartransplantationen ebenso zu verzichten wie auf Färbemaßnahmen, Fettabsaugungen oder Augen-OPs (zumal letztere mich meine Fernsehkarriere kosten könnten; ohne Brille erkennt mich niemand, nicht einmal ich selbst).

Schönes Haar ist dir gegeben, lass es leben.

Eine einzige Schönheitsoperation erscheint mir reizvoll, nämlich das Ablegen meiner Ohren. Ich stelle mir vor, wie ich nach dem Einsatz eines Spreizkeils (Material findet sich bei mir hinten, oberhalb der Hüften) ein bisserl aussehe wie Prinz Charles.

Am roten Teppich würden mich die Boulevardreporter auf meine neuen Segelohren ansprechen, und ich würde dezent zwinkernd behaupten, dass bei mir alles Natur sei – fast alles. Eines Tages, wenn ich sehr, sehr viel Zeit habe, und Werner Mang auch, könnte es so weit sein.

Bis dahin gilt: Ich verwittere naturbelassen, und alle dürfen mir dabei zuschauen.

Die Alternative zum Altern ist, dass man früh stirbt – aber dafür ist es in meinem Falle auch schon zu spät.

Ja, will ich denn überhaupt nie aufhören? Ade sagen und in Rente gehen?

Rente ist für mich ein eher ferner Gedanke. Einmal im Jahr bekomme auch ich einen Brief der Rentenversicherung, aus dem hervorgeht, was ich, wenn’s so weiterginge, als Rentner finanziell zu erwarten hätte. Klar: Vielleicht bin ich eines Tages so schwach, dass ich nicht mehr arbeitsfähig bin, mich auf der Bühne im Text verheddere oder nicht mehr erkenne, an welcher Kamera das Rotlicht brennt. Vielleicht muss ich eines Tages sogar ins Altersheim? Für diesen Fall gilt es vorzusorgen. Allabendlich möchte ich im Kaminzimmer knatternde, glitzernde Anekdoten erzählen können, um meinen Mitbewohnern zu imponieren – und dafür gilt es bereits jetzt, das Material zusammenzutragen.

»Habe ich euch schon erzählt, wie ich in einem Jahr unfassbare 52 Marathonläufe geschafft habe? Nein? Doch? Egal, dann erzähle ich’s einfach nochmal.«

Ist das nicht eine lohnende Vision?

Ein anderer Leser meines Facebook-Postings hebt den Zeigefinger und wirft mir vor, mit meinem ungesunden Tun wahrscheinlich Krankenhauskapazitäten zu binden, mich also in der Pandemie asozial zu verhalten – ein Kommentar, der mich eher baff zurücklässt.

Die Entscheidung ist eh bereits gefallen. Nur wer wagt, gewinnt. Aber geht es mir überhaupt ums »Gewinnen«? Gewinnen gegen wen?

Der einzige Wettbewerb, der mich interessiert, ist das Ringen mit mir selbst. Schaffe ich es, die mir selbst gestellte Aufgabe zu erfüllen? Nutze ich ehrliche Mittel, oder flüchte ich mich in List und Selbstbetrug? Was muss ich tun, um mich am Aufgeben zu hindern? Reagiere ich auf Selbstlob, Geschenke, ist es schlauer, öffentliche Bestätigung zu suchen?

Wohlan, wir werden sehen.

Trimm-Trab gegen Haarausfall

Es ist noch vor vier Uhr, als ich mich aus dem Familienbett stehle. Friedlich schnurcheln meine Lieben weiter, bemerken mein Fortgehen nicht. Während der Kaffee zieht, fülle ich eine verdächtig preisgünstig im Internet erworbene Trinkblase mit Leitungswasser, stecke diese in einen alten Laufrucksack und packe mir außerdem als Proviant eine bibogelbe Banane ein. Ganz bewusst verlasse ich mich ansonsten auf jene Ausrüstung, mit der ich mich durch den Spätherbst bis zum heutigen 183. Streak-Tag gelaufen habe: eine ganz normale, dunkle Cord-Hose, nichts Sportspezifisches, ein Ski-Unterhemd, darüber eine Fahrrad-Regenjacke und an den Füßen über farbenfrohen Baumwollsocken meine bewährten Laufschuhe aus dem Hause Asics. Einstweilen keine Experimente. Ich will kein großes Ding aus meiner Generalprobe machen – wenn diese misslingt, und es liegt am Material, kann ich ja immer noch einkaufen gehen. Überhaupt glaube ich, dass es am schlauesten ist, den Ball flach zu halten, ja nicht zu viele Emotionen in den beabsichtigten langen Lauf zu legen. Denn eine Extraportion Adrenalin, die einen beim großen Jahreshöhepunkt, etwa im Endlauf der Olympischen Spiele, über sich hinauswachsen lassen kann, ist einerseits allwöchentlich sowieso kaum abrufbar, verführt andererseits jedoch zu übertriebenem Tempo, und »Hetzen und Wetzen werden dich verletzen«, wie meine innere Stimme reimt, während ich am Kaffee nippe. Auch für das dem Überpacen innewohnende immunologische Risiko finde ich trotz der frühen Stunde eine griffige Formel: »Hast ist der Vater von Hust.« Dichterisch bin ich schon mal recht gut in Form – mal sehen, wie’s um meine Beine steht.

Ich leere meine Kaffeetasse, verzichte ansonsten auf Frühstück, und öffne die Haustür. Es ist knapp unter null, der Himmel ist bedeckt. Fast laufe ich los, dann fällt mir ein, dass in Bayern neuerdings eine nächtliche Ausgangssperre bis fünf Uhr morgens gilt. Mit Blick auf die Uhr bleibe ich noch ein paar Minuten im Türrahmen stehen, ehe ich mich um zwei vor fünf in Bewegung setze. Sollte mich jetzt noch ein Polizist zur Rede stellen und mir 500 Euro Geldbuße abknöpfen wollen, könnte ich mich allein schon durch sehr langsames Antworten in die Legalität hinübermogeln.

Der Frühstücksverzicht ist übrigens in den letzten Monaten so eingeübt – Laufen am Morgen auf nüchternen Magen gilt als probate Methode, den Fettstoffwechsel in Schwung zu bringen, also einen größeren Anteil der benötigten Energien aus den – wenigstens bei mir – reichlich vorhandenen Speicherfetten bereitzustellen. Ein weiterer Aspekt ist, dass mich ein übervoller Magen prall und lethargisch macht – lieber laufe ich mit leerem Tank los und fülle später auf.

Unsere Wohnung befindet sich im Münchener Stadtteil Neuhausen-Nymphenburg; ich trabe hinüber zum Nymphenburger Kanal, erfreue mich am königlichen Schloss und wende mich dann ostwärts, zum Hubertusbrunnen und weiter zum Olympiapark.

Die Ausgangssperre zeigt Wirkung, keine Passanten außer mir und nur wenige Autos wagen sich durch die kalte Nacht. Normalerweise erklimme ich immer, wenn ich vorbeitrabe, den Olympiaberg, um mich am grandiosen Panoramablick auf das kühne Zeltdach des Olympiastadions und den Rest der großen Stadt zu erfreuen, aber vorsichtshalber spare ich mir die Höhenmeter. Bis auf Weiteres gilt: Einmal pro Woche Marathon wird happig genug. Ich werde mir die Aufgabe nicht zusätzlich erschweren, indem ich auf dem Weg Gipfelkreuze »mitnehme« – und sei es auch nur das Gipfelkreuz eines innerstädtischen Schuttberges.

Ein Kontrollblick aufs Handy: Die Strava-Dokumentation ist eingeschaltet. Vorsichtshalber lasse ich auch meine Laufuhr am Handgelenk mitlaufen, ein preisgünstiges Vorführmodell eines chinesischen Staatsbetriebes. Sollte mein Handy unterwegs ausfallen, kann ich immer noch auf die Daten meiner Uhr zurückgreifen. Zwei Beine, zwei Messsysteme – die wichtigsten Instrumente sind bei mir doppelt ausgelegt, wie in der Luftfahrt. Ich komme mir nachgerade professionell vor.

Mit ruhigem Puls, gleichmäßigem Tempo und innerem Frohlocken durchmesse ich den Stadtteil Milbertshofen. Von unzähligen Stadtwander-, Lauf- und Radtouren ist mir das Münchener Wege- und Trampelpfadenetz gut bekannt, und während des Laufens puzzle ich im Kopf eine schlaue Streckenführung zusammen. »Schlau« heißt dabei, möglichst wenig Autokontakt, möglichst kein Kilometer zu viel. Optimal wäre es, wenn ich genau bei Kilometer 42,2 wieder vor der Haustür stehe. Nachdem der Kurs einigermaßen ausgetüftelt ist, befasse ich mich locker trabend mit meiner familiären Situation.

Theo ist zweieinhalb Jahre, Mathilda 13 Monate alt. Was meine Lauferei auf keinen Fall bewirken darf, ist, dass die beiden oder ihre Mutter Teresa sich vernachlässigt fühlen, weil ihr Papa stundenlang seinen Marotten frönt. Am besten, ich laufe komplett nachts, während die Brut schläft – aber da ist ja Ministerpräsident Söder mit seinen Ausgangsbeschränkungen dagegen. Wenn ich seinen Jüngern erkläre, dass ich nachts sporteln will, zeigen die mir einen Vogel. Sei’s drum; ich muss das Ding mit mir selber ausbaldowern.

Meine Gattin Teresa weiß, dass ich ohne Bewegung durchhänge. Ich stiere dann mit vinylschwarzen Augenringen aus dem Fenster, gehe gebückt und seufze markant.

Teresa bevorzugt die sauerstoffgesättigte Version meiner selbst und hat mit mir vor einigen Jahren sogar schon gemeinsam die Alpen überquert: Sie per Mountainbike, ich aufm Tretroller nebenher, so dass wir à peu près in einem Tempo unterwegs waren.

Klingt jetzt etwas despektierlich, ist aber gar nicht so gemeint; ich kenne viele Paare, die nicht gemeinsam Sport treiben, weil ein Partner sich über- oder unterfordert fühlt, und das muss keineswegs immer die Frau sein! Diesen Paaren sei hiermit die Kombi Fahrrad/Tretroller ausdrücklich ans Herz gelegt. Wir jedenfalls sind von Garmisch nach Riva del Garda gerollt, in fünf Tagen auf der Via Claudia und mit dem Gampenpass hinter Meran als höchstem Punkt – das alles in blühender Eintracht. Am ersten Tag war ich noch skeptisch, ob die Idee wirklich gut sei, und zwar, als meine jegliches Training für überflüssig haltende Gattin die von mir bereit gestellten Fahrradhandschuhe verkehrt herum anzog, mit der Handinnenseite nach außen – aber das war auch schon der einzige irritierende Moment. Und als wir am Gardasee ankamen, war unser gemeinsames Schicksal endgültig besiegelt.

Die Kirche von Graun im Vinschgau hat schon bessere Tage gesehen.

Teresa ist nicht neu, dass ich gerne über mein früheres Leben als Shetland-Pony berichte: Schließe ich die Augen, sehe ich mich unter dicken blonden Zotten hinaus aufs Nordmeer linsen; ich stehe auf einer begrasten Klippe, hoch über der tosenden Brandung, kaue Seggen und Portulak, und in der Ferne sehe ich einen Schweinswal aus den Fluten springen. Ich wende den Kopf, und neben mir steht eine kurzbeinige Stute, die mir zärtlich zuwiehert – das ist Teresa, ganz klar.

Und weil sie mich kennt, weiß sie, dass ich raus muss, an die frische Luft, zum Traben, möglichst täglich. Ihre Zustimmung für mein Vorhaben kam jedenfalls prompt, und dafür schwelge ich in Dankbarkeit, während ich auf den Parkwegen nördlich des Münchener Rangierbahnhofes im Kegel meiner Stirnlampe auslüfte, westwärts bis zur Würm, der kleinen, introvertierten Schwester der Isar, und weiter zur Stadtgrenze, wo in einem überdimensionierten Schuhkarton die Paulaner-Brauerei ihre Kaltgetränke herstellt (oder lagert – das Gebäude ist fensterlos und verrät nicht seinen Zweck).

Bald nähere ich mich dem dreißigsten Kilometer, und mich überkommt ein erster Appetit. Blass verstaue ich meine Stirnlampe im Rucksack, klaube dafür meine Banane heraus und schäle sie zittrig. Zum Essen lege ich eine Gehpause ein, die ich mutwillig verlängere, als ich mir als Frühstücksergänzung noch einen kältebedingt kaum kaubaren Kohlehydratriegel einverleibe. Dann tippbitte ich die »Komoot«-App, mir einen Wanderweg nach Hause zu empfehlen, und ohne weitere besondere Vorkommnisse treffe ich wieder bei meinen Lieben ein, nach 4:47 Stunden, um viertel vor zehn am Vormittag.

»Wie war’s?«, fragt meine Frau. Ich nicke tonlos, vielleicht gar zu undramatisch, weil sie mir direkt danach einen Müllbeutel in die Hand drückt, den es nach draußen zu befördern gilt. Mache ich gerne – zwar bin ich rechtschaffen müde, aber keineswegs am Ende meiner Kräfte. Ich habe keine Schmerzen, jedenfalls keine speziellen jenseits des generellen Ganzkörper-Auas, der jedem Marathon »aus der kalten Hose« nahezu zwangsläufig folgt.

Marathon, so stelle ich mit einer gehörigen Portion Leichtsinn fest, »habe ich drauf«, und ich könnte schwören, dass meine Laufzeiten mit dem mir gleichsam automatisch bevorstehenden Trainingsprogramm ein völlig neues Niveau erklimmen werden. Nach einigen Monaten werde ich über einen Astralkörper verfügen, der mich Woche für Woche ohne erkennbare Anstrengung in runden vier Stunden, ach was sage ich, in weit unter vier Stunden ins Ziel fliegen lässt. Ein Flug schnurstracks in die vollkommene Athletik des Ultra-Runners, in dessen Kopf das olympische Feuer lodert und bei dem die Ringe des Barons Coubertin jene aus Bauchspeck ersetzt haben werden, ein Flug in die ewige Jugend.

Wer weiß, vielleicht wächst mir unterm Lorbeerkranz des Triumphators sogar wieder volles, grauschleierfreies Haar?

Auch freue ich mich auf die Segen spendenden Endorphine, die, so sagt man, zum »Runner’s High« führen. Bisher habe ich mit diesem Rausch höchstens in Ansätzen Bekanntschaft gemacht (oder war’s Einbildung?). Als geübter Endorphin-Junkie jedenfalls werde ich aus dem Dauergrinsen gar nicht mehr herausfinden. Oder?

Milchsäure-Allergie statt Laktose-Intoleranz

Am letzten Tag des Jahres überreicht mir der Paketbote einen ersten Ausrüstungsgegenstand, den ich mir extra für mein großes Vorhaben bestellt habe: Thrombosestrümpfe für Läufer. Erfolgreich konnte mir die Werbung suggerieren, dass derlei Strickware Ermüdung und Verletzungen vorbeuge, namentlich den von mir gefürchteten »Shin Splints«, Reizungen an der vorm Schienbein verlaufenden Sehne »Tibialis Anterior«.

Als ich die Hochleistungsstrümpfe am frühen Neujahrsmorgen anlegen möchte, erlebe ich mein blaues Wunder, und zwar nicht nur, weil das Wadenkleid in eben dieser Farbe gestaltet ist. Nein, es gelingt mir nur unter größten Mühen, die Dinger über die Füße zu stülpen – gar zu eng ist das Gewirk. Und zudem hindert mich mein Bäuchlein an der notwendigen Rumpfbeuge. Minute um Minute vergeht, mein Kaffee wird kalt, meine Fingerkraft erlahmt und mein Puls erreicht bereits ohne Lauferei trainingstypische Werte.

Wer partout nicht laufen will oder kann, so zische ich wütend, sollte sich einfach die Haxenhüllen an- und ausziehen, für Herz und Kreislauf ist das eventuell sogar intensiver, und das Stretching ist bereits integriert. Schließlich gelingt es mir doch noch, die Socken bis zu den Knien hinaufzuzwingen – und ich mache mich auf dieselben zur eigentlichen Premiere, Marathon Nummer eins von 52.

Dehnübungen für Fortgeschrittene

An diesem Neujahrsmorgen starte ich erst relativ spät, um 6:42 Uhr. Zum einen wegen des erwähnten Strümpfe-Workouts, zum anderen, weil ich am Silvesterabend mit meinen Lieben angestoßen habe.

Beflügelt von der gelungenen Generalprobe und nach knapp auskuriertem Muskelkater lege ich sogar noch einen Zahn zu und stürme bei knackigem Frost nach 4:41 Stunden ins Ziel.

Um diese Zahlen richtig einordnen zu können: Meine beste Zeit in einem Wettbewerb lief ich beim Bienwald-Marathon Kandel: 3:21 Stunden. Aber das ist lange her, müsste etwa 2003 gewesen sein. Ich wog ein paar Pfund weniger und trainierte Intervalle, d. h.: Schnelle Abschnitte wechseln sich mit langsamen Trabpausen ab. Ich kann mich sogar daran erinnern, dass ich damals, Anfang des Jahrtausends, auf 400-Meter-Bahnen geübt habe, um Schnelligkeit und Tempohärte zu verbessern – ein Gedanke, der mir nun schon lange nicht mehr gekommen ist.

Im Gegenteil, mit den Jahren hat sich bei mir eine gewisse Abneigung gegen schnelle Läufe ausgeprägt. Andere werden im Alter laktoseintolerant, ich hingegen habe eine Milchsäure-Allergie entwickelt – eine Allergie also gegen jenen Stoff, der sich im Blut nachweisen lässt, wenn man länger als nur ein paar Sekunden ordentlich auf die Tube drückt.

Eigentlich weiß ich, dass es kaum etwas Irrelevanteres gibt als Laufzeiten. Der eine läuft ohne Training blitzschnell, der andere muss täglich Kilometer bolzen, und der dritte hat überhaupt keine Beine.

Ich arbeitete mal gemeinsam mit einem Cutter aus Kenia, der aus einer berühmten Läufer-Gegend kommt. Er erzählte, unlängst habe es bei ihm zu Hause eine Initiative gegeben, den Kindern der abgelegenen Dörfer mithilfe eines Schulbusses den Schulweg zu erleichtern, aber die Regierung sei beherzt dazwischen gegrätscht: Nichts da, wer holt denn dann die Medaillen?

Nun komme ich weder aus Kenia, noch verfüge ich über medaillenträchtige Talente auf irgendeinem Gebiet. Namentlich mein Tempo war in jeder Lebensphase kaum der Rede wert, was allerdings sowieso völlig egal ist, denn auch dem allerschnellsten Homo Sapiens sei gesagt: Der Gepard ist schneller, ach, was sage ich, jeder Hase, jedes Känguru, ja, die meisten Esel und Nilpferde laufen euch mühelos übern Haufen, von D-Zug und Mondrakete mal ganz abgesehen.

Ja, eigentlich sind Laufzeiten irrelevant, und doch: Jahre der Erziehung hin zur Wettbewerbstauglichkeit, ein Dutzend Bundesjugendspiele und prägende Jahre in Oldenburger Sportvereinen haben in mir einen heimlichen Hunger wenigstens nach persönlichen Bestleistungen hinterlassen, wenn es denn zum Sieg über andere nur allzu selten reichte.

Darum ist dieser Neujahrstag mit seiner deutlichen Verbesserung ein guter: Es kann, es wird nicht lange dauern, bis ich an meine besten Zeiten anschließe und auf Rekordkurs komme – daran glaube ich fest.

Ohrhörer? Ich bevorzuge Nasenhaarschneider

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