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Wandern ist nicht nur Freizeitvergnügen, sondern blanke Notwendigkeit – in seiner Unverzichtbarkeit höchstens mit Essen, Schlafen und Atmen vergleichbar. In Wigald Bonings persönlicher Weltsicht ist der Mensch in erster Linie ein gehendes Wesen, Ohrensessel genießt er am liebsten nach ausführlichem Langgang. In Der Fußgänger geht er alle Varianten durch: Vom ziellosen Flanieren und Arbeitswegen mit Aktentasche über burschikose Torkeleien, Stechschritt und Gehumpel bis zum von Ehrgeiz durchwalkten Grenzgang durch Fels und Firn. In seinem Buch stellt er den Menschen, der mitunter den Boden unter den Füßen verloren zu haben scheint, wieder auf dieselben und begeht gemeinsam mit seinen Lesern einen reizvollen Trampelpfad ins Glück.
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© eBook: 2022 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München
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Projektleitung: Silke Tauscher
Lektorat und Korrektorat: Christiane Schwabbaur
Umschlaggestaltung: ki36, Sabine Skrobek, Petra Schmidt
eBook-Herstellung: Maria Prochaska
ISBN 978-3-8338-8211-1
1. Auflage 2022
Bildnachweis
Coverabbildung & Foto Umschlagklappe: Jörg Koch
Fotos: privat, Bernhard Hoëcker, Matthias Boch
Syndication: www.seasons.agency
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Irgendein Einzeller in der Ursuppe hatte genug davon, hierhin und dorthin getragen zu werden, und ein paar tausend Generationen später wurde es einem Teil der ehemaligen Ursuppeneinlage zu langweilig, und diese Neugierigen robbten sich an Land. Hossa, was gab es da nicht alles zu sehen! Aus Robben wurde Krabbeln, aus Tentakeln wurden Haxen, die Amphibien, ich mach’s mal kurz, zum Urmenschen. Inzwischen ist der sogenannte ›aufrechte Gang‹ Mainstream geworden. Die meisten Menschen erheben sich wenigstens ab und an vom Sofa und gehen irgendwohin. Ich bin dafür, das Gehen wieder als das zu begreifen, was es ist: Zum einen eine pfiffige Idee, um ohne fremde Hilfe vom Bett zum Kühlschrank, in fremde Länder oder auf hohe Berge zu gelangen, und zum anderen ein Akt der Liebe.«
Für Mama
Über allen Gipfeln sind Schuh’.Unter allen Zipfelmützen ambitionierte Alpinisten, die eine Outdoor-App benützen.Ihr Leben ist ein schweißgefüllter Schlauch.Warte nur! Bald wanderst Du auch.
sehr frei nachJohann Wolfgang von Goethe
Am Anfang war das Fort-, das Weg-, das Woandershinwollen.
Irgendein Einzeller in der Ursuppe hatte genug davon, mal hierhin, mal dorthin getragen zu werden, und irgendeine genetische Mutation mag ihm ein Flimmerhärchen geschenkt haben, welches sich nach Art einer Geißel als Ruder verwenden ließ.
Der unbekannte Einzeller erfreute sich erheblicher Vorteile. Er manövrierte mal hierhin, mal dorthin, schaffte es regelmäßig an die besten Einzeller-Imbisse, und so ist es kein Wunder, dass er beim Einzeller-Tindern weitaus erfolgreicher abschnitt als seine Kollegen ohne Ruder.
Einige tausend Generationen später waren aus den Einzellern Zellverbände geworden, die sich mit allerlei Flossen, Beinchen und Püsterichen über den Meeresgrund schoben. Manche machten bald darauf sogar das Seepferdchenabzeichen und schwammen, ganz ohne Schwimmflügel, quer durch den weiten Ozean. Und wieder ein paar tausend Generationen später wurde es einem Teil der ehemaligen Ursuppeneinlage zu langweilig, und diese Neugierigen robbten an Land.
Hossa, was gab es da nicht alles zu sehen: Flechten und Farne, Bims und Bernstein, Schuppen- und Siegelbäume, und spontan beschlossen sie, an Land zu bleiben. Aus Robben wurde Krabbeln, aus Tentakeln wurden Haxen, die Amphibien – ich mach’s mal kurz – zum Urmenschen.
Der Urmensch war im Grunde ein zufriedener Gesell. Den Großteil des Tages verbrachte er auf allen vieren, nur manchmal stellte er sich auf die Hinterbeine, etwa, wenn er ganz besonders weit gucken wollte. Einer von ihnen war schwer verliebt, wartete tagtäglich stundenlang auf seine Angebetete, eine begeisterte Heidelbeersammlerin.
Immer, wenn sie abends am Horizont der Savanne auftauchte, stürzte er ihr entgegen, verlor sie aber auf allen vieren im Unterholz aus den Augen, stellte sich wieder auf die Hinterbeine, entdeckte sie erneut, sprintete wieder los, verlor sie, und so fort. So ging es Tag für Tag, bis dem Verliebten ein Licht aufging. Wenn er aufrecht lief, blieb die Holde länger im Blick.
Jetzt sind wir wieder ein Weilchen weiter, und der sogenannte »aufrechte Gang« ist Mainstream geworden. Die meisten Menschen erheben sich wenigstens ab und an vom Sofa und gehen irgendwohin. Im Normalfall wird das Gehen nicht sonderlich reflektiert, und nur wenige verweigern sich komplett und verbringen ihr gesamtes Leben krabbelnd. Ihnen sei später noch ein spezielles Kapitelchen gewidmet.
Auf diesem Pfad im deutsch-tschechischen Grenzgebiet könnteer sich erstmals abgespielt haben: der aufrechte Gang
Ich bin dafür, das Gehen wieder als das zu begreifen, was es ist: Zum einen eine pfiffige Idee, um ohne fremde Hilfe vom Bett zum Kühlschrank, in fremde Länder oder auf hohe Berge zu gelangen und zum anderen ein Akt der Liebe. Es muss keine Geliebte, kein Geliebter sein, dem wir zustreben, es reicht auch ein alter, üppiger Kastanienbaum, eine gemütliche Wirtschaft oder der Sonnenuntergang. Und manchmal reicht sogar das Gehen selbst als Objekt unserer Liebe, wir gehen »um des Gehens willen«, einfach nur so, »um den Pudding«, wie man in meiner Heimatstadt zu sagen pflegte, wenn man ein Karree im Viertel umrundete.
Vor einigen Jahren titelte der Stern: »Sitzen ist das neue Rauchen!« Gemeint war, dass das Sitzen vielfältige negative Auswirkungen auf die Gesundheit hat. Wer viel sitzt, wird dick, rammdösig und hässlich und riskiert eine bedeutende Lebenszeitverkürzung bei gleichzeitigem Qualitätsverlust – so jedenfalls erklärte es der Stern-Text, wenn ich mich auch nur einigermaßen ausreichend erinnere. Umso tragischer, wenn wir uns die Realität vor Augen führen. Wohin man auch blickt, wird gesessen. Und zwar immer mehr. Beispiel Fußballstadion: Früher stand der gemeine Fan, hüpfte sich gemeinsam warm, heute sind Stehplätze »démodé«, wenn nicht sogar von der FIFA verboten. Anderes Beispiel: Früher ging (!) man essen, gar zum Stehimbiss, heute lässt man liefern und verzehrt die Pizza vorm Fernseher. Früher fuhren Kinder Tretroller durch die Gegend, stehend, und wenn sie saßen, dann auf einem Steckenpferd, also im Scheinsattel. Und heute? Das Gör unserer Zeit sitzt vor der Spielkonsole. Alle wichtigen Entscheidungen werden in Sitzungen getroffen, und weil die Sitzenden sich der Zweifelhaftigkeit ihrer Körperhaltung bewusst sind, haben sie einen Tarnnamen ausgeheckt, nämlich das »Meeting«.
»War da wirklich alles, was auf Sitzungen entschiedenwurde, das Gelbe vom Ei? Die alten Römer habenimmerhin noch aufs Liegen gesetzt, beschnackten ihreAngelegenheiten in der Horizontalen.«
Der Großteil aller Entscheidungen, die die Menschheitsgeschichte bis heute prägen, wurde im Sitzen getroffen, und wenn wir uns den Weltenlauf so anschauen, kommt man zurecht ins Grübeln. War da wirklich alles, was auf Sitzungen entschieden wurde, das Gelbe vom Ei? Die alten Römer haben immerhin noch aufs Liegen gesetzt, beschnackten ihre Angelegenheiten in der Horizontalen. Noch gesünder machten es die Schüler des Aristoteles, die Peripatetiker. Das schöne P-Wort kommt von »Wandelhalle«, die Anhänger der aristotelischen Philosophie diskutierten nämlich am liebsten, während sie gingen. Und da möchte ich (mich) sofort einhaken. Frage: Wäre es um die Menschheit besser bestellt, wenn sie weniger säße, dafür mehr ginge?
Die abgeknickte Haltung des Sitzenden hemmt den freien Fluss der Körpersäfte, blockiert ausgerechnet die Körpermitte. Magen und Gedärm werden im Scharnier gequetscht, die drangvolle Enge der malträtierten Organe strahlt nach oben und unten aus, was sich unterseits in eingeschlafenen Füßen bemerkbar macht, oberseits in einer Trägheit des Denkens. Der eingerastete Sitzmensch setzt unwillkürlich auf eingerastete Denkmuster – es muss ja alles zusammenpassen, und wer noch nicht ausreichend abgestumpft ist, sucht der Enge zu entfliehen, etwa indem er zu kippeln beginnt, oder sich hinweg träumt, aus dem Fenster, an den üppigen Busen der Natur.Imaginiere ich Kippel-Klappern, kommt mir sogleich die Schule in den Sinn, die doch bei uns in erster Linie eine Schule des Sitzens ist.
Zu Beginn der Coronakrise hegte ich gewisse Hoffnungen. Jetzt, so sagte ich mir, werden die Leute endlich aufstehen und rausgehen, den Unterricht nach aristotelischem Vorbild im Freien stattfinden lassen, zumal dies Virologe Christian Drosten bereits im Frühjahr 2020 empfahl. Das Konzept »Waldkindergarten« hat sich bewährt – was sprach dagegen, es auf alle anderen Schulformen zu übertragen? In seinem NDR-Podcast erwähnte Drosten damals gewisse Versicherungsfragen, die zunächst geklärt werden müssten, seither passierte wenig bis nichts, der Run an die Frischluft blieb aus. Mein Verdacht: Die Kräfte des Beharrens waren wohl zu groß.
Ein weiterer Verdacht, den ich hege, betrifft das größere Ganze. Wir Menschen wollen, dürfen, müssen wandern. Die Sesshaftigkeit mit ihren Schaukelstühlen, ihren Massagesesseln und Sofagarnituren hat dem Frieden nicht erkennbar gedient, zum einen, weil erst der Grunderwerb gewisse Konflikte entstehen lässt, zum anderen, weil der stillgelegte Mensch nicht mehr wandernd ausgelastet ist, konkret und im übertragenen Sinne zu kippeln beginnt und schließlich seine Mitmenschen anfaucht, beziehungsweise ihnen eins auf die Omme gibt.
Merke: Wer sich den ganzen lieben langen Tag müde gewandert hat, hat abends keine Energie mehr für Handgreiflichkeiten, sondern will nur noch eins: liegen und die Augen zumachen.
In der Theorie. Das Gehen ist für manche bloße Notwendigkeit, etwa, weil das Auto nicht direkt vor der Haustür geparkt ist, und für andere brennende, beißende Leidenschaft.
»Eine bodenständige Philosophie des Wanderns«, verspricht der Titel dieses Buches. Nun ja; bodenständig ist jeder Geher qua Definition. Wenn er nicht mehr mit wenigstens einem Bein den Boden berührt, läuft oder hüpft er. Andererseits klingt bodenständig vielleicht ein bisserl sehr erdverwachsen. Ein Geher, der es drauf anlegt, kann auch in Traumländern spazieren und in Wolkenkuckucksheimen rasten, oder vermeintlich unbequeme Schuhe einer Praxisprüfung unterziehen. Auch dem experimentellen Gehen und seinen Freu(n)den ist dieses Bändchen gewidmet.
Was das Hand-, pardon, das Fußwerk des Wanderers mit Philosophie zu tun hat? Das weiß ich zur Stunde selbst noch nicht. Ich werde das Thema in voller Weglänge abschreiten, auch mithilfe alter Tagebuchaufzeichnungen, sonstiger Notizen und Erinnerungen. Natürlich lässt sich generell jedes Thema philosophisch betrachten: der Umgang mit Geld, mit der Moral, mit Politik, und eben auch der Umgang mit dem Gang selbst – keine Nabelschau, sondern eine Fußbesichtigung.
»Was das Hand-, pardon, das Fußwerk desWanderers mit Philosophie zu tun hat?Das weiß ich zur Stunde selbst noch nicht.«
Wer die letzten Jahrzehnte ausschließlich hinterm Steuer unterwegs war, muss darauf natürlich auch in Zukunft nicht verzichten: Man kann sich am Schrottplatz für wenig Geld ein ausrangiertes Lenkrad besorgen und dieses beim Spaziergang vor sich hertragen. Als Praktiker möchte ich aber vor dem Gewicht eines modernen Lenkrades warnen, zumal, wenn es noch mit Teilen der Lenksäule verbunden ist, wie ein Neugeborenes mit Nabelschnur und Plazenta. Gerade der Best Ager fährt, äh, geht besser mit einer Steuerrad-Nachbildung aus Pappe, Styropor oder Balsaholz. Wer auf Nummer sicher gehen, äh, fahren will, ergänzt sein Leichtsteuerrad um einen Schaltknüppel, der jedoch nicht in einer Getriebeattrappe endet, sondern unterseits aus dieser herausragt, um gleichsam als Handstock für einen sicheren Gang zu sorgen. Ein an Kopf oder Hut befestigter Rückspiegel ermöglicht Kontrolle über das, was hinter dem Neu- bzw. Spätgeher vor sich geht.
Unser Auto ist eine feste Burg! Manch einer möchte das Gefühl der heimeligen vier Fahrzeugwände nicht missen. In diesem Fall mag eine tragbare Karosserie hilfreich sein, die, nach Art eines Bauchladens getragen, den Fußgänger umgibt und allseitig abschirmt. Eine Windschutzscheibe ist in Anbetracht der zu erwartenden Ganggeschwindigkeiten zwar nicht unerlässlich, aber auch beim Gehen gilt: Wer ko’, der ko’.
Empfehlenswert gerade für den (Neu-)Einstieg ist begleitende Lektüre, um die Praxis theoretisch zu fundamentieren. Spontan fallen mir Gottfried Seumes »Spaziergang nach Syrakus« ein, »Wanderer, kommst du nach Spa …« von Heinrich Böll, der fantastische »Spaziergang« von Robert Walser (einer meiner ewigen Lieblingsautoren, nicht nur, wenn es ums Gehen geht), außerdem alle Schriften des Komponisten, Fotografen und eben Wanderers Hans Jürgen von der Wense, z. B. »Über das Stehen«. Fehlen sollten auch nicht die »Träumereien eines einsamen Spaziergängers« von Jean-Jacques Rousseau, dessen Diktum »Zurück zur Natur« auch als Typenbezeichnung oder Nummernschildbeschriftung der oben beschriebenen Umhängekarosserie taugte, mit der wir uns nun auf ins Gebirge machen:
Mit offenem Mund habe ich »Sturz ins Leere« gelesen, die dramatische Geschichte zweier Freunde, die, per Seil aneinander befestigt, in den Anden bergsteigen. Einer stürzt ab, der andere steht vor der Wahl, ebenfalls Koppheister zu gehen – oder das Seil zu kappen. Die Krone des Alpin-Journalismus gebührt sicher Jon Krakauers »In eisigen Höhen«, ursprünglich geplant als Reportage über den merkwürdigen Tourismus am Mount Everest. Just als Krakauer selbst am Dach der Welt recherchiert, kommt es zur Katastrophe, in deren Verlauf 1996 acht Menschen im Schneesturm sterben. Auch andere Überlebende haben über dieses Ereignis Bücher geschrieben, unter denen ich »Allein auf den Everest« von Göran Kropp hervorheben möchte. Kropp nämlich fuhr mit dem Rad von Stockholm an den Fuß des welthöchsten Berges, um diesen allein und ohne Sauerstoff zu erklimmen. Als er nach 11 000 strapaziösen Kilometern ankommt und den Gipfelsturm fast vollendet hat, beginnt die Katastrophe. Kropp gibt sein eigenes Vorhaben auf, um bei der Suche nach Überlebenden zu helfen. Der Autor kam wohlbehalten wieder in Schweden an, starb aber mit 36 Jahren bei einem Kletterunfall in den USA.
Reinhold Messners Büchern verdanke ich auch einen Rucksack voller Inspirationen, etwa die Idee des »Grenzganges«, womit er ein Vorhaben meint, dessen Ausgang höchst ungewiss ist. Nur bei einem »Grenzgang« kann man wirklich vom Abenteuer sprechen – alles andere ist kalter Kaffee, aufgebohrter Alltag.
Ein buchstäblicher Grenzgänger-Roman, den ich persönlich immer schon mal lesen wollte, ist »So weit die Füße tragen« von Josef Martin Bauer, aus dem Jahr 1955. Geschildert wird die abenteuerliche Flucht eines deutschen Kriegsgefangenen aus einem ostsibirischen Kriegsgefangenenlager in die Heimat – in der sechsteiligen Fernsehfilmfassung von 1959 einer der größten Straßenfeger der deutschen Fernsehgeschichte. Gelesen wiederum habe ich als Halbstarker »Schneesturm« von 1950, Geschichte einer Flucht aus den USA über Japan nach Deutschland, verfasst vom Doyen der reisefiebrigen Räuberpistole, A.E. Johann.
Hängen geblieben ist vor allem das Wort »Hobo«: Hobos sind Landstreicher in den amerikanischen Nachkriegsjahren, die sich von Brücken hinab auf Güterzüge fallen lassen und so weite Strecken zurücklegen – eine Reisemethode, die jedoch höchstens mittelbar mit dem Thema dieses Buches zu tun hat, und zwar dann, wenn nach langer Wanderung die Beine schwer sind, aber keine Bushaltestelle in der Nähe ist, nur eine Bahnlinie mit darüber hinwegführender Brücke. Auf eigene Erfahrungen als Hobo kann ich nicht zurückgreifen, würde aber ganz pauschal davon abraten, auf einen ICE in voller Fahrt aufzuspringen. Besser, man belässt es beim klassischen S-Bahn-Surfen. Oder man wandert einfach weiter, trotz schwerer Beine.
Eines meiner liebsten theoretischen Werke über das Gehen heißt »Warum ist Landschaft schön?« von Lucius Burckhardt. Der Autor ist kein Geringerer als der Begründer der modernen Promenadologie (Englisch: Strollology), also der Spaziergangswissenschaft. Dass diese als akademische Disziplin existiert, erfuhr ich als Kandidat in der Prominentenausgabe der ZDF-Show »Quizchampion«. Die Frage lautete: »Was konnte man in den 80ern in Göttingen tatsächlich studieren?« Die beiden falschen Antwortmöglichkeiten habe ich vergessen, aber ich weiß, dass ich sogleich an ein Kultbuch meiner Jugend dachte, nämlich »Zen – die Kunst des Bogenschießens« und daraufhin meinte, mit einem Hang zur innovativen Kontemplation argumentieren zu können, der die 80er angeblich durchzog – jedenfalls in meiner Begründung.
Eine vielbeachtete Begründung dafür, warum wir Menschen manche Landschaften als »schön« empfinden, lieferte der wichtigste französische Landschaftsmaler des 17. Jahrhunderts, Claude Lorrain, dem es auf seinen Bildern um die »sichtbar gewordene Harmonie zwischen Mensch, Natur und Geschichte« ging und dessen Werke nicht nur Kollegen an der Staffelei, sondern bis heute auch so manchen Privatmann anregten, seinen Garten »idyllisch-arkadisch«, im Sinne Lorrains, umzugestalten.
In der »Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa« von Hansjörg Küster wird die eiszeitlich geprägte Landschaft mit ihren vielgestaltigen Hügeln, Gewässern, Wäldern und dem Hochgebirge im Hintergrund als besonders attraktiv für unsere steinzeitlichen Vorfahren beschrieben, da in ihr besonders viele unterschiedliche Nahrungsmittelquellen angezapft werden konnten. Kleingliedrige Vielfalt verhalf also zur ausgewogenen Ernährung.
Meine Arbeitshypothese, auf unzähligen Wegen ausbaldowert: Was den Hunger unserer Vorfahren stillte, stillt heute unseren Hunger nach Schönheit. So ähnlich verhält es sich auch mit den teuersten Bauplätzen, die bekanntlich oben am Hang liegen, mit weitem Blick auf die eben beschriebene postglaziale Landschaft. Das waren schon in der Steinzeit die begehrtesten Plätze, weil man von ihnen aus die durchziehenden Wildherden erspähen konnte. Mit Transit-Elchen argumentieren die Makler heute nur noch selten, die Preise für Top-Lagen werden trotzdem gezahlt.
Gibt es in Deutschland überhaupt noch Natur?
Ich denke hierbei nicht an das, was man meint, wenn man »raus« geht, gar an den ominösen Busen eben dieser, also in die geschniegelten Forste, in ummauerte Schlossparks gar oder auf die Uferwege der Kanäle. Natur: Das ist doch eigentlich jene Wildnis, in der der Mensch nichts zu melden hat, die er höchstens per Machete oder per Einbaum durchqueren kann. Streng genommen hat doch in der »echten« Natur auch der markierte Wanderweg keinen Platz, da er die Immaculata, das weiße, arkadische Idyll der Schöpfung, mit Ketchup, Senf- oder Bratensoße befleckt, wie wir Homo Sapiens es eben so machen, wenn uns danach ist.
Ein paar Au- und Urwälder fallen mir ein, theoretisch auch Moorreste und gewisse Ruderalfluren, aber ansonsten nur zwei Großräume, nämlich: Das Hochgebirge sowie das Wattenmeer. Nur hoch oben, in Fels und Firn, und auf Normalnull im Schlick endet der Erschließungswahn, und der Mensch ergibt sich höheren Gewalten.
Vielleicht sind darum Strandwanderungen so populär: Wir Menschen schreiten in der Brandung die Grenze unseres Reiches ab. Auf der einen Seite: Das ist unsers, da können wir nicht nur walten, wie es uns beliebt, sondern wir tun’s auch! Und auf der anderen Seite: Demütig fügen wir uns, fordern vielleicht einmal spielerisch die Natur heraus, aber sobald die Gischt unser Hosenbein erreicht, hudeln wir unter spitzen Schreien zurück auf den Strand, husch husch ins Körbchen.
Ein paar Worte zur Nomenklatur: Was ist eigentlich eine Wanderung? Hierüber lohnt es sich nachzudenken, schon allein, um durch die Grübelei die eine oder andere öde Etappe kurzweiliger zu gestalten.
Gehen wir doch mal die verschiedenen Wegarten durch, beginnend mit der kürzesten Distanz, dem Gang vom Schaukelstuhl rüber zum Fenster. Ich selbst habe gar keinen Schaukelstuhl, wohl aber besaß meine Oma Gerda einen; er stand in ihrer Lese- und Gästekammer, reichliche zwei Meter vom Fenster entfernt.
Stellen wir uns den Weg dorthin als Landschaft vor, so war das Zimmer von der Dachschräge geprägt, die Indoor-Hiker mit langen Körpern gezwungen hätte, an der linken Wand, mit ausreichend Kopffreiheit, entlangzugehen. Die überdachte, umwandete Landschaft (wie sagt man denn? Kammerschaft?) wurde ferner von einem Bücherregal geprägt, dessen Inhalt im Wesentlichen aus Titeln bestand, die Oma Gerda als Nutznießerin eines Leserings bezog. Wenn ich sie als Kind besuchte, was mindestens zweimal pro Monat der Fall war, durchstöberte ich diese kleine Bibliothek; nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat bei mir »Das ärztliche Hausbuch« mit seinen vielen detailreich beschriebenen Krankheiten und interessanten Farbtafeln, unter denen sich mir die Darstellung entzündlicher Ekzeme besonders einprägte.
Übrigens ist meine Wegbeschreibung in der Vergangenheitsform abgefasst, weil nach dem Tod meiner lieben Oma Anfang des Jahrtausends das Zimmer vom Nachmieter umdekoriert wurde – ich spreche also von einer vergangenen Land- bzw. Kammerschaft, eventuell vergleichbar mit der Gegend hinter Quadrath-Ichendorf, im rheinischen Braunkohleabbaugebiet, dessen Gesicht bekanntlich auch einer radikalen OP unterzogen wurde.
Gehen wir doch mal die verschiedenen Wegarten durch, beginnend mit derkürzesten Distanz, dem Gang vom Schaukelstuhl rüber zum Fenster. Ich selbsthabe gar keinen Schaukelstuhl, wohl aber besaß meine Oma Gerda einen; er standin ihrer Lese- und Gästekammer, reichliche zwei Meter vom Fenster entfernt.
Zurück zu Oma. Nächstes Highlight auf dem Weg zum Fenster war ein kleines Ölbild, das eine abendliche Straßenszene in Paris darstellte, mit dem Eiffelturm im Hintergrund, im lässigen Malstil der Fünfzigerjahre, so ähnlich, wie man damals glutäugige Sintezza in Öl anfertigte, mit kitschigen Glutaugen, nur eben bei Oma mit anderem Plot, ohne Glut, dafür mit schwindelerregend dunkelvioletter Dämmerung hinterm Eiffelturm. Und schließlich, wenn der Fußgänger seinen Blick vom Montparnasse losgerissen hatte, begann der Klimax, das Grande Finale, nämlich der Blickwurf gen Garageneinfahrtund zum Nachbarhaus, Am kleinen Esch 13, erdnussfarbene Klinker, hellblauer Opel Kadett.
Jetzt habe ich mich mit allerlei aufgehalten. Ursprünglich wollte ich gar nichtso sehr ins Eingemachte gehen. Was wir aber daran bestens sehen: Auch kurze, sehr kurze Wege können dem aufmerksamen Wanderer viel bieten. Ich bin trotzdem unsicher, ob man bei derlei Katzensprüngen tatsächlich von Wanderungen sprechen sollte.
Vielleicht ist das entscheidende die dahinterstehende Absicht, der Anlass der Fußreise?Eine aushäusige Erledigung, etwa den Weg zur Arbeit, zum Altglascontainer oder zum Supermarkt, wird kaum ein Automobilist oder Straßenbahnfahrer eine »Spazierfahrt« nennen, während es unter Fußgängern weit verbreitet ist, Pflicht und Kür miteinander zu verbinden. Möglich wird dies, weil der Fußgänger im Normalfall in einem Tempo unterwegs ist, dass ihn wenigstens auf herkömmlichen Bürgersteigen davon entbindet, seine Konzentration ausschließlich auf Wegführung und Trittsicherheit zu legen – zumal, wenn die Route bereits bekannt ist. Der Fußgänger genießt unter allen Verkehrsteilnehmern am ehesten das Privileg, in alle Richtungen zu denken: Nach oben, unten, außen, innen, in die Zukunft, Vergangenheit … »Spazieren« entwickelte sich etymologisch aus dem Italienischen »spaziare«, was wiederum aus dem Lateinischen »spatiārī« entstand und mit »umherschweifen«, »gemessenen Schrittes gehen« übersetzt werden kann – und wird. Der dem Kopf des Gängers anhängende Gedankenschweif passt auch zum Flaneur, jenem literarischen Charakter, dessen Wesensmerkmale das ziellose Beobachten des Großstadtlebens und die Reflexion sind – Zeitvertreibe, deren persönlichkeitsprägende Eigenschaften auch aus dem Wort »wandeln« abgelesen werden können. Wer wandelt, etwa in einer Wandelhalle, wandelt, ja verwandelt sich selbst. Die Extremform des autopilotischen Gehens ist gewiss das Nachtwandeln: Der Nachtwandler ergibt sich ganz dem Unterbewussten, ihn umrankt die Aura des Geheimnisvollen, während jener Kraftfahrer, der auf der Autobahn vom Sekundenschlaf ereilt wird, eher als gemeingefährliche Profanität wahrgenommen wird.
Der Gang zum Altglascontainer ist eine der am häufigsten von mir begangenen Kurzwanderungen.Sie ist bei jedem Wetter ein Genuss.
Vom Gassigehen bis zum Hofgang in der JVA, vom »Sehen und Gesehen-Werden« auf der Kö bis zum Weltraumspaziergang: das Wandeln ist eine vielseitige Kulturtechnik, die sich zu den Wanderungen unserer nomadischen Vorfahren verhält wie die Kochkunst zum Verzehr roher Rüben.
Aber, liebe Freunde, wer je nach 20 Wanderkilometern eine Zuckerrübe aus dem Felde grub, mit dem Taschenmesser schälte und hineinbiss, weiß, wie relativ kultureller Fortschritt sein, wie gut auch das frugalste Mahl munden kann – alles eine Frage des Hungers.
Die Wanderung jedenfalls behauptet von sich, ursprünglicher daherzukommen als der Spaziergang, physisch fordernder. Man unterscheidet gemeinhin Halbtages-, Tages- und Etappenwanderungen, während die Länge eines Spazierganges für sein Wesen unerheblich ist. Und während der Wanderer wenigstens heutzutage Wert legt auf passende Schuhe, Joppen, sogar Socken, kann der Spaziergänger bis auf Weiteres ohne spezielle Uniform daherkommen. Aber, da bin ich relativ sicher: Auch für den gemeinen Flaneur wird es schon bald spezielle Kleidung geben, etwa verkehrssicher, mit atmungsaktiven, selbstwärmenden und als Zugang zum Internet dienenden Fasern.
Das Wandern kann neben kontemplativen auch konkreten Zwecken dienen, etwa als Flucht, militärischer Marsch oder als Walz der Zimmerleute, und während es, oberflächlich betrachtet, unpassend erscheint, einen kurzen Gang zum Kaugummiautomaten eine Wanderung zu nennen, ist die Obergrenze überhaupt nicht festgelegt. Nahtlos geht eine mehrjährige Etappenwanderung durch diverse Kontinente über in die nächste Kategorie, als welche mir aber höchstens der Lebensweg einfällt, dessen letzte Meter vom Gang zur Urne markiert sind.
Aber, liebe Freunde, wer je nach20 Wanderkilometern eine Zuckerrübeaus dem Felde grub, mit dem Taschenmesser schälte und hineinbiss, weiß,wie relativ kultureller Fortschritt sein,wie gut auch das frugalste Mahl munden kann – alles eine Frage des Hungers.
Es ist noch kein Spaziergangster vom Himmel gefallen – alle haben wir uns mühsam aufgerappelt. In der Lotrechten entscheiden dann Schlüsselmomente darüber, ob wir im Wandern die Würze des Lebens erschmecken oder doch nur altbackene Croutons auf der Wassersuppe des Daseins. Nicht zuletzt meinen Eltern verdanke ich die Gewissheit, auf allen Wegen eine Messerspitze Thrill im Schuh dabei zu haben.
Beginnen wir mit meiner ersten Erinnerung an den aufrechten Gang: Eine Reihenhaussiedlung am südlichen Stadtrand von Oldenburg. Ich bin etwas über zwei Jahre alt, sitze in der Sandkiste beim älteren Nachbarkind und bekomme eine blaue Schaufel auf den Kopf gehauen, rappele mich auf, laufe zum Gartenzaun und rufe weinend nach meiner Mama.
Papa, Mama und meine Schwester Melani – meine erste Wandergruppe (man beachte die Schnabeltiermütze meiner Mama, in den 70ern noch gang und gäbe).
Ist gewiss unschön, dieses älteste Gedankenbild, aber natürlich nicht außergewöhnlich. Das Sprechen beherrschte ich erst spät, mit zwei Jahren, das Laufen jedoch bereits mit eins. An den Prozess des Lernens, daran, wie ich mich an Tischkanten hochziehe, drei Schritte gehe und wieder umfalle, kann ich mich nicht erinnern. Diese Bilder sind nicht archiviert. Kann es sein, dass es den meisten Menschen geht wie mir? Oder gar allen? Liegt unser aller Aufstehen im kollektiven Dunkel? Wir können uns nicht darüber unterhalten, wie wir in die Vertikale fanden, das Glücksgefühl, kein Baby mehr zu sein, sondern ein Kleinkind, ist verschollen. Das Laufen erscheint uns allen selbstverständlich – dabei ist es das natürlich gar nicht. Die Anzahl der Tierarten, die ihre Leben auf zwei Beinen laufend verbringen, ist streng limitiert. Der Vogel Strauß fällt mir ein, und die Erdmännchen – aber die stehen ja eher rum und pfeifen sich eins.
Das zweite Kapitel meiner Gehmoiren spielt wesentlich später, in der Kindergartenzeit, ist aber dafür auch erheblich dicker. Einmal, so sprintet es mir durch den Kopf, war ich beim Kinderturnen und stampfte mit jedem Schritt fest auf den Turnhallenboden und freute mich über die knallenden Planken unter meinen Turnschühchen. Könnte sein, dass dies für einige Jahre die letzte erinnerbare Entdeckung eines Gehstils war.
Dann: Pause im katholischen Kindergarten. Sandkastenfreundin Anja wird für irgendetwas belohnt und darf die Glocken der Kapelle läuten – ich schlurfe neugierig neben ihr her. Auch im Kindergarten. Pause. Alle Kinder laufen in den Hof und spielen »Jungs die Mädchen«, alternierend mit »Mädchen die Jungs« (Fangen). Es wird gesungen. Ich will nicht mitmachen, finde singen peinlich, außerdem gelte ich als sogenannter »Brummer«, also ein Kind, das für unfähig gehalten wird, Melodiefolgen zu erfassen, höchstens zum Rappen taugt – aber Hip-Hop gibt es Anfang der 70er noch nicht. Mit Spezialerlaubnis der Kindergärtnerin darf ich mich erheben und ins Nachbarzimmer trotten, um dort mit Buntstiften zu zeichnen.
Stampfen, schlurfen, laufen, trotten: Immerhin kann ich mich noch an die Einzelheiten der Gangart erinnern, wenngleich die Fortbewegung bereits zur selbstverständlichen Rahmenhandlung geworden ist, im Vordergrund stehen Glockenläuten, von Mädchen gefangen werden, brummen und zeichnen.
Als das Gehen wieder die Hauptrolle spielt, bin ich bereits ein Grundschulkind. Papas Hobby ist das Wandern, und jeden Sonntagmorgen verbringen wir gemeinsam auf Wanderschaft. In der Regel fahren wir im zitronengelben BMW 1802 zum Startort, zumeist ein Wanderparkplatz oder eine Gastwirtschaft. Papa trägt Kniebundhose aus braunem Breitcord, dazu tannengrüne Kniestrümpfe, obenrum eine hellbeige Joppe aus Popeline. In der einen Hand hält er das blaue 1:50 000-Blatt des niedersächsischen Vermessungsamtes, in der anderen den Wanderstock. Auf dem Kopf trägt er eine Prinz-Heinrich-Mütze, damals, in der Ära von Bundeskanzler Helmut Schmidt, der In-Hut Nr. 1. Unsere Wanderstrecken sind ausnahmslos Rundkurse, messen zumeist 10 bis 20 Kilometer und passieren die lokalen Sehenswürdigkeiten, die tausendjährige Eiche im Hasbruch etwa, ein Waldgebiet zwischen Bremen und unserem Wohnort Oldenburg, das Sager Meer oder die vielen steinzeitlichen Grabanlagen im Oldenburger Land.
Zu allem weiß Papa spannende Geschichten zu erzählen, etwa die Sage von der Entstehung des Zwischenahner Meeres: Als in Oldenburg die erste Kirche gebaut wurde, war der Teufel stocksauer. Mit roher Kraft riss er einen ganzen Wald mitsamt Mutterboden aus, unter dem er die Huntemetropole begraben wollte. Den Wald in Händen, marschierte er durch das Moor Richtung Kirche und begegnete einem weißen Hahn, der krähte. Der Teufel blieb kurz stehen und stöhnte: »Witte Hahn sitt, ich acht di een Schitt!« Bald darauf begegnete er einem roten Hahn, sagte: »Rote Hahn ro, ich acht’ di so no (ungern)« und ließ einen Teil des Waldes fallen – just an der Stelle, an der sich heute der kleine Wildenloh befindet, ein bei Ausflüglern beliebter Forst. Schließlich traf er einen schwarzen Hahn. »Swarter Hahn swart, du treddst mi all wedder up’t Hart!«, schrie der Teufel und ließ den restlichen Wald fallen – den heutigen großen Wildenloh. Die Stelle, an der der Teufel den Wald ausgerissen hatte, lief mit Wasser voll – das Zwischenahner Meer.
Ende der 90er in Argentinien. Hinter dem Zaunpfahl erahnt man den Aconcagua (6961 m).
Es ist kein Zufall, dass es in dieser Erläuterung auch um die schöne, stolze plattdeutsche Sprache geht, ein Idiom, dem sich mein Vater lebenslang mit größter Inbrunst widmete. Sobald wir nach absolvierter Wanderung im Gasthaus einkehren, wird komplett auf Plattdeutsch umgeschaltet und mit dem Wirt und seinen anderen Gästen geplaudert. Ich verstehe zwar das meiste, kann mich aber nicht daran erinnern, jemals selbst das Wort auf Platt ergriffen zu haben – dafür bin ich zu unsicher, nicht nur, was die korrekte Grammatik angeht. Anstatt mitzuschnacken, studiere ich die markanten Charakterköpfe. Gewaltige Rosacea-Nasen, dröhnende Bässe, prachtvolle Pranken, mit denen die Leute abwechselnd ihr Frühschoppen-Jever-Pils und ihre HB-Zigaretten zum Munde führen.
Auch ich trage bald Kniebundhose und rot-weiß-karierte Oberhemden und freue mich, wenn der zurückgelegte Weg besonders lang ist. Abschließender Teil des Sonntagsrituals ist es, die erwanderte Strecke mit einem Textmarker auf der Wanderkarte einzuzeichnen, und nach der Rückkehr ins Reihenhaus setzen wir uns aufs schwarze Ledersofa und betrachten gemeinsam die mal pinke, mal gelbe Linie. Der Wanderkartenstapel liegt in Papas Arbeitszimmer, es handelt sich um eine üppige Sammlung, und manchmal greife ich auch mitten in der Woche zu einer der Karten und studiere sie.