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Der renommierte Lewis-Fachmann Norbert Feinendegen zeichnet in diesem Buch den Glaubensweg von C. S. Lewis in einer bislang unerreichten Genauigkeit und Tiefe nach. Lewis’ Weg von Atheismus über Pantheismus und Theismus bis hin zum Christentum ist dabei von bleibender Aktualität: Er zeigt in exemplarischer Weise, was es heißt, sich als moderner Mensch auf die Frage nach Gott einzulassen. Feinendegen legt mit "C. S. Lewis: Überrascht von Gott" eine packende Biografie vor – und greift dabei zurück auf Originaldokumente aus der Feder von Lewis, welche erst in den letzten Jahren zugänglich wurden.
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Seitenzahl: 460
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Norbert FeinendegenC.S. Lewis: Überrascht von Gott
www.fontis-verlag.com
Jörg Splett in Dankbarkeit gewidmet,dem weisesten und besten meiner inoffiziellen Lehrer,der meine Kenntnis von C.S. Lewis enorm vertieftund bereichert hat.
Abkürzungen im Buch:
Drei Texte von Lewis werden jeweils mit Kürzeln zitiert:Surprised by Joy (SbJ),The Pilgrim’s Regress (PR) und «Early Prose Joy» (EPJ).
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Der Fontis-Verlag wird von 2021 bis 2024vom Schweizer Bundesamt für Kultur unterstützt.
© 2023 by Fontis-Verlag Basel
Die Bibelstellen wurden, soweit nicht anders angegeben,folgender Übersetzung entnommen:
Einheitsübersetzung 2016
Umschlag: Olaf Johannson, Spoon Design, Langgöns E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Stefan Jäger
ISBN (EPUB) 978-3-03848-708-1
Zur Einführung: C.S. Lewis’ spiritueller Werdegang – aus den Quellen neu erschlossen
Kapitel 1: Kindheit im Norden Irlands
Kapitel 2: Erste Erfahrungen von Joy
Kapitel 3: Schlechte Schulerfahrungen und erste Glaubensversuche
Kapitel 4: Befreiung vom Kinderglauben
Kapitel 5: Wagner und die Nordische Mythologie
Kapitel 6: Kämpfe um den sozialen Status
Kapitel 7: Der kosmische Rebell
Kapitel 8: Training in Logik und neue Freuden
Kapitel 9: Irrtümer über das Wesen von Joy
Kapitel 10: Joy offenbart ihren wahren Charakter: MacDonaldsPhantastes
Kapitel 11: In den Krieg und zurück
Kapitel 12: Studienbeginn in Oxford und der «New Look»
Kapitel 13: Philosophiestudium und die Folgen
Kapitel 14: Zusatzstudium in Englisch und ein «Großer Krieg»
Kapitel 15: Drei Schachzüge Gottes
Kapitel 16: Dozent in Philosophie
Kapitel 17:Dymer – Höhepunkt und Ende einer Dichterkarriere
Kapitel 18: Gottes vierter Schachzug
Kapitel 19: Der «Große Krieg» mit Barfield spitzt sich zu
Kapitel 20: Die Entscheidung rückt näher
Kapitel 21: Schachmatt: Das göttliche Ich wird zum Du
Kapitel 22: Ein Theist auf der Suche nach der wahren Religion
Kapitel 23: Ein Mythos wird zum historischen Faktum
Kapitel 24: Fazit: Ein Glaube, der zum Leben passt
Postskriptum
Anhang
Zeittafel
Literaturverzeichnis
Weitere Lektüre-Hinweise
Anmerkungen
Ein «unpersönlicher Gott» – schön und gut. Ein subjektiver Gott der Schönheit, Wahrheit und Güte in unseren Köpfen – noch besser. Eine formlose Lebenskraft, die uns durchströmt, eine gewaltige Macht, die wir anzapfen können – am allerbesten. Doch der lebendige Gott selbst, der am anderen Ende der Strippe zieht und sich vielleicht mit unendlicher Geschwindigkeit nähert, der Jäger, König, Bräutigam – das ist etwas ganz anderes. […] Es kommt ein Augenblick, da Menschen, die sich einige Zeit oberflächlich mit Religion befasst haben («des Menschen Suche nach Gott»!) plötzlich zurückschrecken. Angenommen, wir hätten ihn wirklich gefunden? Dazu hatten wir es nie kommen lassen wollen! Schlimmer noch, angenommen, Er hätte uns gefunden?1
Im November 2021 erschien die Filmbiografie «The Most Reluctant Convert: The Untold Story of C.S. Lewis» in US-amerikanischen Kinos. In diesem Film blickt ein älterer C.S. Lewis auf sein Leben zurück und erzählt, wie er als junger Oxford-Dozent vom Atheismus zum christlichen Glauben kam. Das Biopic erhielt begeisterte Kritiken und übertraf auch bei den Zuschauerzahlen alle Erwartungen. Das liegt an der exzellenten Produktion des Films, aber auch daran, dass C.S. Lewis’ spiritueller Werdegang noch immer die Kraft hat, Menschen zu bewegen und zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben anzuregen.
Bei allem berechtigten Lob für den Film fand jedoch eine Tatsache bisher kaum Beachtung. Er wäre zutreffender (aber sicher weniger verkaufsfördernd) gewesen, hätten die Produzenten ihren Film nicht «Die unerzählte Geschichte von C.S. Lewis» genannt, sondern «Die Bekehrungsgeschichte von C.S. Lewis, wie er sich selbst an sie erinnert». Drehbuchautor Max McLean (der auch den älteren Lewis spielt) arbeitet überwiegend mit Zitaten aus Surprised by Joy (dt. Überrascht von Freude), Lewis’ Autobiografie von 1955. Das ist die große Stärke des Films, es ist aber auch seine Schwäche: Das Drehbuch folgt sehr eng Lewis’ Darstellung in Surprised by Joy, von anderen Quellen für sein Leben macht es hingegen nur wenig Gebrauch. Dadurch bleibt so manches Ereignis seines Glaubenswegs im Unklaren.
Dies eint MacLeans Film mit den Biografien in Buchform, die in den letzten Jahren über C.S. Lewis erschienen sind; auch sie orientieren sich hauptsächlich an Surprised by Joy. Sie greifen zwar auf Lewis’ Briefe und Tagebücher zurück, aber kaum auf die anderen schriftlichen Zeugnisse aus der ersten Hälfte seines Lebens. Das liegt vermutlich daran, dass diese Texte nicht leicht zu verstehen sind, handelt es sich doch zumeist um poetische oder philosophische Werke. Diese Texte, darunter die Gedichtbände Spirits in Bondage (1919) und Dymer (1926), die Notizen, die Lewis 1924 für seine erste Tätigkeit als Philosophie-Tutor anfertigte, die «Summa» genannte Darlegung seiner idealistischen Philosophie (1928) und der autobiografische Entwurf «Early Prose Joy»2 (1930/31), enthalten die wahre unerzählte Geschichte von C.S. Lewis. Dieser Liste ist noch The Pilgrim’s Regress (1933) hinzuzufügen, das erste von Lewis nach seiner Konversion zum Christentum veröffentlichte Buch, in dem er seinen spirituellen Werdegang in nicht leicht zu entziffernder allegorischer Form beschreibt.
Ich hatte in den vergangenen Jahren das Privileg, an der Herausgabe einiger dieser Texte mitwirken zu dürfen (die Lewis selbst nie zur Publikation vorgesehen hatte). Von daher weiß ich, wie schwierig es ist, einen Zugang zu ihnen zu finden. Die Beschäftigung mit ihnen kann aber, nicht anders als die Lektüre seiner frühen Gedichte, unser Verständnis des Glaubenswegs von C.S. Lewis enorm bereichern. Ich werde daher im Folgenden diese und weitere Texte aus der ersten Hälfte seines Lebens mit heranziehen, um seinen faszinierenden Weg vom überzeugten Atheisten zum gläubigen Christen in einer bisher nicht für möglich gehaltenen Genauigkeit und Tiefe nachzuzeichnen.
Und noch ein Aspekt ist zu beachten. Lewis berichtet in Surprised by Joy immer wieder von Erfahrungen, die nicht nur Einfluss auf seine spirituelle Entwicklung hatten, sondern deren Reflexion auch Niederschlag in seinen späteren christlichen Schriften fand. Es ist lange bekannt, dass Lewis in seinen Werken nicht mit autobiografischen Hinweisen spart und dass auch seine literarischen Werke zahlreiche solche Bezüge aufweisen. Leider sind diese Querverbindungen bisher kaum als Verständnishilfe genutzt worden. Ein besonderes Augenmerk unserer Darstellung gilt deshalb Ereignissen in seiner Lebensgeschichte, die sich mit von Lewis in anderen seiner Schriften geäußerten Ansichten in Verbindung bringen lassen.
Die Geschichte von C.S. Lewis ist also noch nicht vollständig erzählt, weder in MacLeans Film noch in den zahlreichen Biografien in Buchform, die in den letzten Jahren erschienen sind. Und die religiösen Aspekte dieser Geschichte sind noch viel bedeutsamer, als das in den bisherigen Darstellungen seines Glaubenswegs zum Ausdruck kommt: Lewis’ Weg vom Atheismus zum christlichen Glauben zeigt in exemplarischer Weise, was es heißt, sich als Mensch auf die Frage nach Gott einzulassen. Heute, wo immer weniger Menschen in die Praxis eines überlieferten Glaubens hineinwachsen, können seine Suche und seine persönliche Entscheidung für Gott deshalb Impulse auch für die Beschäftigung mit unseren eigenen Glaubensfragen geben.
Das Exemplarische von Lewis’ Glaubensweg zeigt sich ganz besonders, wenn man ihn als Ausdruck einer spirituellen Suche versteht. Spiritualität ist aber ein mehrdeutiges Wort, daher sind ein paar Erklärungen vorauszuschicken, wie dieses Wort im Folgenden verstanden wird.
Dass wir in der Lage sind, auf uns und unser Verhältnis zur Welt zu reflektieren, lässt aber beides auch für uns zur Frage werden: Wir können nicht nur nachdenken über uns und unser Verhältnis zu dem, was wir nicht sind, sondern wir müssen es auch. Und nicht nur das, wir müssen auch handeln auf der Basis dieser Verhältnisbestimmung. Ob wir es wollen oder nicht: Wir müssen ein Verhältnis einnehmen zu uns selbst und zur Welt und gemäß dieser Verhältnisbestimmung unser Leben gestalten. Die Frage nach uns selbst und unserem Platz in der Welt ist daher auch der Ursprung allen ethischen Fragens: Wer sich auf diese Frage einlässt, erfährt sich aufgefordert, sich ins rechte Verhältnis zu setzen zu sich selbst und den Dingen um ihn herum – zur Natur, zu anderen Menschen und zu Gott.
Die «Spiritualität» eines Menschen kann als eine Lebenshaltung und -praxis beschrieben werden, die aus der Bereitschaft hervorgeht, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Gemäß ihrer Vorstellung vom Verhältnis des Einzelnen zum Rest der Welt lassen sich dabei drei Grundformen des Spirituellen unterscheiden:
A-theistisch. Die Natur ist das Ganze. Jenseits der Welt, wie sie uns durch unsere fünf Sinne zugänglich ist, gibt es keine Welt des Geistigen, die unserem Sein und Tun einen Sinn und ein Ziel verleiht. Alles, was im Universum passiert – auch das, was man für gewöhnlich seine geistigen Akte nennt – ist somit eine Folge derselben materiellen Prozesse, die das Universum regieren. Der einzelne Mensch steht daher vor dem Problem, diesem an sich sinnlosen Universum dennoch einen Sinn für sich abzuringen.
Pan-theistisch. Das Göttliche ist das Ganze. Auch wenn es nach außen hin so erscheinen mag: Ich bin gar nicht isoliert von allem Übrigen (Mensch, Tier, Pflanze oder Kosmos), weil alles eine Erscheinungsform ein und desselben göttlichen Geistes ist, der alles durchwaltet. Das gilt auch für das, was ich meine eigenen Akte nenne: auch sie sind letztlich Vollzüge Gottes in mir. Ein Dialog mit Gott ist deshalb nicht möglich.
Theistisch. Gott ist Person. Und er hat etwas geschaffen, das nicht er selbst ist. Es gibt eine echte Trennung auch zwischen Gott und mir wie auch zwischen mir und den anderen Geschöpfen. Diese Trennung ist aber notwendig, damit ich mich dem Anderen in Freiheit zuwenden kann. Die Natur ist also nicht Gott, und der Mensch mit seiner Freiheit nicht bloße Natur, sondern die Natur ist ein Medium der Ansprache Gottes an uns wie auch ein Medium der Kommunikation zwischen uns Menschen.
Das Spannende ist, dass C.S. Lewis auf seinem Glaubensweg alle drei Formen der Spiritualität «durchprobiert», sie also zu leben versucht hat, und zwar nacheinander: zuerst die atheistische, dann die pantheistische, und schließlich die theistische. Erst diese konnte ihn zufriedenstellen, sie führte ihn aber schon bald zum christlichen Glauben.
Dabei ist zu beachten, dass es sich in Lewis’ Fall nicht um einen einzigen Weg handelt, sondern um zwei getrennte Pfade, die erst spät im Prozess seiner Konversion zueinander fanden. Der eine dieser beiden Pfade, die Entwicklung seines philosophischen Denkens, verlief nahezu rein intellektuell, der andere, die Entwicklung der Welt seines inneren Erlebens, nahezu rein imaginativ. Diese beiden Stränge seiner spirituellen Entwicklung lagen viele Jahre lang so weit auseinander, dass Lewis sie in «Early Prose Joy» sogar als zwei separate Geschichten erzählt.
Dennoch ist es nicht so, als würden sich die philosophischen Texte nur mit intellektuellen Fragen befassen und die poetischen nur mit inneren Erlebnissen. Das lange narrative Gedicht Dymer, von dem sich Lewis seinen Durchbruch als Dichter erhoffte, ist nach Auskunft seines Bruders Warren in Wahrheit «Philosophie, die sich als Dichtung verkleidet», und die philosophische «Summa» entfaltet in ihrem zweiten, praktischen Teil Lewis’ damalige Theorie eines spirituellen Lebens. Das heißt, Lewis bemühte sich in den 1920er Jahren intensiv darum, die beiden Hälften seines Lebens in Einklang miteinander zu bringen, richtig gelang ihm das aber erst mit der Anerkennung Jesu Christi.
Wie jede gute Story hat die unerzählte Geschichte von C.S. Lewis ein Thema. Das große Thema seines Glaubenswegs ist die Frage der Möglichkeit einer Beziehung zu Gott: Es ist die Frage des Betens. Einen göttlichen Urgrund (d.h. ein göttliches Prinzip hinter allen Dingen) anerkannte Lewis bereits im Frühjahr 1922. Dennoch sollte es acht weitere Jahre dauern, bis er zum Glauben an einen personalen Gott kam. Warum dauerte das so lange? Und warum war dieser Schritt für ihn so viel bedeutsamer als die Anerkennung Christi – die schon bald danach und ohne große Emotion erfolgte? Kann es sein, dass die Frage des Handelns Gottes in der Welt für einen aufgeklärten, gebildeten Menschen des 20. oder 21. Jahrhunderts das wahre Problem darstellt, und nicht so sehr die Menschwerdung? Sollte dies so sein – wofür einiges spricht –, dann hat uns Lewis’ Bekehrungsgeschichte auch heute noch viel zu sagen.
Die im Folgenden gezeichnete Skizze von Lewis’ ersten 33 Lebensjahren legt großen Wert auf biografische Korrektheit und wird zu diesem Zweck auch einige in der Lewis-Forschung verbreitete Annahmen kritisch hinterfragen. Sie erhebt aber keinen Anspruch auf biografische Vollständigkeit. Ich wähle aus dem verfügbaren Material jene Ereignisse und Entwicklungen aus, die mir für unser Thema von Belang erscheinen.
Darin folge ich Lewis’ eigenem Umgang mit seiner Biografie: Keine seiner autobiografischen Schriften will eine Autobiografie im klassischen Sinn sein. Die Schriften heben hervor, was ihm im Blick auf seinen Glaubensweg von Bedeutung erschien, und sie übergehen Dinge (zum Beispiel sein Verhältnis zu Mrs. Moore), die ihm in dieser Hinsicht unwichtig erschienen. Bei der Allegorie The Pilgrim’s Regress versteht sich das von selbst, doch auch in «Early Prose Joy» erklärt Lewis gleich zu Beginn:
Ich werde keine Autobiografie schreiben. Aus gut dreißig Jahren wähle ich nur jene Begebenheiten aus, die mein Thema betreffen; die Geschichte wird verständlich, wenn meine Leser im Hinterkopf behalten, dass ich in all diesen Jahren für den größten Teil meiner Zeit ein normales Tabak rauchendes, Bier trinkendes, Geld verdienendes, anekdotenhaftes, streitendes, Romane lesendes, autofahrendes, Medizin einnehmendes menschliches Wesen war. (EPJ 13)
Surprised by Joy versieht Lewis ebenfalls mit der Warnung, das Buch werde mit dem Fortschreiten der Ereignisse immer weniger wie eine klassische Autobiografie. Das Thema des Buches ist die Geschichte seiner Bekehrung, und er erzählt diese Geschichte so, wie ein Romanautor eine Geschichte erzählt, mit der er eine bestimmte Botschaft vermitteln will.
Lewis wusste zudem um die symbolische Bedeutung von Ereignissen; auch dies zeigt sich in der Präsentation seiner eigenen Lebensgeschichte. So schreibt er zum Beispiel seiner ersten Lektüre von George MacDonalds Phantastes den Stellenwert einer «Taufe seiner Imagination» zu. Und er ging (wie bereits die Biografen der Antike) davon aus, dass sich die entscheidenden Dinge im Leben einer Person nicht rein zufällig ereignen. Die Überzeugung, dass Gott selbst ein lebendiger Akteur in seiner Bekehrungsgeschichte war, durchzieht Lewis’ gesamte autobiografische Äußerungen. Dies war aber auch die vielleicht wichtigste Entdeckung seines Lebens: Der Gott, den er im Sommer 1930 gegen alle inneren Widerstände anerkannte, ist ein geschichtlich handelnder Gott; er ist «der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten» (Blaise Pascal).
Um das Überwältigende dieser Erfahrung zu verstehen, müssen wir uns den Atheismus vergegenwärtigen, von dem aus Lewis sich über einen mehr als 10-jährigen Prozess wieder dem Glauben annäherte. Wir müssen aber auch einen Blick auf den Kinderglauben werfen, den er als Jugendlicher hinter sich ließ. Wie hatte dieser Kinderglaube ausgesehen, dass Lewis ihn später so bereitwillig aufgab, und inwieweit unterschied er sich von dem Glauben, zu dem er später als Erwachsener zurückkehren sollte? Und welche Erfahrungen waren es, die bei ihm eine spirituelle Suche auslösten, aber erst Jahre später in Christus ihren Zielpunkt fanden?
Clive Staples Lewis wurde am 29. November 1898 im Ortsteil Dundela im Osten von Belfast geboren. Die an der Nordostküste Irlands gelegene Stadt gehörte zu diesem Zeitpunkt zum Vereinigten Königreich Großbritannien und Irland. Das Königreich existierte in dieser Form bis 1922, als es durch Abtrennung der katholischen Landesteile zur Bildung des Irischen Freistaats kam. Von Geburt war C.S. Lewis also britischer Staatsbürger, sein Wohnsitz lag aber bis in die 1920er Jahre hinein in Irland. Belfast ist heute die Hauptstadt des britischen Landesteils Nordirland; das Stadtgebiet liegt teilweise im County Antrim und teilweise im County Down.3
Lewis ist das zweite Kind des Rechtsanwaltes Albert Lewis (geb. 1863) und der studierten Mathematikerin Flora Augusta Hamilton Lewis (geb. 1862). Sein Bruder Warren («Warnie», geb. 1895) war trotz der drei Jahre Altersunterschied die gesamte Kindheit hindurch seine wichtigste Bezugsperson. Da er seine Vornamen Clive Staples nicht mochte, nannte Lewis sich selbst schon bald «Jacksie», woraus später «Jack» wurde, wie ihn dann auch seine Oxforder Freunde nannten.
Die ersten neun Jahre seines Lebens beschreibt Lewis als eine glückliche, unbeschwerte Zeit. Seine Eltern führen trotz ihrer sehr unterschiedlichen Temperamente eine gute Ehe. Der Vater ist redegewandt und leidenschaftlich in seinen Gefühlsäußerungen, womit er allerdings nicht selten dem eigenen Glück im Weg steht. Die Mutter ist stärker rational geprägt und besitzt mit ihrer heiteren Gelassenheit ein weitaus größeres Talent zum Glücklichsein. Da Albert Lewis aufgrund seiner Tätigkeit als Anwalt viel Zeit im Büro verbringt, ist Flora der Mittelpunkt des Familienlebens.
Beide Eltern lesen gerne und viel, weshalb ihr Haus auch voll ist mit Büchern unterschiedlichster Art: Romane, Dichtung, klassische Literatur, Humoresken – was auch immer. Nur eine Art von Literatur findet sich nicht im Haus, nämlich jener Typ Bücher, für den Lewis später am meisten schwärmen wird: Fantasy, Mythen, Fairy Stories (Märchen) und die phantastische Dichtung der Romantiker. Die Liebe zur Literatur wurde Lewis also quasi in die Wiege gelegt, seine Begeisterung für Mythologie jedoch nicht: sie ist offenbar anderen Ursprungs.
Es gibt eine große Familie aufseiten der Lewises und der Hamiltons, mit der man viel Zeit und auch manchen Urlaub an der irischen Küste verbringt (an denen Albert Lewis, der mit seiner Arbeit fast ebenso verheiratet ist wie mit seiner Frau, nur selten teilnimmt). Weitere Freunde außerhalb der Verwandtschaft haben die Brüder zunächst nicht, was auch damit zusammenhängt, dass das Haus der Familie nahe am Stadtrand steht und es nur wenig Nachbarschaft gibt. Bevor Warren 1905 ins Internat geschickt wird, verbringen die Brüder die meiste Zeit miteinander, ob nun im Haus oder im Garten, der zum Grundstück gehört.
Mit im Haushalt lebt, wie damals bei besser gestellten Familien üblich, auch Dienstpersonal. Lewis hebt besonders das Kindermädchen Lizzie Endicott hervor, ein einfaches Bauernmädchen aus dem County Down. Durch sie lernte er, dass es noch andere soziale Schichten gab, die der eigenen in moralischer Hinsicht jedoch durchaus ebenbürtig waren. Er meint, es sei die schlichte Güte ihres von ihrer bäuerlichen Herkunft geprägten Charakters gewesen, die ihn später davor bewahrt habe, die feinen Manieren gehobener Gesellschaftsschichten (wie der eigenen) als Ausweis ihrer moralischen Überlegenheit misszuverstehen. Und es ist sicher auch kein Zufall, dass er später immer wieder auf die ethischen Grundprinzipien verweist, die er von seinem Kindermädchen (und seiner Mutter) gelernt hatte.
Lewis wurde am 29. Januar 1899 in der Pfarrkirche St. Mark’s durch den Großvater mütterlicherseits, Reverend Thomas Hamilton, in die Church of Ireland hinein getauft (die zur Anglikanischen Kirche gehört). Reverend Hamilton war 1887–1900 Pfarrer von St. Mark’s und für seine eloquenten, sehr emotionalen Ansprachen bekannt. Als Protestant war er ein strikter Gegner der Katholiken, was jedoch in der aufgeheizten Atmosphäre des Nordirland-Konflikts für einen Geistlichen nichts Ungewöhnliches war. Seine Abneigung ging allerdings so weit, dass er keine Hemmungen hatte, Katholiken als «Kinder des Teufels» zu bezeichnen.
Lewis erklärt, er sei in einer geradezu archaischen Gesellschaft aufgewachsen, in der theologische Differenzen unentwirrbar mit Fragen von Nationalität, Klasse, Politik und Ritual vermischt waren. Die meisten dieser Fragen lagen jenseits des Horizonts eines Kindes, doch die unterschwellige Botschaft, die er daraus mitnahm, lautete: Traue niemals einem Papisten (d.h. einem Katholiken).
Es lässt sich jedoch bezweifeln, dass seine protestantische Erziehung der hauptsächliche Grund dafür ist, weshalb Lewis sich nach seiner Bekehrung nicht dem Katholizismus zuwandte (was seine Freunde Tolkien und Griffiths sich erhofften). Dafür war er sich seiner Herkunft viel zu sehr bewusst. Auch war er in anderen Fragen sehr wohl in der Lage, die Vorurteile seiner Kindheit und Jugend zu überwinden. Zudem ist unklar, inwieweit seine stärker rational geprägte Mutter Flora überhaupt die Abneigung ihres Vaters gegen den Katholizismus teilte; Lewis hatte als Erwachsener keinerlei Erinnerungen an den Glauben seiner Mutter.
Den Glauben seines Vaters beschreibt Lewis als im Wesentlichen ästhetisch geprägt. Albert Lewis schwärmte für die hochkirchliche Liturgie mit ihren Kerzen und Ritualen, und er bewunderte die sprachliche Schönheit der King James Bibel und des Book of Common Prayer (was auf seinen Sohn vor seiner Bekehrung in keiner Weise zutraf). Für philosophisch-theologische Fragen hatte der Vater hingegen keinen Sinn: Die Wahrheit des Glaubens galt als gewiss, sie wurde aber nicht rational begründet oder gar kritisch diskutiert.
Es steht daher zu vermuten, dass der Glaube im Hause Lewis eher in ästhetischen oder politischen Zusammenhängen zur Sprache kam als im eigentlich religiösen Sinn. Lewis berichtet, ihm seien die üblichen Dinge über den christlichen Glauben mitgeteilt worden; das heißt, er wurde angehalten, seine Gebete zu sprechen und beizeiten mit in die Kirche zu gehen. Er kann sich aber nicht erinnern, diesen Dingen ein besonderes Interesse entgegengebracht oder eigene religiöse Empfindungen gehabt zu haben: Das Christentum gehörte zum Leben dazu, es hatte für ihn aber keinerlei praktische Relevanz.
Das heißt, der Sinn der Gebete und Rituale, die man ihn zu sprechen und zu befolgen anhielt, erschloss sich ihm nicht – wie dies bei so vielen Aspekten des Lebens Erwachsener der Fall ist, wenn sie nicht in die Erfahrungs- und Verstehenswelt eines Kindes übersetzt werden. Dass Glauben bedeutet, eine Beziehung zu Gott zu leben, tauchte zu dieser Zeit seines Lebens nicht einmal als entfernte Möglichkeit auf.
Lewis meint, es sei vor allem die beständige Forderung der Erwachsenen um ihn herum gewesen, Gott mit Dankbarkeit und Liebe zu begegnen (und sich in der Kirche entsprechend zu verhalten), die ihn daran gehindert habe, echte religiöse Empfindungen zu entwickeln: Es ist schwer für ein Kind, von sich aus Dankbarkeit und Liebe zu empfinden, wenn andere dies ständig von ihm verlangen.
Diese Erfahrung brachte Lewis später auf den Gedanken, er könne hier mit seinen Narnia-Geschichten eventuell gegensteuern. Lässt sich das religiöse Empfinden von Kindern vielleicht von seinem fordernden Charakter (und von seinen Anklängen an Sonntagsschule und wenig kindgemäße Kirchbesuche) befreien, indem man die Begegnung mit Gott in eine Phantasiewelt verlegt und als ein spannendes Abenteuer erscheinen lässt? Kann es nicht gelingen, auf diese Weise die Kraft und Schönheit des Glaubens wieder spürbar zu machen?
War Lewis’ Welt in seinen ersten neun Lebensjahren auch ohne religiöse Erfahrungen, ästhetische Erfahrungen gab es sehr wohl. Als die erste Schönheit, die ihm je begegnete, bezeichnet er einen Spielzeuggarten, den sein Bruder im Deckel einer alten Keksdose angelegt hatte. Was bis dahin weder die Natur vor der Haustür noch von Menschen gemachte Objekte wie zum Beispiel Gemälde oder Gebäude erreicht hatten, gelang dem künstlichen Arrangement von Moos, Zweigen und Blumen: es bescherte ihm eine Erfahrung echter Schönheit. Dies allerdings nicht sofort, sondern erst später in der Erinnerung (dazu gleich mehr).
Eine weitere frühe Erfahrung von Schönheit bescherte ihm der Blick durchs Kinderzimmerfenster auf die grünen Castlereagh Hills südöstlich von Belfast. Diese Hügel waren zwar nicht allzu weit entfernt, aber für den jungen Jack unerreichbar. Dies löste ein Gefühl der Sehnsucht in ihm aus. Lewis verweist an dieser Stelle auf das Symbol der blauen Blume, das in der Dichtung der Romantik als Zeichen für eine solche Sehnsucht verwendet wird: Es steht für ein intensives, geradezu schmerzliches Verlangen nach etwas, das außerhalb der eigenen Reichweite liegt und von dem man nicht genau sagen kann, worauf es sich bezieht. Noch viele Male in seinem Leben sollte Lewis den Lockruf der blauen Blume vernehmen, bis er schließlich das Ziel seiner Sehnsucht fand.
Lewis datiert diese beiden Erfahrungen in die Zeit vor dem Umzug der Familie ins neue Haus (Little Lea) im April 1905. Seine Eltern hatten das großzügig angelegte, von langen Fluren und lichtdurchfluteten Räumen geprägte Haus selbst entworfen und dabei auch genügend Platz für die unzähligen Bücher eingeplant – die ihre Söhne alle lesen durften. Die großartige Aussicht auf die Holywood Hills und (jenseits der Bucht von Belfast) die Antrim Mountains war eine zusätzliche mit dem Umzug ins neue Haus verbundene Freude.
Ein besonders enger Kontakt bildet sich hier zur Familie der Cousine (und besten Freundin) von Flora Lewis, Lady Mary Warren Ewart. Sie wohnt mit ihrem Mann, dem Großfabrikanten Sir William Quartus Ewart, und ihren drei (etwas älteren) Töchtern in Glenmachan House, nur eine knappe Meile von Little Lea entfernt.
Dort sind die Brüder Lewis jederzeit willkommen – auch zu den Mahlzeiten –, und das Haus wird für die beiden zur zweiten Heimat. Sie können sich im Haus und auf dem Grundstück frei bewegen; das Einzige, was von ihnen erwartet wird, ist ein halbwegs gesittetes Benehmen. Lewis erklärt, die geringen Kenntnisse über soziale Benimmregeln, die er habe, verdanke er den in Glenmachan House gepflegten Umgangsformen.
Seinen ersten Unterricht in Französisch und Latein erhält der junge Jack von seiner Mutter, der Rest seiner Ausbildung liegt in den Händen einer Hauslehrerin. Da Warren im Mai 1905 (also unmittelbar nach dem Umzug ins neue Haus) auf ein englisches Internat geschickt wird, verbringt Lewis nun viel Zeit allein im Haus und ums Haus herum. Er liest und liest und liest, und zwar nicht nur phantastische Kinderbücher wie die Geschichten von Edith Nesbit, sondern auch Bücher, die keineswegs für Kinder seines Alters gedacht (und geeignet) sind.
Ein anatomischer Defekt – ihm fehlt an beiden Daumen ein Gelenk – hat zur Folge, dass Lewis bei körperlichen Aktivitäten kein großes Geschick an den Tag legt. Er interessiert sich deshalb nicht für Sport (außer fürs Fahrradfahren und Schwimmen) und kann sich auch nicht für handwerkliche Tätigkeiten begeistern. Lewis beginnt daher, eigene Geschichten zu schreiben und zu zeichnen. Zu diesem Zweck richtet er sich eine der Dachkammern von Little Lea als sein «Arbeitszimmer» ein; dort entstehen die ersten Geschichten von Animal Land, einem Phantasieland, in dem personifizierte Tiere (Mäuse, Frösche, Katzen usw.) leben und Handel und Politik treiben. Später wird Lewis seinem Land eine ganze Historie andichten und es mit Indien, dem Phantasieland seines Bruders, zu einer gemeinsamen Welt verbinden.
Lewis bemerkt im Rückblick auf diese Zeit seines Lebens (nach dem Wegfall seines Bruders als Spielgefährte und vor dem Beginn seiner eigenen Internatszeit), er habe in diesen drei Jahren nahezu vollkommen in seiner Imagination gelebt. Um zu erklären, was er damit meint, unterscheidet er drei Bedeutungen des Wortes «Imagination», die er alle in gewissem Maß für zutreffend erachtet:
a) Imagination im psychologischen Sinn. Lewis lebte in einer Welt voller Tagträume und Wunschvorstellungen, in denen er selbst im Mittelpunkt stand, gefährliche Abenteuer bestand, seiner Hauslehrerin entwischte oder generell eine gute Figur abgab.
b) Imagination im literarischen Sinn. Er schrieb seine eigenen Geschichten, die jedoch ihrerseits keine Wunscherfüllungen im psychologischen Sinn waren. Das heißt, er war zwar der Schöpfer und Chronist, aber kein Bewohner (und auch nicht der Held) der von ihm erdachten Welt. Und diese Welt war auch keine Fantasy-Welt voller mythischer Gestalten oder Fabelwesen wie später die Narnia-Geschichten; die Geschehnisse in Animal Land waren durch und durch prosaisch.
c) Imagination im spirituellen Sinn. Lewis wurden einige Momente von überwältigender Intensität und emotionaler Tiefe zuteil. Diese kurzen Augenblicke erschienen ihm so viel wertvoller als seine übrigen Erfahrungen, dass sie sich jedem Vergleich mit ihnen entzogen: Es war, als würde durch sie der Welt eine völlig neue, ihm bisher nicht bekannte Dimension der Erfahrung hinzugefügt.
Lewis bemerkt in Surprised by Joy, wer seinen imaginativen Erfahrungen im dritten, spirituellen Sinn nichts abgewinnen könne, der brauche gar nicht weiterzulesen, denn in gewissem Sinn handele die zentrale Geschichte seines Lebens von nichts anderem. Insofern sollten wir sehr genau hinschauen und zu verstehen versuchen, welche Art von Erfahrung er meint. Lewis versucht, den Charakter dieser Erfahrungen an drei Beispielen zu verdeutlichen, die allesamt stattfanden, bevor er im September 1908 nach England ins Internat kam.
Die erste Erfahrung dieser Art nennt er eine «Erinnerung an eine Erinnerung». Er stand im Alter von sechs Jahren im Garten des neuen Hauses neben einem blühenden Johannisbeerstrauch, als plötzlich, ohne jede Vorwarnung, eine Erinnerung in ihm hochkam.4 Es war die Erinnerung an den Moment, in dem sein Bruder den im Deckel einer alten Keksdose angelegten Spielzeuggarten ins Kinderzimmer mitgebracht hatte. In diesem Augenblick stieg ein Gefühl enormer Freude in ihm auf, das zugleich ein tiefes Verlangen war. Das Gefühl war nur ein einziges, es beinhaltete aber zwei wesentliche Aspekte.
Der erste Aspekt war eine unermessliche Freude an der Schönheit des Spielzeuggartens. Diese Freude war so groß, dass Lewis später Miltons Wort von der «gewaltigen Seligkeit» Edens als die passendste Beschreibung erschien. Auch meint er, dieses Empfinden von Schönheit sei so stark gewesen, dass seine Vorstellung vom Paradies für immer etwas vom Spielzeuggarten seines Bruders behalten werde.
Der zweite Aspekt war ein Verlangen beziehungsweise das Bedauern über einen enormen Verlust. Er hatte das Empfinden, einst etwas besessen zu haben, das er nun nicht mehr hatte und von dem er sich schmerzlich wünschte, es wieder zu erlangen. Doch das Objekt seines Verlangens war weder der mit Moos gefüllte Deckel seines Bruders noch die eigene Vergangenheit. Es schien, als sei durch sie etwas in ihm wachgerufen worden – nicht über die Entfernung von Jahren, sondern von Jahrhunderten; eine Erinnerung an etwas, das selbst keine Erfahrung war, noch auch nur als möglicher Bestandteil einer Erfahrung in Betracht kam.
Dieses Verlangen, für das er keine Worte fand, um ihm Ausdruck zu verleihen, war nicht mehr als ein schmerzlicher, flüchtiger Blick, ein Echo, das in dem Moment dahinstarb, in dem es das Ohr erreichte:
[B]evor ich wusste, wonach ich mich sehnte, war das Verlangen selbst verschwunden: Der ganze flüchtige Blick hatte sich entzogen, die Welt war wieder alltäglich geworden, oder lediglich bewegt durch eine Sehnsucht nach der Sehnsucht, die gerade aufgehört hatte. Es hatte bloß einen Augenblick gedauert, und in einer gewissen Weise war alles, was mir je passiert war, unbedeutend im Vergleich zu ihm. (SbJ 11)
Lewis meint, man könne sein Empfinden insofern auch als eine Art von Trauer bezeichnen, aber eine Trauer in einem ganz speziellen Sinn. Das Gefühl des Verlusts, das damit einherging, war ein völlig anderes als seine Trauer über den Tod seines Großvaters, der sich etwa zur gleichen Zeit ereignete (Thomas Hamilton starb am 19. Mai 1905). Im Falle seines Großvaters wusste er, was er vermisste und sich zurücksehnte, und hätte es jemand anderem (zum Beispiel seinen Eltern) auch erklären können. Bei der Erinnerung an den Spielzeuggarten seines Bruders war das nicht so. Auch schien ihm das durch diese Erinnerung ausgelöste Verlangen unvergleichlich bedeutsamer zu sein als der Tod seines Großvaters.
Ein ähnlich geartetes Erlebnis löste der Blick in Beatrix Potters Kinderbuch Squirrel Nutkin (1903) aus. Lewis erinnert sich, dass zu dieser Zeit die Straße vor dem Haus mit Blättern in allen Farben übersät war; das Ereignis fand also offenbar im Herbst statt. Ob die Illustrationen von Eichhörnchen in herbstlichen Wäldern im Buch ihn an die echten Blätter vor der Haustür erinnerten oder umgekehrt, vermochte er später nicht mehr zu sagen. Doch im Zusammenspiel dieser beiden Eindrücke kam es zu einer weiteren intensiven Erfahrung von Sehnsucht und Freude. Lewis verspürte ein Verlangen, das ihn mit etwas ansteckte oder beunruhigte, das er nur als die «Idee des Herbstes» bezeichnen konnte.
Diesmal war das Erlebnis kein einmaliges. Über einen Zeitraum von etwa einem Monat blätterte er immer wieder im Buch oder ging auf die Straße, jedoch nicht in der Hoffnung, sein Verlangen befriedigt zu bekommen, sondern es erneut zu verspüren. Das, was ihn erfreute, war nie in seinem Besitz: Es war stets «dort drüben», dort, wo er gerade nicht war – vielleicht draußen auf der Straße, während er im Buch blätterte, vielleicht drinnen im Buch, während er auf der Straße unterwegs war. Lewis meint, die Erfahrung ließe sich daher nur in der Form eines Paradoxes beschreiben: «Man könnte sie mit gleichem Recht eine Freude an etwas nennen, das ich nicht hatte, wie ein Verlangen nach etwas, das ich hatte.» (EPJ 15)
Die «Idee des Herbstes», die sich durch diese wiederholten Erlebnisse bildete, war so stark, dass sie Lewis sein ganzes weiteres Leben begleiten sollte. Im Oktober 1929 berichtet er (nachdem ihm die Beobachtung eines Eichhörnchens auf dem herbstlichen Addison’s Walk in Oxford erneut eine solche Erfahrung beschert hat), dieses Empfinden hole ihn eigentlich in jedem Herbst ein. Und er fragt sich, ob es wohl Zufall ist, dass ihn gerade der Herbst so bewegt, oder ob es nicht vielmehr so ist, dass der Tod des Natürlichen immer mit einer Geburt des Spirituellen einhergeht.
Noch in seinem letzten Werk Letters to Malcolm (1964 postum veröffentlicht; dt. Du fragst mich, wie ich bete) betont Lewis, seine tiefsten und gewiss auch seine frühesten Erfahrungen seien allesamt nicht gegenständlich, sondern von rein qualitativer Natur gewesen. Er folgert daraus, dass Platon vielleicht doch nicht so falsch lag, als er in seiner Ideenlehre abstrakten Nomen, das heißt als Substantive verkleideten Qualitäten wie dem Schönen oder dem Guten den Status höchster Realitäten zuschrieb.
Lewis berichtet von einem dritten Auftauchen dieser besonderen Form des Verlangens, um daran das diesen Erfahrungen gemeinsame Element zu verdeutlichen. In einer Ausgabe der Werke von Henry Wadsworth Longfellow stieß er auf ein (nicht gereimtes) Gedicht namens «Tegnér’s Drapa», das mit den Zeilen begann:
Ich hörte eine Stimme, die rief,Balder der HerrlicheIst tot, ist tot –5
Obwohl er zu diesem Zeitpunkt gar nicht wusste, wer dieser Balder war, tauchte er sofort in die unermessliche Weite nördlicher Himmel ein – eine Empfindung, über die er in ihrer überwältigenden Intensität nur sagen konnte, dass sie etwas mit Kälte, Weite, Strenge, Blässe und Entfernung zu tun hatte. Ganz so spontan, wie Lewis diese Assoziationen im Rückblick erschienen, waren sie allerdings nicht: Bereits die nächsten Zeilen von «Tegnér’s Drapa» handeln von Kranichen, die durch die Himmel des Nordens der von Dunst und Nebel verschleierten Abendsonne entgegen segeln.
Die den drei genannten Erfahrungen gemeinsame Qualität macht Lewis in einem unstillbaren Verlangen aus, das in sich selbst begehrenswerter ist als jede denkbare Erfüllung. Er nennt die Erfahrung «Joy», um sie sowohl gegen andere Freuden als auch gegen andere Verlangen abzugrenzen.6
Von anderen Freuden wie Glück oder Vergnügen unterscheidet sich Joy, da sie von etwas begleitet ist, das man auch eine Art Schmerz oder Trauer (oder sogar eine Todessehnsucht) nennen könnte. Sie trägt den Charakter einer Sehnsucht oder eines Verlangens und zeigt somit einen Mangel an.
Dennoch wird sie als begehrenswerter erfahren – als von einem tieferen Sinn erfüllt – als jede andere der möglichen Freuden, die die Welt zu bieten hat. Nachdem man sie einmal verspürt hat, würde man sie daher nie mehr gegen irgendetwas anderes eintauschen wollen, selbst wenn keine Hoffnung besteht, dass man sie jemals erfüllt bekommt. Lewis formuliert wiederum bewusst paradox: «Dieser Hunger ist besser als jede andere Fülle; diese Armut ist besser als jeder andere Reichtum.» (PR 210)
Der Unterschied zu anderen Verlangen besteht darin, dass der Gegenstand oder das Objekt, dem dieses Verlangen gilt, schwer zu fassen ist. Dies eint Joy mit der Sehnsucht der Romantiker, wie sie im Symbol der blauen Blume zusammengefasst ist: Während man bei anderen Verlangen (z.B. Hunger, Durst, erotischem Verlangen oder intellektueller Neugier) genau sagen kann, worauf sie sich richten, ist das bei Joy unmöglich. Deshalb vertut man sich leicht und glaubt, dasjenige, das die Sehnsucht auslöst, müsse auch ihr Objekt sein, was aber nicht der Fall ist.
Im Unterschied zur Sehnsucht der Romantiker ist Joy jedoch zugleich eine Freude, ja geradezu ein Entzücken. Dieses Entzücken ist bei Lewis so stark ausgeprägt, dass er meint, eine Sekunde Joy wiege problemlos zwölf Stunden bloßes Vergnügen auf. Das aber heißt: Wir strecken uns nicht nur nach etwas aus, das wir nicht haben, sondern im Verlangen selbst ist das, was der Erfahrung ihren Wert gibt, in einer mysteriösen Weise «da». Das Verlangen, das eine Freude ist, macht unsere gewohnte Unterscheidung zwischen Haben und Verlangen zunichte: «Es zu haben ist per definitionem ein Verlangen; danach zu verlangen heißt, zu entdecken, dass wir es haben.» (PR 210)
Dieser letzte Punkt ist insofern wichtig, als er in den bisherigen Analysen von Lewis’ Erfahrung unberücksichtigt bleibt. Sowohl seine Biografen als auch die Verfechter und Kritiker des sogenannten «Argument from Desire» nennen Joy ein auf Erden unstillbares Verlangen, übersehen aber den Aspekt des «Habens». Das hat zur Folge, dass ihre Überlegungen, inwieweit Joy als Beleg für die Existenz Gottes taugt, durchweg in der Luft hängen. Ob positiv oder negativ: ihr Bezugspunkt ist einfach nicht das, was Lewis «Joy» nennt. Wir werden später auf diesen Punkt zurückkommen, wenn es um die Frage geht, welche Rolle die Erfahrung von Joy bei seiner Anerkennung Gottes spielen sollte.
Und noch ein Punkt ist von Belang: Lewis’ Erfahrung war keine rein literarische Erfahrung. Joy war ihm bereits zwei Mal zuteil geworden, bevor sie zum ersten Mal durch ein Gedicht ausgelöst wurde. Was immer Joy hervorruft oder worauf sich die Sehnsucht richtet, ist also keine rein poetische Angelegenheit. Dies blieb auch später so: Manchmal waren es literarische Werke, die zum Auslöser von Joy wurden, manchmal aber auch Musik oder die Natur.
Lewis wusste zudem (obwohl er es offenbar selbst nicht erlebte), dass Joy auch durch die Begegnung mit Menschen ausgelöst werden kann, nicht zuletzt durch Erfahrungen romantischer Liebe. Charakteristisch für eine Erfahrung von Joy ist nicht, wodurch sie ausgelöst wird, sondern die Kombination aus unstillbarer Sehnsucht und überwältigender Freude, die sie als wertvoller erscheinen lässt als jede nur denkbare irdische Erfüllung.
Bemerkenswert ist zudem, dass bereits eine der drei frühen Erfahrungen, die Lewis schildert, von einem Bericht über das Sterben einer Gottheit ausgelöst wurde. Balder ist ein Gott der nordischen Mythologie (nach der Prosa-Edda ist er der Sohn des Odin und der Frigg); er wird in «Tegnér’s Drapa» als der Gott der Sommersonne bezeichnet. In Longfellows Gedicht heißt es, die ganze Welt sei durch einen Zauber gehindert gewesen, ihm Schaden zuzufügen – bis auf die scheinbar unbedeutende Mistel. Der blinde Hödur wirft (getäuscht durch den neidischen Loki) einen zum Speer geformten Mistelzweig auf Balder und tötet diesen dadurch aus Versehen. Damit vergeht die alte Götterwelt und ein neues Reich entsteht, das nicht mehr auf das Gesetz der Macht, sondern auf das Gesetz der Liebe gegründet ist.
Anderen Quellen ist zu entnehmen (bei Longfellow ist davon nicht die Rede), dass es Balder selbst ist, der vom Totenreich zurückkehrt und mit seinem Glanz das neue Zeitalter einleitet. Dieses Thema, das hier erstmals in Lewis’ Leben anklingt, sollte später von enormer Bedeutung für ihn werden – lange, bevor er zum Glauben an den Tod und die Auferstehung Jesu Christi kam.
Die drei bisher genannten Erlebnisse fanden wie gesagt allesamt statt, bevor Lewis im September 1908 nach England ins Internat kam. Sie fanden auch statt, bevor jenes einschneidende Ereignis geschah, das dazu führen sollte, dass ein überforderter Albert Lewis seinen Sohn Jack ins Internat schickte: Flora Lewis stirbt am 23. August 1908 an Krebs (am 45. Geburtstag ihres Mannes Albert). Da sie zuhause gepflegt und dort auch operiert wurde, erfolgte der Abschied von ihren Söhnen nach und nach. Diese empfanden daher einen Großteil ihrer Trauer auch bereits vor dem tatsächlichen Tod der Mutter.
Als Lewis von der Schwere der Krankheit seiner Mutter erfuhr, erinnerte er sich an das, was man ihm über die Kraft des Betens gesagt hatte, und er betete mit aller Kraft um ihre Genesung. Diese Gebete beschreibt er später als das Bemühen, in sich das Gefühl der Gewissheit zu erzeugen, dass seine Mutter durch die Intensität seiner Bitten geheilt werden würde. Als sie trotzdem starb, änderte er die Strategie und betete um ein Wunder, um dann enttäuscht festzustellen, dass auch dies nicht geschah.
Im Rückblick stuft Lewis diese Gebetsversuche als durch und durch irreligiös ein. Sie waren weder von Liebe noch von Ehrfurcht getragen (und auch nicht von Furcht). Das heißt, sie waren kein Ausdruck einer lebendigen Beziehung zu Gott, sondern das Ergebnis seines nackten, egoistischen Wunsches, dieser möge wie ein Zauberer den alten Status Quo wieder herstellen. Als das nicht passierte, hakte er das Thema ab: Es hatte nicht funktioniert; mehr gab es dazu nicht zu sagen. Lewis vermutet, dass der Glaube vieler Kinder auf dieser Stufe verbleibt, weshalb sein Verlust auch keine negativen Folgen für die spätere religiöse Entwicklung einer Person hat.
Die enorme Bedeutung des Todes seiner Mutter bringt Lewis dadurch zum Ausdruck, dass er ihn als das Ende aller Geborgenheit, ja in gewissem Sinn als das Ende seiner Kindheit beschreibt: «Mit dem Tod meiner Mutter verschwand alles gefestigte Glück, alles Friedvolle und Verlässliche aus meinem Leben.» (SbJ 15) Des ruhenden Ankerpunktes in seinem Leben beraubt, musste er von nun an selbst für sein Wohlergehen sorgen. Es gab auch weiterhin Spaß und Vergnügen, und dazu viele Momente von Joy, doch nichts mehr von der alten Sicherheit und Geborgenheit.
Was zurückblieb, waren vereinzelte Inseln im rauen Meer des Lebens; der Kontinent, den er bisher seine Heimat genannt hatte, war jedoch versunken wie das Atlantis der Legende.
Das Empfinden des jungen Jack, mit dem Tod seiner Mutter sei alles gefestigte Glück aus seinem Leben geschwunden, hatte im Wesentlichen zwei Gründe. Ein Grund war die Unfähigkeit seines hoch emotionalen Vaters, die Trauer über den Tod seiner Frau mit seinen Söhnen zu teilen. Albert war weder imstande, auf die Trauer seiner Söhne einzugehen, noch diesen sein eigenes Inneres zu offenbaren. Seine Trauer (die er nie ganz überwinden sollte) entlud sich daher nicht selten in unkontrollierten und von seinen Söhnen als ungerecht empfundenen Gefühlsausbrüchen. Das Ausmaß der rhetorisch oftmals geradezu grotesk überzeichneten Vorwürfe, die die Brüder aus dem kleinsten Anlass treffen konnten, war so groß, dass Lewis sogar zeitweise fürchtete, sein Vater könne ihn sich selbst überlassen und nach Amerika auswandern.
Dass Albert Lewis seine Söhne in seiner Einsamkeit zu seiner hauptsächlichen Gesellschaft erkor – kam er abends von der Arbeit nach Hause, so erwartete er, dass man von da an die Zeit gemeinsam verbrachte –, machte die Situation nicht besser. Es schränkte die Jungen erheblich in ihrer Bewegungsfreiheit ein und bescherte ihnen viele als Qual empfundene Stunden erzwungener Konversation. Die Brüder versuchten, sich vor diesen Übergriffen so gut es ging zu schützen; Lewis vermutet, dass er zu dieser Zeit auch begann, seinen Vater zu belügen. Das Ergebnis: Mit dem Tod der Mutter verloren die Jungen in gewisser Weise auch ihren Vater.
Als weitere unnötige Belastung empfand Lewis die Tanzpartys, die von Zeit zu Zeit in der Nachbarschaft stattfanden und an denen er nach dem Willen des Vaters teilzunehmen hatte. Er war zu jung, um Interesse an Alkohol oder dem anderen Geschlecht zu haben, und konnte auch dem Smalltalk der Gäste nichts abgewinnen; umgekehrt erschien es ihm unmöglich, Gespräche über Themen zu führen, die ihn wirklich interessierten. Das löste bei ihm eine herzliche Abneigung gegen jegliche Form von «gesellschaftlichen Anlässen» aus, die er auch als Erwachsener nie ganz ablegte. Als Albert sich in den folgenden Jahren bemüßigt fühlte, selbst solche Tanzpartys für die Nachbarschaft durchzuführen, kämpfte sein Sohn Jack mit allen ihm zur Verfügung stehenden (rhetorischen) Mitteln gegen diese Zeitverschwendung.
Der zweite Grund für das Schwinden allen gefestigten Glücks aus seinem Leben ist das Internat, in das der neunjährige Jack nur wenige Wochen nach dem Tod seiner Mutter geschickt wird. Der Vater hielt es dabei nicht für erforderlich, seinen Sohn selbst zur Schule zu bringen oder ihm einen anderen Begleiter für die Reise nach England an die Seite zu stellen als seinen dreizehnjährigen Bruder Warnie. Aus heutiger Perspektive erscheint dieses Versäumnis vermutlich größer, als es damals empfunden wurde, es dürfte aber dazu beigetragen haben, dass Lewis den Abschied vom heimischen Belfast als den Verlust seiner bisherigen Sicherheit empfand.
Die Wynyard School in Watford, Hertfordshire war eine kleine Privatschule. Nur etwa 15 Schüler wurden dort unterrichtet, davon die Hälfte Internatsschüler und die andere Hälfte Tagesschüler. Neben dem Schulleiter Robert Capron, einem anglikanischen Geistlichen, waren noch sein erwachsener Sohn Wyn und ein ständig wechselnder Hilfslehrer für den Unterricht zuständig.
Die Schule war zu dieser Zeit nur noch ein Schatten ihrer selbst; äußerlich wie innerlich war das Internat stark heruntergekommen. Das größte Problem war die Grausamkeit Caprons gegenüber seinen Schülern. Als Jack an die Schule kommt, ist körperliche Züchtigung das einzige noch verbliebene pädagogische Mittel. Warnie, der schon seit drei Jahren die Schule besucht, ist bereits ein Veteran im Umgang mit den Zuständen vor Ort. Er hilft seinem jüngeren Bruder, sich in den widrigen Verhältnissen zurechtzufinden, kann diesem seine Unterstützung aber nur für ein Jahr gewähren, da er dann nach Worcestershire aufs Malvern College wechselt.
Die Brüder bitten ihren Vater mehrfach, sie von der Schule zu nehmen, ihr Appell verhallt aber ungehört. Unfähig, wirklich zuzuhören, und getäuscht durch die scheinheiligen Briefe Caprons, weigert Albert sich, zu glauben, dass die Zustände an der Schule tatsächlich so schlimm sind wie von seinen Söhnen geschildert. Dass Albert Lewis die Berichte seiner Söhne für übertrieben hält, hat auch damit zu tun, dass er Robert Capron in seiner Jugend selbst als Lehrer gehabt hatte und aus dieser Zeit einen ganz anderen, viel positiveren Eindruck von ihm zurückbehalten hat.
Man mag sich wundern, weshalb Lewis in Surprised by Joy so viele Seiten auf die Darstellung der Verhältnisse in Watford verwendet. Der Grund hierfür ist seine Überzeugung, dass die Prägungen, die wir in der Kindheit erhalten, enormen Einfluss auf unser weiteres Leben haben. Es geht ihm nicht darum, Rache an seinem ehemaligen Schulleiter zu nehmen, sondern darum, die langfristigen Auswirkungen zu beschreiben, die seine beiden Jahre unter Capron auf ihn hatten. Dabei hält Lewis es durchaus für möglich, dass ursprünglich negative Erfahrungen auch positive Folgen haben können, die jedoch erst im Nachhinein als solche erkennbar werden. Sie können uns Einsichten vermitteln, die wir sonst erst viel später (wenn überhaupt je) erlangt hätten.
Das Ausmaß, in dem Robert Capron seine Machtposition gegenüber seinen Schülern missbrauchte, bezeichnet Lewis als eine Wurzel seiner lebenslangen Abneigung gegen jegliche Form der Autorität, die sich aus dem bloßen Recht des Stärkeren herleitet. Diese Abneigung wurde noch durch die Privilegien (z.B. besseres, tatsächlich genießbares Essen) verstärkt, die Capron seinem stets unterwürfigen Sohn einräumte, aber seinen Schülern und seinen drei völlig verschüchterten Töchtern vorenthielt. Lewis selbst war dabei nicht einmal Caprons bevorzugtes Opfer; weitaus schlimmer erging es jenen Jungen, die durch ihre ungeschliffene Ausdrucksweise unfreiwillig ihre niedere soziale Herkunft offenbarten.
Capron gelang es aber trotz solcher Ungleichbehandlungen nicht, seine Opfer gegeneinander aufzubringen. Im Gegenteil, die mit der Zeit auf die Zahl fünf zusammengeschrumpfte Gruppe rückte unter dem Druck umso enger zusammen. Als entscheidend für das Überleben der kleinen Gruppe bezeichnet Lewis die Tatsache, dass es unter ihnen keinen Verräter gab: Die Jungen litten gemeinsam und freuten sich gemeinsam, sie lieferten einander aber nicht ihrem Peiniger aus.
Diese Form des gemeinschaftlichen Widerstands gegen den Missbrauch von Macht hielt Lewis später für so wichtig, dass er sie als einen Grundpfeiler von Freiheit und Demokratie bezeichnet: Gegen seinen Willen lehrte Capron seine Schüler paradoxerweise, dass Solidarität das beste Mittel gegen Machtmissbrauch ist. Anders gesagt und ins Politische gewendet: Den besten Nährboden für Diktaturen und Geheimpolizei bieten jene gesellschaftlichen Systeme, in denen die «Sei keine Petze-Regel» fehlt.
Lewis geht davon aus, dass das zweifache Empfinden (zuhause und in der Schule), zu zweit oder in einer kleinen Gruppe gegen eine willkürlich agierende Macht zusammenzustehen, Einfluss auf seine gesamte Haltung zum Leben hatte. In beiden Fällen sah er sich mit einer Situation konfrontiert, in der man ihn mit unberechtigten Vorwürfen überzog, in seiner Freiheit beschnitt und zwang, Dinge zu tun, die er eigentlich nicht tun wollte. Und jeweils war die einzige Hilfe sein Bruder oder eine kleine Gruppe von Kameraden an seiner Seite.
Dies ist die vielleicht tiefste Wurzel des Wunsches nach Nichteinmischung in sein Leben, der Lewis’ späteren Glaubensweg prägen wird. Und dies ist vermutlich auch eine Wurzel seiner späteren Begeisterung für die nordische Mythologie, in der der Kampf der guten Götter (Balder, Odin) gegen eine Übermacht grausamer Gegner eine zentrale Rolle spielt.
Lewis nennt noch weitere Auswirkungen seiner beiden Jahre in Wynyard auf seine spätere Sicht auf das Leben. Eine Folge ergab sich aus dem enormen Kontrast zwischen den Schrecken der Internats-Wochen und den Freuden der Ferien. Er verabscheute die Verhältnisse an der Schule so sehr, dass er das Trimester-Ende mit geradezu körperlich spürbarer Intensität herbeisehnte: Rückte der Tag des Ferienbeginns näher, so versagte ihm vor Erregung der Appetit und Schauer freudiger Erwartung liefen ihm den Rücken hinab. Und der Tag selbst war stets noch besser, als die Erwartung ihn gezeichnet hatte. Lewis erklärt, dieser Tag habe ihm seitdem als Kriterium für Freude (im gängigen Verständnis, nicht im Sinn von Joy) gedient.7
Der Kontrast von Schulzeit und Ferien hatte aber noch einen weiteren Effekt. Zu Beginn des Trimesters war es nahezu unmöglich, zu glauben, das Elend werde irgendwann ein Ende haben. Dass die Ferien kommen würden, war zwar eine theoretische Überzeugung, sie hatte aber kein Gegenstück im eigenen Empfinden. Dass es irgendwo weit weg eine Welt ohne Rohrstock, kratzige Kleidung, dreckige Toiletten und ungenießbares Essen geben sollte, war für Lewis in etwa so real wie für die meisten Christen der Glaube, dass es irgendwo einen Himmel gibt, in dem alles irdische Leid vergessen sein wird. Vorstellen konnte er sich diese Welt nicht. Und dennoch geschah am Ende eines jeden Trimesters das Unvorstellbare: Es kam der Tag, an dem er all dies hinter sich ließ und eintauchte in die Freuden der Ferien. Die entgegengesetzte Erfahrung gab es allerdings auch: Zu Beginn der Ferien rückten die Schrecken der Schule in so weite Ferne, dass sie fast nicht mehr wahr zu sein schienen. Und doch war ihm bewusst, dass der Tag kommen würde, an dem es zurückging in die verhasste Schule.
Lewis erklärt, seit dieser Zeit habe er gewusst, was es heißt, an die Existenz zweier Welten zu glauben – an eine Welt voller Freude in Zeiten des Elends und an eine Welt voller Elend in Zeiten der Freude. Dass es zwei solch verschiedene Welten geben kann, war für ihn keine bloße Theorie, sondern eine Tatsache der eigenen Erfahrung. Dieses Wissen sollte ihm später helfen, die Existenz eines Himmels für möglich zu halten, in dem die Sorgen, Ängste und Nöte der Gegenwart verblassen.
In die beiden Jahre, die Lewis in Wynyard verbringt, fällt eine weitere wichtige Entwicklung: Er nimmt zum ersten Mal in seinem Leben eine Art religiöse Praxis auf. Der Ausgangspunkt sind die beiden Gottesdienste, an denen die Jungen sonntags teilzunehmen haben. Die Ästhetik der anglikanisch-hochkirchlichen Liturgie mit ihren Kerzen, Ritualen und Weihrauch ist seinem protestantisch geprägten Empfinden zwar fremd, doch er erfährt etwas über die Lehren des Christentums, und dies aus dem Mund von Leuten, die sie unzweifelhaft selber glauben. Die Existenz Gottes wird für ihn dadurch so real, dass er eine starke Sorge um sein Seelenheil entwickelt. Lewis beginnt, regelmäßig zu beten und in der Bibel zu lesen, und versucht, sich an die christlichen Gebote zu halten. Der Glaube gehört auch zu den Dingen, über die er mit seinen Mitschülern diskutiert, ernsthaft und noch ohne die Scham älterer Jungen.
In intellektueller Hinsicht bezeichnet Lewis die beiden Jahre in Wynyard als verlorene Zeit. Caprons liebstes Fach war die Mathematik, das heißt jenes Fach, mit dem sich Lewis auch später am schwersten tun würde. Andere Fächer wie Geographie oder Geschichte tauchten bestenfalls am Rande des Lehrplans auf und bestanden zumeist aus stupidem Auswendiglernen. Jacks private Lektüre bestand größtenteils aus Schulgeschichten, die er im Wesentlichen als Wunscherfüllungs-Träume einstuft, sowie aus literarisch wenig gehaltvollen Romanen über die antike Welt: Quo Vadis,Ben Hur und so weiter.
Von nachhaltigerer Bedeutung ist die Bekanntschaft mit den phantastischen Abenteuerromanen von Henry Rider Haggard (King Solomon’s Mines,Allan Quatermain,She,Ayesha) sowie den Science Fiction-Geschichten von H.G. Wells (The War of the Worlds,The First Men in the Moon). Letztere wecken in Lewis ein Interesse an fernen Welten und Planeten, das sich später in seiner Perelandra-Trilogie niederschlagen wird. Dies hat jedoch nichts mit dem romantischen Zauber der Ferne zu tun, wie er im Symbol der blauen Blume verkörpert ist: Joy im eigentlichen Sinn ging für ihn nie von Mars oder Mond aus. Tatsächlich ist Joy in dieser Zeit komplett aus seinem Leben geschwunden.
Im Juli 1910 endet Jacks Zeit in Wynyard: nicht, weil Albert Lewis dem Drängen seines Sohnes nachgeben und ihn von der Schule nehmen würde, sondern weil das Internat endgültig seine Tore schließt. Robert Capron stirbt nur wenig später (im November 1911) in einem Heim für Geisteskranke, Lewis erfährt aber erst Jahre danach, dass die Gewalt, die er und seine Mitschüler in Wynyard erlebt haben, Folge einer psychischen Erkrankung ihres Schulleiters war.
Der christliche Lewis wird sich später jahrzehntelang bemühen, seinem ehemaligen Schulleiter seine Grausamkeit zu vergeben. Das gelingt ihm jedoch erst wenige Monate vor seinem Tod. Die Erleichterung, mit der er im Frühjahr 1963 feststellt, dass er nun endlich zur Vergebung fähig ist, macht ihm bewusst, wie sehr er in all diesen Jahren ein Gefangener seines Hasses auf Capron geblieben war.
Diese Erfahrung ist Lewis eine späte Lehre, lässt sie ihn doch verstehen, dass Gott unsere Bereitschaft, anderen zu vergeben, nicht willkürlich als Preis dafür festgelegt hat, dass uns selbst vergeben wird. Heißt es im Vaterunser «Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern», so ist das kein Tauschhandel, den Gott uns hier anbietet, sondern eine Tautologie: Anderen ihre Schuld zu vergeben und Vergebung für unsere eigene mangelnde Bereitschaft zur Versöhnung zu erlangen ist in Wahrheit ein und dasselbe.
Im September 1910 setzt Lewis seine Schullaufbahn am Belfaster Campbell College fort. Die Zeit, die er dort verbringt, ist zu kurz, um ihn nachhaltig zu prägen – bis auf eine Ausnahme: Er lernt Matthew Arnolds Gedicht Sohrab and Rustum kennen. Lewis beschreibt die Lektüre dieses Werkes als seine erste Erfahrung literarischer Ästhetik im eigentlichen Sinn, also von Freude an Literatur als Literatur. Das Gedicht begeistert ihn dermaßen, dass es eine Neugestaltung seines gesamten literarischen Empfindens zur Folge hat:
Ich hatte nicht im Geringsten das Gefühl, in größerer Menge oder besserer Qualität eine Freude zu erhalten, die ich schon kannte. Es war mehr, als wenn ein Schrank, den man bisher als Platz geschätzt hatte, um dort Mäntel aufzuhängen, sich eines Tages, beim Öffnen der Tür, als Weg in den Garten der Hesperiden herausstellte; als wenn eine Speise, die man bisher aufgrund ihres Geschmacks geschätzt hatte, einen (wie Drachenblut) befähigte, die Sprache der Vögel zu verstehen; als wenn Wasser, davon abgesehen, dass es den eigenen Durst löscht, plötzlich zum Rauschmittel würde.8
Der Eindruck, den Sohrab and Rustum beim jungen Jack hinterlässt, hat auch damit zu tun, dass der Text ihn mit der Welt klassischer abendländischer Dichtung bekannt macht. Dies ist insofern ungewöhnlich, als das Gedicht für gewöhnlich nicht unbedingt zu den großen Werken der Weltliteratur gezählt wird. Das hält Lewis aber nicht für entscheidend. Es spielt keine Rolle, durch welches Werk man Zugang zum Gefüge europäischer Dichtung erhält: «Halte nur deine Ohren offen und den Mund geschlossen, und alles wird dich schließlich zu allem Übrigen führen – ogni parte ad ogni parte splende.»9 (SbJ 41)
Einen Effekt hatte der Einstieg bei Matthew Arnold aber doch. Für die meisten Leser dürfte die Freude an Sohrab and Rustum eine Folge der zahlreichen literarischen Bezüge zum Werk Homers sein, die sie beim Lesen entdecken. Bei Lewis war es umgekehrt: Als er später Homer im Original las, bestand ein Großteil seiner Freude darin, nun all jene Stellen zu entdecken, auf die Arnold in Sohrab and Rustum anspielt.
Lewis betont ausdrücklich, Arnolds Gedicht, und damit seine Entdeckung literarischer Schönheit insgesamt, habe ihm keine neuen Erfahrungen von Joy beschert. So sehr ihn die Lektüre auch begeisterte: die dadurch bei ihm ausgelösten Empfindungen hatten nicht den Charakter eines unstillbaren Verlangens, das zugleich als begehrenswerter erfahren wird als jede denkbare Erfüllung.