Calypso (4). Hinter dem Horizont - Fabiola Nonn - E-Book

Calypso (4). Hinter dem Horizont E-Book

Fabiola Nonn

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Beschreibung

***Das große Finale der märchenhaften Unterwasser-Saga***   Noch nie zuvor war das Verhältnis zwischen Menschen und Khimaara so angespannt: Die Angst vor den rebellischen Khimaara und ihrem fanatischen Anführer Hekathi sorgt für große Verzweiflung unter den Siedlern. Sie machen Noemi für die ausweglose Situation verantwortlich. Als diese endlich herausfindet, dass die eigentliche Gefahr gar nicht von Hekathi ausgeht, ist es schon fast zu spät: Das Klima droht erneut zu kollabieren. Der dramatische Anstieg der Wassertemperatur zwingt sogar das stolze Volk der Ondine dazu, sich an Land zu retten. Nur wenn sie zusammenarbeiten, haben die Völker noch eine Chance zu bestehen. Noemi wird klar, dass sie das Risiko eingehen und ihre gesamte Kraft zum Einsatz bringen muss, um das Leben ihrer Freunde und ihre Liebe zu retten.

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Seitenzahl: 304

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Impressum
Widmung
#1 – Tineal Merion Tosca
#2 – Ein kaltes Echo
#3 – Die Kerker von Lumina
#4 – Gefährliche Pläne
#5 – Dreizack und Krone
#6 – Mit vereinten Kräften
#7 – Dem Untergang geweiht
#8 – Nur eine Frage der Zeit
#9 – Der Strom der Ewigkeit
– Epilog –
– Danksagung –

Roman

Digitale Originalausgabe

Impressum

Ein Imprint der Arena Verlag GmbH Digitale Originalausgabe © Arena Verlag GmbH, Würzburg 2017 Covergestaltung: Sarah Buhr Alle Rechte vorbehalten E-Book-Herstellung: Arena Verlag 2017 ISBN: 978-3-401-84022-2www.arena-verlag.dewww.arena-digitales.deFolge uns!www.facebook.com/digitalesarenawww.instagram.com/arena_digitaleswww.twitter.com/arenaverlagwww.pinterest.com/arenaverlag

WidmungFür Patrick,

weil ich das alles mit dir teilen darf, und du mir immer wieder Mut machst. Indem du einfach da bist. Danke.

»Ich denke dein, wenn mir der Sonne Schimmer

vom Meere strahlt;

Ich denke dein, wenn sich des Mondes Flimmer

In Quellen malt.

Ich sehe dich, wenn auf dem fernen Wege

Der Staub sich hebt;

In tiefer Nacht, wenn auf dem schmalen Stege

Der Wandrer bebt.

Ich höre dich, wenn dort mit dumpfem Rauschen

Die Welle steigt.

Im stillen Haine geh‹ ich oft zu lauschen,

Wenn alles schweigt.

Ich bin bei dir; du seist auch noch so ferne,

Du bist mir nah!

Die Sonne sinkt, bald leuchten mir die Sterne.

O, wärst du da!«

Nähe des Geliebten

von Johann Wolfgang von Goethe

#1 – Tineal Merion Tosca

Mit zielstrebigen Flossenschlägen stoße ich hinab in die Tiefe. Meine optischen Sinne passen sich an die Dunkelheit an, doch das Wasser ist nicht klar genug um besonders weit sehen zu können. Ich erahne die Struktur naher Felsformationen und die raschen Bewegungen von Fischen, die abrupt die Richtung wechseln, kaum dass sie mich wittern. In diesem Körper machen die stetig sinkenden Temperaturen mir nichts aus. Ich konzentriere mich auf den leisen Ruf von Nalanee: die vertraute Melodie im Wasser, die mich zur sagenumwobenen Stadt der Ondine führen wird. Jenem Ort, der dazu bestimmt gewesen wäre, auch meine Heimat zu sein.

Obwohl Nalanee für die meisten Khimaara viel mehr Gefängnis als Zuhause war, klingt seine Melodie für mich noch immer verlockend. Sie verspricht Hoffnung – und ich versuche an diesem Gefühl festzuhalten, auch wenn meine Hoffnung in Bezug auf die Ondine bereits mehrfach enttäuscht wurde. Außerdem könnte mir nicht nur das maritime Volk gefährlich werden, ich muss mich auch vor Calypso in Acht nehmen. Denn die dunkle Tiefsee ist das Reich eines Dämons, in den sich die Meeresgöttin nach ihrer Verbannung verwandelt hat. Schon unsere letzte Begegnung hätte mich beinahe das Leben gekostet. Und spätestens seit ich ihre Tochter Nereyda aus den Schatten der Verdammnis befreit habe, scheint sie es auf mich abgesehen zu haben. Aber ich habe keine andere Wahl. Ich muss nach Nalanee, um Tineal Merion Tosca zu finden: den einzigen Khimaara außer mir, der mehr als nur zwei Omen beherrscht und der selbst unter den Ondine zu Macht und Einfluss gekommen sein soll. Wenn er mir nicht helfen kann, Baran Hekathi aufzuhalten, kann es vermutlich niemand.

Ich versuche mich nicht einschüchtern zu lassen von der Ahnung, dass der Dämon Calypso irgendwo hier unten auf mich lauern könnte. Die Melodie der maritimen Stadt hat eine beruhigende Wirkung auf mich, also konzentriere ich mich darauf – und denke an die schimmernden Türme, den Wasserfall über der Stadt und die exotischen Pflanzen in den üppig angelegten botanischen Plattformen, die mir von meinem letzten Besuch in Erinnerung geblieben sind. Jeder Flossenschlag treibt mich weiter hinab in die Tiefe. Und mit jedem Schlag nehme ich ihre Anwesenheit deutlicher wahr. Calypso. Auch wenn ich sie nicht sehe, glaube ich ihren Blick im Nacken zu spüren. Genau wie ihre langen Finger, die nach mir greifen. Ich ignoriere dieses unheimliche Gefühl und verbiete mir, auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Egal wie stark der Impuls ist. Ich schwimme weiter – um die Dunkelheit hinter mir zu lassen. So schnell wie möglich.

In meinen Ohren schwillt der Ruf Nalanees immer weiter an. Mein Gefühl von Sicherheit wächst, je deutlicher die Melodie wird. Ähnlich einem verschwommenen Bild, das endlich eine klare Gestalt annimmt, werden die Akkorde greifbar. Als der blasse Schimmer der Kuppel schließlich durch die Dunkelheit dringt, gebe ich mich ganz bewusst dem Gefühl hin, an diesem Ort richtig zu sein. So entziehe ich mich dem Einflussbereich des Dämons. Zwischen den Welten ist er am stärksten. Doch indem ich mich vorübergehend zu einer Seite bekenne, nehme ich Calypso die Macht über mich.

Ich erreiche das große Tor mit seinen maritimen Motiven, verschlungenen Mustern, die an Tiefseebewohner erinnern, Pflanzen und fremdartig anmutenden Tieren. Obwohl das Wasser inzwischen sauber und frisch ist, liegt die Stadt vollkommen verlassen da. Ganz anders als in meiner Erinnerung, schwärmen heute weder Abgeordnete der Stadtwache noch Kinder, junge Frauen oder Männer mit Netzen durch das massive, steinerne Tor. Ich ertappe mich bei dem Gedanken daran, dass die Ondine womöglich gar nicht mehr hier sind. Schließlich weiß niemand, was sich in den letzten Wochen und Monaten hier unten abgespielt hat – während wir an der Erdoberfläche um unser Überleben gekämpft haben. Mein Bruder Ash und ich haben bewusst darauf verzichtet, Kontakt zu den Ondine zu halten. Nach allem, was sie ihm angetan haben, ist uns diese Entscheidung nicht besonders schwergefallen. Und alles, was wir darüber hinaus von den Khimaara erfahren haben, hat unseren Entschluss nur bestärkt.

Trotzdem bin ich jetzt hier – und schwimme zielstrebig auf die Barriere zu, die Nalanee umgibt. Ich bin so entschlossen, unseren Hoffnungsträger zu finden, dass ich die Gefahr in unmittelbarer Nähe vollkommen ausblende. Die Verunsicherung durch den Anblick der scheinbar verlassenen Stadt reicht aus, um meine innerlich aufgebaute Abwehr zu schwächen. Und bevor ich reagieren kann, schlägt der Dämon zu. Im ersten Sekundenbruchteil ist es nur eine merkwürdige Ahnung, die mich überfällt. Doch sie breitet sich schnell in mir aus – immer weiter, wie ein sternenloser, dunkler Himmel. Obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, mich nicht umzudrehen, kann ich dem Drang nicht länger widerstehen. Ich schieße weiter auf das große Tor von Nalanee zu, während ich den Kopf drehe. Es ist wie ein Reflex – den ich sofort bereue: Die Dunkelheit bricht über mich herein. Sie kriecht in jede meiner Poren. Umschließt und überwältigt mich. Vollkommen bewegungsunfähig starre ich hinaus in eine Nacht, die so makellos und abgrundtief ist, dass sie mich alles Leben und Glück in diesem Universum vergessen lässt. In mir breitet sich eine Leere aus, die mir den Atem raubt. Ich verliere jegliche Orientierung. Sogar das Gefühl dafür, wo unten und oben ist. Ich vergesse die Welt um mich herum – genau wie die Geschwindigkeit, mit der ich durch das Wasser gleite. Bis ich auf die Membran des großen Stadttors pralle und sie durchstoße. Der Schmerz des Aufpralls reißt mich zurück in die Realität. Und sobald ich wieder Luft atme, wird die Rückverwandlung ausgelöst. Ich rutsche über den kalten, harten Marmorboden, während meine Lungen sich entfalten und meine Beine sich aus der Vereinigung der Flosse lösen. Von irgendwoher dringt warmes Licht. Hustend und keuchend rapple ich mich auf. Doch kaum stehe ich, wird mir schon wieder schwindelig. Meine Knie geben nach, ich habe das Gefühl mich übergeben zu müssen. Stattdessen spucke ich nur Salzwasser aus. An den gewaltigen Druckunterschied zwischen Strand und Tiefsee hat mein Körper sich einfach noch nicht gewöhnt.

Wenigstens ist die Kuppel von Nalanee mit Luft gefüllt, genau wie unsere frühere Heimat Calypso. Sie wurde nach einer Göttin benannt – doch seit ein paar Tagen weiß ich, dass die Kraft dieser Kreatur alles andere als göttlichen Ursprungs ist. Ich mache ein paar vorsichtige Schritte. Der Zauber des Dämons scheint verflogen zu sein. Calypso hat sich in die Dunkelheit zurückgezogen. Und es ist, als wäre sie nie dagewesen. Meine Sicht wird allmählich wieder klarer. Als ich Schritte höre, werfe ich beiläufig eines der fließenden Leihgewänder über, die hier für die Ondine nach der Verwandlung bereitliegen. Begleitet von einer Dampfwolke verlässt eine Frau das öffentliche Bad, das direkt neben dem Eingang zur Stadt liegt. Mein Herz setzt einen Schlag aus, doch ihr Blick streift mich, ohne Verdacht zu schöpfen. Dann schlägt sie den Weg zur Stadt ein. Sie scheint nichts bemerkt zu haben. Niemand scheint etwas bemerkt zu haben – überhaupt ist nicht besonders viel los hier unten. Irritiert sehe ich mich um. Anders als beim letzten Mal ist der Bereich der Schleuse durch einen leichten, weißen Vorhang vom Rest der Stadt getrennt. Dahinter erahne ich Lichter, Silhouetten. Außerdem höre ich leise Stimmen, die aus der Ferne zu mir durchdringen. Die Stadt ist also doch belebt. Als ich einen Blick zurückwerfe, erkenne ich auf der anderen Seite der Membran ebenfalls Ondine. Mit eleganten Bewegungen schweben sie draußen am Stadttor vorbei. Während ich sie beobachte, steigt ein merkwürdiges Gefühl in mir auf. Die Vision des Dämons muss mich davon abgehalten haben, das Treiben vor der Stadt gleich zu erkennen. Calypso hat noch immer einen starken Einfluss auf mich. Ob sie mich ablenken und damit verhindern wollte, dass ich Nalanee erreiche? Ich weiß es nicht. Aber falls ich mit dieser Befürchtung richtig liege, wäre das nur ein weiterer Hinweis darauf, dass meine Suche nach Tineal sich tatsächlich lohnen könnte.

Ich werfe einen letzten Blick zurück auf das lebhafte Treiben im Wasser vor der Stadt und atme noch einmal tief durch. Beim Beobachten dieser fast schon alltäglichen Szene beruhigt sich mein Herzschlag und ich fühle mich gleich sicherer. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass etwas anders ist als sonst. Eine sanfte Vibration erfüllt die Luft. Ich glaube den Rhythmus einer beschwingt-feierlichen Melodie zu erkennen. Sie klingt nicht mystisch, wie der Ruf von Nalanee, sondern instrumental und beinahe volkstümlich. Kaum schüttle ich das Wasser aus meinen Ohren, erkenne ich die Stimmen einzelner Instrumente heraus. Auch der Schwindel lässt jetzt nach. Sicherheitshalber taste ich mich trotzdem an der Wand entlang, bis ich ein Regal aus dunklem Stein erreiche, dessen quadratische Fächer so niedrig gelegen sind, dass ihre Oberfläche gleichzeitig als Sitzgelegenheit dient. Ich werfe einen Blick auf die Silhouetten hinter dem Vorhang. Doch niemand scheint mich zu bemerken. Was ist da nur los?

Hastig stolpere ich weiter, in den Duschbereich, wo ich mein Gewand zusammenfalte und auf einer der niedrigen Regalreihen ablege. Ein paar der quadratischen Fächer sind mit Schuhen oder Taschen belegt. So etwas wie Schließfächer gibt es nicht. Die Ondine scheinen einander zu vertrauen. Als ich unter den Strahl eines warmen Wasserfalls schlüpfe, kommt es mir auf einmal so vor, als sei mein letzter Besuch hier unten schon ewig her. Fröstelnd verharre ich unter dem angenehmen Strahl, bis die Übelkeit langsam nachlässt. Wenigstens kann ich inzwischen wieder klar sehen. Gefächerte Blätter ragen aus Steintöpfen empor, geben dem Raum ein exotisches Ambiente. Alles hier ist so makellos, dass es mir im Vergleich zu dem ganzen Elend an der Erdoberfläche beinahe lächerlich erscheint.

Ich könnte ewig hierbleiben, das heiße Wasser auf meinen Schultern genießen und mich dem sanften, reinigenden Gefühl hingeben, während ich die Umgebung auf mich wirken lasse. Aber leider bin ich nicht zum Duschen hergekommen. Es kostet mich Überwindung, den heißen Wasserstrahl zu verlassen. Und der Gedanke daran, Nalanee in einem der Leihgewänder zu durchqueren, macht es auch nicht leichter. Aber vorerst bleibt mir wohl keine andere Wahl. Ich ergebe mich meinem Schicksal und trete vor die Regalreihe … wo ich ein Handtuch finde, das vorhin garantiert noch nicht dort war. Darunter liegt ein Gewand aus festem, hellem Stoff. Die Farben wirken feierlich und gleichzeitig seriös. Verstohlen sehe ich mich um. Wäre jemand hereingekommen, hätte ich das doch bemerkt. Das mulmige Gefühl ist sofort wieder da. Wenn wirklich jemand hier war und das Wappen an meinem Oberarm gesehen hat, würde das sicher Fragen aufwerfen. Ich habe Nalanee damals als neutrale Botschafterin verlassen. Und nun trage ich offiziell das Wappen einer Minderheit, die jahrelang im Untergrund der maritimen Stadt gelebt hat. Außer mir scheint niemand hier zu sein. Nur deshalb greife ich nach dem Gewand. Auf dem Handtuch darunter hat jemand eine Karte platziert:

Herzlich willkommen zurück, Noemi.

Verblüfft stelle ich fest, dass sie an mich adressiert ist. Der Absender besitzt wohl keinen Namen, aber dafür grün schimmernde Tinte und eine ausgesprochen gleichmäßige Handschrift. Merkwürdig, schließlich kenne ich niemanden hier unten. Und dass jemand von meiner Anwesenheit in Nalanee erfahren haben sollte, kann ich mir auch nicht vorstellen. Während ich in das Gewand schlüpfe, versuche ich mir einzureden, dass es ein gutes Zeichen ist: Jemand hat mich erkannt und versucht mir zu helfen. Trotzdem beunruhigt mich die Tatsache, dass dieser Jemand es offenbar nicht einmal für nötig gehalten hat, seinen Namen auf der Karte zu vermerken. Ich verbanne eine feuchte Haarsträhne hinter mein Ohr zurück, bevor ich mich durch den Vorhang im Bereich der Schleuse schiebe und die festlich geschmückte Stadt betrete. Sofort umhüllen mich Stimmen, Melodien, Gelächter. Anders als bei meinem letzten Besuch tragen die Ondine heute besonders schöne Gewänder und Masken. Die Kostüme sind genauso vielseitig wie die prachtvollen Banner und Schmuckbänder über der Straße – von schlichter Eleganz bis hin zu schillernder Extravaganz ist alles vorhanden. Ein herzhafter Duft steigt aus den dampfenden Töpfen, die auf dem großen Platz vor dem Tor aufgebaut sind. Zu einer cremigen Suppe werden Spieße gereicht und etwas, das aussieht wie Brot. Ein wenig erinnert mich das bunte Treiben an den Zustand der Stadt, als wir sie verlassen haben. Es muss vor ziemlich genau vier Monaten gewesen sein, als die Ondine den Erfolg ihrer Verhandlungen gefeiert haben – in deren Konsequenz die Menschen zu ihrem neuen Leben an Land aufbrechen mussten. Unglaublich, dass seitdem schon so viel Zeit vergangen sein soll. Womöglich sind es heute sogar auf den Tag genau vier Monate. Könnte das sein?

Verunsichert durch die Karte, die sich jetzt in einer kleinen Innentasche meiner Robe befindet, und staunend zugleich, schiebe ich mich durch die Menge. Ich bahne mir einen Weg am Hafen vorbei, bis ich die belebten Gassen unterhalb der steil aufragenden Felswand erreiche. Hier und dort haben sich kleine Gruppen gebildet. Es wird gesprochen, gelacht und getrunken. Das Klirren der feinen Gläser erinnert mich an längst vergangene Zeiten meiner eigenen Heimatstadt. Auch die elegant gekleideten Frauen mit ihrem silbergrau schimmernden Haar, durchzogen von geflochtenen Zöpfen – das alles wirkt auf mich wie ein Abbild unserer eigenen Kultur, die im Strom der Zeit verblasst ist. Ich halte inne, weil ich wütend werde. Ich weiß selbst nicht genau warum. Da zieht ein Schwarm kichernder Mädchen an mir vorbei.

»Auf vier Monde in Freiheit!«, jubelt eine von ihnen und wirft das schlohweiße Haar über die Schulter zurück. Vier Monde hat sie gesagt? Eine Welle von herb-salzigem Meerschaumduft und Seerosen strömt über mich hinweg. »Unfassbar, wie sauber das Wasser ist, seitdem diese wilden Tiere sich in die Wüste zurückgezogen haben, nicht wahr?«

»Dort oben können sie Dreck machen, so viel sie wollen«, stimmt ihr ein junges Mädchen mit wolkenblauen Augen zu und nippt an ihrem Glas. Vier Monde … oder besser gesagt Monate. Aus der unbeschwerten Unterhaltung schließe ich, dass diese Feier tatsächlich unserer Niederlage gilt. Die Mädchen bemerken gar nicht, dass ich sie wütend anfunkle. Und womöglich ist das auch besser so. Es kommt mir vor, als würde selbst der Stoff ihrer edlen Gewänder herablassend rascheln. Die Reflexionen ihrer Gläser funkeln hämisch – und jede einzelne Perle in ihrem kunstvoll geflochtenen Haar scheint mich zu verhöhnen. In diesem Moment wird mir klar, dass es diese Mädchen nicht interessiert, was oben an Land passiert. Es interessiert niemanden hier. In Nalanee scheint die Welt wieder in Ordnung, seit die Menschen vertrieben und das Problem der Verschmutzung damit behoben wurde. Vermutlich wissen die Ondine gar nicht, welches Elend sich über ihren Köpfen abspielt. Und selbst wenn, würde es sie bestimmt nicht interessieren.

»Warst du während der feierlichen Eröffnung etwa schwimmen?«, raunt mir jemand von der Seite zu. Ich fahre herum und starre den vor mir stehenden Mann an, als wäre er gerade aus dem Nichts aufgetaucht.

»Ich war nicht die einzige«, erwidere ich schnell, weil ich das Bedürfnis habe, mich zu rechtfertigen. Der Herr trägt einen dunkelblauen Frack mit perlmuttschimmernden breiten Streifen. Hinter seiner Maske funkelt ein blaugrünes Augenpaar. Ich glaube, etwas Vertrautes darin wiederzuerkennen. Doch es gelingt mir nicht, dieses vage Gefühl einzuordnen. Er könnte zur Stadtwache gehören, oder ein ganz normaler Bürger Nalanees sein. Als er meine Verunsicherung bemerkt, bahnt uns der Fremde mit eleganten Bewegungen einen Weg durch die Menge. Wir landen in einer Seitengasse, die vom atmosphärischen Licht kleiner Lampions erfüllt ist – und ich bringe sofort wieder einen großen Schritt Abstand zwischen uns.

»War dieses Gewand von Ihnen?«, erkundige ich mich, dieses Mal ohne zu zögern. Ich muss einfach wissen wer er ist. Außerdem beschäftigt mich noch immer, ob er von dem Wappen an meinem Oberarm weiß. Und welche Folgen das haben wird.

»Es steht dir wirklich ausgezeichnet, Noemi.« Die Antwort lässt mich darauf schließen, dass er tatsächlich der Absender dieser Karte sein muss. Seine reife, ruhige Stimme lässt mich darauf schließen, dass dieser Mann ungefähr so alt sein muss wie mein Vater. Vielleicht auch etwas älter, obwohl seine Bewegungen geschmeidig und vornehm sind. »Außerdem wird es dich vor neugierigen Blicken schützen, solange du hier bist.«

»Was meinen Sie damit?« Meine Augen verengen sich zu Schlitzen. Intuitiv verschränke ich die Arme vor der Brust. »Wer sind Sie überhaupt?«

»Kommt ganz darauf an, wen du suchst. Hin und wieder bin ich als Hüter der Barrieren gefragt. In meinem anderen, offizielleren Amt hatten wir bereits die Ehre.« Als er die glatte Maske aus Perlmutt zurückschiebt, schnappe ich nach Luft.

»Sie sind … der Hohe Rat von Nalanee!«, platzt es aus mir heraus. Ich kenne diesen Mann. Wir sind uns auf seinem Flaggschiff begegnet, wo ich mich für das Friedensabkommen zwischen Menschen und Ondine eingesetzt habe. »Aber warum Hüter der Barrieren?« Als er den Kopf in den Nacken legt, tue ich es ihm gleich. Ich sehe nichts – außer der Kuppel von Nalanee, die in einem friedlichen Fliederton schimmert … wieso ist mir das nicht sofort aufgefallen? Es ist die gleiche Art von Magie, die auch für den Schutzzauber über der Siedlung verantwortlich war. Die Magie der Khimaara. Ich habe mich nie gefragt, wie die Ondine eine solche Barriere aufrechterhalten konnten, während sie selbst über keinerlei magische Kräfte verfügten. Seit ich jedoch weiß, dass es die Khimaara gibt, und dass ausgerechnet der Stärkste von ihnen sich entschieden hat, in Nalanee zu bleiben, um das Volk der Ondine zu beschützen, ergibt das alles Sinn.

»Wenn Sie diese Barriere erschaffen haben, müssen Sie ein Khimaara sein …« In meinem Kopf fahren die Gedanken Karussell. Das kann doch nicht sein. »Sind Sie etwa …?«

»Mein Name ist Tineal Merion Tosca«, stellt der Hohe Rat sich mit einer angedeuteten Verbeugung vor. »Leider hatten wir bei unserer letzten Begegnung keine Gelegenheit, uns näher kennenzulernen. Dabei hat deine Tapferkeit mich sehr beeindruckt. Wäre die Lage damals nicht so angespannt gewesen, hätte ich dir früher von uns erzählt. Von deinesgleichen, den Khimaara.«

Es ist wahr – bei unserem ersten Treffen hatten wir nicht viel Zeit. Schon gar nicht für ein Gespräch unter vier Augen, so wie jetzt. Es ging um eine Angelegenheit, die bereits kompliziert genug war und keinen Aufschub duldete. Aber nun, da sich die Gelegenheit erneut bietet, halte ich mich nicht länger zurück. »Woher wussten Sie, dass ich in Nalanee bin?« Ich kann immer noch nicht glauben, dass er wirklich vor mir steht: Tineal Merion Tosca. Der Hohe Rat von Nalanee und Wächter der Barrieren. Wieso haben Franja und Nicon mir das nicht gleich gesagt?

»Niemand passiert die Membran, ohne dass ich es bemerke, Noemi. Das trifft insbesondere auf unerwartete Gäste wie dich zu«, erklärt er mit einem gutmütigen Lächeln. »Und nachdem wir uns eine Weile nicht gesehen haben, war ich neugierig zu erfahren, was dich in die Stadt der Ondine führt – an einem Tag wie diesem.« Er deutet in die Menge der lachenden, maskierten Gesichter. Dabei kommt es mir so vor, als läge eine gewisse Schwermut in seiner Geste. Und obwohl ich den Ursprung seines Grams nicht deuten kann, empfinde ich ganz ähnlich. Ich beiße mir auf die Lippe und denke an die gescheiterte Verhandlung zwischen Menschen und Khimaara. Das Ereignis, mit dem wir ein Zeichen zum viermonatigen Bestehen der Siedlung setzen wollten. Doch wieder einmal waren die Verhandlungen nicht besonders erfolgreich, und deshalb bin ich jetzt hier. Weil ich erneut auf Hilfe angewiesen bin. Wie es scheint, bin ich jedoch nicht die Einzige, die gewisse Hoffnungen an dieses Treffen knüpft. Während Tineal und ich uns im anonymen Strom der Menge treiben lassen, versuche ich seine Gesichtszüge hinter der Maske zu erahnen.

Auf der Suche nach einem unverfänglichen Gesprächsthema fällt mir wieder ein, wem ich diese Begegnung überhaupt zu verdanken habe. »Ich soll Ihnen übrigens Grüße ausrichten, von Franja und Nicon.« Als er die Namen seiner Kinder hört, weiten sich die ruhigen, blaugrünen Augen des Hohen Rates. Im schwachen Licht treten die Falten auf seiner Stirn deutlich hervor – er bleibt stehen, um sich am Pfahl einer Laterne zu stützen. Das fröhlich flackernde Licht des festlichen Lampions steht im völligen Kontrast zu seiner Körperhaltung. Auf einmal wirkt Tineal schrecklich alt. Und erschöpft. »Die beiden sind noch am Leben?«, murmelt er. Bevor ich fragen kann, warum sie das nicht sein sollten, fährt er hastig fort: »Wann hast du sie gesehen – und wo?«

Seine Betroffenheit erschreckt mich, deshalb antworte ich so schnell und diskret wie möglich. »Kurz bevor ich losgeschwommen bin, habe ich noch mit beiden gesprochen.«

Das scheint die Antwort zu sein, die Tineal hören wollte. Er nickt rasch und löst seinen Griff von der Laterne. Als wir weitergehen, räuspert er sich leise. Trotzdem klingt seine Stimme belegt und ich kann nur ahnen, welche widersprüchlichen Gefühle sich hinter seiner Maske verbergen.

»Sind sie etwa noch immer bei Baran?«, lautet seine nächste Frage. »Geht es den beiden wirklich gut?« Trotz gedämpftem Tonfall ist die Dringlichkeit in seiner Stimme nicht zu überhören. Ich weiß gar nicht so recht, was ich darauf erwidern soll. Sie sind am Leben und unverletzt. Im Vergleich zu Zevion und Kaela geht es ihnen also gut.

»Den Umständen entsprechend.« Das trifft es vielleicht am ehesten. »Sie sind nicht mehr bei Hekathi. Allerdings macht der uns gerade große Schwierigkeiten.«

»Ich fasse es nicht«, knurrt Tineal. Die plötzliche Verbitterung in seiner Stimme überrascht mich. Und nach dieser Reaktion wage ich auch nicht, ihn auf sein Verhältnis zu Baran anzusprechen. Besonders erfreut klingt er jedenfalls nicht. »Und Adrien? Hat der ihm wenigstens noch etwas entgegenzusetzen?« Ich hebe die Augenbrauen, mehr muss ich dazu nicht sagen. Tineal seufzt und lässt die Schultern sinken. Er hat sich erstaunlich schnell wieder gefasst und seine Fassade als Mann der Regierung aufgesetzt – ganz ähnlich wie ich es von meinem Vater kenne. Ich vermute, die Nachricht von seinen Kindern wird als wichtige neue Tatsache in seine Einschätzung der Lage mit einfließen – und mit über das weitere Vorgehen entscheiden. Unsere Überlegungen im Vorfeld müssen natürlich auf einer rationalen Ebene stattfinden. Aber ich bin erleichtert, wenigstens in Bezug auf Baran und seine Machenschaften kein Blatt vor den Mund nehmen zu müssen. Tineal scheint meine Ablehnung ihm gegenüber zu teilen. Kurz, präzise und wenig diplomatisch fasse ich zusammen, was sich in den letzten zehn Stunden an Land zugetragen hat: Dass die Khimaara sich nur auf meinen Vorschlag eingelassen haben, um uns anschließend zu provozieren und das ganze Arrangement der Verhandlungen platzen zu lassen. Als ich erwähne, dass Hekathi auch Adrien Tosca in seine Gewalt gebracht hat, verdunkelt sich die Miene des Hohen Rats gefährlich.

»Wir vermuten, dass Hekathi die Verhandlungen nur als Vorwand benutzt hat, um die Loyalität seiner Anhänger auf die Probe zu stellen«, erkläre ich und füge hinzu: »Adrien hat von Anfang an daran geglaubt, dass Menschen und Khimaara eine Chance gegen die Abtrünnigen haben, wenn sie an einem Strang ziehen.« Dass ich sein Engagement lange Zeit falsch gedeutet habe, muss Tineal ja nicht unbedingt wissen.

»Die Abtrünnigen?«, erkundigt er sich. Da erst wird mir bewusst, dass der Hohe Rat von Nalanee noch gar nicht weiß, was den Khimaara nach ihrer Flucht widerfahren ist. Ich erzähle ihm alles, was ich über Celonia und die Spaltung der Abtrünnigen weiß. Als es um die Geschichte von Kaela geht, die durch die Hand ihrer Schwester in den Ruinen starb, versagt meine Stimme. Auch den Hohen Rat scheint diese Nachricht tief zu erschüttern. Und während gut gelaunte Ondine im Takt der Musik an uns vorbeischlendern, schweigen wir.

Schließlich schüttelt Tineal traurig den Kopf. »Ausgerechnet Moryna und Kaela«, murmelt er fassungslos. »Es hieß immer, die beiden seien unzertrennlich.«

»Unzertrennlich«, wiederhole ich mit rauer Stimme. Ja, das ist nach wie vor zutreffend – wenn man bedenkt, weshalb Kaela sterben musste. Wir werden mehr als nur Schwestern sein, waren Morynas letzte Worte.

»Die Macht der Splitter hat die Khimaara zerrissen. Und gemeinsam mit Baran befeuert ihre sogenannte Mutter den Hass, um alles zu bekämpfen, was nicht auf ihrer Seite steht. Wenn wir nichts unternehmen, werden sie sich gegenseitig auslöschen«, fahre ich fort. »Und was dann aus den Menschen dort oben wird, will ich mir gar nicht ausmalen.«

»Das ist eine berechtigte Frage«, murmelt Tineal und fügt mit einem vorsichtigen Blick über die Schulter hinzu: »Aber wir sollten das woanders besprechen.«

Ich stimme mit einem knappen Nicken zu, und wir gehen noch ein Stück weiter die Gasse entlang. Bei meinem letzten Besuch ist mir gar nicht aufgefallen, wie angenehm frisch die Luft hier unten in der Tiefe ist – oder wie sauber das Vulkansteinpflaster unter unseren Füßen. Die Steine variieren leicht in Form und Größe, wobei die geschliffene Oberfläche ihnen einen schimmernden Glanz verleiht. Wir kommen an einem kleinen Stand vorbei, der mit bunten Tüchern dekoriert ist. Tineal deutet auf einen der großen Töpfe, woraufhin die alte Frau hinter dem Tresen breit lächelnd zwei Tonschalen über den Tresen schiebt.

»Wenn du schon hier bist, solltest du dir das nicht entgehen lassen«, erklärt er und reicht mir eine Schale, obwohl ich wirklich keinen Hunger habe. »Außerdem wirst du Kraft brauchen, für den Rückweg.«

Da hat er allerdings recht. Ich murmle ein höfliches Dankeschön und umschließe die Schale mit beiden Händen. Die Wärme tut gut. Außerdem duftet die Suppe nach Zimt und Äpfeln. Eine Kombination, die ich nicht erwartet habe, und die mich sofort die Leere in meinem Bauch spüren lässt. Wir lassen das bunte Treiben hinter uns und betreten einen stillen Garten. Er liegt zwischen den Arkaden, deren Bauweise mich an die Architektur auf Lumina erinnert. Offensichtlich ist es den Khimaara nicht ganz gelungen, den Einfluss ihrer alten Heimat hinter sich zu lassen. Ich weiß noch, dass sich ganz in der Nähe das Gefängnis von Nalanee befinden muss. Bei der Erinnerung an meinen kurzen Aufenthalt dort beschleunigt sich mein Herzschlag. Dabei glaube ich wirklich nicht, dass Tineal mich gegen meinen Willen hier festhalten wird, nachdem er mich gerade erst mit Suppe und Informationen versorgt hat.

Im Halbdunkel zwischen den plätschernden Springbrunnen stehen Bänke aus weißem Marmor. Die einzige Lichtquelle geht von den Laternen unter den Arkaden aus. Wie es scheint, sind wir hier ungestört. Und durch das Rauschen des Wassers wird uns niemand belauschen können.

Während wir uns setzen, nehme ich einen vorsichtigen Schluck von der Suppe. Fruchtige Süße mischt sich mit warmen Gewürzen und löst sofort ein wohliges Gefühl in mir aus. Etwas beruhigt, aber auch erschöpft, sinke ich in mich zusammen.

»Warum sind Sie denn nicht einfach mitgekommen? Warum sind Sie nicht gemeinsam mit ihrer Familie an Land gegangen?«, frage ich, um an unser Gespräch anzuknüpfen. Es ist ein sehr persönliches Thema, das ist mir bewusst. Tineal umschließt seine Schale schweigend, mit beiden Händen, als müsste er sich daran festhalten. Ich befürchte fast, mit dieser Frage zu weit gegangen zu sein und keine Antwort zu bekommen. Da seufzt er.

»Weil ich mich vor langer Zeit dazu entschlossen habe, Verantwortung für diese Stadt zu übernehmen.« Sein Blick schweift in die Ferne. »Im Gegensatz zu Hekathi und Adrien hat meine Abstammung mich nie davon abgehalten, in der Gesellschaft von Nalanee Fuß zu fassen. Nach der Ausbildung habe ich mich im Stadtrat beworben und wurde angenommen. Ich hatte das Glück, dass schon der Hohe Rat vor mir den Khimaara liberaler gegenüberstand, als es in Nalanee üblich war. Gleichzeitig unterhielt ich Kontakte zum Widerstand. Man könnte sagen, ich war in einer ganz ähnlichen Situation wie du es jetzt bist.« Ich folge jedem seiner Worte aufmerksam. »Gemeinsam mit Baran, Adrien und meiner Frau Leona habe ich damals versucht, Kontakt zu Mutter aufzunehmen. Sie offenbarte sich uns in der Gestalt der sagenumwobenen Meeresgöttin Calypso. Und wir alle verfielen ihrem Bann – getrieben von der Hoffnung auf ein besseres Leben. Auf eine Gemeinschaft, in der gegenseitiger Respekt und unsere eigenen Gesetze herrschten. Ohne Vorurteile und die ständige Furcht vor Benachteiligung.« Er seufzt schwer. »Doch je mehr Versprechungen ich von ihr zu hören bekam, umso weniger konnte ich mir vorstellen, dass diese Kreatur uns dabei helfen würde, den Frieden zu wahren. Ich hätte mich auf meine Eingebung verlassen sollen … wenn ich nur früher geahnt hätte, was dieses Wesen wirklich vorhatte.«

»Das konnten Sie nicht ahnen. Niemand konnte das – außer Baran vielleicht«, beruhige ich ihn. »Hat Calypso Ihren Rückzug aus dem Kreis denn akzeptiert?«

»Oh, nein. Sie hat noch eine ganze Weile versucht, mich von ihrer Sache zu überzeugen. Vielleicht wäre es ihr leichter gefallen, mich gehen zu lassen, wenn ich nicht das erste Kind in Nalanee gewesen wäre, das von Geburt an ihren Splitter in sich trug. Ich war das erste Mischwesen mit einer direkten Verbindung zu Mutter«, erklärt Tineal und starrt gedankenverloren in den rauschenden Brunnen. »Das ist auch der Grund, weshalb ich die Kraft aller vier Omen in mir trage. Und nicht Baran, obwohl er schon immer versucht hat, ihr ein besonders treu ergebener Sohn zu sein.«

»Hat Baran Sie deshalb gehasst? Hat er deshalb …« Ich muss daran denken, was Franja und Nicon mir über ihre Mutter erzählt haben – wage jedoch nicht, die Frage auszusprechen.

»Vielleicht hat er deshalb zugelassen, dass Leona auf der Flucht getötet wurde«, ergänzt Tineal allem Anschein nach ungerührt, doch die Bitterkeit kehrt sofort in sein Gesicht zurück. Also weiß er es doch. Den Rest der Geschichte kenne ich bisher nur aus Nicons Perspektive. »Natürlich hat die Garde den Fluchtversuch der Khimaara damals sofort durchschaut. Alles ging viel zu schnell. Der offizielle Auftrag lautete, einen Zusammenschluss der Khimaara zu verhindern. Denn die Stadtwache von Nalanee wollte nicht riskieren, dass sich die angestaute Wut dieser Minderheit in einem Schlag gegen die Stadt entladen würde. Und bevor ich sie zurückhalten konnte, töteten die Ondine jeden Khimaara, den sie erwischen konnten.« Tineal schluckt schwer. »Mir ist bewusst, dass der gesamte Rat seitdem ein besonders wachsames Auge auf mich hat. Hätte ich mich in meiner Wut auf die Mörder meiner Familie gegen Nalanee aufgelehnt, wäre damit auch mein Leben verwirkt gewesen.«

»Ist diese Stadt denn tatsächlich noch immer auf sie angewiesen?«, erkundige ich mich. Es fällt mir wirklich nicht leicht, dieses Volk zu respektieren. Immer weniger, je mehr ich über ihre Politik erfahre.

»So lange bis die Welt hier unten sich vollständig von den Folgen der Wasserverschmutzung erholt hat«, bestätigt Tineal. »Aber das ist womöglich nur noch eine Frage von Wochen. Höchstens von Monaten. Und dann wird Baran sich auf eine Begegnung mit mir vorbereiten müssen.« Er stößt ein trockenes Lachen aus. »Kannst du dir vorstellen, dass er selbst dafür gesorgt hat, dass ich vom angeblichen Tod meiner Kinder erfahre? Mir diese Nachricht zukommen zu lassen, war Baran so wichtig, dass er dafür sogar das Leben eines Novizen riskiert hat, der sich nur wenige Tage nach seiner eigenen Flucht aus Nalanee wieder in die Stadt schleichen musste. Und jetzt, wo ich die Wahrheit kenne, frage ich mich, weshalb. Warum musste er mir unbedingt diese letzte Lüge vorsetzen?«

»Damit Sie nicht auf die Idee kommen würden, ihm eines Tages doch an die Oberfläche zu folgen?«, mutmaße ich.

»Womöglich«, stimmt Tineal mir zu und versinkt mit einem tiefen Seufzer zurück in sein Schweigen. Der Hohe Rat scheint über die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit nachzudenken. Immer wieder zuckt er mit den Schultern oder schüttelt den Kopf. »Ich erinnere mich an unser letztes Gespräch, als hätte sie mich erst gestern verlassen: Leona war schrecklich wütend, weil ich meine Position im Rat nicht aufgeben wollte – Baran versprach mir, sich gut um meine Frau und die Kinder zu kümmern, bis ich einen Weg gefunden hatte, nachzukommen. Und ich war naiv genug ihm zu glauben.«

Die Schale ruht in seinem Schoß, als hätte er sie dort vergessen. »Die Ondine hatten genug Respekt vor mir, um Leona zurück nach Nalanee zu bringen. Sie wurde hier bestattet«, erklärt Tineal mit rauer Stimme, dann schnaubt er verächtlich. »Weshalb sie mir versichert haben, weder Franja noch Nicon gefunden zu haben, leuchtet mir nun auch endlich ein.«

»Und ich verstehe, weshalb Sie sich schlussendlich für Nalanee entschieden haben«, seufze ich.

»Ich war der festen Überzeugung, alles verloren zu haben, was jemals eine Rolle in meinem Leben gespielt hatte. Also beschloss ich das zu tun, was mir noch blieb«, bestätigt Tineal. »Das, wozu ich mich entschieden hatte, bevor Leona und die Kinder in mein Leben getreten waren. Ich beschützte Nalanee mit der Kraft meiner Omen.« Mit einem vorsichtigen Lächeln fährt er fort: »Du weißt bestimmt, dass es die Kuppel von Nalanee erst gibt, seit die Wasserverschmutzung zu einer existenziellen Bedrohung für die Ondine wurde. Davor haben wir nicht nur diese Stadt, sondern das gesamte Plateau über dem Tiefseegraben besiedelt. Unsere Welt bestand aus Korallen, bunten Fischen und klarem Wasser. All diese unbefleckte Schönheit wurde erst durch die Kuppelstadt der Menschen bedroht.«

»Vielleicht können die Ondine eines Tages dorthin zurückkehren.«

»Womöglich schon bald«, bestätigt Tineal. »Und ich könnte meine Kinder wiedersehen. Um ehrlich zu sein: Ich hätte nichts dagegen, dieses Amt abzulegen. Nach all der Zeit«, fügt er grummelnd hinzu.

»Sicher gibt es keine Wiedergutmachung für Leonas Tod. Und auch nicht für das, was Franja und Nicon erleben mussten. Aber wir können – und müssen Calypso aufhalten. Dafür ist es noch nicht zu spät«, stelle ich fest und sammle all meine Entschlossenheit um fortzufahren: »Bitte erzählen Sie mir alles, was Sie über die Mutter der Khimaara wissen. Sie muss doch so etwas wie eine Schwachstelle haben, einen wunden Punkt …«

Tineal seufzt. »Nicht, dass ich wüsste. Ausgehend von der Sage könnte das Schattenkind ihre Schwachstelle sein.«

»Gewesen sein«, berichtige ich seufzend. »Denn leider ist Nereyda verschwunden, seit ich sie befreit habe.«

»Verschwunden? Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Es ist aber so. Ich kann sie nirgends mehr finden.« Zwar hatte ich den Eindruck, dass ihre flüsternde Stimme mich bis nach Lumina verfolgt hat, und an die seltsame Lichterscheinung am Strand erinnere ich mich ebenfalls noch sehr gut. Aber leider könnte beides auch nur Einbildung gewesen sein. Ich bleibe lieber bei dem, was ich von Nereyda selbst erfahren habe: »Als die Ondine und Menschen Frieden geschlossen haben, wurde das Schattenkind von seinem Fluch erlöst.«

Ich muss mich selbst zur Geduld ermahnen. Denn während wir uns mit dieser Diskussion im Kreis drehen, läuft meinen Freunden an Land die Zeit davon.

Noemi«, beharrt Tineal. »Ich muss dir ja wohl nicht erklären, dass Nereyda dazu verdammt war, über die Seelen der Verstoßenen und Verlorenen zu wachen.«

»So lange bis Mutter einen Verwendungszweck für sie hatte«, füge ich düster hinzu, um zu demonstrieren, dass ich genau weiß, wovon er spricht.

»So ist es. Selbst wenn Nereyda all diese Seelen hätte entkommen lassen, wäre sie nach wie vor an die Verdammnis gebunden gewesen. Wenn du das Schattenkind wirklich von seinem Fluch befreit hast, kann das nur eines bedeuten: Du hast seine Nachfolge angetreten, ohne dir dieser Tatsache bewusst zu sein. Es hat dich benutzt, um zu entkommen.«

»Aber warum bin ich dann noch hier?«, entgegne ich trotzig. »Und nicht in der Verdammnis?«

»Weil das keine Rolle spielt. Von welchem Omen bist du erwählt worden?«

Ich will seine Frage nicht beantworten. Es ist ein merkwürdiger Widerstand, der plötzlich in mir aufkeimt. Dahinter breitet sich die schreckliche Ahnung aus, dass Tineal recht haben könnte.

»Und selbst wenn ich alle vier Omen beherrsche – na und?«, antworte ich schließlich. »Das tun Sie doch auch.«

»Weil ich nach vielen Generationen das erste Wesen war, das mit der Kraft dieses Dämons in Berührung kam. Baran würde wohl sagen: Der erste Khimaara in Nalanee, dem Mutters Segen zuteilwurde. Sie wollte mich zum Anführer ihrer neuen Gemeinschaft machen.« In Anbetracht dieser Worte klingt seine Stimme erstaunlich mild. Aber nicht weniger bedeutungsvoll. »Dass ich mich dazu entschloss, meine Kraft zum Wohl der Ondine einzusetzen, anstatt ihrem Kult zu dienen, hat Calypso sehr wütend gemacht«, fügt er hinzu und betrachtet mich mit einem verschmitzten Lächeln, ehe sein Blick wieder in die Ferne gleitet. »Offenbar zeichnen ihre Lieblingskinder sich allesamt durch einen gewissen Starrsinn aus.« Der Sarkasmus in seiner Stimme ist nicht zu überhören.

»Na schön.« Ich gebe mich geschlagen. »Sie glauben also, dass ich Nereydas Erbe angetreten habe, falls man das so sagen kann. Das würde zumindest erklären, weshalb ich eine Kraft besitze, die mir nicht zusteht.«