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Zwischen Polarlichtern und Wüstensand: Von Kap zu Kap auf dem Gravel-Bike 18.000 Kilometer, fünfzehn Länder, ein Mann. Als Jonas Deichmann zu seinem Abenteuer "Cape to Cape" aufbricht, weiß er noch nicht, wie viel ihm diese Reise abverlangen wird. Er hat nur ein Ziel: den Weltrekord. 72 Tage verbringt er im Sattel, unter sich seinen Graveler, vor sich eine Wahnsinnstour. Sein Weg führt den Münchner Extremsportler durch wunderschöne Landschaften, aber auch durch karge Wüsten und Krisengebiete. Im Gepäck hat der Selbstversorger nur das Allernötigste. "Cape to Cape. In Rekordzeit mit dem Fahrrad vom Nordkap nach Südafrika" zeigt seine schönsten und bewegendsten Erlebnisse während seiner Reise: • Hochspannender Reisebericht des vierfachen Weltrekordhalters Jonas Deichmann: Die komplette Radreise vom Nordkap bis zum Kap der Guten Hoffnung • Hintergründe über den hart erkämpften Weltrekord auf dem Fahrrad ohne Betreuer und Begleitfahrzeug • Alle Etappen der Rekordfahrt durch 15 Länder, u. a. durch Norwegen Finnland, Russland, den Nahen Osten, Ägypten, Eritrea und Südafrika • Mit packenden Texten von TOUR-Autor Tim Farin und starken Bildern von Fotograf Philipp Hympendahl • Für Extremsportler und Rekordjäger: Bikepacking-Tipps und FAQs zu Ausrüstung, Vorbereitung, Finanzierung und Pannen am Rad Von der Kunst, niemals aufzugeben: packende Reisebeschreibung der Weltrekord-Tour Jonas Deichmann, der "Messias der Langstrecke", ist immer auf der Suche nach der nächsten Herausforderung. Die Radtour vom Nordkap nach Südafrika verlangt ihm und seinem Rad alles ab, doch er fährt immer weiter, trotz Lebensmittelvergiftungen, Wassermangel in der Wüste und brenzligen Auseinandersetzungen. Die Gastfreundschaft der Einheimischen, Lagerfeuer unterm Sternenhimmel und aufregende Begegnungen mit der Tierwelt entschädigen für manche Strapaze. Spannender und extremer können Radreisen kaum sein!
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Seitenzahl: 154
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JONAS DEICHMANNPHILIPP HYMPENDAHLTIM FARIN
IN REKORDZEIT MIT DEMFAHRRAD VOM NORDKAP BISNACH SÜDAFRIKA
VORWORT
PROLOG
SKANDINAVIEN (NORWEGEN & FINNLAND) ENDLICH GEHT’S LOS
RUSSLAND UND DER KAUKASUS (GEORGIEN & ASERBAIDSCHAN) IM RIESENREICH DER ANGST
IRANIN DER WÜSTE DER HERZLICHKEIT
SAHARA (ÄGYPTEN UND SUDAN) DAS EWIGE MEER AUS SAND
INTERVIEW MIT PHILIPP HYMPENDAHL »WEITERMACHEN WÄRE WAHNSINN GEWESEN«
OSTAFRIKA (ÄTHIOPIEN, KENIA UND TANSANIA) STEINE FLIEGEN, STRASSEN BRENNEN
AFRIKAS SÜDEN (SAMBIA, BOTSWANA, SÜDAFRIKA) SCHLAFLOS INS ZIEL
EPILOG
INTERVIEW MIT JONAS DEICHMANN »ICH HATTE MIT EINER SPAZIERFAHRT GERECHNET«
STATISTIK
AUSRÜSTUNG PACKLISTE
FAQS
WIR SAGEN DANKE!
Die Lust auf Abenteuer hat den Stoff für dieses Buch geliefert, und die Erinnerung an dieses außergewöhnliche Erlebnis ist noch sehr präsent. Nach der epischen Fahrt durch alle Klimazonen, durch die sogenannte Erste Welt, Schwellen- und Entwicklungsländer, haben wir einen anderen Blick auf die Welt gewonnen. Und dann kam eine globale Pandemie, die dieses Abenteuer vom Nordkap nach Südafrika zwischenzeitlich wie von einem anderen Planeten wirken ließ.
Ein Großteil der Arbeit an diesem Text und an der Bildauswahl geschah unter ungewohnten Bedingungen: In den Monaten der Corona-Maßnahmen haben wir der Lust aufs Außergewöhnliche nachgespürt, während unsere Reisen und sozialen Kontakte auf ein Minimum sanken, während wir uns auch eingesperrt fühlten. Im Home-Office, auf der Couch des väterlichen Wohnhauses, unter dem Eindruck einer unbekannten Enge haben wir uns gefreut, die Rekordfahrt von Nord nach Süd noch einmal zu durchleben, Material zu sichten, per Skype über Afrika zu sprechen und Begegnungen mit unbekannten Menschen aufleben zu lassen.
Wie auch immer die Pandemie die Welt verändern wird: Die persönliche Passion für die Ferne, das Erreichen fremder Ziele aus eigener Kraft, wird gewiss nicht nur für uns noch bedeutsamer. Dieses Buch möchte einen Beitrag leisten, um Menschen bei ihrer Suche nach dem Abenteuer zu inspirieren.
Jonas Deichmann
Tim Farin
Philipp Hympendahl
Erschöpft, aber überglücklich: Jonas Deichmann nach der Zieleinfahrt in Kapstadt.
Jonas steckte noch mitten in seinem größten Abenteuer, als schon der Plan zur großen Rekordfahrt vom Nordkap zum Kap der Guten Hoffnung in ihm reifte. Es muss weitergehen, immer höher und schwerer sein, und so nahm er noch im Herbst 2018 das nächste große Ziel ins Visier, während er auf dem Rad Tag für Tag südwärts auf der Panamerika-Strecke von Alaska nach Feuerland strampelte. Jonas, der zu diesem Zeitpunkt den Eurasien-Rekord als Radler ohne Support bereits geknackt hatte und auf dem besten Weg war, auch hier die Bestmarke zu erreichen, wollte mehr. Und er brauchte mehr. Einer wie er will immer weiter.
So war schon nach seiner Ankunft am »Ende der Welt« in Ushuaia im südlichen Argentinien klar, dass die Feierlichkeiten kurz und die nächsten Vorbereitungen lang und konzentriert verlaufen würden. Eine Fahrt durch drei Kontinente, von Nordeuropa in den tiefsten Süden Afrikas, durch alle Klimazonen, durch ökonomisch und politisch oft kritische Länder: All das würde ihm schon in der Vorbereitung einiges abverlangen. Um die körperliche Seite einer solchen Tour, 18.000 Kilometer, machte er sich keine Sorgen, gestählt durch die Erfahrung von mehr als 23.000 Kilometern und fast 200.000 Höhenmetern auf Amerikas Routen. Das würde kein Kinderspiel werden, aber es wäre machbar. Die Organisation des Abenteuers allerdings bereitete ihm mehr Kopfzerbrechen, denn die Nachrichten von Aufständen, Bürgerkriegen und gesellschaftlichem Aufruhr an vielen Orten entlang der Route häuften sich. Die Fahrt durch den Irak, durch Syrien, durch den Libanon war aufgrund der aktuellen Situation nicht möglich. Also musste Jonas anders planen und abschätzen, welche Probleme an welchem Grenzübergang drohen würden. Aber auch, welche Straßen gut passierbar wären, wo der Wind normalerweise in welche Richtung weht, wo es Ärger auf der Strecke geben könnte. Eine gewaltige Recherche.
Als Startdatum war der Frühherbst 2019 günstig, da Jonas die arktische Kälte im Winter möglichst umgehen, aber den Wechsel von Wetter und Licht jenseits des Äquators erleben wollte und die Vorteile, die das für seine tägliche Reisezeit bringen würde. Er hatte vor, all diese Aufgaben allein zu meistern, doch dann meldete sich am 2. Mai ein Düsseldorfer Fotograf bei ihm: Philipp Hympendahl. Der steckte selbst gerade mitten in der Vorbereitung auf ein Langstreckenradrennen von Wien nach Barcelona. »Was hältst du davon, wenn ich dich begleite und Fotos mache?«, schrieb Philipp an Jonas, nachdem er sich in dessen Pläne eingelesen hatte. »Wir könnten versuchen, anschließend ein Buch zu machen.«
Vier Monate später stehen die beiden dann gemeinsam auf dem Nordkapfelsen, bereit, dieses Abenteuer und den Rekordversuch zusammen anzugehen. Hinter ihnen liegen viele gemeinsame Abstimmungsrunden, Termine beim Radausstatter, bei den Sponsoren der Technik, auf der weltgrößten Fahrradmesse Eurobike und mit Medien, die das außergewöhnliche Vorhaben der beiden begleiten wollen. Vor ihnen liegt ein Abenteuer, das ihr Leben verändern wird. Der Berufsabenteurer Anfang 30 und der Fotograf und Weltenbummler Anfang 50, bislang miteinander kaum vertraut, aber nun auf einer gemeinsamen Mission: den Rekord vom Nordkap nach Kapstadt aus eigener Kraft zu schaffen. Rauszugehen und ein neues Ziel zu erreichen.
Dieses Buch erzählt von ihrer fantastischen Reise und den Abenteuern jenseits der bekannten Grenzen.
Einsamer Abenteurer: Afrikas Weite erlebte Jonas auf eigene Faust.
Felsiger Startpunkt: Am Nordkapfelsen begibt sich das Duo auf die Rekordfahrt.
Es ist Sonntag, der 8. September 2019. Das Abenteuer des Langstreckenspezialisten Jonas Deichmann und des Fotografen Philipp Hympendahl beginnt auf einem riesigen Felsen 300 Meter über der tosenden Barentssee am Nordkap. Sie sind so weit nach Norden gefahren, wie es in Europa nur geht. Jetzt stehen sie auf einem Schotterplatz, durchsetzt von großen Felsstücken, und blicken auf den stählernen Globus mit sechs Beinen, ein Erkennungszeichen für die Menschheit. Es ist 9 Uhr morgens, der Wind hier am nördlichsten Punkt Europas weht aus südlicher Richtung, kein gutes Zeichen, doch im Moment ist kein Platz für Zweifel. Im Moment herrscht Aufbruchstimmung. Die Sonne scheint, es ist 5 Grad warm. Zumindest ist es wärmer als befürchtet.
Seit dem gestrigen Abend um kurz vor elf sind die beiden hier oben in Norwegens kargem Küstengebiet, auf der Nordkapinsel Magerøya. Hinter ihnen liegen eine letzte Hotelübernachtung vor dem Start zur langen Fahrt in den Süden, ein beschwerlicher Anreisetag und eine kräftezehrende Vorbereitung, die Jonas und Philipp während der vergangenen Monate vollständig gefordert hat. Noch in Düsseldorf, wo sich Jonas und Philipp für die Abreise getroffen haben, hatten sie Stunden verloren. Jonas hatte lediglich einen neuen Aero-Aufsatz auf sein Rad montieren wollen. Am Ende verbrachte er vier Stunden in einer Werkstatt seines Sponsors. Der etwas höhere Aufsatz hatte nicht mehr auf den Lenker gepasst, also ließ Jonas auch den Lenker wechseln. Doch dafür mussten auch die Züge neu verlegt werden. Währenddessen wurde Philipp nervös, der 51-Jährige ist eher der Unruhige der beiden. Er machte sich Sorgen, ob sie noch alles schaffen würden, was sie vor dem Abflug vorhatten. »Wie kann es sein, dass man so kurz vor dem Start noch an sein Material geht?«, fragte sich Philipp. Doch er weiß es selbst: Irgendwas ist immer noch zu tun, egal ob Kirmesrennen oder Weltrekordversuch.
Um die Bestmarke vom Nordkap in Norwegen nach Kapstadt in Südafrika zu erreichen, reisen die beiden mit dem Flugzeug so nah an das Kap wie möglich. Dafür müssen sie einmal umsteigen. Sie fliegen von Düsseldorf nach Stockholm, wo sie beim Umladen zur nächsten Verbindung schockiert ihr Sondergepäck in Empfang nehmen. Draußen regnet es – und die vollgepackten Pappkartons mit Rädern, Taschen und Proviant müssen in diesem Regen gestanden haben. Einer ist kurz vor dem Zerreißen. Fällt alles vor dem nächsten Einchecken auseinander, fehlt ihnen das Transportmaterial und sie können nicht mehr in den Anschlussflieger. Ein Schockmoment – aber die beiden können alles noch mit Folie sichern, ehe es weitergeht mit der nächsten Maschine nach Luleå. Dort ist das Gepäck zum Glück noch in Ordnung, und es geht per Auto weiter. Der norwegische Fotograf Paul holt die beiden ab, er ist ihr Kontaktmann für den nördlichsten Teil der Reise, hat im Polarkreis die letzten Vorbereitungen für den Start getroffen. Zehn Stunden Fahrt sind es bis auf die Nordkapinsel. Zehn Stunden im Auto sitzen, der Albtraum eines Radsportlers. Aber das ist ein kleiner Aufwand im Vergleich zum Gesamtprojekt.
Jetzt stehen sie also hier, die Kameras des Filmteams auf sie gerichtet. Die Sonne steht bereits am Himmel. Sie sind später eingetroffen als geplant. Lieber wären sie schon vor ein, zwei Stunden hier gewesen. Aber auch Philipp hatte noch Materialprobleme, ein Ventil war verklebt – so kurz vor dem Start eine Situation zum Verzweifeln. Gleich geht diese Reise los – und Philipp kriegt ein kleines Metallteil nicht gedreht. Er weiß schon jetzt, auf dem Nordkapfelsen, dass ihm das in den kommenden Wochen Ärger machen wird. »Das Glück war von Anfang an sehr unterschiedlich auf uns verteilt«, wird Philipp später feststellen. Jonas kommentiert so etwas nur mit einem Lächeln, auch wenn er aussieht, als liege ihm etwas auf der Zunge. In seinem Weltbild hat vor allem Pech immer auch etwas damit zu tun, dass man die Zügel nicht richtig in der Hand hält.
Surreale Landschaft: Am Polarkreis ist es wellig, felsig und grün.
Berühmte Wegmarke: Der Globus am Nordkap lockt Touristen aus aller Welt.
Endlich sind genug Aufnahmen im Kasten für Film, Buch und Social-Media-Accounts. Endlich kann es losgehen. Dass auf diesem windigen Eiland ein Rekordversuch startet, der zahlreiche Menschen elektrisieren wird, lässt sich an der Kulisse und an den Umstehenden nicht ablesen. Ein paar Angestellte des Hotels von gestern Nacht sind da. Ansonsten ist kaum ein Mensch zu sehen, als Deichmann-Hympendahl die 18.000-Kilometer-Strecke in Angriff nehmen. »Das hätte ich mir irgendwie spektakulärer vorgestellt«, erinnert sich Philipp.
Im nächsten Moment durchzieht die beiden aber ein tiefes Glücksgefühl. »Es ist so verdammt cool, jetzt hier zu sein und loszulegen«, entfährt es Philipp. Jonas kennt dieses Gefühl. »Das Schwierigste ist immer, an die Startlinie zu kommen. Vorher kannst du immer noch abspringen, aber wenn du unterwegs bist, ist alles abgehakt, ist erst einmal kein Platz mehr für Zweifel.« So rollen die beiden auf die E69 in Richtung Festland. Jonas ahnt an diesem sonnigen Sonntagmorgen noch nicht, dass ein Geheimnis mitfährt.
»Das Schwierigste ist immer, an die Startlinie zu kommen. Vorher kannst du immer noch abspringen, aber wenn du unterwegs bist, ist alles abgehakt, ist erst einmal kein Platz mehr für Zweifel.«
Sie sind froh, in die Pedalen zu treten. Die Landschaft raubt ihnen für einige Zeit sogar die Sprache, auf dem Rad erlebt man sie besonders intensiv. Ganz oben im Norden Europas gibt es keine Bäume mehr, sondern eine felsige, grüne und vor allem enorm hügelige Landschaft mit einer gut gepflegten Straße und klarem Licht, das strahlende Farben hervorbringt. »Das ist ein Naturspektakel«, staunt Jonas, der ja schon einiges gesehen hat. »Wenn man sich die Vegetation anschaut, lässt sich erahnen, dass wir mit den Bedingungen sehr viel Glück haben«, sagt Philipp. Es passiert durchaus, dass es hier oben im arktischen Kreis nicht nur stürmt, sondern auch schneit, im September ist das durchaus möglich. Deswegen ist das windig-helle Wetter für die beiden ein Glücksfall. Verkehr gibt es kaum, zumindest keinen Straßenverkehr. Allerdings wimmelt es nur so von Rentieren, sie sind überall in der Landschaft, auf den felsigen Grasflächen und auch auf dem Asphalt.
Nach etwa 45 Kilometern wird es zum ersten Mal ungemütlich. Es geht etwa drei Kilometer schnurgerade unter die Erde, in einen Tunnel, der 212 Meter unter dem Meeresspiegel liegt. Der Tunnel verbindet die Nordkapinsel mit dem Festland. Und er bietet einen brutalen Vorgeschmack auf das, was kommen wird in den nächsten Tagen. Von ganz unten müssen Jonas und Philipp wieder fast drei Kilometer nach oben klettern. Mit vollem Gepäck an ihren Rahmen ist die Steigung von gut neun Prozent eine ordentliche erste Probe.
Weiter geht es entlang des Porsangerfjords, eines weiten und beeindruckenden Gewässers, an dessen westlichem Ufer die beiden nach Süden radeln. Sie sehen sanftes grünes Land, aber auch Geröllfelder an einem der längsten Fjorde Norwegens und überall die Kulisse der majestätischen Berge. Der Wind bläst genau in die für Philipp und Jonas falsche Richtung, genau in ihr Gesicht. Er macht dem Duo zu schaffen und hinterlässt auch Spuren in ihrem Kopf. Jonas rechnet schon. Zu spät sind sie vom Nordkap losgefahren, eigentlich, und die angepeilten täglichen zehn Stunden plus schaffen sie schon am ersten Tag nur mit Mühe. Vor allem kommen sie bei Weitem nicht auf das Distanzziel. Nicht einmal 200 Kilometer radeln sie an diesem Sonntag zusammen. Es wird hart in Skandinavien, das ist ihnen jetzt klar, und Philipp hat noch etwas, das die beiden belasten wird. Er hat es nur noch nicht verraten.
In Lakselv, ganz am südlichen Ende des Fjords, entschließen sich die beiden, für die Nacht Rast zu machen. Der Ort selbst ist unspektakulär, aber mit gut 2.000 Einwohnern für nordskandinavische Verhältnisse beinahe eine Metropole. Im Westen liegt der Stabbursdalen-Nationalpark, doch Jonas und Philipp denken nicht an Sightseeing. Sie suchen zweierlei: ein Restaurant und einen soliden Schlafplatz. Da es in Skandinavien meist zu teuer ist, ins Hotel zu gehen, werden sie ein Biwak im Freien machen. Hinter einer Tankstelle finden sie eine Holzveranda vor einem Verwaltungsgebäude, die sogar überdacht ist. So brauchen sie kein Zelt aufzuschlagen. Das hat Jonas zwar dabei – sie werden es aber in den kommenden Wochen nicht ein einziges Mal zusammen nutzen.
Beim Abendessen ist die Stimmung gelöst. Mit Jonas und Philipp sitzt auch ihr norwegischer Kameramann Paul am Tisch, der sich noch immer über den ausgewählten Schlafplatz wundert. Es gibt Burger, dann geht es ins Quartier. Auch wenn die Kilometerzahl nicht beeindruckend war, sie haben den ersten Tag geschafft, den Anfang ohne Wintereinbruch. Jonas liegt in seinem Schlafsack und sagt: »Ich muss noch Social Media machen«, das gehört für ihn zu jeder längeren Pause – Kontakt pflegen und die Community über die Erlebnisse auf dem Laufenden halten. Philipp überlegt sich derweil, wie er die Kälte der ersten Nacht auskontern soll. Er legt sich in seinen Schlafsack und wickelt eine Isolierfolie außen herum, um die Kälte und Feuchtigkeit rauszuhalten.
Die Gefühle der beiden unterscheiden sich stark in diesem Moment, reden tun sie jedoch nicht darüber. Jonas ist im Abenteurer-Macher-Modus, ist froh. »Ich habe da gelegen und fand es einfach nur total geil, hier hinter dieser Tankstelle in Lakselv zu liegen«, erinnert er sich später. Er schläft gut in dieser Nacht. Philipp dagegen hat Probleme mit dem Einschlafen. Die niedrigen Temperaturen in Skandinavien vermitteln ihm körperlich, was auf ihn zukommt. Er spürt den Druck. »Mir gingen 1.000 Dinge durch den Kopf«, sagt Philipp hinterher. Besonders aber plagte ihn jenes Gefühl, über das er mit Jonas bislang noch gar nicht gesprochen hat. Denn es könnte alles ins Wanken bringen.
Philipp hat schon von Kindesbeinen an ungewöhnliche, bedrohliche und skurrile Erfahrungen gesammelt. Mit seinem Vater, dem Autor und Expeditionssegler Klaus Hympendahl, ist er mit Windkraft um die Welt gereist, war in der Südsee unterwegs. Philipp hat auf dem Fahrrad enorme Prüfungen bestanden, etwa Paris–Brest–Paris. Oder, gerade erst vor zwei Monaten, das Three Peaks, ein Rennen ohne Support von Wien nach Barcelona. Er hatte sich im Mai an Jonas gewandt, weil er den Extremsportler aus Schwaben gern als Fotograf auf dessen nächstem Wahnsinnsritt begleiten wollte. Und wenn er schon einmal dabei war, warum sollte er nicht gleich vorschlagen, dass die beiden den Rekord als Duo angehen. Als er jetzt in der kalten Nacht von Lakselv liegt, als Jonas neben ihm schläft, ist der Plan Realität geworden. Es ist Philipps größtes Abenteuer, und er hat Angst zu versagen.
Die Angst hat eine körperliche Ursache. Vor zwei Wochen war Philipp mit seinem neuen Titanrad zu einer Hochzeit in Koblenz gefahren. Was er dabei nicht bemerkt hatte, war das dezente Abrutschen seiner Sattelstütze während der Fahrt. »Ich habe erst später bemerkt, dass ich in eine völlig falsche Sitzposition gerutscht bin«, erinnert sich Philipp. Das fiel ihm erst auf, als er bereits Schmerzen in den Knien hatte – und wieder in Düsseldorf war. Als er einige gymnastische Übungen machte, merkte er: Mit dem Knie stimmt etwas nicht. Eine Woche später war er dann mit Jonas zur Promotion-Tour auf der Fahrradmesse Eurobike in Friedrichshafen. Philipp unterzog sich dem Trubel mit Schmerzen. Jonas merkte nichts davon. Die beiden hetzten von Termin zu Termin. »Da konnte ich kaum noch laufen«, sagt Philipp Monate später, »aber das durfte natürlich niemand wissen, vor allem Jonas nicht.«
Die Schmerzen sind immer noch mit dabei, und das macht Philipp in dieser Nacht in Lakselv am meisten Druck. Er hat Angst, Jonas einzuweihen in sein Problem. Er hat Sorge, abbrechen zu müssen. Er will nicht dastehen wie einer, der riesig tönt und dann jeden Nachweis der eigenen Leistungsfähigkeit schuldig bleibt. Der körperliche Schmerz wird in dieser Nacht und am nächsten Morgen überblendet von den seelischen Qualen.
Skandinavische Einsamkeit: In den weiten Wäldern Finnlands verlieren sich die Dimensionen.
Erste Grenze: Von Norwegen nach Finnland geht es noch mit einem Lächeln – bei Jonas.
Katalog-Skandinavien: Seen, Holzhäuser, klares Licht – die Idylle des Nordens motiviert das Duo.
Doch als es am nächsten Morgen weitergeht, bleibt Philipps Mund verschlossen. Um 5.30 Uhr klingelt der Wecker, zum Frühstück gibt es Trockenessen in Wasser aufgelöst, ein Rindfleischtopf mit Graupen aus der Tüte, den Jonas mit Wasser präpariert. Philipp erlebt, wie Jonas schon im Rekordmodus aufs Rad steigt. »Er fährt morgens einfach los, als wäre nichts gewesen«, wundert sich der ältere Mitfahrer. Jonas pusht. Er erklärt das ganz rational, wahrscheinlich ist über Nacht die Erkenntnis vom ersten Tag zu seinen Berechnungen im Vorfeld gekommen: »Der harte Teil kommt erst noch, und der wird noch lang werden. Wir dürfen jetzt nichts verlieren, denn unser Spielraum ist enorm klein.« Einen halben Tag kann man unterwegs schnell gegenüber dem Plan einbüßen, einholen lässt sich dieser Rückstand dann nur mit Mühe und über Wochen. Es ist vom ersten Augenblick an ein Rennen mit einem Gegner, den Jonas selbst in die Welt gesetzt hat: dem Anspruch, den Rekord um mehr als einen Monat zu unterbieten. Es ist zugleich reine Fiktion und doch jederzeit spürbare Last. Das Vorhaben ist so groß, dass es sich kaum fassen lässt.