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80 Jahre »Casablanca« - die wahre Geschichte hinter dem Film und der Geheimkonferenz: ein Geschichtsthriller
1943 ist das Jahr, in dem »Casablanca« zum Mythos wird. Die weiße Stadt am Meer ist Zufluchtsort für die Verfolgten der Nazi-Diktatur, Namensgeberin für einen der erfolgreichsten Filme der Geschichte und Schauplatz einer Geheimkonferenz, die über den Ausgang des Zweiten Weltkriegs entscheiden wird. Norbert F. Pötzl verknüpft kunstvoll die dramatischen Kriegsereignisse mit der Entstehungsgeschichte des Hollywood-Klassikers und zeigt, wie sehr sich Fiktion und Realität gegenseitig beeinflusst haben.
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Seitenzahl: 371
Zum Buch
1943 ist das Jahr, in dem Casablanca zum Mythos wird. Die weiße Stadt am Meer ist Zufluchtsort für die Verfolgten der Nazi-Diktatur, Namensgeberin für einen der erfolgreichsten Filme der Geschichte und Schauplatz einer Geheimkonferenz, auf der Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill über den Ausgang des Zweiten Weltkriegs entscheiden. In packenden Szenen erzählt Norbert F. Pötzl vom Aufeinandertreffen der beiden Staatenlenker. Kunstvoll verknüpft er die dramatischen Kriegsereignisse mit der Entstehungsgeschichte eines der bekanntesten Hollywood-Klassikers und zeigt, wie sehr sich Fiktion und Realität gegenseitig beeinflusst haben.
Zum Autor
Norbert F. Pötzl, geboren 1948, war von 1972 bis 2013 Redakteur beim Nachrichten-Magazin Der Spiegel. Er ist Autor und Herausgeber mehrerer Bücher, darunter der Bestseller Der Fall Barschel. Anatomie einer deutschen Karriere (1988), Erich Honecker. Eine deutsche Biographie (2002), Beitz. Eine deutsche Geschichte (2011), Mission Freiheit – Wolfgang Vogel (2014) sowie zuletzt Bismarck. Der Wille zur Macht (2015). Pötzl lebt und arbeitet in Hamburg und bei Florenz.
NORBERT F. PÖTZL
CASABLANCA
1 9 4 3
DAS GEHEIME TREFFEN,DER FILM UNDDIE WENDE DES KRIEGES
Siedler
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Erste AuflageOktober 2017Copyright © 2017 by Siedler Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg Umschlagabbildung: Premierminister Winston Churchill (stehend) und Präsident Franklin D. Roosevelt in Marrakesch, 24. Januar 1943, nach der Casablanca-Konferenz © Alamy/Granger Historical Picture Archive Lektorat und Satz: Ditta Ahmadi, BerlinISBN 978-3-641-19679-0V001www.siedler-verlag.de
INHALT
PREMIERE IM WEISSEN HAUS
Mein lieber Rick, wann wird Ihnen endlich klar, dass in der Welt von heute der Isolationismus keine zweckmäßige Politik mehr ist?
WASHINGTON GOES TO HOLLYWOOD
Louis, ich glaube, das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.
ROOSEVELT
Weil ich, mein lieber Rick, den Verdacht hege, dass unter dieser zynischen Schale ein recht sentimentales Herz schlägt.
CHURCHILL
Wenn wir aufhören zu atmen, sterben wir. Wenn wir aufhören, unsere Feinde zu bekämpfen, stirbt die Welt.
DE GAULLE
Wir wissen genau, dass die französischen Besitzungen in Nordafrika mit Verrätern durchsetzt sind, die nur auf ihre Chance warten und vielleicht auch auf einen Anführer.
DIE KONFERENZ
Was hat Sie nun in Gottes Namen nach Casablanca verschlagen? – Die Gesundheit. Ich kam nach Casablanca wegen der Quellen.
DER FILM
Zu der Erkenntnis, dass die Probleme dreier Menschen in dieser verrückten Welt völlig ohne Belang sind, gehört nicht viel.
EPILOG
Ich seh’ dir in die Augen, Kleines.
ANHANG
Dank
Anmerkungen
Literatur
Personenregister
PREMIERE IM WEISSEN HAUS
Mein lieber Rick, wann wird Ihnen endlich klar, dass in der Welt von heute der Isolationismus keine zweckmäßige Politik mehr ist?
Den Silvesterabend 1942 verbringt Präsident Franklin D. Roosevelt wie in jedem Jahr seiner Amtszeit im Weißen Haus. Er und seine Ehefrau Eleanor haben 21 Gäste eingeladen, um mit ihnen den Beginn des neuen Jahres zu feiern.1
Es ist der zweite Jahreswechsel, seit sich Amerika im Krieg befindet. Jahrelang hatte das Land versucht, sich aus den Kämpfen in Europa und Asien herauszuhalten. Vom Kongress beschlossene Gesetze verpflichteten die Regierung zur Neutralität, obschon jedem klar war, wer den Frieden verletzt hatte. Den Krieg, den Adolf Hitler im September 1939 mit dem Überfall auf Polen entfesselte, den Feldzug gegen Frankreich im Mai und Juni 1940, die Luftschlacht um England vom Sommer 1940 bis Anfang 1941 sowie den Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 – all das betrachtete man als Feindseligkeiten unter Staaten der Alten Welt, die Amerika nichts angingen. Noch im Juli 1941 waren, laut einer Gallup-Umfrage, 79 Prozent der Amerikaner dagegen, dass ihr Land in den Krieg zieht.2
Auch im Krieg der Japaner gegen China, die das »Reich der Mitte« 1937 überfallen hatten und dort eine grausame Besatzungsherrschaft ausübten, verhielten sich die Vereinigten Staaten anfangs neutral. Erst als bekannt wurde, dass Japaner Hunderttausende von chinesischen Zivilisten und Kriegsgefangenen massakrierten, verhängte die amerikanische Regierung ein Stahl- und Ölembargo gegen Japan. Dies geschah freilich vor allem deshalb, weil die USA ihre Interessen am chinesischen Öl und auf den Philippinen, einer amerikanischen Kolonie, bedroht sahen und auf keinen Fall eine Hegemonie Japans in Ostasien dulden wollten. Der Inselstaat war nun von Rohstofflieferungen abgeschnitten und sah nur einen Ausweg aus dem Dilemma: Krieg gegen die Vereinigten Staaten.
Nachdem japanische Bomber am 7. Dezember 1941 den amerikanischen Marinestützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii in Schutt und Asche gelegt hatten, war das kriegsunwillige Amerika gezwungen, sich gegen die Aggressoren zu wehren. 2403 Tote, über 1100 Verwundete, 190 am Boden zerstörte Flugzeuge und 18 versenkte oder schwer beschädigte Kriegsschiffe ließen keine Ausflucht mehr zu: Dieser »Tag der immerwährenden Schande«, wie Roosevelt ihn nannte, erzwang den Kriegseintritt gegen Japan. Die Entscheidung, auch in Europa gegen die Eroberungsfeldzüge Nazi-Deutschlands und des faschistischen Italien militärisch einzugreifen, wurde Roosevelt abgenommen: Adolf Hitler und Benito Mussolini erklärten Amerika vier Tage nach dem Überfall der mit ihnen verbündeten Japaner den Krieg, obwohl sie dazu nicht verpflichtet gewesen wären. Es war schierer Größenwahn.
An diesem Silvestertag schreibt Eleanor Roosevelt, wie jeden Tag seit 1936, eine Kolumne, die landesweit von bis zu 90 Zeitungen veröffentlicht wird. In ihrem Beitrag zum Neujahrstag 1943 stellt sie fest: »Wir sind keine isolierte Nation mehr, sondern Teil einer Familie von Nationen.«3
Die meisten Teilnehmer der Feier im Weißen Haus haben den Krieg bisher nur durch die im April 1942 eingeführten Rationierungen zu spüren bekommen. Für Fleisch, Kaffee, Zucker, Butter, Speiseöl, Dosenmilch, Schuhe, Kaminholz, Schreibmaschinen, Fahrräder, Landmaschinen, Benzin und Kautschukprodukte sind Bezugskarten erforderlich.4
Doch seit Hitler Amerika den Krieg erklärt hat, greifen die Deutschen mit U-Booten an. Sie kommen in Sichtweite des Lichtschimmers, der vom New Yorker Broadway aufsteigt, und sie versenken Schiffe wenige hundert Meter vor der amerikanischen Ostküste. Der Plan des Luftwaffenchefs Hermann Göring, Langstreckenbomber zu entwickeln, die von den Azoren aus amerikanische Städte zerstören sollten, scheiterte an den Kosten; es wurden nur wenige Prototypen der Messerschmitt Me 264 gebaut, aber die deutsche Propaganda um den »New York Bomber« jagte vielen Amerikanern Angst ein.5
Weihnachten 1942 befanden sich die Vereinigten Staaten seit gut einem Jahr im Krieg. Deutsche U-Boote kamen bis in Sichtweite vor New York und versenkten Schiffe wenige hundert Meter vor der amerikanischen Ostküste. Auf ihrer Weihnachtskarte wünschten Präsident Roosevelt und seine Frau »ein glücklicheres neues Jahr«.
© Franklin D. Roosevelt Presidential Library and Museum
Roosevelt hat in diesem Jahr das übliche Entzünden der Lichter an einem großen Weihnachtsbaum am Lafayette Square in Washington abgesagt.6 Auch der traditionelle »Ball Drop« auf dem New Yorker Times Square fällt aus, einerseits weil man Strom sparen will, andererseits weil aus Furcht vor Angriffen der Deutschen Verdunkelung angeordnet wurde; statt in den letzten sechzig Sekunden des alten Jahres jubelnd zuzusehen, wie eine bunte Lichtkugel vom Fahnenmast auf einem 110 Meter hohen Wolkenkratzer herabgelassen wird, verharren die Menschen in einer Schweigeminute.7
Unter Roosevelts Silvestergästen herrscht eine verhalten optimistische Stimmung. Die jüngsten Nachrichten von den Kriegsfronten sind für die alliierten Gegner der »Achsenmächte« erfreulich. Anfang November sind amerikanische und britische Truppen in Französisch-Nordafrika gelandet, das bis dahin von der mit den Nazis kollaborierenden Regierung in Vichy verwaltet wurde. Das deutsche Afrikakorps unter Generalfeldmarschall Erwin Rommel, der Ägypten und den Nahen Osten erobern wollte, wurde von britischen Truppen geschlagen und zum Rückzug gezwungen. In Stalingrad ist seit dem 22. November die deutsche 6. Armee eingekesselt, ihre Lage wird immer aussichtsloser. Die im Kaukasus stehende deutsche Heeresgruppe wurde am 28. Dezember zurückgezogen, um eine Einschließung durch die vorrückende Rote Armee zu verhindern.
Tagesaktuell gibt es zwei weitere Erfolgsmeldungen: In der Barentssee am Nordkap konnte ein Angriff deutscher Kriegsschiffe auf einen britischen Schiffskonvoi abgewehrt werden, der den sowjetischen Verbündeten Kriegsmaterial brachte. Und in Tokio gab Kaiser Hirohito seine Zustimmung, dass sich die japanischen Truppen von der strategisch wichtigen Insel Guadalcanal im Pazifik zurückziehen, wo ihnen amerikanische Einheiten seit fünf Monaten erbitterte Gefechte lieferten – der erste große Rückschlag für die Japaner in diesem Krieg.
Die New York Times ist an diesem Silvestertag mit zwei Schlagzeilen zu Kriegsereignissen erschienen. Die eine handelt davon, dass der von den Amerikanern in Französisch-Nordafrika eingesetzte Hochkommissar Henri Giraud zwölf Personen verhaften ließ, um einen angeblichen Mordanschlag, der ihm selbst galt, zu vereiteln; die zweite lautet: »Russen dringen bei Stalingrad vor«.
Gegen 20 Uhr versammeln sich die von den Roosevelts eingeladenen Freunde im »State Dining Room«, dem Bankettsaal im ersten Stock, zum Festmahl. Natürlich ist Harry Hopkins dabei, der engste Vertraute des Präsidenten. Der ehemalige Sozialfürsorger aus Iowa, der die »New Deal« genannte Wirtschafts- und Sozialpolitik Roosevelts maßgeblich beeinflusst hat, ist nun dessen persönlicher Verbindungsmann zum britischen Premierminister Winston Churchill und zum Sowjetführer Josef Stalin. Hopkins wohnt sogar im Amtssitz des Präsidenten an der Washingtoner Pennsylvania Avenue.
Am 10. Mai 1940, als die Wehrmacht in die Niederlande, in Belgien, Luxemburg und Frankreich einmarschierte, hatte Roosevelt seinen damaligen Handelsminister Hopkins zum Abendessen ins Weiße Haus eingeladen. Der Präsident diskutierte mit ihm bis tief in die Nacht über die Invasion und ihre Konsequenzen und überredete seinen müden Gast schließlich zum Bleiben. Hopkins bezog ein Gästezimmer im zweiten Stock an der Südostecke des Weißen Hauses, gleich neben den Privaträumen des Präsidenten. Der seit 1937 verwitwete Mann wohnte dort zunächst mit seiner Tochter Diana. Nachdem er im Juli 1942 wieder geheiratet hatte, zog auch seine Frau Louise dort ein.8 Eleanor Roosevelt hatte gehofft, dass Hopkins, der überall seine Zigarettenasche verstreute, das Weiße Haus nach der Hochzeit verlassen würde.9
Hopkins’ Bleibe, zu der noch ein zweites Zimmer mit einem Bad en suite gehört, war ursprünglich ein einziger Raum und einst Abraham Lincolns Arbeitszimmer. Hier hat der 16. Präsident der Vereinigten Staaten am Neujahrstag 1863 die »Emancipation Proclamation«, die Abschaffung der Sklaverei, verkündet; eine Plakette über dem Kamin erinnert daran. Gleich neben Hopkins’ Apartment befindet sich das sogenannte Monroe-Zimmer, in dem Präsident James Monroe 1823 seine berühmte Rede entworfen hat, die zur langfristigen Leitlinie der amerikanischen Außenpolitik wurde. Die nach ihm benannte Doktrin besagt unter anderem, dass sich die Vereinigten Staaten nicht in europäische Konflikte einmischen dürften.10
Roosevelt vertrat schon frühzeitig und entgegen der verbreiteten öffentlichen Stimmung die Ansicht, dass es »heute in der Welt nichts Wichtigeres gibt, als Hitler zu schlagen«. Dies sollte der Kernsatz einer Rede sein, die der Präsident am 10. Oktober 1940, dem »Columbus Day«, hielt. Mit diesem Auftrag sandte er Hopkins zu Robert Sherwood, einem für seine Theaterstücke bereits dreimal mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Schriftsteller, und zu Samuel Rosenman, einem New Yorker Richter am Appellationsgericht, der 1933 als junger Jurist den Begriff »New Deal« erfunden hatte.11 Das Trio feilte viele Stunden an dieser Rede, und die drei wurden Roosevelts wichtigste Redenschreiber.12 Wenn Sherwood und Rosenman im Weißen Haus übernachten, wohnen sie auf derselben Etage wie Hopkins in zwei kleinen Schlafzimmern an der Nordseite, direkt gegenüber dem »Yellow Oval Room«, dem privaten Arbeitszimmer des Präsidenten.13
Sherwood und Rosenman, der im neuen Jahr die für ihn geschaffene Stelle eines Rechtsberaters des Weißen Hauses antreten wird, nehmen an Roosevelts Silvesterparty ebenso teil wie Finanzminister Henry Morgenthau. Der Enkel eines eingewanderten jüdischen Zigarrenhändlers aus Mannheim hat sich nach abgebrochenem Architekturstudium eine Farm am Hudson gekauft. So wurde er Roosevelts Nachbar, der hier, in der Kleinstadt Hyde Park im Bundesstaat New York, 1882 auf dem Anwesen Springwood geboren wurde. In Hyde Park haben sich viele wohlhabende New Yorker Geschäftsleute angesiedelt. Springwood ist ein stattliches Herrenhaus im Colonial-Revival-Stil. Vater James Roosevelt hatte es 1866 gekauft, nachdem er als Geschäftsmann und Pferdezüchter reich geworden war; der Sohn hat es immer wieder umgebaut und erweitert. Nach seiner Heirat 1905 lebte Roosevelt dort mit seiner Frau Eleanor und seiner verwitweten Mutter Sara, die bis zu ihrem Tod 1941 einen beherrschenden Einfluss auf ihren einzigen Sohn ausübte.
Morgenthau hatte Roosevelt in dessen erstem Präsidentschaftswahlkampf 1932 unterstützt. Aus Dankbarkeit nahm der Präsident den in Fragen des Staatshaushalts unbedarften Landwirt 1934 als Finanzminister in seine Regierung auf. 1944 wird Morgenthau den von Roosevelt und Churchill erst gebilligten und dann verworfenen Plan entwickeln, nach gewonnenem Krieg die gesamte deutsche Industrie zu zerschlagen und ein mehrfach geteiltes Deutschland in eine Agrargesellschaft zu verwandeln. Den Deutschen soll es unmöglich gemacht werden, jemals wieder einen Krieg anzuzetteln.
Unter Roosevelts Gästen sind auch zwei prominente Emigranten aus Europa. Der norwegische Kronprinz Olav und seine Ehefrau Märtha, eine Prinzessin aus dem schwedischen Königshaus Bernadotte, mussten aus ihrer Heimat fliehen, nachdem die Wehrmacht am 9. April 1940 Norwegen okkupiert hatte. Der Thronfolger führt zusammen mit seinem Vater, König Håkon VII., vom Londoner Exil aus den Widerstand gegen die Nazi-Besatzer, während seine Frau mit den drei Kindern auf Einladung Roosevelts in den USA lebt. Der Präsident hatte Märtha und ihre Kinder zunächst im Weißen Haus einquartiert, bis sie in ein Anwesen in Maryland umzogen.14
Auf Märtha hatte Roosevelt ein Auge geworfen, seit er ihr zum ersten Mal begegnet war. Sie hatte im Frühjahr 1939 mit ihrem Mann die USA bereist, unter anderem um den norwegischen Pavillon auf der Weltausstellung in New York zu eröffnen. Als sie im August 1940 nach Washington kam, war sie eine hübsche Frau von 39 Jahren. Nun, da sie als Flüchtling unter seiner Obhut lebt, macht ihr der fast zwanzig Jahre ältere Roosevelt den Hof. Das ist so offenkundig, dass Gerüchte über ein intimes Verhältnis entstehen.15 Roosevelts Sohn James hält es für »sehr gut möglich, dass es eine Liebesbeziehung« mit der norwegischen Kronprinzessin gegeben habe.16 Ehefrau Eleanor betrachtet die Avancen ihres Mannes kühl. Es gebe immer eine Märtha, sagt sie.17 Elliott, der älteste Sohn der Roosevelts, erzählt sehr viel später, sein Vater habe zwanzig Jahre lang auch eine Liebschaft mit seiner Sekretärin Marguerite »Missy« LeHand bis zu deren Tod im Sommer 1944 gehabt.18
Eine normale Ehe führen Eleanor Roosevelt, eine Nichte des von 1901 bis 1909 amtierenden Präsidenten Theodore Roosevelt, und Franklin Delano Roosevelt, ein Cousin fünften Grades seines Amtsvorgängers, schon seit vielen Jahren nicht mehr. 1918 waren Eleanor Briefe in die Hände gefallen, aus denen unzweideutig hervorging, dass ihr Mann eine leidenschaftliche Affäre mit ihrer Privatsekretärin Lucy Mercer hatte. Eleanor hatte ihm die Scheidung angeboten, doch er hatte abgelehnt, weil es nach damaligem Verständnis das Ende seiner politischen Karriere bedeutet hätte. Mutter Sara hatte ihm mit Enterbung gedroht, und Lucy Mercer wollte ohnehin keinen geschiedenen Mann mit fünf Kindern heiraten.19 Roosevelt versprach, die Beziehung zu beenden, hielt sein Versprechen jedoch nicht. Eleanor willigte ein, die Ehe auf freundschaftlicher Basis als politische Zweckgemeinschaft weiterzuführen, und entwickelte vielfältige eigene Aktivitäten als Feministin und Sozialreformerin. 1926 zog sie mit zwei Mitstreiterinnen in ein Haus, das sie sich in Hyde Park nahe dem ihres Mannes erbauen ließ.
Eleanor Roosevelt kommt nur noch besuchsweise ins Weiße Haus, und oft erfährt der Präsident nicht einmal davon. Man habe das Paar »niemals zusammen allein in einem Raum gesehen«, erzählt ein Bediensteter.20 Der seelische Riss zwischen beiden geht tief. Als Roosevelt seine Frau 1942 bat, wegen seiner Erkrankung, die als Polio diagnostiziert wurde und ihn an den Rollstuhl fesselte, dauerhaft ins Weiße Haus zurückzukehren und an seiner Seite zu leben, lehnte sie das Ansinnen ab.21 Aber nach außen bleibt sie sein Leben lang die zuverlässige Ehefrau-Darstellerin.
Nach dem Dinner bittet der Präsident seine Gäste in den kleinen Kinosaal des Weißen Hauses, das sogenannte Family Theater. Ein schlauchartiger Garderobenraum im ersten Stock des Ostflügels ist vor Kurzem für Filmvorführungen umgebaut worden und bietet auf plüschigen Sesseln 42 Zuschauern Platz. Hier sieht Roosevelts Silvestergesellschaft einen Film, der bislang nur in einem einzigen Kino in New York öffentlich gezeigt wird. Obwohl die Vorstellungen seit Ende November ständig ausverkauft sind, läuft das erfolgreiche Leinwandopus nirgendwo sonst.
Der Film handelt von politisch Verfolgten, die aus Europa nach Amerika fliehen wollen. In Casablanca, der marokkanischen Metropole im Protektorat Französisch-Nordafrika, buhlen und betteln die Emigranten auf dem Schwarzmarkt und bei korrupten Beamten um Ausreisevisa. Das Territorium untersteht politisch und militärisch dem »unbesetzten« Teil Frankreichs, den der greise Marschall Philippe Pétain vom südfranzösischen Kurort Vichy aus als Vasall Hitlers regiert. In Casablanca trifft der amerikanische Nachtclubbesitzer Richard ( »Rick«) Blaine die Norwegerin Ilsa Lund wieder, mit der er einst in Paris eine romantische Liebesbeziehung erlebt hat. Ilsa ist jedoch, wie sich herausstellt, verheiratet: Begleitet wird sie von ihrem Ehemann, dem aus einem Konzentrationslager entkommenen tschechischen Widerstandskämpfer Victor Laszlo, den sie damals in Paris für tot hielt. Ihn wollen die Deutschen nicht noch einmal entwischen lassen. Ilsa wäre durchaus bereit, Victor zu verlassen und mit dem Amerikaner zu fliehen. Doch da wird der Zyniker Rick unversehens zum edelmütigen Retter: Er erschießt einen deutschen Offizier und verhilft Victor so zur Flucht, gemeinsam mit Ilsa.
Es ist ein rührseliges Produkt aus der Hollywood-Fabrik, voller Klischees und Ungereimtheiten. Aber es trifft den Nerv des Publikums. Seine Wirkung erzielt es durch den augenfälligen Realitätsbezug, die melodramatische Wandlung des Helden und den trockenen Witz der Dialoge. Vor allem vermittelt der Film eine politische Botschaft: Es gibt Situationen, in denen es moralisch zwingend ist, nicht untätig abseits zu stehen, sondern selbstlos einzugreifen.
Anfangs verhält sich Rick wie die übergroße Mehrheit der Amerikaner, die der Ansicht sind, der europäische Krieg gehe ihr Land nichts an. Als er es ablehnt, sein »Café Américain« dem Konkurrenten Ferrari, Besitzer des »Blauen Papagei«, zu verkaufen, sagt dieser: »Mein lieber Rick, wann wird Ihnen endlich klar, dass in der Welt von heute der Isolationismus keine zweckmäßige Politik mehr ist?« Der Satz steht ziemlich erratisch im Skript, er ergibt im Kontext keinen rechten Sinn. Es handelt sich ersichtlich um eine politische Deklamation.
»Ich halte für niemanden den Kopf hin«, sagt Rick wenig später lapidar, und der opportunistische französische Polizeipräfekt Louis Renault pflichtet ihm bei: »Eine weise Diplomatie.« Allerdings vermutet Louis nicht zu Unrecht, »dass unter dieser zynischen Schale ein recht sentimentales Herz schlägt«. Äußerlich gibt sich Rick herablassend gegenüber politischem Engagement: »Die Probleme dieser Welt gehören nicht zu meinem Ressort. Ich bin Besitzer eines Nachtclubs.« Er kämpfe, sagt er, »für nichts mehr, nur noch für mich selbst. Ich bin die einzige Sache, an der ich interessiert bin.«
Den Widerstandskämpfer Laszlo lässt Rick denn auch zunächst abblitzen. »Fragen Sie sich nicht manchmal, ob es das alles wert ist? Ich meine das, wofür Sie kämpfen?« Laszlo entgegnet mit Pathos: »Dann könnten wir uns auch fragen, warum wir atmen. Wenn wir aufhören zu atmen, sterben wir. Wenn wir aufhören, unsere Feinde zu bekämpfen, stirbt die Welt.« Rick bleibt scheinbar ungerührt: »Na und wenn schon. Dann ist sie von ihrem Elend erlöst.« So kauzig und eigenbrötlerisch war Rick, wie der Zuschauer durch Capitaine Renault erfährt, nicht immer: Er hat Waffen nach Abessinien geliefert, um Kaiser Haile Selassie zu helfen, den Angriff der italienischen Faschisten abzuwehren, und er hat im Spanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Sozialisten gegen Franco gekämpft. Rick kommentiert diese Hinweise lapidar: »… und wurde beide Male gut dafür bezahlt.« Worauf der korrupte Renault kontert: »Die Sieger hätten Sie viel besser bezahlt.«
Alkohol löst die Zunge, und so sinniert Rick im Suff über die Naivität der amerikanischen Isolationisten. »Ich wette«, sagt er zu Sam, dem schwarzen Pianisten seines Clubs, »in New York schlafen sie jetzt. Ich wette, sie schlafen jetzt in ganz Amerika.« Es ist ein hintergründiger Weckruf. Immer mehr gelangt Rick zu der »Erkenntnis, dass die Probleme dreier Menschen in dieser verrückten Welt völlig ohne Belang sind«. Um einer höheren Sache willen verzichtet er auf seine Geliebte Ilsa. »Tja, Rick«, staunt Capitaine Renault, »Sie sind nicht nur sentimental, Sie sind auch patriotisch geworden.«
So spielen viele Szenen auf aktuelle politische Ereignisse an. Der Film vermengt auf raffinierte Weise Fiktion und Realität. Seine Urheber bemühten sich um größtmögliche historische Korrektheit. Allerdings hat sich die Kriegssituation verändert, seit der Film im Spätsommer 1942 fertiggestellt wurde, und erst recht gegenüber der Zeit, von der »Casablanca« erzählt.
Dem zwielichtigen Visadieb Ugarte (Zweiter von links) gewährt Rick Einlass in sein Spielcasino. Dem deutschen Bankier hingegen verwehrt er den Zutritt. Damit zeigt der Amerikaner deutlich seine Antipathie gegen den Nazi-Anhänger.
© Filmstill aus »Casablanca«, USA, 1942, Regie: Michael Curtiz. Produktion: Hal B. Wallis, Jack L. Warner. Warner Bros. Film. © Alamy/Ronald Grant Archive/Warner Bros.
Rick zeichnet bei seinem ersten Auftritt, deutlich sichtbar, eine auf den 2. Dezember 1941 datierte Zahlungsanweisung an die Casinokasse über 1000 marokkanische Franc ab. Zwei Tage später besteigen Ilsa und Victor das Flugzeug nach Lissabon. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Amerika noch nicht im Krieg, Hitler stand im Zenit seiner Macht. Sein Herrschaftsbereich erstreckte sich von der französischen Atlantikküste bis zum Kaukasus, vom Nordkap bis in die nordafrikanische Wüste. Nichts schien ihn aufhalten zu können, die Weltherrschaft an sich zu reißen.
Der bis dahin letzte Akt des Hitler’schen Expansionsstrebens war der Überfall auf die Sowjetunion. Am 22. Juni 1941 war die Wehrmacht trotz des zwei Jahre zuvor geschlossenen Nichtangriffspakts ohne Kriegserklärung einmarschiert und tief ins Land eingedrungen. Am 9. Oktober hatte Hitler den Reichspressechef der NSDAP, Otto Dietrich, vor der internationalen Presse erklären lassen, dass »die militärische Entscheidung im Osten gefallen« und die Sowjetunion »erledigt« sei. Anfang Dezember standen deutsche Truppen 40 Kilometer vor Moskau. Mit starken Feldstechern konnten die Vorposten schon die Zwiebeltürme des Kreml erkennen. Leningrad, wie die alte Zarenhauptstadt St. Petersburg nun hieß, wurde seit dem 8. September belagert und sollte ausgehungert werden. In der libyschen Wüste rückten derweil deutsche und italienische Einheiten auf Ägypten und den Suezkanal vor.
Das ist die Situation, in der »Casablanca« spielt. Der Film beginnt mit einem rotierenden Globus und Bildern von Flüchtlingen, die über eine Landkarte Europas laufen. In verschiedenen Grautönen – ein Schwarzweißfilm lässt keine andere grafische Darstellung zu – werden die politischen Verhältnisse im Herbst 1941 gezeigt. Hellgrau ist nur Großbritannien dargestellt, das als einziger Staat in Westeuropa gegen Hitler-Deutschland kämpft; die Sowjetunion, Englands einziger Verbündeter, liegt im Osten außerhalb des Kartenausschnitts. An einem mittleren Grau sind die neutralen Staaten Schweden, Schweiz, Irland, Spanien und Portugal zu erkennen. Dunkelgrau sind neben den Achsenmächten deren Verbündete Ungarn, Rumänien, Slowakei und Kroatien, die besetzten Länder Belgien, die Niederlande, Norwegen und Dänemark sowie die nicht mehr existierenden Staaten Polen, Luxemburg, Tschechoslowakei und Jugoslawien. Frankreich ist zweigeteilt: Der Norden und Westen ist von den Deutschen okkupiert, der südliche Teil ist das »unbesetzte« Frankreich, eine neutrale Zone. Dazu erklärt eine Stimme aus dem Off: »Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wandten sich viele Augen im eingeschlossenen Europa hoffnungsvoll oder verzweifelt der Freiheit Amerikas zu. Lissabon wurde der große Auswanderungshafen, aber nicht jeder konnte direkt nach Lissabon gelangen. Und so entstand plötzlich eine Route, auf der die Flüchtlinge mühsam und auf Umwegen ihr Ziel zu erreichen versuchten: von Paris nach Marseille, über das Mittelmeer nach Oran, dann mit dem Zug, mit dem Auto oder zu Fuß durch das nördliche Randgebiet Afrikas nach Casablanca in Französisch-Marokko. Hier konnten die vom Glück Begünstigten – vielleicht – durch Geld oder Einfluss oder reinen Zufall Ausreisevisa bekommen und nach Lissabon gelangen und von Lissabon in die Neue Welt. Aber die anderen warten in Casablanca und warten und warten und warten.«
Die Fluchtroute von Paris über Marseille nach Casablanca bot sich vor allem deshalb an, weil Flüchtlinge immer auf französischem Territorium blieben und keine Grenze passieren mussten, für die Visa erforderlich gewesen wären. Aber Casablanca war eine Falle, wenn es nicht gelang, eine Ausreiseerlaubnis nach Lissabon zu bekommen. Die portugiesische Hauptstadt war seit Juni 1940 die einzige neutrale Stadt in Westeuropa, von der aus es sichere See- und Luftverbindungen nach Amerika gab. In Lissabon waren alle großen Staaten mit Botschaften vertreten. Wer bis Lissabon gekommen war, hatte das Schlimmste überstanden – oder glaubte es zumindest.22 Denn auch hier wimmelte es von Nazi-Spitzeln, und die Überfahrt nach Amerika hing davon ab, ob man gültige Einreisedokumente vorweisen konnte.
Große Flugboote vom Typ Boeing 314, die bis zu 90 Passagiere aufnehmen konnten, starteten dreimal wöchentlich in Lissabon nach New York. Es war die einzige kommerzielle Flugverbindung zwischen Europa und Amerika. Leisten konnten sich diese Passage aber nur ganz wenige Flüchtlinge.
© Getty Images/Corbis/VCG/Library of Congress
In Lissabon konnte man Atlantikpassagen auf amerikanischen Handelsschiffen buchen, und große Flugboote vom Typ Boeing 314 mit einer Spannweite von mehr als 46 Metern, für bis zu 90 Passagiere luxuriös ausgestattet, boten dreimal in der Woche eine komfortable Reise in die Neue Welt; es war die einzige kommerzielle Flugverbindung zwischen Europa und den Vereinigten Staaten.23 Die Jumbos der damaligen Zeit landeten auf dem neuen New Yorker Flughafen LaGuardia an der Flushing Bay im Stadtteil Queens. Das Einweg-Ticket kostete 425 Dollar.24 Das war 1941 eine enorme Summe und entspricht nach heutiger Kaufkraft mehr als 7000 Dollar.
Allerdings nahmen die Vereinigten Staaten nur eine strikt begrenzte Zahl von Einwanderern auf. Für jedes Herkunftsland waren jährliche Quoten festgelegt. 1941 wurde 27 370 Deutschen – einschließlich der ans Reich angeschlossenen Österreicher – die Einreise mit ständigem Aufenthalt erlaubt. Aus den von der Wehrmacht besetzten oder mit Hitler verbündeten Ländern wurden unterschiedliche Kontingente aufgenommen: 6524 Polen, 5802 Italiener, 3153 Niederländer, 3086 Franzosen, 2874 Tschechen und Slowaken, 2377 Norweger, 1181 Dänen. Bei Zuzüglern aus befreundeten Nationen war die Immigrationsbehörde großzügiger: 65 721 Briten und 17 853 Iren durften in diesem Jahr einwandern. Einigen Herkunftsländern wurde nur die Minimalquote von 100 Personen im Jahr zugebilligt, so etwa Bulgarien.25 Das junge bulgarische Ehepaar Jan und Annina in »Casablanca« hätte deshalb kaum Chancen gehabt, in die USA einreisen zu dürfen; umso mehr mussten sie um die Visa pokern, sei es beim Glücksspiel, sei es durch Prostitution.
Anders als der Film suggeriert, sind Flüchtlinge im Einwandererland Amerika nicht willkommen. Immer wieder ereignen sich menschliche Tragödien, weil die USA den Asylsuchenden die Einreise verweigern.
Der Dampfer »St. Louis«, der am 13. Mai 1939 mit 937 jüdischen Flüchtlingen an Bord in Hamburg abgelegt hatte, war schon in Sichtweite der Küste vor Miami und musste trotzdem umkehren. Vergebens baten der Kapitän Gustav Schröder und jüdische Organisationen Präsident Roosevelt persönlich um Hilfe, der sich jedoch dem Druck seines Außenministers Cordell Hull beugte. Am 4. Juni 1939 lehnte Roosevelt das Anlegen des Schiffes ab; die Regierung wollte keine Flüchtlinge »außer der Reihe« aufnehmen, obwohl fast alle Passagiere gültige Einreisepapiere der US-Einwanderungsbehörde besaßen. Auf Anweisung der Reederei HAPAG musste das Schiff nach Europa zurückkehren. Die Menschen an Bord waren verzweifelt, viele drohten mit Selbstmord, weil sie wussten, dass sie in Deutschland in Konzentrationslager kommen würden. Kapitän Schröder erwog, eine Havarie vor der britischen Küste vorzutäuschen, damit die Bedrängten dort an Land gehen dürften. Die belgische Regierung erlaubte schließlich die Landung in Antwerpen; die Passagiere wurden auf Belgien, die Niederlande, Frankreich und Großbritannien verteilt. Mit der Besetzung der westlichen Nachbarländer im Frühjahr 1940 gerieten die meisten jedoch erneut unter die Herrschaft der Nazis; 254 von ihnen sollten den Holocaust nicht überleben.26
Der größte Widersacher der Flüchtlingshilfe ist der im State Department für die Visa-Erteilung zuständige Unterstaatssekretär Samuel Breckinridge Long, ein notorischer Antisemit und Kommunistenfresser. Zuvor war er Botschafter in Italien und dort als Bewunderer Mussolinis aufgefallen. Unter dem Vorwand, unter den Geflüchteten befänden sich Nazi-Spione, ordnete er strenge Überprüfungen der Antragsteller an; so erreichte er, dass die ohnehin restriktiven Einwanderungsquoten schließlich nur noch zu einem Viertel ausgeschöpft wurden.27 Long sei ein Faschist, äußerte Eleanor Roosevelt einmal wütend und aufgebracht gegenüber ihrem Mann. Doch der Präsident hielt an Long fest, mit dem er seit vielen Jahren befreundet war.28
Erika Mann, die älteste Tochter des Nobelpreisträgers Thomas Mann, und ihr Bruder Klaus schrieben 1939: »Europa ist eng geworden. Es ist gequält von Sorgen, Ängsten, Wahnvorstellungen. Es ist überfüllt. Für die paar Zehntausende von armen Emigranten scheint nirgends Platz zu sein. Keiner, der noch in der Heimat lebt, sei es unter den bedrängtesten Umständen, kann wohl ganz ermessen, was das bedeutet. Es ist nirgends Platz für dich.«29 Für diejenigen, die nach 1933 vor der Verfolgung durch die Nazis nach Frankreich geflohen waren, wurde die Lage erneut bedrohlich, als am 22. Juni 1940 das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet wurde. Denn danach war das besiegte Frankreich verpflichtet, den Deutschen alle Personen auszuliefern, die auf den Fahndungslisten der Gestapo standen.
Drei Tage nach der französischen Kapitulation veranstalteten die »American Friends of German Freedom«, ein Verein zur Unterstützung sozialistischer Nazi-Gegner im Untergrund, im New Yorker Hotel »Commodore« einen Wohltätigkeitslunch. Dort berichtete Erika Mann, dass ihr Vater, der seit 1938 in Kalifornien lebte, täglich von berühmten Künstlern und Schriftstellern höre, die als Flüchtlinge in Frankreich gestrandet waren und auf eine Einreiseerlaubnis in die USA hofften. Auf Erika Manns Initiative hin wurde noch am selben Tag das »Emergency Rescue Committee« (ERC) gegründet.30
Zwei ERC-Aktivisten – Karl Frank, einst Vorsitzender der sozialistischen deutschen Widerstandsgruppe »Neu Beginnen«, und Joseph Buttinger, emigrierter Chef der österreichischen »Revolutionären Sozialisten« – suchten bald darauf Eleanor Roosevelt in ihrem New Yorker Apartment am Gramercy Park auf. »Nach kurzer Diskussion«, berichtete Buttinger später, »rief Mrs. Roosevelt ihren Mann im Weißen Haus in unserer Gegenwart an. Frank und ich waren sehr erstaunt und beeindruckt, als Mrs. Roosevelt nach zwanzigminütigen Versuchen, ihren Mann mit Argumenten zu überzeugen, das Gespräch mit einer Drohung beendete: ›Wenn Washington sich weigert, diese Visa unverzüglich auszustellen, werden deutsche und amerikanische Wortführer der Emigranten mit Hilfe amerikanischer Freunde ein Schiff chartern, und dieses Schiff wird so viele Flüchtlinge wie möglich über den Atlantik bringen. Falls nötig, wird dieses Schiff an der Ostküste so lange hin und her fahren, bis das amerikanische Volk aus Scham und Wut den Präsidenten und den Kongress zwingt, diesen politisch Verfolgten zu erlauben, an Land zu gehen.‹«31
Umgehend ordnete Roosevelt an, dass für 200 prominente Intellektuelle Visa ausgestellt wurden. Mit deren Namen wollte er sich gern schmücken. Der 32-jährige Varian Fry, ein Altphilologe, der in New York als Lektor bei der Foreign Policy Association arbeitete, wurde vom ERC mit dem Auftrag nach Marseille geschickt, die Betreffenden ausfindig zu machen und ihnen bei der Ausreise zu helfen.
Frys Ankunft in der südfranzösischen Hafenstadt im August 1940 sprach sich rasch herum. Bald standen Hunderte Hilfesuchender vor seinem Hotel. Deshalb scharte er eine kleine Gruppe von Helfern um sich. Als die 200 amerikanischen Visa aufgebraucht waren, versuchte Fry, Einreisedokumente für andere Staaten zu bekommen. Der österreichische Karikaturist Bil Spira stellte gefälschte Pässe und Visa her. Während in »Casablanca« Schwarzmarkthändler und Ganoven die Notlage der Geflüchteten schamlos ausnutzen, sich an ihnen bereichern und sie sogar bestehlen, arbeiteten Fry und seine Leute uneigennützig.
Nachdem die Nazis 1940 Frankreich besetzt hatten, suchten viele der dorthin Geflohenen nach Übersee zu gelangen. Um eines der begehrten Einreisevisa für die Vereinigten Staaten zu erhalten, bildeten sich bald lange Warteschlangen vor dem US-Konsulat in Marseille.
© Varian Fry Institute/Dr. Hans Cahnmann
Obwohl Fry von höchster Stelle Unterstützung zugesagt war, warfen ihm amerikanische Regierungsmitglieder und Beamte ständig Knüppel zwischen die Beine. Sowohl die US-Botschaft in Vichy als auch das Vichy-Regime selbst versuchten, Frys Aktivitäten zu stoppen. Zweimal appellierte Fry schriftlich an Außenminister Hull. »Tausende stecken ohne Hoffnung auf Freilassung in den Gefängnissen und Konzentrationslagern Europas fest, weil sie keine Regierung haben, die bereit ist, sie zu repräsentieren«, schrieb er am 10. November 1940. »Wäre es nicht möglich, dass Amerika und andere westliche Staaten sofortige Schritte einleiten, wie zum Beispiel die Herstellung neuer Nansen-Pässe«, mit denen nach dem Ersten Weltkrieg staatenlosen Flüchtlingen geholfen wurde, »und ihren Inhabern wenigstens in begrenztem Umfang diplomatischen Schutz gewähren?« Weder auf diesen noch auf einen weiteren Brief erhielt Fry eine Antwort.32 Stattdessen war er ständig Schikanen der Vichy-Regierung ausgesetzt. Im Dezember 1940 wurde er sogar kurzzeitig auf einem Gefängnisschiff im Hafen von Marseille inhaftiert. Ein hoher Vichy-Beamter behauptete: »Herr Fry leitet eine Organisation, die unter dem Vorwand, Migranten zu helfen, Ausländer mit zweifelhafter Moralität oder mit feindseliger politischer Einstellung Frankreich gegenüber schützt.« Wegen solcher Denunziationen gab Fry seinen Schützlingen einen Auftrag mit auf den Weg: »Stellt sie (die Flüchtlinge) dar als das, was sie sind, menschliche Wesen, die durch halb Europa getrieben wurden und jetzt mit dem Rücken zum Meer stehen.«
Am 29. August 1941 wurde Fry von der Vichy-Polizei festgenommen und in die USA abgeschoben. »Die Leute in Washington sitzen in ihren schönen Büros und handeln mit Papieren«, klagte er nach seiner erzwungenen Rückkehr. »Es zerreißt ihnen nicht das Herz. Es berührt ihre Seele nicht im Geringsten.« Auch Roosevelt zeigte keine Empathie.
Rund 4000 Flüchtlingen hat Fry den Weg nach Amerika geebnet. Nur ein einziger amerikanischer Diplomat war ihm dabei behilflich: Hiram Bingham, der Vizekonsul in Marseille. Er setzte sich über die Anweisungen, die Flüchtlinge zurückzudrängen, hinweg. Ihm und Fry verdankten beispielsweise der Schriftsteller Lion Feuchtwanger, der Maler Marc Chagall und die Publizistin Hannah Arendt, dass sie aus Frankreich nach Amerika entkommen konnten.
Bingham hatte zunächst die Befreiung Feuchtwangers aus einem französischen Internierungslager organisiert und ihn in seinem Privathaus am Stadtrand von Marseille aufgenommen. Mit gefälschten amerikanischen Papieren machten der Schriftsteller und seine Frau Marta sich zu Fuß auf den Weg über die Pyrenäen nach Spanien. Als Vorhut hatten Heinrich Mann, seine Frau Nelly und ihr Neffe Golo sowie das Ehepaar Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel, ausgestattet mit tschechischen Ausweisen, die Bergkette auf derselben Route überquert. Ein spanisches Zollhäuschen konnten die Feuchtwangers passieren, nachdem Marta die Beamten mit ein paar Stangen amerikanischer Zigaretten bestochen hatte. Vom spanischen Port Bou fuhren sie mit der Bahn nach Lissabon.33
Feuchtwanger ging an Bord eines amerikanischen Linienfrachters, der am 5. Oktober 1940 in New York einlief. Nachdem das Schiff in Manhattan vor Anker gegangen war, fragten Journalisten ihn über die näheren Umstände seiner Flucht aus. Der Schriftsteller gab sich wortkarg. Die New York Times berichtete, Feuchtwanger habe zwar wiederholt von amerikanischen Freunden gesprochen, die ihm geholfen hätten, den Nazi-Häschern zu entkommen. Er hütete sich aber, Namen zu nennen, um weitere Rettungsbemühungen nicht zu gefährden. Allerdings deutete er, wenn auch vage, seine Flucht aus dem Internierungslager und seinen Fußmarsch über Schmugglerwege nach Spanien an. Dieses Wenige reichte aus, ihm später vorzuwerfen, er habe die weitere Arbeit der amerikanischen Helfer erschwert und gefährdet. Im Magazin Time hieß es einen Monat nach Feuchtwangers Ankunft in New York, er hätte genauso gut der Gestapo Mitteilung machen können.34
Ein Absatz aus Feuchtwangers Reisebericht »Moskau 1937«, der als Fußnote dem Artikel beigefügt war, offenbarte, was die Kritik eigentlich bezweckte: Der Nazi-Gegner sollte als vermeintlicher Kommunist diffamiert werden, ein Totschlagargument in der innenpolitischen Auseinandersetzung in Amerika. Zitiert wurde Feuchtwanger mit den Sätzen: »Es gibt innerhalb der westlichen Zivilisation keine Klarheit und Entschiedenheit mehr. Man atmet auf, wenn man aus dieser drückenden Atmosphäre einer verfälschten Demokratie und eines heuchlerischen Humanismus in die strenge Luft der Sowjetunion kommt.« Weggelassen wurde ein wichtiger Satz, mit dem Feuchtwanger sein verstörendes Urteil damals begründet hatte: Der Westen wage »nicht, sich gegen den andrängenden Barbarismus mit der Faust zu wehren oder auch nur mit starken Worten, man tut es mit halbem Herzen, mit vagen Gesten, und die Erklärungen der Verantwortlichen gegen den Faschismus sind verzuckert und verklausuliert«.35
Bingham und Fry verhalfen auch dem russisch-jüdischen Maler Marc Chagall zur Einreise in die USA. Das New Yorker Museum of Modern Art hatte im Zusammenhang mit einer Ausstellung von Chagall-Bildern ein Visum für den in Frankreich lebenden Künstler beantragt. Aber Chagall wurde Monat um Monat hingehalten, die Vichy-Polizei verhaftete ihn im April 1941. Dank Binghams und Frys Intervention kam er wieder frei und konnte Frankreich im Mai Richtung Amerika verlassen. »Wenn es nach der Roosevelt-Regierung gegangen wäre, wäre er niemals herausgekommen«, sagte Binghams Sohn Bill später.36
Auch in der Folgezeit wich die amerikanische Politik von ihrer hartherzigen Haltung nicht ab. Deshalb wandten sich immer wieder Bittsteller an Eleanor Roosevelt. Der aus Deutschland ausgebürgerte Physiknobelpreisträger Albert Einstein, der seit 1935 in Princeton, New Jersey, lebte und lehrte und seit 1940 amerikanischer Staatsbürger war, schrieb im Juli 1941 einen Brief an die Präsidentengattin. Die First Lady, rühmte Einstein, habe sich stets »für Recht und Menschlichkeit« eingesetzt. Deshalb wisse er »niemand sonst, an den er sich mit der Bitte um Hilfe wenden« könne. Die vom State Department verfolgte Politik mache es »Opfern der faschistischen Gräuel in Europa« praktisch unmöglich, in Amerika Zuflucht zu finden. Man habe eine »Mauer an bürokratischen Maßnahmen aufgerichtet«, weil es angeblich notwendig sei, »Amerika vor subversiven, gefährlichen Elementen zu schützen«. Einstein empfahl Eleanor Roosevelt, sich bei einer »gut informierten« Persönlichkeit wie dem Diplomaten und Publizisten Hamilton Fish Armstrong, Chefredakteur der Zeitschrift Foreign Affairs, über die Einwanderungspolitik zu erkundigen. Wenn sie danach überzeugt sei, dass »ein wahrhaft schweres Unrecht« geschehe, werde sie gewiss ihren Ehemann zu einer Korrektur der amtlichen Visapraxis veranlassen können.37 Einsteins Hoffnung erfüllte sich nicht.
Obwohl das schäbige Verhalten der amerikanischen Regierung gegenüber den Flüchtlingen vor Beginn der Dreharbeiten bekannt war, thematisiert »Casablanca« diesen Aspekt nicht. Der Zuschauer muss glauben, Amerika sei ein Hort der Humanität. Politisch propagiert der Film allein Roosevelts Bestreben, den Isolationismus zu überwinden.
Noch schlimmer als Emigranten, die aus politischen, ethnischen oder rassischen Gründen verfolgt wurden, erging es aktiven Widerstandskämpfern, wenn sie sich von Amerika Hilfe erhofften. Einen wie Victor Laszlo hätten sich die Amerikaner vom Hals gehalten.
Schon vor Kriegsbeginn versuchte Adam von Trott zu Solz, ein den Sozialdemokraten nahestehender Diplomat im Auswärtigen Amt, in Washington Unterstützung für den deutschen Widerstand zu gewinnen. Wie seine späteren Mitstreiter im »Kreisauer Kreis« um Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg setzte er sich für den Sturz Hitlers ein. Trott war angelsächsisch geprägt. Er stammte, wie er gelegentlich gern erwähnte, von John Jay ab, einem der »aristokratischen Revolutionäre Amerikas von 1776«:38 Seine Großmutter mütterlicherseits war eine direkte Nachfahrin Jays, der zu den Gründervätern der Vereinigten Staaten zählte. Als ehemaliger Oxford-Stipendiat hatte Trott mit Hilfe englischer Freunde zunächst in Großbritannien dafür geworben, der Hitler-Opposition bei der Beseitigung der Nazi-Herrschaft zu helfen. Doch viele mochten ihm nicht abnehmen, dass ein deutscher Patriot zugleich Regimegegner sein könne, und verdächtigten ihn eines fiesen Doppelspiels.
Im September 1939 verlegte Trott seine Bemühungen nach Amerika. Dank einer offiziellen Einladung, bei einer Konferenz in Virginia eine Rede zu halten, konnte er in die USA reisen, ohne bei deutschen Behörden Misstrauen zu wecken. Dort hoffte er auf ein Zusammentreffen mit Roosevelt, von dem er annehmen konnte, dass er nicht ungern als Retter des Weltfriedens in die Geschichtsbücher eingehen wollte.
Mit einigen in Amerika lebenden deutschen Emigranten verfasste Trott ein Memorandum, das an die Gedanken des Präsidenten Woodrow Wilson von 1917 anknüpfte, wonach es nach dem Krieg weder Sieger noch Besiegte geben dürfe und die Menschen lernen müssten, die Grundlage eines dauerhaften Friedens nicht im militärischen Erfolg zu sehen. Das Dokument warb für eine Erklärung der Westmächte, Deutschland nach dem Krieg weder vernichten noch aufteilen, sondern in eine neue europäische Ordnung einfügen zu wollen, sobald es von der Tyrannei befreit sei. Es würde die deutsche Opposition ermutigen, das Nazi-Joch abzuschütteln, wenn man die psychologische Voraussetzung dafür schaffe. Das Memorandum wurde Außenminister Hull übergeben, der seinen Staatssekretär Sumner Welles, Roosevelts Vertrauten im State Department, darüber informierte. Auch Heinrich Brüning, der letzte demokratisch legitimierte Reichskanzler der Weimarer Republik, nun Professor für Verwaltungswissenschaft an der Harvard University, wurde deshalb bei Roosevelt vorstellig. Doch der Präsident weigerte sich, Trott anzuhören.39
Das war Ende 1939, am Beginn des Krieges. Volk und Wehrmacht gerieten angesichts der folgenden deutschen Blitzsiege in eine Euphorie, die es Oppositionellen noch schwerer machte, den Sturz des »Führers« zu betreiben. 1942 rückte die Frage in den Vordergrund, ob Deutschland nach einer Beseitigung Hitlers mit Schonung rechnen könne. Solche Zusagen hielten die Regimegegner für notwendig, um die militärischen Befehlshaber für einen Staatsstreich zu gewinnen. Die außenpolitischen Köpfe des Widerstands, neben Trott vor allem der Ex-Botschafter Ulrich von Hassell, hegten die Hoffnung, dass trotz der Grausamkeiten und Verbrechen in den unterworfenen Ländern vielleicht noch immer ein »annehmbarer Frieden« möglich sei. Doch die Zeichen dafür standen schlecht. Winston Churchill, der im Mai 1940 den Appeasement-Premier Neville Chamberlain abgelöst hatte, gab die Parole aus, auf alle Friedensangebote aus Deutschland mit »absolutem Schweigen« zu reagieren. Im September 1941 riet er seinem Außenminister Anthony Eden sogar davon ab, Nachrichten von neutralen Mittelsmännern entgegenzunehmen. So misslangen auch Versuche der Pastoren Dietrich Bonhoeffer und Hans Schönfeld, über den Bischof von Chichester, George Bell, Friedensfühler nach London auszustrecken. Eden schrieb dem Bischof, er wolle nicht an der Aufrichtigkeit der beiden Deutschen zweifeln. Er sei jedoch zu der Erkenntnis gekommen, dass eine Antwort »nicht im nationalen Interesse« Großbritanniens liege.
Je mehr die Wehrmacht im Kriegsverlauf in die Defensive geriet, desto weniger waren die Westmächte zum Gespräch mit der deutschen Opposition bereit. Am 8. Mai 1942 machte Eden unmissverständlich klar, dass man Taten sehen wolle: »Je länger das deutsche Volk die Unterstützung und Tolerierung eines Regimes fortsetzt, das es in die Zerstörung führt, desto schwerer wiegt seine eigene Verantwortung für den der Welt zugefügten Schaden. Wenn irgendeine Gruppe im deutschen Volk wirklich zu einem Staatswesen zurückkehren möchte, das auf der Achtung vor dem Gesetz und den Rechten des Einzelnen gegründet ist, dann muss sie verstehen, dass niemand ihr glauben wird, bis sie aktive Schritte unternommen hat, um sich vom derzeitigen Regime zu befreien.«40
Dem Ziel, Hitler militärisch niederzuringen, sind die Alliierten im Laufe des Jahres 1942 ein großes Stück nähergekommen. Von der Entwicklung überholt ist schon die Szene am Beginn von »Casablanca«, in der Major Heinrich Strasser nach seiner Landung in der marokkanischen Metropole von Capitaine Renault mit den Worten begrüßt wird: »Das Klima in Casablanca wird Ihnen vielleicht etwas heiß sein, Herr Major.« Worauf Strasser großspurig antwortet: »Wir Deutsche müssen uns an jedes Klima gewöhnen, von Russland bis zur Sahara.«
Die Lage in Casablanca hat sich inzwischen total verändert. Um sich die Kontrolle über den Mittelmeerraum zu sichern und die Deutschen aus Nordafrika zu vertreiben, hatten Roosevelt und Churchill am 20. Juni 1942 eine Invasion amerikanischer und britischer Truppen in Marokko und Algerien beschlossen. Französisch-Nordafrika wurde vom Vichy-Regime verwaltet, das Deutsche Reich besaß jedoch großen Einfluss. Die Franzosen hatten rund 60 000 Soldaten, Küstenartillerie sowie eine Handvoll Panzer und Flugzeuge in Marokko, in Casablanca waren zehn Kriegsschiffe und elf U-Boote stationiert. Da Pétain Hitlers Aufforderung, auf deutscher Seite in den Krieg einzutreten, nicht gefolgt war, glaubten die Alliierten, dass die französischen Kolonialtruppen den Invasoren keinen Widerstand leisten würden.
Am 8. November und in den folgenden vier Tagen landeten bei der Operation unter dem Decknamen »Torch« (»Fackel«) mehr als 100 000 Soldaten trotz starker Brandung an den afrikanischen Küsten des Atlantiks und des Mittelmeers. Die Amerikaner eroberten in Marokko die Straßen nach Casablanca und schließlich die Stadt selbst. Die britischen Angriffe auf Oran und Algier verliefen dramatischer. Die Vichy-Franzosen dort wehrten sich heftiger; britische Kriegsschiffe, die in die Häfen einliefen, wurden rasch zerstört; und an gefährlichen Stränden kam es teilweise zu großen Verwirrungen, weil Einheiten sich gegenseitig behinderten oder am falschen Ort landeten. Solche Fehler, urteilt der britische Historiker Corelli Barnett, wären »schwer bestraft worden, wenn deutsche Truppen diese Küste verteidigt hätten«.41
Die deutschen Geheimdienste hatten jedoch komplett versagt. In Berlin wusste man zwar, dass die Alliierten irgendwo im Westen einen Invasionsversuch unternehmen würden, aber über den möglichen Ort der Landung gab es nur Spekulationen. Einige konspirative Beobachter vermuteten, dass die Invasion in Belgien oder in den Niederlanden stattfinden würde, andere tippten auf Nordfrankreich oder Dänemark, Hitler setzte aus seinem Bauchgefühl heraus auf Norwegen. Nur wenige lagen immerhin bei der Vorhersage des Kontinents richtig. Selbst als Ende Oktober immer mehr Meldungen über alliierte Schiffsbewegungen westlich von Gibraltar eintrafen, blieben die Prognosen der Geheimdienstexperten widersprüchlich. Erst als am 8. November Theodor Auer, der deutsche Generalkonsul in Casablanca, Alarm schlug, begriff man in Berlin den Ernst der Lage.
Hitler erreichte die Nachricht von der Landung der Alliierten in Nordafrika während eines Aufenthalts auf einem Bahnhof in Thüringen.42 Er war im »Führerzug« unterwegs nach München, wo er – wie in jedem Jahr seit der »Machtergreifung« – zum Gedenken an seinen gescheiterten Putschversuch vom 9. November 1923 eine Rede vor alten Kampfgefährten zu halten beabsichtigte. Die Hiobsbotschaft brachte ihn völlig aus dem Konzept, seine Rede war konfus. Angesichts der prekären Lage in Nordafrika betonte er, wie wichtig es propagandistisch und psychologisch sei, dass Stalingrad gehalten werde. Er versicherte: »Das Deutschland von einst« – gemeint war 1918 – »hat um ¾ 12 die Waffen niedergelegt – ich höre grundsätzlich erst 5 Minuten nach zwölf auf!«43
Propagandaminister Joseph Goebbels, der unter den Zuhörern im Münchner Löwenbräukeller saß, schrieb sich in seinem Tagebuch die Lage wieder einmal schön. Hitler, behauptete er, spreche »mit einer bewundernswerten Festigkeit und Sicherheit«. Seine Angriffe gegen Churchill und Roosevelt seien »an Schärfe kaum noch zu überbieten«. Obschon im Saal extreme Nervosität herrschte, weil selbst die alten Kämpfer an der Widerstandskraft und dem Widerstandswillen der Vichy-Franzosen in Nordafrika zweifelten, gab sich Goebbels zuversichtlich: »Jeder weiß, dass wir, wenn die Dinge in eine gewisse Bahn gedrängt werden können, an einem Wendepunkt des Krieges stehen.« Man werde ihn »siegreich durchfechten, an eine Nachgiebigkeit ist überhaupt nicht zu denken«.44