Der Treuhand-Komplex - Norbert F. Pötzl - E-Book

Der Treuhand-Komplex E-Book

Norbert F. Pötzl

0,0

Beschreibung

Kapitalistisches Monster, Zombie der Wiedervereinigung, erinnerungskulturelle Bad Bank: Negative Zuschreibungen prägen in Medien und Literatur das Bild der Treuhandanstalt, die 1990 zur Privatisierung der "volkseigenen" DDR-Unternehmen gegründet wurde. Der Treuhand wird angelastet, dass damals zweieinhalb Millionen Menschen ihre Arbeitsplätze verloren, dass Biografien brüchig und Lebensentwürfe zerstört wurden. Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall ist die Treuhand noch immer das Feindbild für viele Ostdeutsche, Sündenbock für ökonomische Fehlentwicklungen und neuerdings auch Erklärungsmuster für das Auftreten von Rechtspopulisten und Rechtsextremisten. Aber die gefühlten Wahrheiten und Legenden überwuchern oft die historischen Tatsachen. Bis jetzt: Der lang jährige Spiegel-Redakteur Norbert F. Pötzl durchdringt rational das Dickicht komplexer Vorgänge. Als einer der Ersten hat er Einsicht genommen in die internen Treuhand-Akten, die jetzt nach und nach ins Bundesarchiv übernommen werden, hat Gespräche mit Betroffenen, Akteuren, Politikern und Wissenschaftlern geführt. Sensibel für persönliche Schicksale rückt er aber auch, sachlich argumentierend, Vorurteile und falsche Behauptungen zurecht. Pötzls Buch ist das erste, das dem Anspruch gerecht wird, dieses vielschichtige Thema anhand der Faktenlage umfassend aufzuarbeiten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 288

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Norbert F. Pötzl

DER TREUHAND-KOMPLEX

Legenden. Fakten. Emotionen.

Inhalt

1. Das Verlangen nach Aufarbeitung

2. Die Illusion vom Volksvermögen

3. Die Illusion vom zweiten Wirtschaftswunder

4. Aufbau Ost

5. Goldene Nasen

6. Gefühlte Wahrheiten

7. Erfolgsgeschichten

8. Nach der Wende ist vor der Wende

9. Epilog

Dank

Literaturverzeichnis

Personenregister

Über den Autor

Impressum

»Wenn die Tatsachen nicht mit der Theorie übereinstimmen – umso schlimmer für die Tatsachen.«

(Georg Wilhelm Friedrich Hegel zugeschrieben)

1. Das Verlangen nach Aufarbeitung

»Die Treuhand ist wie ein Schibboleth, das man aufruft, und alle sagen: Ja, wie wahr!«

Uwe Steimle ist so etwas wie die Stimme und das Gesicht des Ostens. Der Kabarettist aus Dresden kann nicht nur den eintönigen Singsang und die grämliche Physiognomie seines ehemaligen Staatschefs Erich Honecker täuschend echt imitieren. Auch behauptet er selbst von sich, er sei der »Seismograf des Volkes« und »schaue dem Volk aufs Maul«. Mit einem Oldtimer-Wartburg 312 aus den 1960er-Jahren tuckert er seit 2013 regelmäßig durch seine sächsische Heimat und stellt in einer regionalen Fernsehserie Steimles Welt vor. Der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) rühmt an seinem TV-Star dessen »Mission«, die »der eines inoffiziellen Ostbeauftragten« gleiche. Die Erfindung des Begriffs »Ostalgie« hat sich Steimle schon 1992 patentieren lassen.1

Nach dem Untergang der DDR verortete sich Steimle, wie viele Ostdeutsche, erst einmal im linken politischen Spektrum. Das 1963 geborene »Arbeiterkind«, als das er sich selbst charakterisiert, fühlte sich am besten durch die Nachfolger der SED vertreten, die sich erst in PDS umbenannten und heute als Die Linke firmieren. 2009 entsandte ihn die Linksfraktion des sächsischen Landtags zur Wahl des Staatsoberhaupts in die Bundesversammlung. Mutmaßlich – die Abstimmung war ja geheim – hat Steimle dem Kandidaten der Linken, dem Schauspieler Peter Sodann, seine Stimme gegeben. Auf keinen Fall würde er für Horst Köhler votieren, hatte Steimle schon vorab verkündet: Der CDU-Mann, der sich zur Wiederwahl stellte, sei nämlich »für die Abwicklung der Wartburg-Werke verantwortlich« gewesen.2

Horst Köhler hatte einst, was ihm viele Ostdeutsche bis heute nicht vergessen, als Staatssekretär im Bonner Finanzministerium die Wirtschafts- und Währungsunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR entscheidend mitgestaltet. Vor allem war er der oberste Aufsichtsbeamte über die Treuhandanstalt, die im Osten weithin als Totengräberin der dortigen Wirtschaft verabscheut wird. In kleinem Kreis, vor dem Präsidialausschuss der Treuhandanstalt, hatte Köhler am 23. Januar 1991 argumentiert: »Es muss auch gestorben werden.« Damit sprach er die unvermeidliche Stilllegung wirtschaftlich nicht lebensfähiger DDR-Betriebe an. Ihm sei dabei, erläutert Köhler, das Goethe-Wort »Stirb und werde« durch den Kopf gegangen – aus dem Untergegangenen werde neues Leben entstehen.3

Für den Beschluss des Treuhand-Vorstands, die unrentable Wartburg-Produktion im Automobilwerk Eisenach (AWE) Ende März 1991 einzustellen, konnte Köhlers pietätlos klingender Satz nicht der Auslöser sein. War doch die Entscheidung, wie die Protokolle beweisen, über das Ende des Wartburg-Werks im Treuhand-Vorstand bereits Mitte Januar gefallen und einen Tag vor Köhlers Äußerung noch einmal bekräftigt worden.4

Der Wartburg 1.3, das neueste Modell aus dem AWE, war zwar, anders als seine stinkenden und qualmenden Zweitaktervorgänger, mit einem Viertaktmotor von VW ausgestattet. Aber die Ostdeutschen plünderten lieber ihre Sparbücher für gebrauchte Westautos: 800 000 Fahrzeuge, oft schrottreif und überteuert, wurden 1990 in die »neuen Bundesländer« verhökert. An die sieben Milliarden DM flossen allein zu diesem Zweck aus dem armen Osten in den reichen Westen – Investitionskapital, das hinterher fehlte.5

Um die Eisenacher Mittelklasselimousine überhaupt noch verkaufen zu können, wurde sie für 7800 DM angeboten, obwohl sie in der Herstellung 14 400 DM kostete – die Differenz legte die Treuhand drauf.6 Wäre der Wartburg, wie noch im Dezember 1990 vom Treuhand-Vorstand geplant, auch nur bis Mitte 1991 weiter produziert worden, hätte dies, selbst bei reduzierten Stückzahlen, weitere 75 Millionen Mark an Subventionen gekostet.7 »Sozialplan billiger«, notierte ein Sitzungsteilnehmer handschriftlich über die Diskussion im Vorstand.8 »Im Falle einer bis Ende 1991 fortgesetzten Produktion«, legte Treuhand-Vorstandsmitglied Klaus-Peter Wild dar, wäre »mit Stützungen von mindestens 150 Millionen DM zu rechnen« gewesen.9

In Eisenach gab es schon einen Hoffnungsschimmer. Opel plante eine hochmoderne Autofabrik, am anderen Ende der Stadt. Die damalige General-Motors-Tochter mochte weder Gebäude noch Maschinen des AWE in Besitz nehmen, denn die waren für eine rationelle Autoproduktion unbrauchbar. Aber für die Facharbeiter und Ingenieure bestand die Aussicht, von Opel übernommen zu werden. Bis dort die Fahrzeugherstellung anlaufen würde, womit man ab Mitte 1992 rechnete, sollten Qualifizierungs- und Umschulungsmaßnahmen die Zeit überbrücken.

Der Treuhand-Vorstand beklagte, dass die darüber »mit der Geschäftsleitung von AWE geführten Gespräche … leider zum Teil inhaltlich unzutreffend im Unternehmen übermittelt worden« seien.10 So war das Klima von vornherein vergiftet. Die angekündigte Stilllegung des Wartburg-Werkes löste einen Sturm der Entrüstung aus. Mehrfach demonstrierten Tausende Automobilwerker in der Stadt, am 25. Januar blockierten sie die Autobahn an der Auffahrt Eisenach-West. Die geplante Teilnahme an der Grundsteinlegung für das neue Opel-Werk am 7. Februar sagte Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), weil er mit Protesten rechnen musste, vorsichtshalber ab.

Der volkseigene Betrieb (VEB) Automobilwerke Eisenach hatte ein DDR-typisches strukturelles Problem: Von den 9500 Mitarbeitern waren nur 2469, wenig mehr als ein Viertel der Belegschaft, in der Fahrzeugherstellung beschäftigt. Die übrigen arbeiteten in firmeneigenen, aber autofremden Betriebsanhängseln wie Kindergarten, Poliklinik, Bauabteilung oder Ferieneinrichtungen.11 Trotzdem war die Treuhand-Bilanz am Ende positiv: Im Opel-Werk, das im September 1992 mit der Produktion begann, kamen 1900 Wartburg-Werker unter; weitere 1000 Arbeitsplätze wurden bei ausgegründeten Zulieferfirmen geschaffen.12 40 Millionen DM wandte die Treuhand auf, um die Mitarbeiter zu entschädigen, die ihre Arbeitsplätze verloren.13

Horst Köhler, von Steimle wie von anderen Ostdeutschen persönlich für die Wartburg-Schließung verantwortlich gemacht, wurde 2009 wieder zum Bundespräsidenten gewählt. Dass er ein Jahr später überraschend zurücktrat, weil er Kritik an seinen Äußerungen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr als »ungeheuerlich« empfand, ist eine andere Geschichte. Uwe Steimle, damals nach eigener Aussage ein »bekennender Linker«, mutierte seither zu einem rechten Sprücheklopfer. Schon zur Jahreswende 2014/2015, kaum dass der mehrfach wegen krimineller Delikte vorbestrafte Dresdner Rechtsextremist Lutz Bachmann fast ein Jahr vor der »Flüchtlingskrise« Tausende »Patriotischer Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes«, kurz Pegida, mobilisiert hatte, biederte sich Steimle der fremdenfeindlichen und rassistischen Organisation mit einer Art Liebeserklärung an: Er hege, sagte er, für Pegida »zärtliche Gefühle«. Den SPD-Minister Heiko Maas beschimpfte er nach dessen Kritik an Pegida als »Flachzange« und »Arsch«, die ZDF-Moderatorin Marietta Slomka verunglimpfte er als Vertreterin der angeblich »ferngesteuerten« öffentlich-rechtlichen Medien, indem er ihren Vornamen zu »Marionetta« verballhornte.14

In der rechten Wochenzeitung Junge Freiheit behauptete Steimle, Deutschland sei ein »Besatzungsgebiet der USA«, ein Schmähwort aus dem Repertoire der »Reichsbürger«-Szene. Steimles Heimatsender fand, dass dessen Auslassungen »für den MDR nicht akzeptabel« seien, scheute aber Konsequenzen. Steimles Beliebtheit beim ostdeutschen Publikum ist so groß, dass der MDR sich nicht traut, seinen Quotenbringer aus dem Programm zu verbannen.15

Steimle hat, wie viele seiner ostdeutschen Landsleute, den politischen Standort gewechselt. Wie einst die Linke als regionale Kümmererpartei auf dem Gebiet der ehemaligen DDR Protestwähler anzog, sammeln nun Rechtspopulisten die Stimmen der Wutbürger ein. 420 000 Wähler verlor die Linke bei der Bundestagswahl 2017 an die Alternative für Deutschland (AfD). Ein Zehntel derer, die vier Jahre zuvor für die Linke gestimmt hatten, entschied sich nun für die AfD, die in Sachsen sogar die dort seit 1990 dominierende CDU überflügelte. Das Wahlergebnis löste, wie der aus Dresden stammende Soziologe Wolfgang Engler sagt, »einen gesellschaftlichen Schock« aus, »als dessen Folge sich ein neuer Umgang mit Ostdeutschland« abzeichne: »Die öffentliche Wahrnehmung der Ostdeutschen hat sich seither verändert.«16

Auch bei der Wahl des Europäischen Parlaments am 26. Mai 2019 hat die AfD den Osten Deutschlands wieder gewonnen, sogar noch deutlicher als bei der Bundestagswahl. In Sachsen und Brandenburg wurde sie stärkste Partei, in den anderen drei Ostländern landete sie auf dem zweiten Platz. Die politische Landkarte bildet exakt das Gebiet der alten DDR ab.

Und es ist nicht nur das Wahlverhalten, das verstört. Rechtsextremistische Umtriebe lenken immer wieder den Blick auf Ostdeutschland. Ortsnamen wie Bautzen, Clausnitz, Freital oder Heidenau gerieten wegen fremdenfeindlicher Ausschreitungen in die Schlagzeilen. Die Orte stehen für Szenen aufgebrachter Menschen mit wutverzerrten Gesichtern, die meist Ordinäres plärren, gegen Flüchtlinge und die Kanzlerin hetzen, die Ausländer attackieren und Asylbewerberheime anzünden, die sich von Humanität, zivilisierten Formen der Auseinandersetzung und auch vom politischen System der repräsentativen Demokratie verabschiedet haben.

Nach dem gewaltsamen Tod eines Deutschen am 26. August 2018 in Chemnitz formierte sich umgehend eine Kampfgruppe aus Neonazis, Hooligans, AfD-Anhängern und angeblich »besorgten Bürgern«. Gemeinsam führten der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke und Pegida-Gründer Bachmann einen »Trauermarsch« an, in den sich neben notorischen Rechtsradikalen ungehemmt auch Menschen aus der gesellschaftlichen Mitte einreihten. »Der Tod des 35 Jahre alten Deutschen wirkt im Nachhinein wie eine Zäsur für das Land«, schrieb der Spiegel über die Exzesse von Chemnitz: »Die Demonstrationen und Gegendemonstrationen in den Wochen danach, die rechtsextremen Parolen, die Hitlergrüße, die Gewalt, die Debatten und politischen Entscheidungen verraten viel über den Zustand der Republik. Über die tiefe Spaltung und die große Wut, die da brodelt. Über Menschen, die der Demokratie nicht mehr trauen, und über einen Staat, der nicht da ist, wenn er gebraucht wird.«17

So stellt sich drängender denn je die Frage: Was ist los in »Deutsch-Nahost«?, wie Uwe Steimle das Land zwischen Zinnowitz und Zwickau nennt. Deutschland, das wird nun sichtbar, ist drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung noch immer nicht so zusammengewachsen, wie sich Politiker in Berlin und in den ostdeutschen Landeshauptstädten das gerne schönreden.

Warum haben AfD, Pegida und ähnliche Organisationen im Osten so großen Zulauf? Wieso halten einer aktuellen Umfrage zufolge nur 42 Prozent der Ostdeutschen die in Deutschland praktizierte Demokratie für die beste Staatsform, während 77 Prozent der Westdeutschen davon überzeugt sind?18 Wer solche Fragen einem Ostdeutschen stellt, bekommt meist auf Anhieb eine klare Antwort: Weil es den Menschen im Osten materiell schlechter gehe als im Westen, weil man sich im eigenen Land als Fremder fühle, weil der Osten vom Westen nach dem Mauerfall ausgeplündert, plattgemacht, kolonialisiert worden sei. Das kollektive Gefühl der Kränkung suche sich eben ein Ventil.

Das Böse, das an allem Übel schuld sein soll, hat einen Namen: Treuhandanstalt. Die von der damaligen konservativ-liberalen Bonner Regierung unter Kanzler Kohl gesteuerte Institution, die zwischen 1990 und 1994 die rund 8500 ehemals »volkseigenen Betriebe« der DDR zu privatisieren hatte, habe das Land deindustrialisiert und massenhaft Arbeitsplätze vernichtet. Die Treuhand sei »das Symbol eines brutalen, ungezügelten Kapitalismus«, sagte 2015 die damalige Ostbeauftragte der Bundesregierung, Iris Gleicke von der SPD. Sie habe »vielen, wenn nicht den meisten Ostdeutschen traumatische Erfahrungen beschert«.19 Um ihre These zu untermauern, gab Gleicke eine Studie in Auftrag, die die »Wahrnehmung und Bewertung der Arbeit der Treuhandanstalt« untersuchen sollte.20

Der im November 2017 veröffentlichte Bericht brachte das erwartbare Ergebnis. Für die Ostdeutschen ist die Treuhandanstalt eine »erinnerungskulturelle Bad Bank«, schreiben die Autoren, die Bochumer Zeithistoriker Constantin Goschler und Marcus Böick. Alle schlechten Erfahrungen des Übergangs von der Plan- zur Marktwirtschaft würden ihr angelastet. Vielen Ostdeutschen erscheine sie »in diesem Wahrnehmungshorizont als zentrales (Negativ-)Symbol einer umfassenden, regelrecht schockartigen Überwältigung ›des‹ Ostens durch ›den‹ Westen«.21

Fast 30 Jahre sind vergangen, seit die Treuhandanstalt ihre Tätigkeit als Privatisierungsanstalt für die volkseigene Wirtschaft der DDR aufnahm. Vor 25 Jahren verschwand die Institution unter diesem Namen von der Bildfläche. Ihre Nachfolgerin, die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS), erledigte die noch verbliebenen Aufgaben. Daneben wurden Tochtergesellschaften zur Verwaltung von Liegenschaften und stillgelegten Bergwerksbetrieben weitergeführt, von denen nur noch eine, die Bodenverwertungs- und -verwaltungs GmbH, zuständig für land- und forstwirtschaftliche Flächen, aktiv ist. »Während das Thema bis in die Gegenwart in Ostdeutschland in einer Perspektive ›von unten‹ durchaus präsent und hochgradig emotional besetzt blieb, fiel es in Westdeutschland weitgehend dem Vergessen anheim«, schreiben Goschler und Böick.22 Jetzt, durch den Wahlschock und die rechtsextremen Auswüchse, findet es auch im Westen wieder Aufmerksamkeit.

Das Thema Treuhand habe »sein Erregungspotenzial ungeschmälert behalten«, konstatiert der emeritierte Theologieprofessor Richard Schröder, der in der letzten, demokratisch gewählten DDR-Volkskammer Vorsitzender der SPD-Fraktion war. »Weil es dazu bisher kaum wissenschaftliche Untersuchungen gibt, können sich hier die Emotionen ohne allzu große Rücksicht auf die Tatsachen austoben.«23 Als »dominantes Erzählszenario«, stellen die Bochumer DDR-Chronisten in ihrer Studie fest, manifestiere sich »die Vorstellung einer radikalen und unkontrollierten Abwicklung beziehungsweise Entwertung der DDR, ihrer zuvor volkseigenen Betriebe sowie im weiteren Sinne auch ihrer Gesellschaft, Kultur und Identität«.24

Ob die Wahrnehmung der Wirklichkeit entspricht, untersuchten die Wissenschaftler nicht. Ihre Untersuchung, schreiben sie, »will und kann die Arbeit der Treuhandanstalt nicht … als ›erfolgreich‹ oder ›gescheitert‹ bewerten«; dies müsse »letztlich Aufgabe der nunmehr einsetzenden zeithistorischen Forschungen« sein.25 Der Politik empfahlen sie, die Geschichte der Treuhandanstalt und der Transformationsphase in Ostdeutschland umfassend und so schnell wie möglich aufzuarbeiten. »Ansonsten wird sich die Mythenbildung vor allem im Osten verfestigen, und die Traumata der Nachwendezeit werden unbewältigt bleiben«, sagt der 1983 im sachsen-anhaltischen Aschersleben geborene Geschichtsforscher Böick.26

Der Ruf nach »Aufarbeitung« wird seither immer lauter erhoben. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linken, der 1990 als Gewerkschaftssekretär aus Hessen in den Osten kam, fordert eine »wissenschaftliche Aufarbeitung« der Treuhand-Aktivitäten. »Aus der Zeit, in der die Treuhand das Zepter führte«, stamme das heute noch unter Ostdeutschen verbreitete »Gefühl, sie würden wie Bürger zweiter Klasse behandelt«, und »an dieses Gefühl knüpft die AfD an«.27 Das Gefühl, Deutsche zweiter Klasse zu sein, hatten DDR-Bürger freilich schon, als es noch zwei deutsche Währungen gab: Am Schwarzen Meer oder in anderen östlichen Urlaubsregionen, wo auch Westdeutsche Ferien machten, wurden sie von den Einheimischen oft herablassend behandelt, weil sie das falsche Geld im Portemonnaie hatten.

Die Bundestagsfraktion der Linken will sogar einen neuen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einsetzen lassen, obwohl es bereits 1993/1994 einen solchen gegeben hat. Unterstützt wird der Antrag nur von der AfD. Was der Ausschuss herausfinden soll, nimmt der Linken-Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch schon mal vorweg: »Der Schaden, den die Treuhand angerichtet hat«, sei »bis heute eine wesentliche Ursache für den ökonomischen Rückstand des Ostens und für politischen Frust vielerorts«.28 Wenn das Urteil schon vor der Beweiserhebung feststeht, wozu braucht man dann noch eine Verhandlung? Die Erben der SED versuchen weiter an der Legende zu stricken, die DDR-Wirtschaft sei ja gar nicht so desaströs gewesen. Der jetzige Ostbeauftragte der Bundesregierung, der Thüringer Christian Hirte (CDU), reagierte denn auch »fassungslos« auf den Vorstoß der Linken, dass »heute ausgerechnet die Partei nach Aufarbeitung ruft, die den Scherbenhaufen DDR-Wirtschaft hinterlassen hat«.29

Auch die alte DDR-Nomenklatura meldet sich wieder zu Wort. In einem Berliner »Erzählsalon« schwadronieren regelmäßig Mitverantwortliche des DDR-Desasters über das angebliche Versagen der Treuhand. Hans Modrow, der letzte SED-Regierungschef, erregt sich über »Liquidatoren«, die große Unternehmen für eine Mark verkauft, aber »30 Millionen Euro für sich kassiert« hätten. Seine ehemalige Wirtschaftsministerin Christa Luft schimpft, die Treuhand habe »die größte Vernichtung von Produktiveigentum in Friedenszeiten« betrieben.30 Ehemalige Kombinatsdirektoren wie Eckhard Netzmann, vormals Chef von Walzwerken, Zementfabriken und Kraftwerksanlagenbau, trauern vermeintlichen Überlebenschancen ihrer Industriebetriebe nach, die ihnen absichtlich verwehrt worden seien: »Die großen Konzerne aus dem Westen haben sich die Filetstücke rausgesucht.«31

Besonders leidenschaftlich setzt sich die sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration, Petra Köpping von der SPD, für eine »Aufarbeitung« ein. Sie hat im September 2018 eine, wie es im Untertitel heißt, Streitschrift für den Osten veröffentlicht. Darin berichtet sie von ihren Gesprächen mit ostdeutschen Bürgern. Einer habe ihr wütend entgegengehalten: »Sie immer mit Ihren Flüchtlingen. Integriert doch erst mal uns!« Köpping machte den Ausspruch zum Titel ihres Buches. In fast allen Gesprächen sei es um »Lebensbrüche« gegangen, schreibt sie. Obwohl seit der Einheit »fast 30 Jahre vergangen sind, offenbarten sich unbewältigte Demütigungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten, die die Menschen bis heute bewegen«.32

Köppings Buch wurde in Ostdeutschland zum Bestseller. Im Zentrum ihrer Kritik steht die Treuhandanstalt, »für uns Ostdeutsche Sinnbild des knallharten, über Nacht hereingebrochenen Turbokapitalismus«. Die Treuhand, behauptet Köpping, habe im Interesse westdeutscher Unternehmen »potenzielle Ostkonkurrenz beiseite geräumt«.33 Nur beiläufig erwähnt sie die wahren Ursachen für den Kollaps der DDR-Wirtschaft: die überstürzte, aber unaufhaltsame, weil von den DDR-Bürgern gewünschte Währungsunion, den desolaten Zustand der ostdeutschen Industrie, die Auflösung des Handelssystems zwischen den sozialistischen Staaten sowie den Zusammenbruch des Ostexports wegen Zahlungsunfähigkeit der bisherigen Handelspartner.

Die Einäugigkeit mag an Petra Köppings Biografie liegen, die 1990 ebenfalls einen Knick bekam, wenn auch nicht durch die Treuhand. Seit 1980 war sie im Rat des Kreises Grimma im Bereich Handel und Versorgung tätig. Nebenbei absolvierte sie ein Fernstudium an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften in Potsdam-Babelsberg, der Eliteschule des SED-Regimes. 1986 trat sie in die SED ein.

Bei den Kommunalwahlen im Mai 1989, als die SED landesweit die Ergebnisse fälschen ließ, wurde sie zur Bürgermeisterin der Gemeinde Großpösna bei Leipzig gewählt. Wenige Wochen später gab sie ihr Parteibuch zurück – nach eigenem Bekunden, weil sie sich von ihren Genossen »total im Stich gelassen fühlte«, als Tausende DDR-Bürger über die offene Grenze zwischen Ungarn und Österreich in den Westen flohen und plötzlich auch in Köppings Gemeinde Kita-Erzieherinnen abhandengekommen waren. Bei der demokratischen Bürgermeister-Neuwahl im Mai 1990 trat sie nicht wieder an, weil sie, wie sie sagt, »mit Politik nichts mehr zu tun haben wollte«.34 Stattdessen verdingte sie sich als Außendienstmitarbeiterin der Deutschen Angestellten-Krankenkasse. Als sie von Bürgern dazu gedrängt worden sei, kandidierte sie 1994 erfolgreich für ihr altes Amt in Großpösna. 2001 wurde sie zur Landrätin des Kreises Leipziger Land gewählt und blieb es bis zur Kreisreform 2008. Sie trat 2002 in die SPD ein, wurde 2009 erstmals in den sächsischen Landtag gewählt und ist seit 2014 Ministerin.

»Wenn sich manche fragen, warum die Demokratieunterstützung in Ostdeutschland niedriger ist als im Westen, der kommt an der Politik der Treuhand, der Art und Weise ihrer Transformation der ostdeutschen Wirtschaft, der Nebenwirkungen auf die Gesellschaft und an ihren Skandalen nicht vorbei«, meint Köpping.35 Sie forderte eine »Wahrheitskommission«, die das »Unrecht der frühen Nachwendezeit« ergründen soll. Mit Begriffen wie Wahrheitskommission, kritisierte der Ostbeauftragte Hirte, rede man »ohne Not Assoziationen mit der Brutalität und Unterdrückung des Apartheid-Regimes in Südafrika oder des Völkermordes in Ruanda herbei«. Dies zeige, dass es Köpping nicht um Aufarbeitung gehe, sondern um die Vertiefung von Vorurteilen. »Die Larmoyanz, welche die SPD vor sich herträgt, bestätigt nur das falsche Image des Jammer-Ossis und schadet uns als attraktivem Standort im Wettbewerb der Regionen.«36 Inzwischen spricht Köpping nicht mehr von einer Wahrheitskommission. »Ich hänge nicht an dem Begriff«, sagt sie, »ich verfolge einen versöhnlichen Ansatz.«37

Wie versöhnlich ist es, wenn Köpping eine Vorbedingung für den Dialog stellt? Sie verlangt ein »Geständnis der westdeutschen Politiker«, dass sie »die schnelle Währungsunion, die Ausrichtung der Treuhand und viele andere Instrumente der Nachwendezeit … nicht ›zum Wohle‹ Ostdeutschlands« eingesetzt hätten, sondern »um westdeutsche Bürger vor den Konsequenzen der Wiedervereinigung zu schützen«.38 Der Vorwurf ist absurd: Die schnelle Währungsunion war die Reaktion auf den Massenexodus Ostdeutscher gen Westen und auf deren dringendem Verlangen nach der D-Mark. Köpping hat eine feste Meinung, mit den Fakten nimmt sie es nicht so genau. So behauptet sie in ihrem Buch, die Treuhand-Politik habe dazu geführt, »dass 85 Prozent der von der Treuhand verwalteten Betriebe an westdeutsche Eigentümer gingen«.39 Viele Seiten weiter korrigiert sie die Zahl und ordnet sie auch korrekt zu: »Bis 1994 fielen 80 Prozent des von der Treuhand verwalteten ehemals ostdeutschen Produktivvermögens an Westdeutsche, 14 Prozent an Ausländer und sechs Prozent an DDR-Bürger.«40

Die Prozentsätze beziehen sich nicht auf die Zahl der Betriebe, sondern auf die Kaufpreise. Um große Unternehmen zu erwerben, fehlte Ostdeutschen das Kapital. Aber bei der »kleinen Privatisierung« von 22 340 Geschäften, Gaststätten und Hotels, 1734 Apotheken, 475 Buchhandlungen und 481 Kinos sind fast ausschließlich Ostdeutsche Eigentümer geworden.41 Beim Verkauf von rund 3000 kleineren und mittelgroßen Betrieben an leitende Mitarbeiter (»Management-Buy-out«, MBO) kamen fast durchweg ostdeutsche Manager zum Zug.42 Aber solche Fakten ignorieren Treuhand-Kritiker. Lieber rühren sie mit Übertreibungen, Pauschalisierungen und Falschinformationen Affekte auf.

Köpping redet, nicht anders als die AfD, den Leuten populistisch nach dem Mund. Sie versucht, den Frust, der Wähler zur AfD treibt, auf ihre parteipolitischen Mühlen umzuleiten. Sie tritt mit anderen ostdeutschen Politikern in einen Wettstreit, Menschen in ihrem Selbstmitleid zu bestärken, statt sie zu ermutigen und zu eigenen Anstrengungen anzuspornen. Statt zu versöhnen, spaltet sie das Land.

Aufarbeitung ist ohnehin ein problematischer Begriff. »Aufarbeitung«, sagt der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, »ist im Gegensatz zur Geschichtswissenschaft ein geschichtspolitisches Anliegen. Es geht nicht um Differenzierung, sondern um Anklage, Demaskierung, Entblößung, darum, mit Geschichtsbildern etwas zu legitimieren. Deshalb stehen Aufarbeitung und Wissenschaft in ständiger Konfrontation miteinander.«43 Kowalczuk, 1967 im Osten Berlins geboren, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Stasi-Unterlagen-Behörde. Aus politischen Gründen konnte er erst in den 1990er-Jahren studieren. Warum kommt die Wut auf die Treuhand gerade jetzt, 25 Jahre nach ihrer Schließung, wieder hoch? Kowalczuk glaubt, dass es »nichts mit neuem Problembewusstsein zu tun« habe, sondern dass »bestimmte Alterskohorten dazu neigen, auf die Vergangenheit zurückzuschauen«.44

Zum Beispiel junge Rentner: Wer heute um die 65 ist, war zu Zeiten der Treuhand etwa Mitte 30. Obwohl diese Altersgruppe nicht am härtesten von Arbeitslosigkeit betroffen war – dieses Schicksal erlitten vor allem ältere Jahrgänge –, erlebte sie in den Folgejahren unsichere und prekäre Arbeitsverhältnisse, die sich künftig in geringeren Rentenansprüchen niederschlagen. Der Publizist Axel Schmidt-Gödelitz, der aus dem Landgut seiner Familie zwischen Leipzig und Meißen eine west-östliche Begegnungsstätte gemacht und dort viele Lebensschilderungen gehört hat, benennt einen Grund für die zeitverzögerten Hassausbrüche. Viele Ostdeutsche hätten in den 1990er-Jahren »zwar gemurrt, aber nicht aufgemuckt«, weil sie »darauf bedacht sein mussten, ihre Familien über Wasser zu halten«. Wer jetzt aus dem Berufsleben ausscheide, stelle fest, »wie gering die Rente aufgrund der löchrigen Erwerbsbiografie ausfällt, so dass es auf Grundsicherung hinausläuft. Das löst nackte Ängste aus.« Und viele merkten, »dass man eher Gehör findet, wenn man Krach macht und mit Pegida marschiert«.45

Seit ihrer Gründung muss die Treuhandanstalt als Sündenbock für alles herhalten, was in Ostdeutschland schiefläuft. Die Politik schob ihr von vornherein die Verantwortung zu, die sie selbst nicht übernehmen wollte. Die Treuhandanstalt, sagt der Soziologe Raj Kollmorgen, diene »als Projektionsfläche für Frust und Enttäuschung«. Sie habe »die Krisenerfahrungen vieler Ostdeutscher aufgefangen, die man auf die damalige Bundesregierung hätte projizieren müssen«. Kollmorgen, Professor an der Hochschule Zittau/Görlitz, ist Spezialist für die Erforschung postsozialistischer Transformation und des politischen Populismus. Die Treuhandanstalt sei »so etwas wie ein Schibboleth«, ein Codewort, »das man aufruft, und alle sagen: Ja, wie wahr!« So werde »die Geschichte der eigenen Wertschätzung oder Missachtung mit dem Wirken der Treuhand und ihrer Manager verbunden, die man zu 90 Prozent als aus dem Westen stammend identifiziert hat, obwohl es gar nicht so war«.46

Der 1963 in Leipzig geborene Wissenschaftler würde es »begrüßen, wenn die Menschen die Chance bekämen, davon zu erzählen, was ihnen widerfahren ist, wie ihre Lebensleistung entwertet wurde, welche Brüche sie bewältigen mussten, welche Ungerechtigkeiten auftraten und wie das, was die Treuhandanstalt jedenfalls in der Wahrnehmung vieler Beschäftigter gemacht hat, ökonomisch hochgradig irrational war«. Und sie müssten für ihre Erzählungen »offene Ohren finden«. So könnten »ganze Bevölkerungsgruppen eine Selbstwertschätzung aufbauen, die über viele Jahre infrage gestellt war«. Dann könne das Reden über die Vergangenheit eine soziale Integrationsfunktion haben und »die Leute bei unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung halten«. Einerseits.

Andererseits sieht Kollmorgen auch die Gefahr, dass dabei Gräben zwischen Ost und West wieder aufgerissen werden. Er »habe da selbst ambivalente Erfahrungen gemacht«, sagt er. Wenn den Ostdeutschen zugehört werde und man feststelle, »dass sie weder zu DDR-Zeiten noch danach falsch gelebt haben« und dass »aus ganz vielfältigen Gründen, die oft mit der Ost-West-Problematik nichts zu tun haben, nach 1990 wirklich einiges schiefgelaufen ist«, dann führe das Gespräch jedenfalls nicht notwendig zu einer neuerlichen Spaltung. Würde jedoch vorgetragen, »nur die Westdeutschen sind für die Krise nach 1989/1990 verantwortlich« und »auch heute noch stehen wir als Ostdeutsche unter der Fuchtel der Westdeutschen, stehen in der zweiten, dritten, vierten Reihe und sind ihnen vollkommen ausgeliefert«, dann geriete die Debatte »zur ausschließlich unkritischen Entschuldung des eigenen Tuns oder Unterlassens« und wäre höchst unproduktiv. »Es wird also sehr darauf ankommen, wie man das diskutiert.«

Kollmorgen erforscht seit vielen Jahren, wie die Ostdeutschen ihre gesellschaftliche und persönliche Situation in Bezug auf die Vereinigungsdynamik beurteilen. Dabei stellte er »eigentümliche Wellenbewegungen der Unzufriedenheit« fest. »Nach der Revolutions- und Vereinigungseuphorie« sei die Gemütsverfassung zunächst einmal abgestürzt »infolge der hochschnellenden Arbeitslosigkeit und der Anpassungsprozesse sowie der westdeutschen Hegemonie bei der Gestaltung der deutschen Einheit«. Nach einer Phase der »Stabilisierung« bis zum Ende der 1990er-Jahre habe sich der Unmut wieder verschärft und 2003/2004 im Zusammenhang mit den Reformen auf dem Arbeitsmarkt und im Sozialsystem, der »Agenda 2010«, einen neuen »Peak der Unzufriedenheit« erreicht. Diese »Enttäuschungsdynamik« halte bis heute an und verzeichne seit 2015, dem Höhepunkt der Flüchtlingsmigration, einen weiteren Anstieg.

Die wesentlichen Gründe sieht Kollmorgen darin, dass sich Arbeit und Einkommen nicht so entwickelt haben, wie den Menschen in Ostdeutschland bei der Wiedervereinigung versprochen worden war. »Sie registrieren, dass sie nicht den Level des westdeutschen Durchschnitts erreichen, und sie haben den Eindruck, dass sich der Rückstand verfestigt.«

In der Tat liegt Ostdeutschland bei Lohnniveau und Wirtschaftskraft weiterhin zurück, wie der Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2018 wieder ausgewiesen hat. Die effektiv gezahlten Löhne sind 18 Prozent niedriger als die im Westen, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) erreicht nur 73,2 Prozent des Westwerts. Kein einziges ostdeutsches Unternehmen ist im Börsenleitindex DAX-30 notiert, und von den 500 größten deutschen Unternehmen haben nur 36 ihren Sitz im Osten.47 Das bedeutet auch weniger Forschungs- und Innovationsaktivitäten sowie deutlich niedrigeres Steueraufkommen.48

Das ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite sieht man, dass die Kaufkraft je Einwohner in Ostdeutschland nur um 11,4 Prozent geringer ist, weil die Lebenshaltungskosten niedriger sind.49 Vergleichbare regionale Unterschiede gibt es auch in anderen Industriestaaten.

Unpopuläre Vorschläge, wie der Rückstand zu verringern sei, sind aber auch nicht willkommen. Als das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) Anfang März 2019 anregte, die Wirtschaftsförderung im Osten auf die Städte und »Leuchtturm-Projekte« zu konzentrieren, weil nur dort zukunftsträchtige Arbeitsplätze entstünden und nicht auf dem Land, folgte reflexhaft der Aufschrei der ostdeutschen Ministerpräsidenten. Sachsens Regierungschef Michael Kretschmer (CDU) nannte die Analyse »absolut unseriös« und »Gebrabbel«.50 Sein sachsen-anhaltischer Kollege und Parteifreund Reiner Haseloff geißelte die Empfehlungen als »undemokratisch, unsozial, politisch unhaltbar«.51 Thüringens Ministerpräsident Ramelow äußerte sich »empört«: Auch auf dem Land lebten »Menschen, die ihre Heimat lieben«.52

Das ist allerdings kein ökonomisches Argument. »Die Jobs der Zukunft«, betonte IWH-Präsident Reint E. Gropp, »entstehen im Dienstleistungssektor, in der Forschung und Entwicklung, in der Digitalisierung. Und diese Unternehmen siedeln sich nun mal in größeren Städten an, nicht auf dem Land.«53 Die bisherige Subventionspolitik habe negative Konsequenzen gehabt. Sie habe Unternehmen verleitet, nicht benötigte Arbeitsplätze zu erhalten. Deshalb seien Firmen im Osten noch immer weniger produktiv als im Westen. »Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Subventionspolitik und der niedrigen Produktivität«, sagt Gropp.54 Trotz der Subventionen hält die Landflucht an, auch in Ostdeutschland zieht es die Menschen in die urbanen Regionen. Der ländliche Raum leidet darunter, dass gut ausgebildete junge Leute, vor allem Frauen, fortgehen – mit der Folge, dass außer den Älteren frustrierte junge Männer zurückbleiben. In manchen Dörfern etwa der Lausitz kommen auf 100 Männer kaum mehr als 50 Frauen.

Wer in einer strukturschwachen Gegend wohnt, pocht gern auf »gleichwertige Lebensverhältnisse«. Der Begriff steht sogar im Grundgesetz, allerdings an einer entlegenen Stelle, in Artikel 72 Absatz 2, und es geht dabei auch nur um die Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern, also um die Frage, wann der Bund Aufgaben regeln darf, die eigentlich den Ländern vorbehalten sind. Es gibt innerhalb Deutschlands in vielen Bereichen recht große Unterschiede, aber die Schwelle zum staatlichen Eingreifen ist ziemlich hoch, wie das Bundesverfassungsgericht wiederholt entschieden hat.55

Viele Ostdeutsche, konstatiert der Politologe Klaus Schroeder, Leiter des Forschungsverbunds SED-Staat an der Freien Universität Berlin, »vergessen, dass auch im Westen die Einkommensunterschiede zum Teil erheblich sind«.56 Im bundesweit wohlhabendsten Landkreis Starnberg bei München ist das durchschnittlich verfügbare Pro-Kopf-Einkommen der Privathaushalte mit 34 987 Euro mehr als doppelt so hoch wie in Gelsenkirchen, mit 16 203 Euro pro Kopf das Schlusslicht im Einkommensranking, noch hinter allen ostdeutschen Städten.57 Schroeder erinnert daran, dass die DDR »ein zentralistisches System« war, »wo im ganzen Land gleiche Bedingungen herrschten, gleiche Löhne, gleiche Leistungen«. Daher hätten die Menschen im Osten »bis heute nicht akzeptiert, dass es beim Wohlstand regionale Unterschiede gibt«. »Die Zuwächse an ›Zivilisationskomfort‹, die objektiv beachtlich sind«, schreiben der Jenaer Soziologe Heinrich Best und der Hallenser Politologe Everhard Holtmann, werden »bis heute in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung als defizitär gewertet«, weil »ein Maßstab von Verteilungsgerechtigkeit angelegt« werde, der sich »an einer zu DDR-Zeiten vorgeblich besser gewährten Grundsicherheit« oder »ausschließlich am westdeutschen Vergleichsniveau« orientiere.58

Positive Entwicklungen werden kaum zur Kenntnis genommen. Die Arbeitslosigkeit zum Beispiel ist in den vergangenen Jahren deutlich gesunken: Während sie 1999 im Osten bei über 17 Prozent lag, zehn Prozentpunkte über der Quote im Westen, betrug sie 2018 nur noch 6,9 Prozent – der Abstand zum Westen verringerte sich auf 2,1 Prozentpunkte. Und im Mai 2019 waren es 6,3 gegenüber 4,6 Prozent, eine Differenz von 1,7 Prozentpunkten.59 Auch die Löhne legen im Osten stärker zu als im Westen. In den »alten« Bundesländern stiegen sie 2017 gegenüber dem Vorjahr um 2,3 Prozent, in den »neuen« um 3,9 Prozent, bei ungelernten Arbeitskräften dank Mindestlohn sogar um 7,9 Prozent. Die Tariflöhne haben 98 Prozent des Westniveaus erreicht, die tatsächlich gezahlten immerhin 82 Prozent.60

Die Unterschiede zwischen Ost und West »verschwimmen immer mehr«, stellte das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit bereits 2015 fest: »Entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze liegt die Arbeitslosigkeit in einigen ostdeutschen Kreisen mittlerweile auf oder sogar unter dem Niveau der westdeutschen Nachbarkreise.«61

Vor allem Thüringen hat stark aufgeholt und liegt, wie der Jahresbericht der Bundesregierung dokumentiert, »längst im gesamtdeutschen Mittelfeld«. Wirtschaftsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) weist darauf hin, dass es in diesem Bundesland »mehr Industriearbeitsplätze pro 1000 Einwohner als in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Niedersachsen« gibt. »Die Arbeitslosenquote liegt unter Hamburg, Bremen, Nordrhein-Westfalen und Saarland, und das zeigt eigentlich, dass wir im Vergleich der Bundesländer Schritt für Schritt vorankommen.«62 In Sachsen und Brandenburg sind die Arbeitslosenquoten bis Mai 2019 auf 5,4 beziehungsweise 5,7 Prozent gesunken. In Bremen, dem Bundesland mit der höchsten Arbeitslosigkeit, sind zehn Prozent der Erwerbspersonen ohne Job.

Die Älteren, die in den frühen 1990er-Jahren als damals über 45-Jährige von den Umwälzungen besonders betroffen waren, sind längst im Ruhestand. Ihnen geht es vergleichsweise gut, die gesetzlichen Altersrenten sind im Osten sogar höher als im Westen: Ostmänner erhielten 2018 eine durchschnittliche Rente von 1198 Euro, Westmänner 1095 Euro. Die Durchschnittsrente von Ostfrauen betrug 928 Euro, die von Westfrauen 622 Euro.63 Das liegt zum einen daran, dass die Punktwerte für die geringeren Beiträge zur DDR-Altersversicherung – zehn Prozent für Renten- und Krankenversicherung bis zu einer Bemessungsgrenze von 600 Ostmark – mit einem Umrechnungsfaktor multipliziert werden. Zum andern verfügen die meisten der heutigen Ostrentner über längere Erwerbsbiografien, Frauen waren in der DDR häufiger berufstätig als in der alten Bundesrepublik.64

Die Ostdeutschen, sagt der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD), müssten »doch auch anerkennen, dass sie Teil des bundesdeutschen Sozialstaats geworden sind, ohne vorher entsprechend einzahlen zu müssen«. Auch dadurch, dass die Renten- und Sozialleistungsansprüche ehemaliger DDR-Bürger mit Transferzahlungen aus westdeutschen Versicherungsbeiträgen finanziert wurden, sei das Sozialsystem in eine Schieflage geraten, was schließlich zu den Hartz-IV-Reformen geführt habe. »Das wird immer verdrängt«, sagt Thierse, »Polen und Tschechen mussten sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen.«65 Er plädiert für eine Aufarbeitung der Fakten, wobei man jedoch beide Geschichten erzählen müsse, Fehler nicht beschönigen dürfe, aber auch festhalten solle, was gut gelaufen ist.

Mancher prominente Ostdeutsche ist der Nabelschau überdrüssig. Wolfgang Böhmer ist einer von ihnen. Den ehemaligen CDU-Ministerpräsidenten in Sachsen-Anhalt »nervt das empörte Zurückschauen ein bisschen, das jetzt in Mode gekommen ist«. Er hält nichts davon, »sich heute hinzustellen und nachträglich aufzulisten, was damals auch hätte anders gemacht werden können«, und plädiert dafür, die Debatte zu beenden: »Selbst wenn wir sagen, dies war damals ein Fehler und jenes auch – das ändert doch heute nichts mehr. Vom Standpunkt des Besserwissers eine verspätete Abrechnung zu machen ist aus meiner Sicht keine ernsthafte zeitgeschichtliche Aufarbeitung. So sind für mich die dauernde Befindlichkeitsdiskussion und das Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, eine Form von Selbstmitleid, die mir unwürdig erscheint. Wir als Ostdeutsche haben Milliarden bekommen, wir haben sicher auch Fehler gemacht. Und nun ist es, wie es ist. Wenn wir uns aber vor Augen führen, wie viel Geld von West nach Ost transferiert wurde, dann ist es nicht angemessen, sich aufs Jammern zu verlegen.«66

Auf rund zwei Billionen Euro, das sind 2000 Milliarden, addieren sich bis heute die Transferleistungen in Richtung Osten; nach Abzug von Rückflüssen wie Steuern und Sozialbeiträge bleiben netto etwa 1,6 Billionen Euro.67 Dennoch grassiert ein »Viktimismus«, indem sich viele Ostdeutsche zu Opfern stilisieren. Wer als Opfer auftritt, baut auf das Mitgefühl und Verständnis seiner Mitmenschen. Wer Handlungen eines Opfers kritisiert oder infrage stellt, gilt als unsensibel und herzlos. Daher kann der Opferstatus auch eine Strategie sein, um Vorteile zu erlangen. Aber solches Verhalten beleidigt diejenigen, die wirklich ohne eigenes Verschulden schwere Zeiten erlitten haben.

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler findet, es gebe »nichts Schlimmeres als Opfernarrative, weil sie die Berechtigung verleihen, bei nächster Gelegenheit mal so richtig draufzuhauen«.68 »Integriert doch erst mal uns!« bedeutet ja auch: Warum kümmert ihr euch um die Fremden? Man solle doch die Flüchtlinge im Mittelmeer »absaufen« lassen, riefen Teilnehmer einer Pegida-Demonstration im Juni 2018 in Dresden. Marianne Birthler, ehemalige Wächterin über die Stasi-Akten, warnt davor, »dieses Opferbild zu zementieren«.69 20 Prozent der Ostdeutschen seien offenbar keine Demokraten und hätten Mühe, sich an Sachdebatten konstruktiv zu beteiligen.70

Es komme sehr darauf an, »wie man eine solche Opferrolle ausbuchstabiert«, sagt der Soziologe Kollmorgen.71 »Wenn man auf der Verliererseite ist, kann man in einem Opfernarrativ versinken. Aus einer Scheiternserfahrung kann man sich aber auch berappeln und hochgradig produktiv werden.« Wenn das Opfernarrativ alles beherrsche, könne es gefährlich werden für die soziale Ordnung und demokratische Verhältnisse. Man müsse daher »gegensteuern und aufpassen, dass die Auseinandersetzung mit der Treuhand dieses Opfernarrativ nicht stärkt«. Dieser Gefahr könne man nur begegnen, »indem man immer wieder klarmacht, welche Rolle ostdeutsche Akteure sowohl in der Konzipierung, in der Planung, Durchsetzung und in der langfristigen Wirkung der Treuhand gespielt haben«. Und die sei ganz erheblich gewesen: »Zu sagen, die Ostdeutschen hätten nie Chancen erhalten, in diesen Privatisierungs- und Reprivatisierungsprozessen tätig zu werden, das ist, mit Verlaub, schlicht Humbug.«

Der Historiker Michael Lühmann, Jahrgang 1980, spricht gar von »ostdeutschen Lebenslügen«.72 Lühmann