Catacombia, Band 1: Abstieg in die Tiefe. Ausgezeichnet mit dem Leipziger Lesekompass 2022! - R.L. Ferguson - E-Book

Catacombia, Band 1: Abstieg in die Tiefe. Ausgezeichnet mit dem Leipziger Lesekompass 2022! E-Book

R. L. Ferguson

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Beschreibung

Tief unter der Erde verbirgt sich eine uralte Stadt voller Wunder und Magie. Doch in Catacombia schlummert auch ein düsteres Geheimnis … Ein Sturz mitten in der Nacht durch einen Schacht – und plötzlich ist der 13-jährige Sam tief unter der Erdoberfläche! Dort eröffnet sich ihm eine uralte und doch moderne Stadt voller Wunder, Magie und Rätsel: Catacombia. Doch je tiefer Sam in die Geheimnisse von Catacombia eintaucht, desto mehr Fragen tun sich auf. Warum wird der Name Grimorga nur heimlich geflüstert? Was plant der Rat, der die Geschicke der unterirdischen Stadt lenkt? Und kann Sam den Kult aufhalten, der alles zerstören will, wofür Catacombia steht? *** Die neue Trilogie von Erfolgs-Autor R. L. Ferguson! *** Venedig? Das war Sams erster Gedanke, als er auf die Stadt unter sich starrte. Unmittelbar gefolgt von einem zweiten: das alte Griechenland? Keines von beidem schien zuzutreffen. Bin ich etwa in Indien? Oder Ägypten? Es waren alle diese Orte und dennoch keiner von ihnen. Breite Straßen schlängelten sich zwischen kunstvoll verzierten Häusern, hohen Pyramiden und gedrungenen Tempelbauwerken hindurch. Zierliche Brücken führten über Kanäle, die sich kreuz und quer durch die Stadt zogen. Auf vielen Dächern wuchsen üppige Gärten. Und hoch über allem ragten Türme aus Glas in die Höhe ... Entdecke alle Abenteuer der Reihe "Catacombia": Band 1: Abstieg in die Tiefe Band 2: Grimorgas Erwachen Band 3: Hüter der Flamme Kennst du schon R. L. Fergusons spannende Reihe rund um "Die Schule der Alyxa"?

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2021 Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag © 2021 Ravensburger Verlag Originaltitel: Catacombia 1 © Working Partners Ltd. Umschlaggestaltung: Miriam Wasmus Vignette im Innenteil: jihane37/AdobeStock Übersetzung: Christian Dreller Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg. eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-473-47358-8

www.ravensburger.de

Widmung

Mit besonderem Dank an Graham Edwards

1

Sams Wagen kam von der Straße ab, überschlug sich zweimal und krachte gegen ein Gebäude, um prompt in Flammen aufzugehen.

„Schätze, die Runde ist für dich gelaufen, Alter“, kommentierte Vik. „Rück mal zur Seite.“

Sam pfefferte den Controller neben sich auf das ramponierte Sofa und machte Vikram Platz, damit der an die Reihe kam.

„Biste okay?“, fragte Megan. „Scheinst irgendwie neben der Spur zu sein.“

„Jep, alles klar“, erwiderte Sam.

Sein Blick glitt zur Tür. Eine Stunde war sein bester Freund Alfie nun schon dort bei Crusty drinnen, was nur eines bedeuten konnte: Sie hatte Wind von ihren nächtlichen Touren in die Stadt bekommen. Und vielleicht sogar den Schlüssel gefunden, den sie sich hatten nachmachen lassen, um zur Hintertür rauszukommen. Es gab nicht sehr viele Regeln in Bright Futures, aber das nächtliche Ausgangsverbot war eine ernste Sache. Sollte man sie irgendwie beim Rausschleichen ertappt haben, mussten sie damit rechnen, mindestens einen Monat auf gewisse Annehmlichkeiten verzichten zu müssen. Womöglich bekamen sie sogar Handyverbot. Der Gedanke war unerträglich.

„Was meinst du, was sie da mit ihm macht?“, murmelte er.

„Daumenschrauben vielleicht“, meinte Marco. „Oder Waterboarding.“

Sam stieß ein unbehagliches Lachen aus. Mrs Cruickshank – oder Crusty, wie sie alles andere als liebevoll genannt wurde – verfügte vermutlich über keine echten Folterwerkzeuge, besaß jedoch definitiv Mittel und Wege, um Kids zum Reden zu bringen. Sie wusste, welche Knöpfe sie drücken musste.

Sam empfand Mitleid für Alfie und war gleichzeitig erleichtert, nicht selbst dort drinnen zu schmoren.

„Lust auf ’ne Runde Tischtennis?“, fragte Megan.

„Äh, ja … cool“, gelang es Sam zu antworten.

Er durchquerte den Freizeitraum und schnappte sich einen Schläger. Feucht und schwitzig fühlte sich seine Hand auf dem Griff an.

Alfie würde ihn zwar nie verpfeifen, doch das machte die Sache sogar noch schlimmer. Käme es hart auf hart, konnte er seinen Freund nicht allein im Regen stehen lassen.

Halbherzig ließ er sich auf die Ballwechsel mit Megan ein. Normalerweise gehörte er zu den besseren Spielern, doch jetzt war er mit den Gedanken woanders und vergeigte einen Schlag nach dem anderen.

„Du musst mich nicht schonen“, sagte Megan schließlich, als sie schon acht zu eins vorne lag.

„Sorry, Meg“, antwortete Sam. „Da gibt es was, das ich noch erledigen muss.“

Er verließ den Freizeitraum und begab sich mit leisem Quietschen, das seine Schritte auf dem fleckigen Linoleum erzeugten, den Korridor hinunter. Crustys Büro befand sich am Ende des Gangs. Er würde einfach anklopfen, reingehen und alles erklären. Die Schuld auf sich nehmen. Goodbye, Social Media. Goodbye, Leben. Er würde all das bestätigen, wofür Crusty ihn ohnehin schon hielt. Troublemaker. Regelbrecher. Problemkid. Aber mit der Zeit würde das verblassen.

Er blieb in dem kleinen Wartebereich vor der Bürotür stehen, um tief Luft zu holen und die Nerven zu beruhigen. Durch das Fenster konnte man nach unten auf den Parkplatz an der Gebäuderückseite blicken. Betonhochhäuser strebten zu allen Seiten in die Höhe, die trostlosen grauen Fassaden überzogen von Leitungen und gespickt mit den Kästen von Klimaanlagen. Durch den strömenden Regen konnte er so gerade eben das Schild am Ende der Zufahrt ausmachen, die zum Parkplatz führte:

BRIGHTFUTURESHOMEFORCHILDRENBESUCHERBITTE AN DERREZEPTIONMELDEN

Home? Zuhause? Nun, seit seinem elften Lebensjahr lebte er jetzt schon hier, ohne Bright Futures jemals als Zuhause betrachtet zu haben. Es war seine dritte Station, seit er in staatliche Obhut gekommen war, und alle waren gleich trostlos gewesen: von den abblätternden Tapeten über die Uraltmöbel bis hin zu den gut meinenden, überarbeiteten Erwachsenen, die dort tätig waren … und sich immer als etwas zwischen Kumpel und Betreuer gaben. An Eltern statt, wie sie es nannten. Als Elternersatz. Einige von ihnen waren okay, während andere in ihren Bemühungen einfach immer zu verkrampft waren. Aber Sam nahm es ihnen nicht übel, nicht einmal Crusty. Sie hatten einen harten Job.

Es war nicht gerade viel von der anderen Seite der Tür zu hören – und definitiv keine erhobenen Stimmen. Gerade als er die Hand hob, um anzuklopfen, ging sie auf. Alfie stand vor ihm und unmittelbar daneben: Mrs Cruickshank. Seine Augen waren gerötet. Er hatte geweint … Nicht cool.

Alfie war schon über eins achtzig groß und gebaut wie ein Schrank – noch nie hatte Sam erlebt, dass sein Freund so kurz davor war, die Fassung zu verlieren.

Was zum Teufel hat sie ihm angetan?

„Hallo, Sam“, sagte Crusty. „Was kann ich für dich tun?“

Sie klang ziemlich unbekümmert. Und: Sie sah nicht böse aus.

„Ich war’s“, platzte Sam heraus.

Alfie schüttelte den Kopf, heftig, aber doch so, dass die Bewegung nur für Sam wahrnehmbar war.

„Was warst du?“, bohrte Crusty nach und verengte ihre Augen.

Alfies hingegen waren weit aufgerissen. „Die zerdepperte Lampe im Spieleraum“, funkte er dazwischen. „Aber in Wahrheit war es meine Schuld. Ich hab den Fußball geschossen. Der ist dann nur von Sams klotziger Rübe abgeprallt.“

„Hey!“, protestierte Sam und verpasste seinem Freund einen spielerischen Boxhieb. „Ich hab keine klotzige Rübe.“

Alfie nahm ihn in den Schwitzkasten.

„Na schön, Gentlemen“, bereitete Crusty dem Ganzen ein Ende. „Das reicht!“ Alfie ließ ihn los und Sam strich sich durchs Haar. „Informiert Mr Beadle über die Lampe“, fügte die Heimdirektorin abschließend hinzu.

Kaum waren sie auf dem Korridor in sicherer Entfernung, wandte Sam sich Alfie zu. „Also, was ist passiert?“

Alfie grinste. Doch es war ein merkwürdiges Grinsen … so als wäre er traurig und glücklich zugleich. „Ich bin raus hier, Kumpel.“

„Wie bitte? Wohin raus?“

Heimkids wurden permanent herumgeschoben und von der Kommunalverwaltung je nach ihren Problemen von Heim zu Heim verfrachtet. Aber Sam und Alfie hatten nun schon über zwei Jahre zusammen in Bright Futures verbracht. Sie gingen auf dieselbe Schule. Alfie zu verlegen, ergab keinen Sinn. Und warum war sein Freund darüber so glücklich? Doch dann, nach einem erneuten Blick in Alfies gerötete Augen, verstand Sam plötzlich.

„Du bist vermittelt worden?“

Alfie nickte und wieder sah der riesige Kerl aus, als würde er jeden Moment losheulen. „Pete und Alice“, antwortete er. „Es ist tatsächlich so weit.“

Sam nickte. Doch trotz seines breiten Lächelns tobten in ihm die widersprüchlichsten Gefühle. Pete und Alice hatten Alfie letztes Jahr als Pflegekind aufgenommen – für zwei Monate, bevor sich das Ganze aus irgendeinem Grund wieder zerschlagen hatte. Alfie hatte die beiden wirklich gemocht und es hatte ihm fast das Herz gebrochen, als er nach Bright Futures zurückmusste.

„Anscheinend musste das Ganze erst von so ’ner Art Komitee beim Sozialdienst abgenickt werden. Sie durften mir nichts davon erzählen, aber jetzt ist es offiziell.“

Das war’s dann also. Alfie ging fort, in ein richtiges Zuhause. Um bei richtigen Eltern zu leben und nicht bei Leuten, die man für diese Rolle bezahlte. So glücklich Sam darüber auch war, so konnte er doch nicht um einen Gedanken umhin: Und mich lässt er zurück.

„Okay, aber haben die auch Sky?“, fragte er.

Alfie grinste. „Hast recht, die kriegen ’ne Abfuhr.“

Bevor Sam wusste, was er tat, nahm er Alfie in die Arme. Was sich gut anfühlte, da er seinem Freund so nicht ins Gesicht sehen musste.

Pflegschaften kamen und gingen. Fast immer waren sie vorübergehender Natur, ein paar Wochen oder Monate am Stück. Wurden die Kids älter, wurde es schwerer, Plätze für sie zu finden, und der Grund dafür war einfach: Kamen Kids in staatlicher Obhut erst einmal in Sams Alter, so waren sie meist schon ziemlich verkorkst. Bright Futures hatte über die Jahre jede Menge Problemkinder beherbergt – die von Fäusten und Füßen stammenden Löcher in den Türen erzählten eine beredte Geschichte. Kids mit Wut auf die Welt und sich selbst. Kids, denen schnell die Sicherungen durchbrannten und die bei den kleinsten Anlässen in die Luft gingen. Aber Alfie war ganz und gar nicht so. Er hatte einfach nur Pech gehabt und nun war sein Glücksstern wieder am Steigen.

„Du kommst auch noch an die Reihe, Kumpel!“, tröstete Alfie ihn. „Das weiß ich.“

„Kann mich halt einfach nicht von hier losreißen“, erwiderte Sam.

Ein einziges Mal war er als Pflegekind untergekommen, damals, im Alter von acht Jahren. Das Leben bei Lisa Reynolds war wunderbar gewesen. Aber nach nur zwei Jahren hatte es ein abruptes Ende gefunden, als sie krank wurde. Richtig krank. Wie es schien, dauerte so ein Wunder eben nicht ewig, und im Anschluss daran hatte es einer langen Zeit bedurft, um das zu akzeptieren. Zeit und jede Menge kaputter Türen.

„Du kommst mich besuchen, oder? Wenn ich mich eingelebt habe.“

„Versuch nur, mich daran zu hindern.“

Sam wusste, dass Alfies Einladung ehrlich gemeint war. Und wie großartig würde es sein, zusammen mit seinem Freund in einer richtigen Familie abzuhängen!

„Wann gehst du?“

„Morgen“, antwortete Alfie. „Gerade noch Zeit genug, dir ’ne Abreibung im Tischtennis zu verpassen, bevor ich meine Sachen packen muss.“

Sie begaben sich nebeneinander in den Freizeitraum zurück. Vikram und Marco spielten immer noch das Renn-Videogame, aber Megan saß mit Felicia und Jaden auf der Couch. Megan hielt gerade die Fernbedienung, als Jaden versuchte, sie sich zu schnappen.

„Jetzt bin ich mal dran!“, rief er. Kurz gelang es ihm, sie in die Finger zu bekommen, und das Programm wechselte von einer Quizshow zu den Nachrichten, bevor Megan wieder daran zerrte.

Sam nahm gar nicht richtig wahr, was sie sich ansahen. Alfies Neuigkeiten ließen seinen Kopf immer noch schwirren. Wie so oft in Zeiten der Ungewissheit war es Lisas Stimme, in der er Trost fand: „Ob’s dir nun schmeckt oder nicht: Irgendwann klopft die Veränderung garantiert an deine Tür. Und wenn sie kommt, musst du sie mit offenen Armen willkommen heißen.“

Nun, die Veränderung war gekommen, zumindest für Alfie. Sam war sich nicht sicher, ob er sie willkommen hieß. Aber er musste es versuchen.

Plötzlich drehte jemand die Lautstärke am Fernseher auf.

„Mach leiser!“, schrie Vikram.

„Lass los!“, schrie Megan.

Auf dem Bildschirm war ein über ein Mikro gebeugter Reporter zu sehen, der sich mitten auf einer Baustelle befand. Er trug einen klitschnassen Regenmantel und hatte zusätzlich Zuflucht unter einem Schirm gesucht. Hinter ihm stand eine gewaltige Maschine mit Raupenfahrwerk, offenbar außer Betrieb und umringt von behelmten Bauarbeitern. Die kegelförmige Front des bizarren Gefährts war mit lauter gezackten Zähnen bewehrt. Unter dem Reporter prangte eine Schlagzeile auf dem Bildschirm: „Der Fund des Jahrhunderts?“

„Danke, Becky“, hörte Sam den Reporter haspeln. „Vor einer Stundeverstummtejähdiegigantische,unterdemNamenPellucidarbekannte Bohrmaschine, nicht einmal einen halben Kilometer von ihrem finalen Ziel entfernt. Mit nur noch vierhundertfünfundsechzig zu bohrenden Tunnelmetern hat die Metropolitan Transit Corporation die Arbeiten an der Utopia-U-Bahn-Linie eingestellt, die die Outer Eastside der Stadt mit dem Western Ring verbinden soll. Der Grund? Die wirbelnden Klingen des Pellucidars haben etwas Bemerkenswertes zutage gefördert.“

Die Kamera schwenkte von dem tropfnassen Reporter zu einer regendurchweichten Böschung aus Geröll und Erde. Aus dem nassen Boden ragte der Abschnitt einer baufälligen Mauer hervor. Errichtet aus Steinblöcken, die in einem komplexen, ineinandergreifenden Muster miteinander verbunden waren und alt aussahen … sehr alt. Nahe der Mauerkrone traten seltsame, erodierte Gebilde aus dem Mauerwerk hervor. Irgendeine Art von Skulpturen?

Sie sehen wie Gesichter aus.

Die Kamera blieb weiter in Bewegung und enthüllte mehr von der Mauer. Die gesichtartigen Gebilde glitten vorbei. Sam nahm eine schief geneigte Öffnung wahr, bei der es sich einst um einen Durchgang gehandelt haben mochte, sowie zwei mit Gravuren versehene, zerbröckelte Säulen.

„Moment, stopp!“, entfuhr es Sam.

„Stopp was?“, brummte Alfie, der gerade unter die Tischtennisplatte lugte. „Warum kommt hier eigentlich ständig der Ball weg?“

Der Reporter redete immer noch, als Sam Jaden die Fernbedienung aus der Hand riss.

„He!“, protestierte der.

„… das Bauwerk scheint antik zu sein, stellt die Archäologen allerdings vor ein Rätsel, gleicht es doch keinerlei Funden, die jemals zuvor in diesem Teil der Stadt dokumentiert wurden. Während nach ersten Theorien …“

Sam schaltete auf Standbild.

„Wir haben keinen Bock auf Nachrichten!“, maulte Megan.

„Nur ’ne Minute, kriegst sie gleich wieder.“

Er drückte die Rückspultaste und verfolgte aufmerksam, wie sich die Bilder zurückbewegten. Als die Gravuren wieder auftauchten, drückte er auf Pause.

„Was ist das?“, fragte er und starrte auf das verschwommene Bild.

„Weiß der Geier“, meinte Felicia. „Sieht wie ’ne Schlange aus. Hatten die Römer eigentlich Schlangen?“

„Mann, wie blöd kann man sein?“, schnaubte Jaden höhnisch. „Natürlich hatten die Römer Schlangen.“

„Wer sagt denn, dass es römisch ist?“, mischte Megan ungeachtet ihres Schmollgesichts mit.

Sam ging um das Sofa herum und stellte sich direkt vor den Fernseher. Das antike Gravurenmuster der Säulen, das nun sein ganzes Blickfeld einnahm, faszinierte ihn. Die Stimmen der anderen verblassten langsam. Er war kein Experte, aber für ihn sah das zerstörte Bauwerk nicht römisch aus. Es sah überhaupt nicht wie irgendetwas aus, das er jemals in seinem Leben gesehen hatte.

Aber das war es nicht, weswegen ihm das Herz plötzlich bis zum Hals klopfte.

Jaden schnappte sich die Fernbedienung zurück. „Was ist eigentlich los mit dir?“, fragte er, als die Mauer samt ihrer mysteriösen Muster verschwand, um einem Musikvideo zu weichen.

Sam war klar, dass sein Verhalten Argwohn erregte, also murmelte er: „Das ist gleich um die Ecke, weißt du?“

„Na und?“, konterte Jaden. „Seit wann interessierst du dich für Geschichte?“

Während sich die anderen um den Fernseher drängten, bewegte Sam sich langsam rückwärts, eine Hand gegen die Brust gedrückt. Das Blut pochte in seinen Ohren und ihm war kalt bis ins Mark.

„He!“, rief Alfie. Seine Stimme schien aus weiter Ferne zu ihm zu dringen. „Wohin gehst du?“

„Wir sehen uns beim Abendessen.“ Die Worte fühlten sich übergroß und sperrig in seinem Mund an.

Er eilte in das Zimmer, das er sich mit Alfie teilte. Wie üblich war der Boden auf Alfies Seite von schmutzigen Klamotten übersät.

Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, taumelte Sam zu dem Waschbecken in der Ecke und starrte sich im Spiegel an. Er fragte sich, ob irgendeins der anderen Kids den schockierten Ausdruck in seinem Gesicht wahrgenommen hatte.

Seine Hand kehrte an die Brust zurück. Sein Herzschlag hatte sich nicht verlangsamt. Wenn überhaupt, schlug es sogar schneller als je zuvor. Er löste die Knöpfe seines Hemds, einen nach dem anderen, bis es ihm lose und vorne leicht aufstehend von den Schultern hing. Spiegel-Sam starrte zurück. Deutlich war das Muttermal auf seiner Brust zu erkennen. Ein sich windendes Zwillingsmuster, das so mancher für eine Schlange halten mochte. Sam jedoch hatte es immer anders interpretiert.

Als Flamme.

Und sie ähnelte den Gravuren, auf die die Bauarbeiter gestoßen waren. Nein, sie war nicht nur ähnlich, sondern genau gleich.

Was ergibt das überhaupt für einen Sinn?

Wäre es nur um die Form gegangen, hätte er das Ganze womöglich als seltsamen Zufall abgetan. Aber da war mehr als das. Sein klopfendes Herz, das merkwürdige Ziehen in seinem Bauch … es bedeutete etwas. Musste einfach etwas bedeuten.

Sam hörte, wie sich Schritte näherten, und knöpfte rasch sein Hemd wieder zu, als Alfie auch schon ins Zimmer kam.

„Alles okay, Kumpel? Bist ziemlich schnell abgehauen.“

Sam spürte, wie er rot wurde. Er öffnete den Mund, um zu einer Erklärung anzusetzen, aber etwas hielt ihn davon ab. Vielleicht, weil das Ganze irgendwie dämlich war. Vielleicht, weil sich heute nicht alles um ihn drehen sollte.

Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.

„Siehst krank aus, Kumpel“, stellte Alfie fest.

„Schätze, das kommt von deinen Socken“, erwiderte Sam.

„Ha-ha. Okay, hör mal, bald bin ich weg. Dann hast du hier alles allein für dich.“

„Kann’s nicht erwarten“, sagte Sam.

Alfie ging zur Steckdose, die sich neben ihrer Garderobe befand, und versetzte ihr mit der Schuhspitze einen Stups. „Ich hatte echt Schiss, dass Crusty uns durchschaut hat.“

„Ich auch“, gestand Sam.

Alfie hielt an der Tür inne und blickte ins Zimmer zurück. „Ich werd das hier vermissen, weißt du.“

Sam grinste. „Nee, wirste nicht.“

Als sein Freund gegangen war, ging Sam zur Steckdose und hebelte die Gehäuseabdeckung mit dem Fingernagel auf. An der Unterseite befand sich, mit Klebeknete am Plastik befestigt, der Schlüssel. Er verstaute ihn in der Tasche und brachte die Abdeckung wieder an.

Auf keinen Fall würde er sich heute Nacht an das Ausgehverbot halten.

2

Der alte Mr Beadle, seines Zeichens Hausmeister in Bright Futures, hatte ausgerechnet diesen Abend dazu auserkoren, die Korridorböden zu bohnern. Da die mechanische Bohnermaschine kaputt war, zog er es mit Eimer und Lappen bewaffnet nach Oldschool-Art auf Händen und Knien durch, während er sich langsam Meter für Meter vorankämpfte.

Sam lag unterdessen im Bett, weder gewillt noch in der Lage zu schlafen. Es war, als würde das Mal auf seiner Brust störrisch pochen und nach Antworten verlangen. Im Bett nebenan schnarchte Alfie selig vor sich hin. Vielleicht träumte er bereits von seinem neuen Zuhause.

Kurz vor Mitternacht musste Beadle seine Aufgabe offenbar erledigt haben, denn Sam hörte, wie sich die Fronttür schloss. Er wartete noch ein paar Minuten. Dann schlüpfte er aus dem Zimmer, seinen Rucksack über die Schulter geschlungen und das knallgrüne Skateboard unter den Arm geklemmt. Als er sich mit leisen Tapsschritten Richtung Empfangsbereich bewegte, kam er zu dem Schluss, dass die erzwungene Wartezeit auch ihr Gutes gehabt hatte. Das Gebäude lag im Dunkeln und die Stille war absolut. Alles schlief und niemand würde merken, dass er sich verdrückte.

Am kleinen Empfangstresen blieb er stehen. Von den Natriumdampflampen auf dem Parkplatz sickerte schwaches, orangefarbenes Licht durch die Fenster. In ihrem matten Glühen öffnete Sam die Schublade und nahm die schwere schwarze Taschenlampe heraus, die Beadle hier für seine nächtlichen Kontrollrunden aufbewahrte. Die nächste Station war die Küche. Sam eilte zwischen den Edelstahltischen hindurch und legte zwei kurze Stopps ein – einmal, um einen Müsliriegel aus einem Korb zu fischen, und dann, um sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank zu holen. Beim Abendessen hatte er keinen Appetit gehabt, doch jetzt war er förmlich am Verhungern. Als er darüber hinaus noch auf ein paar Sandwiches stieß, nahm er auch die mit.

Die Hintertür ließ sich lautlos öffnen.

Zufrieden stellte er fest, dass der Regen aufgehört hatte. Mit patschenden Schritten eilte er die Gasse hinunter und hatte die Hauptstraße fast erreicht, als sich aus den Schatten etwas auf ihn stürzte.

„Einstein!“

Mit wedelndem Schwanz sprang der Hund an ihm hoch und pflanzte ihm die schlammbeschmierten Vorderpfoten auf die Brust.

„Danke, Kumpel“, begrüßte Sam ihn und kraulte dem Tier den Nacken. „Jetzt seh ich auch wie ein Streuner aus.“

Mit heraushängender Zunge stand Einstein da, während ihm der Atem in Dampfwölkchen um den Kopf waberte. Sein graues Fell stand in alle Richtungen ab, als hätte er gerade einen elektrischen Schlag verpasst bekommen. Zerzaust wie es war, erinnerte es Sam immer an ein berühmtes Foto von Albert Einstein, das er einmal gesehen hatte und das der Grund dafür war, dass Sam sich für diesen Namen entschieden hatte.

Er setzte sein Skateboard ab und nahm eines der Sandwichs aus dem Rucksack. Mit gespitzten Ohren machte Einstein in einer Pfütze Sitz. Sam warf ihm einen Bissen zu, den der Hund mit einem einzigen Happs verschlang.

„Mann, wie gierig. Dein Pech, wenn du kotzen musst.“

Er setzte einen Fuß auf das Skateboard und beförderte sich mit einem Stoß auf die Straße hinaus. Neben ihm fiel Einstein in den Trab und hielt wie der besttrainierte Hund der Welt Schritt, während er hin und wieder eifrig zu Sam emporblickte.

Sam rollte den flachen Hügel hinab, der von der Gasse fortführte, während die Rollen unter seinen Füßen ratterten. Ein Van raste vorbei und Sam wich zur Seite aus, um nicht vom Regenwasser bespritzt zu werden, das dieser aufwirbelte. Im nächsten Moment war das Fahrzeug auch schon um eine Ecke verschwunden und ließ die Straße einsam und verlassen zurück. Vor Sam markierte eine jäh abfallende Bordsteinkante die Zufahrt zu einer alten Lagerhalle. Mit einem Tritt auf den Tail des Boards vollführte er einen schnellen Ollie, woraufhin es vom Bordstein abhob, um fast gleich darauf mit beiden Achsen wieder auf der asphaltierten Fahrbahn aufzusetzen.

Mit Brettern vernagelte Gebäude und zerfetzte Maschendrahtzäune zogen an Sam vorbei und bereiteten ihm ein mulmiges Gefühl. Als sie an einem Schrottplatz vorbeikamen, drang aus einem Haufen kaputter Autos ein Jaulen. Einstein gab ein barsches Bellen von sich. Doch es war wohl nur eine Katze oder vielleicht auch ein Stadtfuchs. Hinter dem Schrottplatz zog sich ein weiterer Zaun entlang, der im Gegensatz zu ersterem aus rauen, etwa zwei Meter hohen Holzplatten bestand. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren die Imbissstuben und E-Zigarettenshops wuchtigen Gasspeichertürmen gewichen. Das fahle Leuchten der nächtlichen Stadt tauchte ihre gekrümmten Metallwände in mattes gelbes Licht.

Sam kam zum Halten und ließ das Skateboard in seine Hand schnellen. Er schaltete die Taschenlampe ein und ließ den Lichtkegel den Zaun entlanggleiten. Auf einigen der Bretter prangten Plakate, auf denen Bilder von schimmernden Wolkenkratzern und großzügigen Plätzen mit jeder Menge gepflegter Bäume präsentiert wurden. Eines davon zeigte den Querschnitt eines zylinderförmigen U-Bahn-Tunnels, der sich unter den Gebäuden hinzog. Die Überschriften schrien in fetter Schrift allesamt dieselbe Botschaft in die Welt hinaus:

UTOPIA PLAZA — DEMNÄCHST HIER!

Unter den Plakaten hingen Schilder mit gelb-schwarz gestreiften Rändern, die etwas bodenständigere Nachrichten verbreiteten:

BETRETEN VERBOTEN INSTABILER UNTERGRUND LEBENSGEFAHR!

Der Zaun war zu hoch, um darüber hinwegzuklettern. Aber unmittelbar davor stand ein Telefonschaltkasten. Sam lehnte sein Skateboard dagegen, überzeugte sich mit einem verstohlenen Blick, dass die Luft rein war, und kraxelte hinauf. Unterdessen beschnüffelte Einstein die Ecke der großen Metallbox, bevor er das Bein hob und sie mit Urin besprengte. Vom Kasten aus konnte Sam nun im Stehen die Oberkante des Zauns erreichen. Aber schon im nächsten Moment verließ ihn der Mut wieder, als er sah, dass dieser von Stacheldraht gesäumt war.

„Mist“, fluchte er. „Aus dem Weg, Einstein. Ich komm wieder runter.“

Aber Einstein war nirgends mehr zu sehen.

Sam glitt an dem Schaltkasten hinab.

„Einstein?“ Er hörte ein Klappern. Dann poppte der Kopf des Hunds urplötzlich hinter dem Kasten auf. „Wo warst du denn, Junge?“

Mit wedelndem Schwanz zog Einstein sich wieder zurück. Sam ging in die Hocke und spähte ihm hinterher. In den dunklen Schatten zwischen Kasten und Umzäunung entdeckte er einen Kranz aus gesplittertem Holz. Ein Loch im Zaun.

„Respekt, Kumpel!“

Das Skateboard vor sich herschiebend, ließ Sam sich auf Hände und Knie fallen, um sich in die Öffnung hinter dem Schaltkasten zu zwängen. Kurz verfing sich sein Rucksack dabei an einem der gezackten Holzsplitter, kam jedoch gleich wieder frei, sodass er weiterkonnte.

Auf der anderen Seite des Zauns erhob Sam sich wieder und rieb sich die nassen Hände an der Jeans ab, die an den Knien nun völlig durchnässt war. Einstein erwartete ihn bereits schwanzwedelnd. Doch als Sam sich bückte, um ihn zu streicheln, trottete der Hund auf einem breiten Pfad davon, der steil in eine tiefe Baugrube abfiel. Hoch über sich konnte Sam so gerade eben das Gitterwerk riesiger Kräne ausmachen, die sich dunkel und drohend vor einem noch dunkleren Himmel abzeichneten.

Sam beschloss, dem Hund zu folgen. Der Tunnelbohrer und die Ruinen mussten sich ja irgendwo unter der Erde befinden, was folglich bergab bedeutete, oder? Das Skateboard unter den Arm geklemmt, setzte er sich in Bewegung, wobei er sich in den Schatten hielt und die schlammigsten Bereiche des Pfads mied. Sollte man ihn hier erwischen, würde er einfach sagen, er hätte sich verlaufen. Mit ein bisschen Glück würde man ihn nach draußen eskortieren und ihn seiner Wege ziehen lassen. Je weiter er allerdings käme, desto mehr würde diese Erklärung natürlich an Glaubwürdigkeit verlieren – bei zunehmender Wahrscheinlichkeit, in Crustys Büro zu landen, mit einem Cop an seiner Seite und einem Sack voll Ärger an den Hacken. Er versuchte, nicht zu sehr an dieses Szenario zu denken.

Zu beiden Seiten erhoben sich steile Wände aus Erde und Schlamm in die Höhe, als er weiter in die Baugrube hinabstieg. Es war, als hätte jemand einen gigantischen Eisportionierer durch das Erdreich gezogen. Von den Ketten, die an den Kränen herabhingen, tropfte das Wasser und platschte leise auf den weichen Boden. Die Luft war gesättigt von Ölgestank.

Auf dem Grund der Grube befand sich eine provisorische Hütte, in deren einzigem Fenster Licht brannte. Als Sam näher kam, öffnete sich die Tür. Musik wummerte heraus – dem Klang nach Death Metal –, bevor sie leiser wurde, als jemand die Lautstärke runterdrehte. Ein Mann kam die Stufen hinunter und pflanzte seine Stiefel in den Schlamm. Er trug eine Basecap samt einer Signalweste, die seinen hervorquellenden Bauch kaum verdeckte, und war mit einer leistungsstarken Taschenlampe bewaffnet.

Ein Nachtwächter!

Als der Security-Mann sich den Pfad hinauf in Bewegung setzte, kauerte Sam sich hinter einen Stromgenerator. Er hatte keine Ahnung, wohin Einstein verschwunden war. Aber darum konnte er sich jetzt keinen Kopf machen. Der Hund war ein echter Überlebenskünstler, er konnte gut auf sich selbst aufpassen. Der Wächter bewegte sich mit langsamen und bedachten Schritten voran, während er den Lichtkegel seiner Taschenlampe nach links und rechts schwenkte und sorgfältig darauf achtete, nicht im Morast auszurutschen.

Der Mann war nun auf gleicher Höhe mit dem Generator … nur wenige Schritte entfernt. Wenn er jetzt seine Lampe nach links richtete, war es vorbei …

Doch zum Glück schwenkte der Lichtstrahl nach rechts. Der Wachmann setzte den Weg den Pfad hinauf fort, bog oben um die Ecke und war dem Blick entschwunden. Erleichtert stieß Sam den Atem aus.

Er eilte an der Hütte vorbei und drang in die höhlenartige Tiefe der Baustelle vor. Als er an einer Reihe von Ölfässern vorbeikam, fiel sein Blick auf breite, geriffelte Reifenspuren, die sich im Schlamm abzeichneten. Irgendeine Schwerbaumaschine. Vielleicht der Tunnelbohrer, den er in den Nachrichten gesehen hatte.

Neben den Spuren zog sich ein metallener Laufsteg entlang. Da sich das Deck nicht einmal einen halben Meter über dem Boden befand, sprang Sam hinauf und rannte los, während er die Hand über das Geländer gleiten ließ. Der Laufsteg bog nach links ab, dann nach rechts, bevor er unter einem Bündel von Deckenkabeln hindurchführte. Sam gelangte schließlich in einen kurzen Tunnelabschnitt, dessen Wände von Planen bedeckt waren. Jäh am Ende des Tunnels angekommen, blieb er stehen.

Vor ihm thronte ein wahres Maschinengebirge auf zwei monströsen Raupenfahrwerken. Das Heck des Ungetüms bestand aus einem unergründlichen Wirrwarr von Hydraulikleitungen und ineinandergreifenden Zahnrädern. Die Spitze hingegen hatte die Form eines Kegels, der von schimmernden, dreieckigen Klingen überzogen war. Es handelte sich definitiv um die Maschine, die er in der Nachrichtensendung gesehen hatte. Wie wurde sie gleich noch mal genannt … Pellucidar? Das klang wie etwas aus einem Science-Fiction-Film, eine Waffe oder ein Raumschiff.

Sam näherte sich dem gigantischen Bohrgerät, dem zugleich etwas schrecklich Brutales anhaftete. Er versuchte sich auszumalen, wie diese Kegelspitze sich mit Höchstgeschwindigkeit drehte und in den Boden fraß – monströs und wunderbar zugleich.

Nah am Heck der Maschine nahm er eine Bewegung wahr und erstarrte. Zwei Gestalten standen dort auf einem flachen Sockel, der sich über die gesamte Länge des Bohrgeräts zog. Sie sprayten irgendwelche Formen und Buchstaben auf die eisengraue Flanke des Ungetüms. Allerdings nicht die mysteriösen Zeichen auf der antiken Mauer, wegen der Sam hergekommen war, sondern kunterbunte Graffiti-Schnörkel.

Das Skatebord stieß scheppernd gegen das Geländer, woraufhin einer der Graffiti-Sprayer den Kopf herumwarf. Es war ein Junge, nur ein, zwei Jahre älter als Sam. Er trug einen schweren Parka sowie eine schwarze Sturmhaube, die er jedoch zurückgezogen hatte, um das Gesicht frei zu haben.

„Ginger“, sagte er. „Wir haben Gesellschaft.“

Sein Begleiter war vielleicht noch einmal zwei Jahre älter und somit fast schon ein junger Mann. Seine Kleidung schien komplett aus schwarzem Kunststoff zu bestehen und sein kurz geschorenes Haar war rot.

„Ich will keinen Ärger“, versicherte Sam, während er sich ihnen vorsichtig näherte. „Ich will mir nur das Ding ansehen, das sie gefunden haben. Diese antike Mauer.“

Der Jüngere verschränkte die Arme vor der Brust. „Haste den Wachmann gesehen?“

Sam nickte und zeigte hinter sich. „Der ist zum Zaun hoch. Schätze, ihr seid hier ’ne Weile sicher.“

Der Ältere, Ginger, grinste. „Danke für den Tipp.“

Sam stand nun unmittelbar unter der Trittleiste. Ein Griff nach oben und er hätte sie an den Füßen packen können. „Wisst ihr, wo es ist?“

„Die römischen Ruinen?“ Der Junge wedelte mit seiner Sprühdose Richtung Bohrspitze. „Keine Ahnung. Irgendwo da unten.“

„Was bist du eigentlich?“, fragte Ginger. „Irgend so ’ne Art Historiker?“

„Es ist nicht die Mauer, die mich interessiert, weißt du, sondern die Gravuren.“

Gingers Augen verengten sich prompt. „Und was kümmern die dich?“

Sam gefiel weder der feste Griff, mit dem Ginger die Sprühdose hielt, noch der misstrauische Ausdruck, der das Gesicht seines Freunds in Falten legte. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie verwundbar er hier unten war. Mitten in der Nacht. In Gesellschaft zweier Fremder, die nichts Gutes im Schilde führten.

Keine Zeugen.

„Eigentlich gar nicht“, erwiderte Sam und rückte weiter auf dem Laufsteg vor, um Abstand zu seinen Befragern zu gewinnen. „Ich wollte nur mal einen Blick drauf werfen. Habt ihr den Teil gesehen, der wie eine Flamme aussieht? Den will ich mir ansehen. Das ist alles. Ich werd nicht verraten, dass ich euch gesehen habe.“ Als er sich plötzlich bewusst wurde, dass er am Faseln war, hielt er prompt die Klappe.

Mit einer jähen, geschmeidigen Bewegung sprang der Jüngere von der Trittleiste und landete direkt vor Sam auf dem Laufsteg, sodass er ihm den Weg versperrte. Sam wollte zurückweichen, musste aber feststellen, dass Ginger auf einmal direkt hinter ihm stand.

„Ich will wirklich keinen Ärger“, versicherte Sam.

„Was ist im Rucksack?“, fragte Ginger.

„Was zu essen“, antwortete Sam.

„Ach ja?“, meinte Ginger. „Nicht vielleicht auch ein paar Sprühfarben?“

„Nein“, versicherte Sam.

Das Beben in seiner Stimme gefiel ihm nicht. Aber zu seiner Überraschung registrierte er, dass nicht nur Furcht der Grund dafür war. Vielmehr brodelte auch Wut in ihm.

Ich tue euch doch nichts. Warum könnt ihr mir nicht einfach aus dem Weg gehen?

„Hältst du uns eigentlich für dämlich?“, sagte der Jüngere. „Weißt du, was wir mit Leuten machen, die wir in unserem Revier beim Taggen erwischen?“

„Nee, was denn?“

Ginger verpasste ihm einen harten Stoß von hinten, der Sam nach vorne stolpern ließ. Blitzschnell trat der andere Junge zur Seite und stellte ihm ein Bein. Sam stürzte auf den kalten Metallrost.

„Schnapp dir seinen Rucksack“, befahl Ginger.

Sams Wut kochte über, als der Junge herantrat. Sein Arm schoss empor und schon hatte er ihm die Sprühdose aus der Hand gerissen. Blitzschnell stand Sam auf, trat einen Schritt zurück und hob die Dose.

„Bleib, wo du bist!“, sagte er.

„Oder was?“

Sam drückte den Finger auf den Sprühkopf. Leuchtend gelbe Farbe schoss heraus und spritzte dem Jungen ins Gesicht. Würgend riss er sich augenblicklich die Hände vor die Augen.

„Das wirst du büßen!“, rief Ginger. In seiner Hand sah Sam ein Messer blitzen.

Doch schon im nächsten Moment fiel es zu Boden und Ginger geriet ins Schwanken. Einstein hatte die Zähne in seinen Knöchel gegraben und zerrte wie verrückt.

„Halt ihn mir vom Leib!“, kreischte Ginger.

Sam schwang das Skateboard und landete einen Schlag, der den jungen Mann sauber über das Geländer beförderte. Nach einem linkischen und völlig unfreiwilligen Rückwärtssalto landete er mit dem Bauch im tiefsten und klebrigsten Matsch, den Sam jemals zu Gesicht bekommen hatte.

Hechelnd präsentierte Einstein etwas, das in Sams Augen nur ein zufriedenes Grinsen sein konnte.

„Guter Junge“, sagte er und kraulte den Hund im Nacken. „Gerade noch rechtzeitig.“

Der andere Gegner stand immer noch tief vornübergebeugt da und spuckte Farbe.

Sam schmiss die Dose zur Seite, presste das Skateboard gegen die Brust und zwängte sich mit einem energischen Rempler an ihm vorbei, um dann auf das Ende des Laufstegs zuzueilen. Einstein rannte dicht hinter ihm her. Als er in den Schatten der Bohrerspitze eintauchte, warf er einen besorgten Blick über die Schulter zurück. Ginger kam gerade wieder taumelnd auf die Beine, von Kopf bis Fuß in klebrigen Schlamm gehüllt, und starrte ihm mordlüstern hinterher.

Sam rannte weiter in die Tiefe hinab, vorbei an Kabelrollen und anderen verwaisten Baumaterialien. Er vernahm keinerlei Geräusche, die darauf schließen ließen, dass sie ihn verfolgten. Mit etwas Glück waren sie bereits auf dem Weg nach Hause, um sich sauber zu machen. Nachdem er noch ein Stückchen weitergelaufen war, gelangte er an ein gelbes Absperrband, das quer über den Gang gespannt war. Vor ihm weitete sich der Raum. Eine hölzerne Treppenkonstruktion führte in eine schlammige Grube hinab.

Und da war sie und versperrte ihm den Weg … die antike Mauer.

Langsam stieg Sam die Stufen hinunter, wobei er sorgfältig darauf achtete, wohin er die Schritte setzte. Unten zweigte ein weiterer Gang ab, der teilweise mit Beton verkleidet war. Sams Atem ging in kurzen, harten Stößen und verwandelte sich schlagartig in Dunst, als er auf die kalte Nachtluft traf. Wie eine träge Wolke umschwebte er seinen Kopf. Einstein presste sich dicht an ihn, winselnd und mit eingeklemmtem Schwanz.

Sam schaltete die Taschenlampe ein. Der starke Strahl erfasste die herausgemeißelten Gesichter, die sich entlang der kaputten Mauerkrone hinzogen und bei denen es sich sowohl um erhabene Kaiser als auch anzüglich grinsende Wasserspeier handeln mochte. Doch Jahre der Verwitterung hatten sie zu Schemen verblassen lassen.

Nicht Jahre. Jahrhunderte.

Er senkte den Strahl, um eine der Formen zu erfassen, die er im Fernsehen gesehen hatte: ein kreisrundes Motiv, bei dem es sich einst um eine Blume gehandelt haben mochte. Das dunkle, purpurrote Farbpigment wirkte nicht so sehr aufgemalt, als vielmehr in den Stein selbst hineingepresst. Er schwenkte die Taschenlampe seitwärts, um den Strahl auf etwas zu richten, das wie ein Vogel im Flug aussah. Als Nächstes folgte ein geometrisches Wirrwarr aus Dreiecken und dann …

Sams Brust begann zu kribbeln. Er musste nicht erst die Jacke öffnen, um sich die Ähnlichkeit bestätigen zu lassen. Das Muster an der Wand war das gleiche wie das, dessen Anblick ihm bereits sein ganzes Leben lang vertraut war: das Muttermal, das auf seiner Haut prangte, solange er denken konnte.

Die Flamme.

Zögernd trat er einen Schritt näher, während die Taschenlampe in seiner Hand zitterte. Jetzt war es nicht nur die Brust, die kribbelte. Sein ganzer Körper schien in Flammen zu stehen. Die Formen waren in den Stein gemeißelt worden, und jetzt, aus der Nähe, nahm er die rauen Kanten wahr, die der Meißel hinterlassen hatte. Fast konnte Sam die schweißnasse Stirn desjenigen vor sich sehen, der diese Arbeit verrichtet hatte, während er mit Schlägel und Meißel die Konturen herausarbeitete.

„Keine Bewegung!“

Sam schwang die Taschenlampe herum, als sich auch schon drohend eine dickbäuchige Silhouette aus den Schatten herausschälte.

In watschelndem Gang kam der Nachtwächter in den Blick, während der Strahl seiner Taschenlampe die Finsternis durchschnitt, Sams Gesicht fand und darauf verharrte.

„Deine Kumpel haben dich zurückgelassen“, sagte er.

Sam brauchte weniger als eine Sekunde, um zu entscheiden, was zu tun war. Zu seiner Linken versperrte der Nachtwächter den Weg nach draußen. Womit ihm nur noch ein Weg blieb: die Flucht durch die antiken Ruinen.

Ohne sich zu vergewissern, ob Einstein auch gehorsam folgen würde, sprintete Sam auf die beiden Steinsäulen am fernen Ende der Mauer zu. Er hörte, wie der Wachmann hinter ihm etwas rief, aber die Stimme des Manns wurde schnell leiser. Sam glitt auf einem Streifen Matsch aus und krachte mit der Schulter gegen die erste Säule, bevor er auch schon an der zweiten vorbeistürmte. In bizarren Blitzen tanzte das Licht seiner Taschenlampe über den vor ihm liegenden Untergrund.

Der Boden erzeugte schmatzende Laute unter seinen Tritten. Plötzlich spürte Sam, wie seine Füße wegrutschten, und so gerade eben gelang es ihm noch, das Gleichgewicht zu halten. Mit wild rudernden Armen schlitterte er einen Hang hinunter. Die Taschenlampe knallte gegen eine Mauer, wurde aus seiner Hand geschlagen und ging aus. Seine Angst steigerte sich zu blankem Entsetzen, als ihn sogleich völlige Finsternis umfing. Hart schlug er im nächsten Moment auf dem Boden auf. Der Stoß jagte ihm wie ein elektrischer Schlag das Rückgrat empor.

„Einstein?“, flüsterte er.

Er streckte die Hand aus, um nach ein, zwei Sekunden das struppige Fell des Hunds zu ertasten. Aber wo war die Taschenlampe? Er klopfte den Boden ab, ohne auf etwas anderes als Schlamm zu stoßen. Die Finsternis war allumfassend und mit nichts zu vergleichen, was er jemals erlebt hatte.

Er stand auf und versuchte, sich irgendwie zu orientieren. Sein Haar strich gegen eine tiefe Decke, und er duckte sich abrupt, aus Furcht, sich an irgendeinem unsichtbaren Hindernis den Schädel anzuschlagen. Sam war sich nicht einmal sicher, in welche Richtung er gelaufen war, als er ausgerutscht war. Gut möglich, dass er sogar dankbar gewesen wäre, hätte sich in diesem Moment der Nachtwächter wieder blicken lassen. Er spielte mit dem Gedanken, um Hilfe zu schreien, hielt sich dann jedoch davon ab.

Alles okay, Sam. Bleib einfach cool. Du findest schon einen Weg nach draußen.

Nach ein paar Schritten durch schmatzenden Schlamm stießen seine Füße auf etwas, das sich wie hölzerne Planken anfühlte. Besser noch: Als er die Hände ausstreckte, berührte er auf beiden Seiten kaltes Gestein.

„Okay, Junge. Alles gut. Überhaupt kein Problem.“

Eine Weile ging er weiter, während er mit einer Hand vor sich auf Kopfhöhe den Weg kontrollierte und sich mit der anderen an der Felswand entlangtastete. Einstein hielt sich dicht bei ihm. Vermutlich verfügten Hunde über eine bessere Nachtsicht als Menschen, überlegte Sam. Sein Freund würde ihn bestimmt nicht in eine Gefahr laufen lassen.

Sam hatte nie Angst vor der Dunkelheit gehabt. Aber sich im Heim in einem finsteren Schrank zu verstecken, um dann urplötzlich daraus hervorzustürzen und jemanden zu erschrecken, war etwas völlig anderes als dies hier. Er hatte keine Ahnung, wo er war oder wie weit der Tunnel sich zog. Außerdem war es kalt. Wenn er sich hier unten verlief oder einen Unfall erlitt, würde er sich wahrscheinlich eine Unterkühlung einfangen. Und wäre das nicht eine so was von bekloppte Art, im Krankenhaus zu landen? Das würde ihm ewig anhaften.

Plötzlich gab eine Planke unter seinem Fuß nach. Mit einem Schrei warf er sich nach vorne, fort von dem zerbrechenden Stück Holz. Unter Knarzen und Splittern geriet der Boden unter ihm in Bewegung. Einstein jaulte panisch auf. Sam scharrte fieberhaft mit den Händen umher, als er spürte, wie er rutschte. Kurz berührte er Einsteins Fell, dann stürzte er durch das Loch, das sich unter ihm aufgetan hatte. Sein Rücken prallte auf eine stark geneigte Fläche – etwas Hartes und Kaltes, das metallen schepperte – und im nächsten Moment ging es in steilem Rutsch abwärts, während sich die Rucksackriemen straff um seine Schultern zogen.

Sam versuchte, die Beine anzuwinkeln, um sich gegen einen Aufprall zu wappnen, der jeden Moment kommen mochte. Doch der Rucksack verlagerte jäh seinen Körperschwerpunkt und unversehens fand Sam sich Kopf voran die unsichtbare Schräge hinabschießend wieder. Schützend barg er den Kopf in den Händen, nur um erneut zu kippen, diesmal auf die Seite. Es war, als würde man eine Wasserrutsche hinabsausen – nur ohne den geringsten Spaß dabei zu haben. Er fiel schnell, fast senkrecht nun, und rechnete jeden Moment damit, auf eine unerbittlich harte Oberfläche zu prallen und sich den Schädel oder etwas anderes zu brechen. Bis er plötzlich überhaupt nichts mehr unter sich spürte … Er war im freien Fall!

Doch nur für einen Moment. Er schlug mit solcher Wucht auf den Boden auf, dass es ihm den Atem aus der Lunge trieb. Reglos lag er da und schnappte nach Luft, während ihm ein brennender Schmerz über die Rückseite der rechten Hand fuhr.

„Einstein?“ Er wartete auf ein Bellen oder darauf, dass ihm eine sabbrige Hundezunge über die Hand schleckte. „Bist du da, Junge?“ Nichts. Vielleicht war der Hund nicht den ganzen Weg mit hinabgestürzt. Das wäre zumindest schon mal etwas. Er lauschte nach dem vertrauten Hecheln, vernahm jedoch nichts als Stille in der Finsternis.

Nur, dass es doch nicht still war. Nicht völlig jedenfalls. Sam vernahm ein leises Rauschen. Auch war es nicht mehr gänzlich dunkel. Er konnte Licht vor sich wahrnehmen, schwach und flackernd.

Den Kopf unten haltend, rollte Sam sich auf die Knie und kroch voran. Das Licht wurde stetig heller. Das Rauschen entpuppte sich als tosendes Wasser. Ein Kanalisationssystem vielleicht? Oder ein unterirdisches Wasserwerk. Na super! Offensichtlich bestand null Chance, aus dieser Nummer rauszukommen, ohne dass Crusty es spitzkriegte. Er schnupperte in der Luft, registrierte jedoch keinerlei unangenehme Gerüche. Etwas Kaltes tropfte ihm ins Gesicht. Als er sich mit den Fingern über die Wange fuhr, wurden sie nass. Nebel?

Das Leuchten erwies sich als flirrende Lichtfläche, die direkt vor ihm in der Luft hing. Das Tosen wurde noch lauter. Sam streckte die linke Hand aus – diejenige, die nicht verletzt war – und wurde von herabstürzendem Wasser bespritzt.

Nun konnte Sam wahrnehmen, dass er auf einem schmalen Vorsprung aus Stein stand. Nicht Beton. Nicht von Menschenhand gemacht, sondern natürlicher rauer Fels. Der Vorsprung zog sich kurvenförmig hinter etwas weiter, das er nun als Wasserfall erkannte. Das Licht auf der anderen Seite war nicht einfach nur hell. Es war taghell.

Sam wischte sich die von der Feuchtigkeit stammenden Tröpfchen aus dem Gesicht und ging mit angehaltenem Atem über den Felsvorsprung … auf so etwas wie einen unterirdischen Wasserfall zu? Mit jedem Schritt, den er machte, schwoll seine Neugier an wie ein Ballon. Gerade als er meinte, gleich zu platzen, trat er schließlich durch den Wasservorhang …

… und sah, was dahinterlag.

3

Ich muss mir die Birne gestoßen haben. Das ist nicht real.

Sam trat vom Vorsprung hinunter und starrte in einen Wald aus unvorstellbar hohen Bäumen. Ihre Blätter – breit, mit gezackten Rändern und strahlend wie Smaragde – wiegten sich sanft in der kühlen Brise, die ihm ins Gesicht wehte. Über dem Kronendach des Walds spannte sich ein klarer blauer Himmel, während er selbst auf einem breiten Streifen feuchten Grases stand. Hinter ihm toste der Wasserfall.

Wie betäubt erlaubte er seinen Füßen, ihn über die Rasenfläche voranzutragen. Über ihm wiegten sich die Äste der Bäume. Er fühlte sich benommen. Sein Rucksack verfing sich an einem Ast. Erst als er ihn losriss, wurde er sich bewusst, dass sein Skateboard fort war. Kein Wunder, es war ein ganz schöner Sturz gewesen.

Das kann einfach nicht real sein. Ich bin nach unten gefallen. Ein ganz schönes Stück nach unten. Und es gibt keine Wälder unter der Stadt. Nirgendwo gibt es Wälder wie den hier.

Tief sog er die Waldluft in die Lunge. Es roch real.

Er träumte. Anders konnte es nicht sein. Irgendwo lag sein Körper ohnmächtig herum und dies hier war ein Streich, den ihm sein Geist spielte. Er zog sein Handy aus der Tasche. Neun Minuten vor eins. Es war kaum eine Dreiviertelstunde vergangen, seitdem er Bright Futures verlassen hatte. Klingt eigentlich ganz logisch.

Sein Handy war ziemlich konkret für einen Traum. Aber was für eine andere Erklärung konnte es für den blauen Himmel geben? Es war Tag hier – hell wie zur Mittagszeit, obwohl die Sonne am klaren blauen Himmel nicht zu sehen war. Definitiv war es nicht eine Stunde nach Mitternacht.

Während er noch mit aller Macht versuchte, sich die Sache mit dem Traum einzureden, verriet ihm die absolute Wirklichkeit dieses Orts, dass er falsch lag. Er zwickte sich und es tat weh. Er bückte sich, um den feuchten Boden zu berühren.

Ein Traum …?

Es musste eine andere Erklärung geben, die er nur noch nicht erkannte. Sam öffnete die Karten-App auf seinem Handy. Könnte er seine Position bestimmen, würde er bestimmt dahintersteigen. Aber das Menüfenster der App blieb absolut leer. Er warf einen prüfenden Blick auf den oberen Displayrand … kein Signal, nicht einmal GPS.

Die Rückseite seiner rechten Hand schmerzte immer noch. Er betrachtete die Stelle und sog scharf die Luft ein, als er einen klaffenden Schnitt wahrnahm, der sich vom Daumenansatz bis zum Mittelfingerknöchel zog. Die Wunde hatte heftig geblutet, sämtliche Finger waren tiefrot verschmiert. Allerdings schien das Blut nun zu gerinnen.

Etwas raschelte im Unterholz und vor Schreck stockte ihm das Herz.

„Einstein?“

Er wartete, in der verzweifelten Hoffnung, der abgemagerte graue Mischling würde herausspringen, um ihn zu begrüßen. Gerade jetzt konnte er ein vertrautes Gesicht gebrauchen. Aber Einstein war nirgends zu sehen.

Sam kehrte zum Wasserfall zurück und schob die verletzte Hand vorsichtig in den fallenden Strom, um die Wunde, so gut es ging, zu reinigen. Während das Wasser seine Arbeit erledigte, starrte er durch es hindurch in den schwarzen Tunnel, aus dem er gekommen war.

Ich könnte zurück. Und diese Schräge hochklettern, die ich runtergerauscht bin. Wäre einen Versuch wert.

Erneut drang ein Rascheln aus den Büschen zu ihm herüber, gefolgt von einem tiefen Tschilpen, das von einem Vogel oder vielleicht auch einem anderen kleinen Tier stammen mochte. Sam wischte die Hand an seiner Jeans trocken, begab sich zum nächsten Baum und presste die Hand gegen den Stamm. Die raue Rinde war von tiefen Rissen durchzogen. Eines der riesigen Blätter kitzelte ihn im Gesicht. Vom Blattstiel in der Mitte aus breiteten sich safterfüllte Adern wie ein Spinnennetz aus. So einen Baum hatte Sam noch nie zuvor gesehen.

Je tiefer er in den Wald vordrang, desto mehr Wundern begegnete er. Laublose Bäume mit einem verdrehten Geäst, das wie aufwärts wachsende Wurzeln aussah. Dick und schwer herabhängende Ranken. Regenschirmgroße Blumen mit klaffenden Blüten, die aussahen wie aus dem Gewächshaus. Dann kam er an einer Gruppe blauer Pilze vorbei, deren knollenförmige Kappen ihm bis zur Hüfte reichten … und ausgesprochen giftig aussahen.

Genau, das ist es! Da muss was Komisches im Curry gewesen sein, das wir heute Abend hatten. Ich habe Halluzis!

Das Gelände begann anzusteigen. Sam wurde bewusst, dass er einem Pfad folgte, der sich zwar nicht klar abzeichnete, jedoch trotzdem vorhanden war. Der Wald um ihn herum lichtete sich und gab immer mehr von diesem unglaublich blauen Himmel preis. Erpicht darauf festzustellen, was sich hinter der Hügelspitze befand, beschleunigte er seine Schritte, bevor er jäh erstarrte.

Er vernahm Stimmen … Mehrere Stimmen, die sich in einer Sprache unterhielten, die er nicht kannte. Irgendeine osteuropäische vielleicht … Russisch? Während er sich in der Mitte des Pfads hielt, wo der weiche Boden seine Schritte dämpfte, schlich er vorwärts, bis er den Stumpf eines umgestürzten Baums erreichte, der von weiteren blauen Pilzen umgeben war. Er kauerte sich hinter den Stumpf und lugte darüber hinweg.