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Tief unter der Erde verbirgt sich eine uralte Stadt voller Wunder und Magie. Doch in Catacombia schlummert auch ein düsteres Geheimnis … Erneut konnten Sam und Ella die Pläne der machthungrigen Dämonin Grimorga vereiteln. Doch der Preis dafür ist hoch: Chaos und Unsicherheit breiten sich in Catacombia aus und der Kampf um die Herrschaft über die unterirdische Stadt droht an die Oberwelt zu schwappen. Nur die Hüter der Flamme können jetzt noch helfen. Allerdings scheint niemand zu wissen, wer diese geheimnisvollen Menschen sind – und wo man sie findet … *** Die neue Trilogie von Erfolgs-Autor R. L. Ferguson! *** Venedig? Das war Sams erster Gedanke, als er auf die Stadt unter sich starrte. Unmittelbar gefolgt von einem zweiten: das alte Griechenland? Keines von beidem schien zuzutreffen. Bin ich etwa in Indien? Oder Ägypten? Es waren alle diese Orte und dennoch keiner von ihnen. Breite Straßen schlängelten sich zwischen kunstvoll verzierten Häusern, hohen Pyramiden und gedrungenen Tempelbauwerken hindurch. Zierliche Brücken führten über Kanäle, die sich kreuz und quer durch die Stadt zogen. Auf vielen Dächern wuchsen üppige Gärten. Und hoch über allem ragten Türme aus Glas in die Höhe ... Entdecke alle Abenteuer der Reihe "Catacombia": Band 1: Abstieg in die Tiefe Band 2: Grimorgas Erwachen Band 3: Hüter der Flamme Kennst du schon R. L. Fergusons spannende Reihe rund um "Die Schule der Alyxa"?
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Seitenzahl: 350
Mit wuchtigem Hieb, der die ohnehin bereits schmerzenden Schultern zum Kreischen brachte, ließ Sam die Axt abwärtssausen. Die stählerne Klinge spaltete den Klotz in der Mitte. Saft quoll aus dem frischen Schnitt hervor und bedeckte den Axtkopf mit klebrig grünem Gelee, der nach Kaugummi roch und wie radioaktive Pampe aus einem miesen Sci-Fi-Film glühte.
Sam wischte sich den Schweiß von der Stirn, hebelte die Klinge wieder frei und schwang die Axt erneut.
Der zweite Schlag spaltete den Klotz endgültig. Sam schmiss die beiden Hälften neben sich in die Schubkarre, bevor er einen weiteren Klotz auf dem Spaltblock platzierte. Am Boden der Karre sickerte der grüne Saft durch eine Abflussrinne nach unten und wurde in einem separaten Behälter gesammelt. Der catacombische Name für das grüne Zeug lautete Ikor. Laut Ellas Vater Pavel verfügte es über allerlei nützliche Eigenschaften und wurde im getrockneten Zustand dehnbar und halb elastisch. Nur eine von vielen bizarren Merkwürdigkeiten, die diese Gefilde boten.
Sam rieb sich die Hände an der Hose ab und inspizierte die Blasen, die sich auf den Handflächen bildeten. Es tat gut, draußen an der frischen Luft zu sein. Catacombia bot reichlich Gelegenheit, an virtuellen Aktivitäten aller Art teilzunehmen, und alle waren realer als jedes Videospiel, mit dem die Oberwelt aufwarten konnte. Aber manchmal war das „Echte“ – sprich ehrliche körperliche Arbeit – besser.
Und der Schmerz war gut. Denn er hatte seine Gedanken nun schon etwa eine Stunde lang von anderen Dingen ferngehalten – jener Art von Sorgen, durch die sich das Herz anfühlte, als würde es gleich in der Brust zerspringen. Dennoch wusste Sam, dass jene Gedanken sich nicht ewig vom Leib halten lassen würden. Im Gegensatz zum Holzhacken war das Leben alles andere als einfach. Wieder hob er die Axt und spaltete den Klotz mit einem einzigen Hieb.
Überall um ihn herum strebten Bäume himmelwärts und wiegten sich sanft in der Brise. Sie sahen aus wie Kiefern aus der Oberwelt, sah man von der blauen Rinde und den orangenfarbenen Nadeln ab. Sam hatte keine Ahnung, ob sie das Ergebnis einer natürlichen Entwicklung oder einer genetischen Manipulation waren, die man vorgenommen hatte, um einen optimalen Farbeffekt zu erzielen. Der Rest des Waldes war nicht weniger beeindruckend. Statt Büschen und Farnen bestand das hiesige Unterholz aus riesigen blauen Giftpilzen, die sich allesamt in einem Gewirr aus knotigen Ranken emporschlängelten. Die Erde wies einen pinkfarbenen Ton auf.
So langsam gewöhnte er sich an derlei Wunder. Als es ihn zum allerersten Mal per Zufall nach Catacombia verschlagen hatte, war ihm alles so neu vorgekommen, so übernatürlich; und nur zu gerne hatte er sich einfach mitreißen lassen. Obwohl all das Neue in Catacombia immer noch unglaublich anzusehen war, verlor es doch stetig an Bedeutung, während er mehr und mehr darüber erfuhr, was Catacombia und ihn miteinander verband – eine Geschichte, vor der er sich nicht verstecken konnte.
Nicht zum ersten Mal empfand Sam das merkwürdige Gefühl, zwei Personen gleichzeitig zu sein. Bei der einen handelte es sich um eine Waise aus der Oberwelt, die in einem Kinderheim groß geworden war. Das war für einen Großteil seines Lebens die Realität gewesen. Unkompliziert, ein wenig ziellos, häufig einsam. Und dann hatte er die Wahrheit entdeckt. Und zwar, dass dieser Ort hier in Wirklichkeit sein Zuhause war. Seine Eltern waren Catacombier. Er war Catacombier. Und zumindest für eine Weile hatte es keine Frage gegeben, wo er lieber leben würde. Warum sich mit Alltäglichkeiten begnügen, wenn man solche Wunder erleben konnte? Natürlich hatte sich das geändert, da er mittlerweile wusste, dass er überhaupt kein Waisenkind war. Seine Mutter war am Leben. Und obwohl Catacombierin von Geburt, lebte sie nun irgendwo auf der Oberwelt.
WarumalsoverplempereichhiermeineZeitmitFeuerholzhacken?
„Abendessen ist fertig!“, rief eine ferne Stimme.
Er warf die Scheite in die Karre, ließ die Axt gegen den Haublock gelehnt zurück und begab sich zur Siedlung.
Die Stimme, die ihn gerufen hatte, gehörte Rania, Ellas Mutter. Ihre Familie hatte ihn bei sich aufgenommen, als er erstmals nach Catacombia gekommen war. Sie hatten ihn mit Nahrung und Kleidung versorgt und Ella hatte ihm gezeigt, wie man sich an das Leben in dieser seltsamen neuen Welt anpasste.
Sam verdankte ihnen alles – was ein Grund dafür war, dass er Schuldgefühle wegen seines Verlangens fortzugehen empfand. Aber sie würden es gewiss verstehen. Er konnte nicht einfach hierbleiben, wo doch die Chance bestand, seine echte Familie zu finden – oder zumindest das, was von ihr übrig war
Ein schmaler Pfad schlängelte sich hierhin und dorthin, bevor er ihn schließlich auf eine weite, offene Lichtung führte, auf der sich etwa dreißig Blockhütten kreisförmig um eine zentrale Feuerstelle gruppierten. Dahinter schloss sich, halb von Bäumen verborgen, eine locker verstreute Ansammlung kleinerer Läden und Werkstätten an. Dies alles hier hätte nicht weiter von dem Luxusleben entfernt sein können, das sie in der Stadt geführt hatten.
Ein paar Leute eilten geschäftig hin und her, mit dicken Stiefeln an den Füßen und in Pelzmänteln eingemummelt. Er war nicht überrascht. Die einige Kilometer über ihren Köpfen am Himmel hängende künstliche Sonne, bekannt als das „Solar“, hatte das Orange eines Sonnenuntergangs angenommen und der Tag verlor zusehends an Hitze. Die Nächte waren kalt hier draußen im Wald. Einige Leuten murrten, dass es wärmer gewesen sei, als sie noch in der Stadt gelebt hatten. Nicht so Sam. Ihm gefiel es hier. Denn tatsächlich gab es auch so etwas wie zu viel Luxus.
„Da bist du ja!“
Sams Blick wurde zur Hütte gelenkt, in der er mit Ella und ihren Eltern lebte. Er nahm Ranias Gesicht am offenen Fenster wahr und winkte.
„Hab völlig die Zeit verschwitzt“, rief er zurück.
„Könntest du meinen Gatten vielleicht mal in Bewegung setzen?“, sagte sie, lauter, als nötig gewesen wäre.
Sam spähte zum Holzschuppen, der sich zwischen den Bäumen an die Rückseite der Hütte schmiegte. Die Seitentür stand sperrangelweit offen und er konnte sehen, wie Ellas Vater drinnen an etwas auf seiner Werkbank herumhantierte.
„Feierabend? Gibt’s für mich nicht“, meinte Pavel. Seine Augen leuchteten auf, als er die Schubkarre wahrnahm, die Sam vor sich herschob. „Ah, perfekt“, freute er sich. „Wärst du so nett, mir das Ikor zu bringen?“
Sam karrte die Ladung zu ihm hinüber, wobei einige Holzscheite von der Karre purzelten.
„Wofür genau brauchst du eigentlich dieses Zeug?“, fragte Sam.
„Experimente!“
„Versuch einfach, uns nicht in die Luft zu jagen“, merkte Rania lapidar an. Sie langte durch das offene Fenster und reichte Sam ein Set flacher Holzschalen. „Sei doch so lieb und deck schon mal.“
Sam nahm die Schalen entgegen. „Ist Ella zurück?“
„Noch nicht.“ Rania warf einen ängstlichen Blick zum Himmel. „Ich hoffe, sie kommt vor Einbruch der Dunkelheit zurück.“
„Krieg dich wieder ein“, rief Pavel nun. „Der Unterricht wurde vermutlich mal wieder überzogen. Du weißt doch, wie diese Gesandten-Lehrer so sind. Ich wette, dass du viel lieber wieder auf der Akademie wärst, was Sam? Ist doch leichter, als den lieben langen Tag Feuerholz zu hacken.“
„Oh, hast du noch nicht gehört?“, sagte Rania. „Die Schule macht in ein paar Tagen wieder auf.“
„Super!“, kommentierte Sam und tat sein Bestes, um enthusiastisch zu klingen. Bisher hatte er die Akademie als ebenso aufregend wie frustrierend empfunden. Die Unterrichtsstunden – vor allem jene, die eine gewisse Perfektion bei den kniffligen Gedankenfeuer-Techniken erforderten – hatten sich dabei als besondere Herausforderung erwiesen. Was die Mitschüler anbelangte, so waren die meisten okay. Aber einige hatten sich ein besonderes Vergnügen daraus gemacht, auf ihm, dem Neuen, herumzuhacken. Und ohne seine beste Freundin Ella auf die Akademie zurückzukehren, war kein sehr reizvoller Gedanke.
Die Akademie hatte im Zuge der „Krise“ ebenso wie ein Großteil der Stadt ihren Betrieb eingestellt, während überall Reparaturen im Gange waren. Wie die meisten Schüler hatte Sam seitdem praktisch Ferien gehabt – ganz im Gegensatz zu Ella, die vor Kurzem in das offizielle Gesandten-Ausbildungsprogramm aufgenommen worden war. Die Gesandten-Schule war in einem anderen Gebäude untergebracht, das sich von der Akademie aus gesehen auf der entgegengesetzten Seite der Stadt befand. Somit hatte Ella ihre neuen Studien ohne Unterbrechung aufnehmen können. Der Begeisterung nach zu schließen, mit der sie von ihren neuen Kursen erzählte, genoss und schätzte sie jede einzelne Minute davon.
Gesandte wurden in Catacombia jene Personen genannt, die man in die Oberwelt schickte – zur Beobachtung des dortigen Lebens und zur gelegentlichen Unterstützung in Krisenfällen. Nur wenige Auserwählte wurden für diese Aufgabe erkoren und das Training war offensichtlich hart.
Reihen langer Holztische zogen sich von den kreisrund angeordneten Hütten Richtung Lichtungsmitte, ähnlich den Speichen eines Rades. Obwohl die Abende hier alles andere als warm waren, aßen die Leute, die die Stadt verlassen hatten, lieber draußen. Sam brachte die Schalen zum nächsten Tisch und stellte sie auf der rauen Oberfläche ab. Weitere Dorfbewohner kamen aus ihren Behausungen, um das Gleiche zu machen.
Kaum hatte Sam seine Aufgabe erledigt, tauchte Pavel aus ihrer Hütte auf, einen dampfenden Topf in den Händen. Rania folgte ihm mit dem Besteck.
„Das riecht gut“, strahlte Pavel und übersah glatt das Holzscheit, das in Türnähe von der Schubkarre gefallen war. „Hast du das mit …?“
Prompt blieb sein Fuß hängen.
In einer Mischung aus Entsetzen, Belustigung und Neugier verfolgte Sam, wie Pavel mit rudernden Armen stürzte und mit dem Gesicht voran im schwammartigen Gras landete. Der Topf jedoch verharrte plötzlich wie festgefroren mitten in der Luft.
Einen Moment lang kam Sam nicht dahinter, was passiert war. Catacombia war zwar ein merkwürdiger Ort, aber dennoch unterlag auch hier alles den Gesetzen der Schwerkraft. Dann fand sein Blick Rania. Die gespreizten Beine in den Boden gepflanzt stand sie da, die rechte Hand ausgestreckt. Aus ihrem Gesicht sprach teils Konzentration, teils genervter Verdruss. Mit gekrümmten Fingern lenkte sie den Topf durch die Luft zum Tisch. Sam trat zurück, um ihn vorbeizulassen. Mit sanftem Rums landete ihr Abendessen auf der Tischfläche. Rania entspannte sich. Telekinese war eine von vielen Disziplinen des Gedankenfeuers – eine, von deren vollkommenen Beherrschung Sam selbst weit entfernt war.
„Du hättest ruhig mich auffangen können“, beschwerte sich Pavel, als er sich aufrappelte und den Schmutz abklopfte.
„Was ist wichtiger?“, antwortete seine Frau. „Abendessen oder dein Stolz?“
Pavel versetzte dem Scheit einen Tritt. „Dämliche Stelle, um einen Holzklumpen rumliegen zu lassen.“
„Sorry.“ Irgendwie schaffte Sam es, sich ein Lächeln zu verkneifen.
Sie setzten sich an den Tisch. Die Familie aus der Nachbarhütte – zwei junge Männer mit Zwillingsmädchen – nahm etwas weiter entfernt von ihnen Platz. Sie nickten Sam und den anderen höflich zu, als sie sich über Teller voller geschnittener Pilze hermachten. Zumindest war es das, worum es sich Sams Vermutung nach handelte.
Pavel ergriff die Kelle, doch Rania nahm sie ihm gleich wieder ab.
„Besser, ich mache das. Wir wollen doch nicht, dass es überallhin verteilt wird.“
Das Essen – ein würziger Eintopf – war köstlich. Sam wollte Rania gerade ein Kompliment machen, als er ein vertrautes Sirren vernahm. Er hob den Blick und sah, wie ein silberfarbenes Pod über den Baumwipfeln heranschoss – angetrieben von den hinter Schutzgittern wirbelnden Fenestronen, die in der Unterseite des Rumpfs eingelassen waren. Die kugelförmige Flugmaschine schlenkerte im Sinkflug ungelenk hin und her, bis sie schließlich mit einem hörbaren Wumms neben der Hütte aufsetzte. In der Umgebung des Waldes wirkte das Gefährt etwa so fehl am Platz wie ein UFO.
Das Kabinendach des Pods glitt zurück und ein Teil des Rumpfs entfaltete sich zu einer Rampe. Ella kam herausgerannt, eine Leinentasche über die Schulter geschlungen.
„Sorry, dass ich spät dran bin!“ Sie warf sich in den freien Stuhl neben Sam. „Mein Tag war ja so was von super!“
„Ach, haben sie dir etwa beigebracht, wie man die mieseste Podlandung aller Zeiten hinlegt?“, sagte Sam.
„Ungehobelter Blödmann!“ Ihr Ellenbogen verpasste ihm einen Knuff in die Rippen.
„Ich sag ja nur, dass etwas Training deinen Fähigkeiten als Pilotin nicht schaden könnte.“
Ella machte ein langes Gesicht, während sie mit der Hand zu einer kleinen Narbe im Nacken fuhr. Den einzigen Hinweis auf das Implantat, das dort einst unter ihrer Haut verborgen gewesen war: ein neuronaler Chip, der ihr bei der Interaktion mit der hoch technologisierten Welt von Catacombia geholfen hatte – einschließlich der Steuerung der Pods, in denen die Leute hier durch die Gegend kutschierten. Wie so vieles in Catacombia hatte solch eine fortschrittliche Technologie Sam zuerst in Staunen versetzt, aber dann hatte er sich sogar selbst an das Tragen dieses Metachips gewöhnt. Natürlich war das vor der „Krise“ gewesen, in ruhigeren Zeiten.
Doch dann war es Grimorgas Jüngern irgendwie gelungen, die Technologie gegen ihre Anwender einzusetzen und praktisch alle zu seelenlosen, ferngesteuerten Robotern zu machen, einschließlich Pavel. Nun waren die Chips verboten und Ella musste sich ebenso wie alle anderen Catacombier daran gewöhnen. Was nichts anderes bedeutete, als dass jedwede Bedienung von Technik – einschließlich der Steuerung der Pods – auf Oldschool-Art erfolgte.
Rania griff über den Tisch nach der Hand ihrer Tochter. „Ich schätze, auf eine gewisse Art und Weise mussten wir alle wieder zurück in die Schule, oder?“ Sie warf Sam einen strafenden Blick zu. „Und jetzt erzähl uns mal, warum dein Tag so toll war.“
Ellas Gesicht hellte sich auf. Sie öffnete ihre Tasche und holte einen riesigen Handschuh hervor, der aus dünnen Metallfasern gewebt war. Für Sams Augen sah er wie ein Panzerhandschuh aus sehr feinem Kettengeflecht aus. Sie streifte ihn sich über und ließ die Finger wackeln. Das metallene Netz gab ein knisterndes Geräusch von sich. Einen Moment lang passierte nichts, dann nahm Sam eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr, als etwas aus dem Pod geschossen kam. Es flog auf ihren Tisch zu … eine fette graue Gestalt mit flatternden Schwingen und vorschnellendem Kopf. Eine gewöhnliche Taube, so wie jene, die die Stadt bevölkerten, in der er aufgewachsen war.
Ella wedelte mit der Hand und der Vogel schoss pfeilartig auf Sams Kopf zu. Gerade noch rechtzeitig duckte er sich, bevor die Schwanzfedern ihn streiften.
„Hey! Pass doch auf!“
Offensichtlich ganz versessen darauf, ihre Fähigkeiten zu demonstrieren, lenkte Ella die Taube in perfektem Bogen zum Hüttendach. Lautlos landete sie auf dem First. Mit angelegten Schwingen und wippendem Kopf hockte sie dann da und sah für alle Welt aus wie ein echter Vogel.
„Exzellentes Drohnen-Handling!“, lobte Rania.
„Man braucht ein wenig, sich daran zu gewöhnen“, sagte Ella. Sie streifte den Handschuh ab und reichte ihn Sam. „Ziemlich cool, was?“
„Gar nicht übel.“ Sam drehte den Handschuh in seinen Händen, überrascht, wie leicht er war.
Drohnen wie Ellas Taube wurden auch Dschinns genannt – abgeleitet von engine, Maschine. Es waren Tiere, die sich nahtlos in die Oberwelt einfügen konnten und deren Beherrschung von catacombischen Gesandten erwartet wurde.
„Alles ziemlich simple Technik“, grummelte Pavel mit einem Mund voller Eintopf.
Rania betupfte sich den Mund mit einer Serviette. „Du nun wieder.“
Sam warf einen Blick zu Ella, in der Hoffnung, dass sein brüsker Ton sie nicht getroffen hatte. Pavel litt immer noch unter seiner Degradierung. Einst war er einer der ranghöchsten Ingenieure Catacombias gewesen – verantwortlich für das Metachip-Netzwerk, das das Leben so bequem gemacht hatte. Aber nach der „Krise“ hatte man ihn aus dieser Position entlassen. Nur sehr wenige Leute, Pavel eingeschlossen, wussten genau, was eigentlich passiert war. Ella und Sam waren maßgeblich daran beteiligt gewesen, die von den Jüngern angezettelte Katastrophe zu verhindern, indem die beiden im Nexus – dem Hauptsitz der catacombischen Ingenieure – gegen deren Anführer Kobel auf Leben und Tod gekämpft hatten.
Mal wieder typisch dafür, wie die Dinge in Catacombia liefen, dachte Sam: Geheimnisse gegründet auf Magie und Lügen. Irgendwann in den weit zurückliegenden Nebeln der Vergangenheit waren Catacombia und die Oberwelt eins gewesen. Aber dann hatten sich die beiden Welten im Lauf ihrer Geschichte voneinander getrennt. Die Oberwelt – die einzige, die Sam für einen Großteil seines Lebens gekannt hatte – hatte sich langsam fortentwickelt, während Catacombias Entfaltung mit Riesenschritten vorangegangen war, angetrieben von den Gaben des Gedankenfeuers. Gaben, die – wie die meisten glaubten – von einem Stein herrührten, dem sogenannten Omphalos. Dieser wurde von den Catacombiern wie eine kostbare Reliquie verehrt. Aber Sam wusste, dass das Unsinn war. Dass es ein tieferes Geheimnis gab, eine Geschichte, die die meisten Catacombier nicht kannten. Oder vor der sie vielleicht so viel Angst hatten, dass sie nicht wagten, sie anzuerkennen.
Grimorga.
Sie war eine Göttin, oder Dämonin, aus uralten Zeiten, die die frühe Menschheit noch vor dem Zeitalter des Feuers besucht hatte. Die frühen Catacombier hatten sich schließlich gegen sie gewandt, indem sie sie einkerkerten – unter dem Heiligtum, einer Art religiösem Gebäude mitten in der Stadt. Nur wenige auserwählte Catacombier wussten heute von Grimorgas Existenz, und die, die es taten, waren in zwei Lager gespalten: jene, die ihre Existenz trotz allem nicht wahrhaben wollten oder sie sogar leugneten, und jene, die sie immer noch verehrten. Letztere nannten sich selbst die Jünger und bildeten ein geheimes Netzwerk innerhalb der catacombischen Gesellschaft.
Als Sam zum ersten Mal von den Jüngern gehört hatte, hatte er bereitwillig geglaubt, es würde sich bei ihnen um religiöse Fanatiker und Terroristen handeln. Aber seitdem hatten die Ereignisse seine Gefühle ziemlich verwirrt. Vor allem, weil seine Eltern, Shebia und Nidal, einst ebenfalls Jünger gewesen waren – sogenannte Staatsfeinde. Doch dann hatten sie sich gegen ihre einstigen Verbündeten gestellt, um ihn – Sam – zu beschützen. Der Verrat an ihren Gesinnungsgenossen hatte Nidal das Leben gekostet.
Auf gewisse Art beneidete Sam jene, die in glückseliger Unwissenheit bezüglich Grimorgas Existenz lebten. Er wusste es besser. Er wusste, dass Grimorga real war. Und wie hätte er es auch nicht können? War er ihr in der geheimen Kammer unter dem Heiligtum doch tatsächlich von Angesicht zu Angesicht gegenübergetreten, als die Dämonin sich zum ersten Mal aus welch finsterem Abgrund auch immer erhoben hatte, in dem sie während all der Jahrtausende gelauert hatte.
Immer noch plagten ihn Albträume wegen dieser tödlichen Konfrontation, wegen Grimorgas grotesk-alienhafter Gestalt und ihrer schrecklichen Macht, mit der sie sich in seine Gedanken zwängte. Doch es war nicht nur der Horror, der mit diesen Erinnerungen verbunden war. Es war das Wissen, dass Grimorgas Geschichte eng mit seiner eigenen verknüpft war. Selbst jetzt hallte ihre Stimme noch in seinem Kopf wider. Selbst jetzt peinigten ihre Worte ihn.
Selbst wenn du Catacombia verlässt, sind wir zusammen!
Ihre Schicksale waren miteinander verwoben. Früher oder später würden sich ihre Kreise wieder überschneiden.
„Ich hoffe, eine Audienz beim Rat zu bekommen“, verkündete Pavel, während er mit dem Löffel auf den Tisch klopfte, „um meinen Fall erneut vorzubringen.“
Rania bedachte ihn mit einem unverbindlichen Nicken. Als Zauberin, die selbst nie einen Metachip getragen hatte, wusste sie mehr als ihr Ehemann über Grimorgas Aktivitäten – und darüber, wie knapp Catacombia der Gefahr entronnen war. Ähnlich wie die Jünger war auch sie so etwas wie eine Technikfeindin, was ihre Ehe sogar noch merkwürdiger erscheinen ließ.
„Es war nur ’ne kleine Störung“, fuhr Pavel fort, wie an sich selbst gewandt. „Genau das verstehen die Leute nicht. Technologie funktioniert manchmal nicht richtig und wenn sie nicht richtig funktioniert, korrigiert man sie. Das ist es, was Ingenieure tun – sie korrigieren Fehler. Und deshalb bin ich Ingenieur!“
Stille senkte sich herab. Am anderen Tischende riss eines der Zwillingsmädchen einen Witz, worauf die ganze Familie in Lachen ausbrach. Pavel rührte mit seinem Löffel schlecht gelaunt in seinem Eintopf herum. Sam wand sich unbehaglich auf seinem Platz.
„Hier, guckt mal, was ich kann!“, sagte Ella unvermittelt.
Sie schnappte sich den Handschuh von Sam und stieß energisch die Finger hinein. Auf ihrem Gesicht lag ein Lächeln, das für Sam jedoch gezwungen wirkte.
Mit einem Fingerschnipp befahl Ella der Tauben-Drohne vom Dach zu fliegen, um vor der Hütte ein paar Saltos zu vollführen. Aber als der mechanische Vogel in den dritten Looping ging, blieb sein Flügel an einem überhängenden Baumast hängen. Wild trudelnd geriet er außer Kontrolle, krachte geradewegs gegen die Hüttenwand und schlug auf dem Boden auf, wo er Funken sprühend liegen blieb.
„War das so gedacht?“, fragte Sam.
Ella wurde rot. „Nicht ganz …“
Sich vom Tisch wegschiebend, stand Pavel auf, ging über die Grasfläche zu der zerknautschten Drohne und hob sie auf. Schlaff hing der Kopf der Taube zwischen seinen Fingern herab.
„Schätze, das kann ich in Ordnung bringen.“ Seine Stimme klang schal. „Ich mein, was wär ich für ein Ingenieur, wenn ich’s nicht könnte, oder?“ Mit hängenden Schultern trottete er auf seinen Schuppen zu, die vor sich hin britzelnde Drohne in den Händen.
„Mach dir keine Sorgen um deinen Vater,“ sagte Rania zu Ella. „Er hat jede Menge Projekte, um sich zu beschäftigen. Er wird schon klarkommen. Esst euren Eintopf auf. Ich denke, den Nachtisch nehmen wir besser drinnen zu uns. Es wird kalt hier draußen.“
Sie nahm den leeren Kochtopf auf und kehrte in die Hütte zurück. Die andere Familie hatte inzwischen zu Ende gegessen und begab sich ebenfalls wieder nach drinnen, sodass Sam und Ella allein am Tisch zurückblieben. Direkt über ihnen war die runde Scheibe des Solars von Orange zu Violett übergegangen.
„Und, ist die Gesandtenschule wirklich so super?“, fragte Sam.
Ella wandte sich ihm zu. „Du klingst nicht gerade froh. Was ist los? Gesandte zu sein, ist das, wovon ich immer geträumt habe … das weißt du.“
„Tue ich. Es ist nur …“ Er brach ab.
„Nur was?“
„Ach, das weißt du doch. Die Akademie macht morgen wieder auf. Was bedeutet, dass ich wieder zurück zur Schule muss. Ich schätze, ich werd mich schon wieder dran gewöhnen, es ist nur …“
„Was?“
„Ich werde dich vermissen, okay?“
Ellas Augen suchten seine. „Ich dich auch“, sagte sie schließlich.
Eine weitere peinliche Stille folgte.
„Du musst wirklich an deinem Flugstil arbeiten“, brach Sam das Schweigen. „Ich hab noch nie ’ne echte Taube gesehen, die sich an ’ner Wand das Hirn raushämmert.“
„Hab ich wirklich gesagt, dass ich dich vermissen werde? Ich nehm’s zurück.“ Sie stand auf. „Kommst du mit rein?“
Sam starrte in die einsetzende Finsternis. Eine kleine Wolke aus Samenhülsen schwebte wie ein Schmetterlingsschwarm über die Lichtung und gab ein schwaches, phosphoreszierend grünes Leuchten von sich.
„Ja, gib mir nur noch ’ne Minute.“
Nachdem sie fort war, saß Sam eine Weile allein am Tisch. Dann stand er auf und reckte sich. Die Samenhülsen waren zu winzig grünen Stecknadeln geschrumpft, die von der Lichtung davon in die schwarzviolette Dämmerung trieben.
Er folgte ihnen.
Er folgte dem Pfad, der von der Siedlung fort zu einer Felsklippe emporführte. Er kletterte bis zur Spitze und ließ sich in dem Moment nieder, als eine Windböe durch die Samenwolke fuhr und sie in die Finsternis verstreute.
Zum Schutz vor der Kälte zog er die Jacke enger um sich und nahm den Ausblick in sich auf.
Von diesem hohen Punkt aus konnte Sam die gesamte unterirdische Stadt überblicken, die unter ihm ausgebreitet lag. Sie war geformt wie eine Schüssel – mit kreisförmigen Terrassenebenen, die wie die Stufen eines gigantischen Amphitheaters zu einem ausgedehnten Areal voller Türme und Hochhäuser abfielen. Jede Terrasse hatte eine andere Funktion. Einige dienten der Landwirtschaft, während andere technischen Anlagen vorbehalten waren, die der Trinkwasseraufbereitung oder dem Abfallrecycling dienten. Wohngebiete trumpften mit einer schwindelerregenden Vielfalt architektonischer Stilrichtungen auf, von malerischen Cottages bis hin zu schimmernden Hochhäusern. Der Himmel war erfüllt von Fluggeräten aller Gestalt und Größe und die Straßen, über denen sie dahinzogen, waren gesprenkelt mit strahlenden Lichtpünktchen.
Sam meinte, noch nie etwas so Wunderschönes gesehen zu haben.
Am Rand des Stadtzentrums konnte er gerade eben ein wuchtiges, blockartiges Gebäude ausmachen, das sich aus Hunderten bunter Würfel zusammensetzte: die Akademie von Catacombia. Er sagte sich, dass er sich über die Rückkehr zur Schule freuen sollte. Aber es hatte keinen Zweck. Wie konnte er einfach wieder zur Normalität zurückkehren, wo seine Mutter noch irgendwo in der Oberwelt lebte? Nicht um seinetwillen musste Sam sie finden. Sondern ihretwegen. Denn auch Grimorga war sich ihrer Existenz bewusst. So viel hatte ihm Kobel vor seinem Tod noch verraten – der Jünger, der während des Kampfes am Nexus umgekommen war.
Der Wind frischte auf und kam in Böen. Sam fröstelte. Seine Finger irrten zu dem Ring, den er an der rechten Hand trug – jenes Schmuckstück, das einst seiner Mutter gehört hatte. Es war Kobel gewesen, dem es einst irgendwie in die Finger gefallen war, und die Äbtissin des Heiligtums hatte es nach dessen Tod in den Trümmern des Nexus gefunden.
Er fuhr die Umrisse des Vogels nach, der auf der Oberfläche eingraviert war – eine so vertraute Kontur, dass er nicht hinblicken musste. Ein Phönix, umgeben von Flammen. Das Symbol der Wiedergeburt.
Seine Finger umschlossen den Ring, bevor er die Augen schloss.
Einen Moment lang geschah nichts. Dann spürte er, wie sich im toten Metall des Ringes etwas regte. Etwas, das sich heiß und kalt anfühlte, beides zur gleichen Zeit.
Das Gefühl verblasste.
Tief sog Sam die Luft ein, stieß sie wieder aus und nahm einen weiteren Atemzug. Mit den Fingerspitzen auf dem Ring verharrend, erlaubte er seinen Gedanken, frei zu fließen – genau so, wie die Luft frei durch seine Lunge strömte. In dem Raum zwischen den fließenden Gedanken spürte er, wie etwas erblühte.
Rückschau …
Hierbei handelte es sich um eine der am einfachsten zugänglichen Gedankenfeuer-Fähigkeiten – wenn auch eine der am schwierigsten zu kontrollierenden: das Berühren von Objekten, um in deren Vergangenheit zu blicken. Während Stunden und Aberstunden hingebungsvoller Übungen hatten sich Sams Fähigkeiten mittlerweile ziemlich gut entwickelt. Doch soweit es den Ring betraf, hatte er es in jüngster Zeit zunehmend schwerer empfunden, diese kritische Verbindung herzustellen.
Langsam wurde das Empfinden intensiver und ließ kurz wieder nach, bevor es erneut aufflammte. Schließlich öffnete sich die Rückschau in seinem Geist wie ein leckender Damm. Jetzt kam der schwierigste Teil. Zu viel und die Flut der Bilder konnte überwältigend werden. Zu wenig und die Visionen waren verschwommen. Darüber hinaus gingen sie mit Emotionen einher, die Sams Herz im gleichen Moment berührten, wie die Bilder kamen.
Jemand rannte … ein Schmerzensschrei … eine Schar Verfolger, die eher Schatten glichen als Menschen … ein rotes Aufblitzen, als ein riesiges Fahrzeug vorbeirumpelte. Ein Bus.
Dann Bücher, Hunderte … Regale, die sich unter ihrem Gewicht bogen … Seiten, die sich wie von Geisterhand permanent umblätterten, auf jeder ein anderes Bild, ein anderes Gefühl, eine andere Szene aus derselben sich entfaltenden Geschichte …
Eine Geschichte, die ihm vertraut war. Es war die seiner Mutter. Nicht gerade überraschend, da der Ring für so lange Zeit an ihrem Finger gesessen hatte. Die Rückschau – so hatten es ihm die Lehrer auf der Akademie erklärt – neigte zur Fokussierung auf die am stärksten belasteten Vergangenheitsmomente eines Objektes, fast als hinterließen diese den größten Eindruck oder ein lang anhaltendes Aroma. Aber es war nicht immer so simpel. Die Visionen konnten durcheinandergeworfen sein und komplex, mit verschiedenen Momenten, die um Aufmerksamkeit wetteiferten. Warum die Bücher? Worum ging es da? Es war nicht die catacombische Bibliothek, da war er sich sicher. Denn ungeachtet des Namens gab es dort keine echten Bücher …
„Ich dachte, du sagtest eine Minute?“
Sams Finger fuhren vom Ring zurück. Die Rückschau zerplatzte wie eine Seifenblase und die Erinnerungen versickerten. Mit klopfendem Herzen wirbelte er herum und erblickte Ella, die am Ende des Waldpfades stand, die Hände in die Hüften gestemmt.
„Ich hab nur ’n bisschen nachgedacht“, antwortete er.
„Du hast den Nachtisch verpasst. Es gab Twistbeeren-Kuchen.“
„Ich nehme später was.“
Twistbeeren wuchsen überall im Wald. Ihre leuchtend roten Spiralfruchtknollen sahen appetitlich aus. Aber Sams Meinung nach konnte ihr saurer Geschmack das süße Versprechen nicht halten. Und ungeachtet Ranias größter Anstrengungen war niemand in Catacombia in der Lage, Kuchen zu produzieren wie die Bäcker um die Ecke von Bright Futures – dem Kinderheim, in dem er mehrere Jahre seines Lebens verbracht hatte. Dennoch heuchelte er jedes Mal Freude vor, wenn sie den Kuchen servierte. Es war eine andere Art von Lüge, aber sicherlich besser, als Ranias Gefühle zu verletzen.
„Ich geh noch mal rüber zu Rooth“, sagte Ella. „Willst du mitkommen?“ Rooth war eine der neuen Freundinnen, die Ella auf der Gesandtenschule gewonnen hatte.
„Danke, passe.“
„Oh, bitte komm doch mit. Ich versprech auch, dass wir nicht den ganzen Abend über Gesandtenkram quatschen.“
Er grinste. „Ist nur so, dass ich zur Bibliothek wollte.“
„Schon wieder? Du bist ja besessen.“
Sam kletterte vom Felsen herunter. „Wenn du’s unbedingt wissen willst: Ich hab mich gerade an meiner Rückschau versucht und es lief nicht gerade gut. Wie jetzt eine ganze Weile schon. Chronistin Hasquar hilft mir, mich wieder zu fokussieren.“
„Und wie läuft’s?“
Unbeabsichtigt fuhren Sams Finger wieder zum Ring, was Ella prompt mitbekam. Sie seufzte. „Weißt du, Kobel könnte wegen deiner Mutter gelogen haben. Er hat bei allem anderen gelogen.“
„Dann glaubst du also, dass sie wirklich tot ist?“
„Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Ich weiß nur, dass du dem, was Kobel gesagt hat, nicht trauen kannst.“
„Vielleicht. Egal, ich habe immer noch keine Antworten. Keine richtigen. Ich muss einfach sicher sein.“
Ella nickte. „Kapiert.“
Sie setzten sich in Bewegung und begaben sich zurück ins Dorf. Der Wind fuhr flüsternd durch die Nadeln der Bäume. Die Erde fühlte sich weich unter Sams Füßen an.
„Hast du schon mit Moura gesprochen?“, fragte Sam.
Er hatte Ella gebeten, von Moura – nunmehr frisch beförderter Chefgesandter – die Erlaubnis für eine neue Expedition zur Oberwelt einzuholen. Auch wenn der Aufenthaltsort seiner Mutter weiterhin ein Rätsel blieb, so hatte er doch das Gefühl, irgendwo mit der Suche anfangen zu müssen. Ella hatte ihm versprochen, es zu versuchen. Aber nur wenn er im Gegenzug versprach, sie nicht zu bedrängen. Das war vor drei Tagen gewesen und nun konnte er sich einfach nicht mehr beherrschen.
„Ich warte nur noch auf den richtigen Augenblick“, sagte sie.
„Wann wird der sein?“
„Ich hab dir gesagt, dass du mich nicht nerven sollst.“
„Ich nerve nicht. Ich will nur …“
„Doch, nervig, genau das bist du. Soll ich dich zur Bibliothek mitnehmen?“
Inzwischen waren sie zurück auf der Lichtung. Sie durchschritten das Gras bis zu der Stelle, wo Ella ihr Pod gelandet hatte. Sam musterte das kleine Gefährt, das ungelenk auf die Seite gekippt dalag. Ein Büschel Zweige ragte aus einem der Fenestrone hervor und über die Unterseite des Rumpfes zog sich eine tiefe Schramme.
„Na klar“, sagte er. „Aber unter einer Bedingung.“
„Die da wäre?“
Er lächelte. „Ich fliege.“
Die Hände um die Steuerkontrollen gelegt, ließ Sam das Pod aus dem Wald aufsteigen und schlug eine Route zur Stadt ein. Ohne Metachip musste er sich auf seine eigenen Fähigkeiten verlassen, um einen sicheren Kurs über die Terrassenhänge zu steuern. Vielleicht lag es an all den Videospielen, die er in Bright Future gespielt hatte, aber es schien ihm irgendwie im Blut zu liegen.
Mittlerweile war die Nacht endgültig hereingebrochen und winzige Lichtpünktchen sprenkelten das Schwarz des catacombischen Himmels. Sie sahen aus wie Sterne. Aber in Wirklichkeit handelte es sich um Tausende von Atmosphären-Sensoren, die im Firmament über der Stadt eingelassen waren. Sam hatte Pavel einmal gefragt, warum die Sensoren denn leuchten müssten. „Müssen sie gar nicht“, hatte Ellas Vater erwidert. „Die Ingenieure fanden einfach, dass es hübscher so aussieht.“
Es war schon seltsam, überlegte Sam. Obwohl viele Catacombier sich etwas auf ihre Überlegenheit gegenüber den Oberweltlern einbildeten, unternahmen sie dennoch große Anstrengungen, um selbst die einfachsten Freuden des Oberweltlebens zu imitieren.
Die Route zur Bibliothek führte sie in niedriger Höhe über das Stadtzentrum weg. Überall registrierte Sam Anzeichen für die fortdauernden Reparaturen im Nachgang der Metachip-Krise, während der Banden von Grimorgas Anhängern durch die Straßen gestreunt waren und alles ins Chaos gestürzt hatten. Sie erreichten den Nexus, das tulpenblütenförmige Gebäude, in dem Pavel einst gearbeitet hatte. Sam unterdrückte einen Schauder. Genau hier hatte der finale, schreckliche Showdown stattgefunden, als er und seine Freunde die Relaisstation der Metachips zerstört hatten, mittels der Grimorga die Einwohner Catacombias kontrolliert hatte. Der Schaden war katastrophal gewesen, doch auch hier schienen die Reparaturen gut voranzukommen. Trotz der späten Stunde nahm Sam Dutzende schwebende Plattformen voller Ingenieure wahr, die allesamt daran arbeiteten, das zertrümmerte Gebäude wieder zu errichten.
„Ist echt eine Schande, dass mein Dad nicht hier ist, um ihnen zu helfen“, meinte Ella.
„Zumindest hat er seinen Schuppen.“ Unwillkürlich zuckte Sam innerlich zusammen. Etwas noch Dämlicheres hätte er wohl kaum sagen können.
„Er meinte, die Reparaturen an unserem alten Haus sind fast beendet“, fuhr Ella fort, scheinbar ohne Notiz davon zu nehmen. „Noch ein paar Tage und wir können wieder einziehen.“
„Klasse.“ Sam konnte nur daran denken, wie sehr er den Wald vermissen würde.
Die Bibliothek selbst zählte zu den schönsten Gebäuden Catacombias. Ebenso wie vieles der hiesigen Architektur fußte sie auf einem natürlichen Design, das in diesem Fall einer gigantischen Eiche ähnelte. Gekonnt lenkte Sam das Pod in die Andockbucht, die sich auf halber Länge eines der mächtigen Äste befand.
„Möchtest du, dass ich dich später wieder abhole?“, fragte Ella.
„Ich weiß nicht, wie lang ich bleiben werde. Ich schnapp mir ein Pod, wenn ich fertig bin.“ Einige Fahrzeuge waren in der Benutzung eingeschränkt – wie zum Beispiel die roten Protektor-Pods oder die luxuriösen Gondeln, die sich im Besitz der städtischen Eliten befanden. Die normalen kugelförmigen Pods jedoch, die den Himmel über Catacombia erfüllten, waren öffentlicher Besitz – für jeden jederzeit kostenfrei nutzbar, ähnlich einem persönlichen Taxidienst.
Sobald Ella wieder aufgebrochen war, begab Sam sich zum Empfangsschalter, der sich als unbesetzt erwies, und rief mithilfe eines Holoschirms ein Schaubild der Bibliothek auf. Blinkende Punkte markierten die Aufenthaltsorte sämtlicher Chronistinnen und Chronisten, die sich im Gebäude aufhielten. Er entdeckte einen mit „Hasquar“ markierten Punkt und machte sich auf, sie zu finden.
Ein kurzer Gang über einen sich schlängelnden Korridor führte ihn zu einer Reihe eiförmiger Rückschau-Kammern. Er fand Hasquar in der dritten vor, wo sie etwas an den Kontrollen des großen Stuhles justierte, der in der Mitte des schwach erleuchteten Raumes zu schweben schien.
„Hallo, Ezra“, begrüßte Hasquar ihn, ohne sich nach ihm umzusehen.
Die Chronistin war die Einzige, die ihn bei seinem richtigen, catacombischen Namen nannte. In gewisser Weise fühlte es sich richtig an, wenn man bedachte, wie viel von seiner Vergangenheit er mit ihr geteilt hatte.
„Woher wusstest du, dass ich es bin?“
„Du bist es immer“, gab sie sanft zur Antwort.
Sie wandte ihm das Gesicht zu, eine groß gewachsene Frau mit durchdringenden, wachen Augen in fließender schwarzer Robe. Ihre Züge waren scharf geschnitten, aber nicht unfreundlich, und sie hatte eine melodische Stimme.
„Werden Sie mich beraten, Chronistin?“
Diese Form der Anrede hatte Sam von Hasquar persönlich gelernt. Deren ritueller Charakter gefiel ihm und er betrachtete die Chronistin tatsächlich als Beraterin. In der Tat hatte sie ihm schon unzählige Male in seinem mühseligen Ringen geholfen, die komplexen Wirrungen der Rückschau zu meistern. Aber darüber hinaus war sie für ihn auch zu einer Freundin und Vertrauten geworden.
„Werde ich. Allerdings muss ich dir etwas erzählen, das du nicht hören wollen wirst.“
Sam zuckte die Achseln. Wofür waren Freunde schließlich da, wenn nicht um auch unwillkommene Wahrheiten zu teilen? „Schieß los.“
„Ein Mensch kann auch zu viel Zeit in dieser Bibliothek verbringen. Das Leben ist zum Leben da, in der Gegenwart.“
„Erzählst du mir gerade, dass ich nicht mehr kommen soll?“
„Ich warne dich davor, dich unwiederbringlich in der Vergangenheit zu verlieren.“
Sam dachte über ihre Worte nach. „Kapiert.“
Die Chronistin half ihm in den Stuhl, den sie durch Betätigung entsprechender Kontrollen in die Waagrechte zurückfahren ließ. Wie Blätter geformte Polster schmiegten sich um Sams Körper. Sie waren so weich, dass er sie kaum spürte. Es war, als würde man in einem warmen Ozean schweben.
„Ist dein Geist klar?“, fragte sie.
„Ich arbeite daran.“
Sam war vorbereitet gekommen und wendete nun eine von Lisa Reynolds Visualisierungstechniken an. Sie war seine Pflegemutter gewesen, bevor sie erkrankte. Er schloss die Augen und stellte sich vor, er würde einen felsigen Pfad emporklettern, der zu einer Gipfelspitze führte. Die Sicht war von Wolken verdeckt, doch während er kletterte, wurden sie lichter und lichter und er konnte mehr und mehr erkennen. Als er den Gipfel erreichte, war die Luft klar wie Kristall und der Blick reichte bis zum Horizont. Gewaltige Gebirgszüge ersteckten sich in alle Richtungen, mit Gipfeln wie von Schnee bemalt.
Es war, als stünde man auf dem Dach der Welt.
Er fühlte sich absolut eins mit sich.
Nach und nach begannen Bilder aus der klaren Luft auf ihn zuzuschweben – dieselben Bilder, die er gesehen hatte, als er zuvor am Abend den Ring seiner Mutter berührt hatte. Nur dass sie jetzt wie in HD in seinen Geist strömten.
Hier war eine Frau, die durch einen unterirdischen Gang rannte. Da dieselbe Frau, die ein kleines Kind in einen Bus schob. Dort ein anderer Bus, wild umherschleudernd, die Panik auf dem Gesicht des Fahrers war deutlich zu erkennen.
Die Visionen drangen aus mannigfaltigen Winkeln auf ihn ein – aus weiter Ferne wurde er Zeuge von Ereignissen, sah sie jedoch gleichzeitig aus den Augen der Frau. Ein desorientierendes Erlebnis, begleitet von einem Gefühl der Dringlichkeit, das seinen Puls zum Rasen brachte.
Ein Gefühl der Angst.
Sie liegt auf einem Bett … nein, einem Rollwagen … nein, beides … ein Krankenhaus? … quadratische Lichter an der Decke, die vorbeihuschen, flirr, flirr, flirr … eine andere Frau in weißem Kittel, die ein Stethoskop um den Hals trägt … gedämpfte Stimmen …
So wie es seiner Mutter widerfahren war, widerfuhr es jetzt ihm.
Schmerz … Schmerz in meinem Bein … „Ab mit ihr zum Röntgen“, befiehlt eine herrische Stimme … „Sie werden jetzt einen scharfen Ritschverspüren“ … Kälte, die meinen Arm emporkriecht und die Gedanken ertränkt … ich bin müde … will schlafen … hallende Düsternis … ein weißer Raum, der sich verfinstert … Finsternis überall … alles fort.
„… komplizierter Schienbeinbruch …“
Es war alles zu verwirrend, zu überwältigend. Sam versuchte, seine Atmung zu kontrollieren.
Meine Augen sind offen und da ist die Ärztin wieder, sagt was davon, dass der Busfahrer mich nicht gesehen hat, und meint dann, dass ich Glück habe, noch am Leben zu sein … nun beugt sich die Ärztin näher heran. Auf ihrem Kittel ist ein Namensschild befestigt und darauf steht …
Was stand darauf? Sam konnte es nicht erkennen – die Schrift war verschwommen. Im Bewusstsein, sowohl in der Gegenwart verankert zu sein als auch in der Vergangenheit zu treiben – beides zur gleichen Zeit –, zwang Sam die Buchstaben, in den Fokus zu rücken.
Dr. Shah, Oberärztin, St. Mark’s Hospital
Außer sich vor Freude über seinen Triumph begann Sam sich aus der Rückschau herauszuziehen. Normalerweise war das einfach. Doch jetzt lag auf einmal eine Hand auf seiner Brust. Die Hand der Ärztin aus der Vision, die ihn nun niederdrückte. Er konnte Adern auf ihrem Handrücken erkennen. Unter ihren Fingernägeln war Schmutz – was für eine Ärztin war denn das bitte schön?
DieAdernquellenhervorundsind …schwarz.UnterdenklauenartigenNägelnloderteinebrennendeHitze,wievoneinemverzehrenden Feuer. Ich blicke zu dem Gesicht der Ärztin empor und es hat nichts Menschliches mehr an sich. Es verändert sich, wandelt sich in etwas, das wie ein Kokon aussieht. Etwas dreht und windet sich darin und es ist kein Schmetterling. Der Kopf wächst und mit ihm der ganze Körper der Ärztin, bis sie mich überragt. Ein reptilienhaftes Monster mit einem schwellenden Gesicht, das reif zum Platzen ist – reif, den darin liegenden Horror zu entfesseln …
Sam verharrte schwebend im leeren Raum, irgendwo zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Ein ungeformter Schrei des Entsetzens stieg in seiner Kehle empor, als die Dämonengöttin sich drohend über ihm erhob.
„Ezra, komm zurück! Wach auf!“
Jemand packte ihn an den Schultern. Schüttelte ihn. Er riss den Mund auf und versuchte, Luft einzusaugen. Doch irgendetwas ließ sie nicht an der Kehle vorbei.
„Finde deine Mitte. Beruhige dich.“
Die Stimme gehörte Hasquar. Ihre tröstenden Töne bezwangen die Panik, die ihm brennend durch die Adern fuhr. Er sog die Luft ein. Stieß sie wieder aus.
Er schlug die Augen auf und merkte, dass Hasquar ihn sanft an den Schultern hielt.
„Du hast geschrien“, sagte sie.
Er schob ihre Hände fort, glitt aus dem Stuhl und stand schwankend im schummrig orangefarbenen Licht der Rückschau-Kammer da.
„Ich habe sie gesehen“, brachte er krächzend hervor.
„Deine Mutter?“
„Ja, und Grimorga …“
Sie warf einen scharfen Blick zur Tür, bevor sie sagte: „Sprich leiser.“
Sam gehorchte und senkte die Stimme zu einem Flüstern. „Ich war bei meiner Mutter, in einem Krankenhaus. Aber ich habe auch Grimorga gesehen. Es war, als ob sie … als ob sie in meine Erinnerungen eingedrungen ist.“
„Rückschau ist nicht dasselbe wie Erinnerung, Ezra“, mahnte die Chronistin. „Denke daran.“
„Na schön“, meinte Sam. „Dann eben die Vergangenheit. Sie war da, in der Vision.“
Hasquar gab ein Seufzen von sich. Sie streckte die Hand aus und tippte Sam sanft an die Schläfe. „Ich fürchte, Grimorga ist da drin“, sagte sie. „Du kannst deiner Rückschau nicht vertrauen.“
„Meine Mutter lag im Krankenhaus. Verletzt. Sie hat sich das Bein gebrochen.“
Hasquar schüttelte den Kopf. „Ich kann diese leichtfertigen Rückschau-Exkursionen nicht mehr zulassen, Ezra. Es ist nicht sicher für dich. Und für mich.“
Noch nie hatte die Chronistin so aufgewühlt geklungen. Sam empfand ein schlechtes Gewissen, dass sie sich Vorwürfe machte. Gleichzeitig war er zutiefst verstört angesichts der erneuten Begegnung mit Grimorga – selbst wenn es nur die Erinnerung an sie gewesen war. Er schüttelte die Furcht ab.
„Ich weiß, wo sie ist!“, sagte er und griff nach Hasquars Gewand. „Im St. Mark’s. Nicht weit von dem Ort, wo ich in der Oberwelt gewohnt habe. Ich muss dort hin, Hasquar. Ich muss sie finden!“
Sein Atem kam in schweren Stößen, während sich die Brust hob und senkte. Das Entsetzen, das er bei der Verwandlung der Ärztin in Grimorga verspürt hatte, hatte sich in Luft aufgelöst. Was blieb, war eine gespannte Erregung.
Sanft löste Hasquar seine Finger von ihrer schwarzen Robe. Der Hauch eines Lächelns umspielte ihre Mundwinkel. „Ich fürchte, dabei kann ich dir nicht helfen.“
„Du hast mir bereits genug geholfen“, erwiderte Sam. Er trat in den Korridor hinaus und eilte zurück zur Andockbucht. Hasquar begleitete ihn, wobei sie förmlich dahinzuschweben schien, da ihr langes Gewand ihre Füße verbarg.