Die Schule der Alyxa, Band 2: Morvans Erbe - R.L. Ferguson - E-Book

Die Schule der Alyxa, Band 2: Morvans Erbe E-Book

R. L. Ferguson

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Beschreibung

Das Vermächtnis des Druiden Als Finn nach den Ferien an die Schule der Alyxa zurückkehrt, patrouillieren finstere Wachen durch deren Gänge. Sie sind angeblich zum Schutz der Schüler da, doch Finn glaubt, dass sie nach Spuren des verbotenen sechsten Sinns suchen. Prompt gerät Finn in ihr Visier, denn bei ihm zeigen sich Anzeichen der gefährlichen Gabe. Und nicht nur das: Plötzlich hat er eine Vision von Morvan, dem dunklen Druiden und Meister des sechsten Sinns! Zufall oder Offenbarung? Entdecke alle Abenteuer rund um "Die Schule der Alyxa": Band 1: Der dunkle Meister Band 2: Morvans Erbe Band 3: Der sechste Sinn Entdecke auch die neue Reihe von R. L. Ferguson: "Catacombia"! Band 1: Abstieg in die Tiefe Band 2: Grimorgas Erwachen Band 3: Hüter der Flamme

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Seitenzahl: 346

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2019Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2019 Ravensburger Verlag GmbHOriginaltitel: Alyxa, Book 2: Spirits of the Stone Circle© Working Partners Ltd.Übersetzung: Leo StrohmUmschlaggestaltung: Frauke Schneider unter Verwendung von Motiven von depositphotos/yuriy2design und depositphotos/AlienCatVignetten im Innenteil: Adobe Stock/Alexander Potapov und Adobe Stock/paunovicAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-47932-0www.ravensburger.de

„Willst du vorne sitzen, Kleiner?“ John grinste Finn über das Autodach hinweg an.

„Äh, na klar“, erwiderte Finn. „Aber kannst du bitte aufhören, mich Kleiner zu nennen?“

Während er noch damit beschäftigt war, seinen Koffer in den Kofferraum zu packen, riss John bereits die Tür auf. „Dann solltest du dich das nächste Mal ein bisschen beeilen“, feixte sein Bruder und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen.

Der Wagen ging spürbar in die Knie. John war während der Schulferien mindestens zwei Zentimeter gewachsen, sodass seine T-Shirts jetzt allesamt viel zu eng wirkten.

„Beeilung, Finn!“, rief seine Mutter, die schon am Lenkrad saß. „Wir müssen fünf Stunden rechnen, bis wir am Hafen sind.“

Finn klappte den Kofferraumdeckel zu und spähte durch den Frühnebel. An klaren Tagen konnte man am Ende ihrer Straße gerade noch die Spitze des London Eye – des großen Riesenrads am Ufer der Themse – über den Wipfeln der Bäume erkennen. Aber heute war die Welt nur grau, sonst nichts, und die Luft schmeckte nach feuchten Blättern. Es war zwar erst September, aber trotzdem fühlte es sich an, als hätte der Sommer sich über Nacht aus dem Staub gemacht.

Finn wollte gerade einsteigen, als ihm auffiel, dass der Wagen ziemlich schräg stand. Das hatte allerdings nichts mit Johns Körpergewicht zu tun, sondern mit einem platten Hinterreifen.

„Mum“, sagte er. „Wir haben ein Problem.“

Sie stieg aus, um nachzusehen. Dann seufzte sie, nahm die Brille ab, wischte die Gläser sauber und setzte sie wieder auf. „Also gut. Holen wir den Ersatzreifen aus dem Kofferraum.“

Finn wuchtete die Koffer nach draußen, und sein Bruder nahm ohne sichtbare Anstrengung das schwere Ersatzrad heraus und rollte es neben das Auto.

„Kein Wagenheber“, stellte Finn fest, während er suchend in den leeren Kofferraum starrte.

Jetzt seufzte ihre Mutter noch tiefer. „Ich wollte endlich mal ohne Stress loskommen“, sagte sie und holte ihr Handy aus der Tasche. „Dann rufe ich eben die Pannenhilfe an. Wer weiß, wie lange die brauchen, bis sie hier sind.“

Noch während sie sich durch ihre Kontaktliste scrollte, hörte man die Stoßdämpfer des Wagens leise ächzen. Staunend sah Finn zu, wie sich das Heck in die Luft hob.

„Beeilt euch“, sagte John. „Ich kann das nicht ewig so halten.“

Er stand aufrecht da, beide Hände unter die hintere Stoßstange gelegt. Wie dicke Seile traten die Sehnen an seinem Hals hervor, und die beiden Hinterräder des Autos baumelten in der Luft.

„Ich weiß ja, dass sie gesagt haben, du sollst dich über die Ferien fit halten“, sagte Finn. „Aber das ist doch lächerlich.“

„Stell das wieder ab“, zischte seine Mutter John zu und sah sich ängstlich nach allen Seiten um. „Wenn das die Nachbarn sehen!“

„Wenn ihr euch beeilt, dann kriegen sie’s gar nicht mit“, sagte John.

Während John also das Hinterteil des Wagens hochhob, wechselte Finn den Reifen. Zehn Minuten später waren sie abfahrbereit.

„Alyxa ist ein Geheimnis“, sagte ihre Mutter, nachdem sie wieder im Wagen saßen. „Eure Kräfte sind ein Geheimnis. Haben sie euch das denn nicht beigebracht?“

„Bei dem Nebel … hat doch keiner gesehen.“

„Und niemand weiß über Alyxa Bescheid“, fügte Finn hinzu. „Wir haben uns genau an die Abmachung gehalten.“

Das stimmte, obwohl Finn fand, dass ihre Geschichte sich ziemlich unglaubwürdig anhörte. Er und John waren also von einem Tag auf den anderen an ein Internat irgendwo in einer völlig abgelegenen Gegend gekommen? Wie hieß die Schule gleich noch mal? Ach, total klein und unbedeutend. Anderes Thema …

„Hoffentlich“, meinte ihre Mutter.

Während sie durch die Vororte Londons fuhren, verzog sich der Nebel. John schloss sein Handy an die Stereoanlage des Autos an, scrollte sich durch seine Playlisten und entschied sich für den Song, den er schon den ganzen Sommer über gehört hatte: Gimme A Break von den Detonators. Nach Finns Meinung hörte das Stück sich so an, als hätte irgendjemand die gesamte Band in einen Mülleimer gestopft und ihn dann mit den Füßen die Straße entlanggetreten.

Er ließ sich an die Rückenlehne sinken und dachte an die geheime Insel in der Irischen See und die seltsame Schule, die sich dort befand. Auch Alyxa lag hinter einer Nebelwand verborgen – einer Art Schutzschirm, um genau zu sein, der sogenannten Weißen Wand, die die Schule vor allzu neugierigen Blicken schützen sollte. Nach den Sommerferien, die er ganz normal zu Hause und mit seinen alten Freunden verbracht hatte, konnte er kaum glauben, dass er so etwas wie Alyxa jemals mit eigenen Augen gesehen hatte.

Und jetzt gehen wir wieder dahin zurück. Ein neues Trimester. Noch mehr Überraschungen.

Während er auf den Hinterkopf seiner Mutter starrte, stellte Finn sich vor, wie John seinen Freunden aus dem Tastsinnclan erzählte, wie er das Auto hochgehoben hatte. In letzter Zeit hatte er sich eine Menge solcher Tricks angeeignet – hatte einen Finger in das Abwaschwasser in der Spüle getaucht und es dadurch zu Eis werden lassen oder mit bloßen Händen Nägel in die Wand gehauen. Das Beste daran war, dass er immer seltener über Kopfschmerzen klagte, je besser er seine Fähigkeiten beherrschte. Die grässlichen Anfälle, unter denen er in seiner Kindheit so gelitten hatte, gehörten jedenfalls der Vergangenheit an.

Ob ich dieses Jahr wohl auch einem Clan zugeteilt werde?, fragte sich Finn. Oder lande ich wieder bei den anderen Blindgängern in der Fördergruppe?

Obwohl, eigentlich spielte das überhaupt keine Rolle. Tasten, Schmecken, Sehen, Hören, Riechen – wen interessierte das schon? Ein neues Trimester auf Alyxa bedeutete, dass er Dinge lernen würde, die die meisten anderen Menschen für absolut unmöglich hielten. Es bedeutete, dass er Lucy und Zoe wiedersehen würde.

Aber auch seine Widersacher. Xander zum Beispiel. Oder den Dekan. Aber irgendwie war sogar das in Ordnung. Er und John waren ja eigentlich erst wenige Tage vor dem Ende des Sommertrimesters auf die Schule gekommen, sodass sich das, was jetzt kam, wie ein Neubeginn anfühlte.

Die Straßen wurden allmählich voller. Immer mehr Menschen gingen ihrer ganz normalen Arbeit in einer ganz normalen Welt nach. Auf einem Wegweiser am Straßenrand stand einfach nur „Nach Westen“, mehr nicht. Finn lief ein leiser Schauer den Rücken hinunter, doch dann bog ihre Mutter an der nächsten Kreuzung nach links in eine lang gezogene Buchenallee ein.

„Wo willst du denn hin?“ Finn drehte sich um und starrte zurück zu dem Wegweiser.

„Nur ein kleiner Umweg“, erwiderte sie. Ihre Stimme klang ein kleines bisschen gereizt.

„Ich dachte, du willst vor dem Berufsverkehr aus der Stadt sein.“

Ihre Stimme wurde wieder weicher. „Wir haben noch genug Zeit.“

Die Allee wand sich hierhin und dorthin. Die Bäume am Straßenrand besaßen nur wenige Äste und noch weniger Blätter und wirkten daher irgendwie schwerfällig. Sie warfen lange Schatten auf die Straße, unterbrochen von blassgelben Sonnenstreifen. Finn rutschte unruhig auf der Rückbank hin und her. Er wusste, wo dieser Umweg sie hinführen würde, aber warum jetzt?

„Sie haben die Bäume geköpft“, sagte John und schaltete die Musik aus.

„Gekappt“, sagte Finn. „Nicht geköpft.“ Als sie das letzte Mal hier gewesen waren, da waren die Buchen doppelt so hoch und voller Blätter gewesen. „Damit wollen sie das Wachstum fördern.“

„Weiß ich doch.“

Der Wagen rollte durch ein breites Tor, dann knirschten die Reifen über den Schotterboden. Vor ihnen erhob sich ein Hügel voller grauer Steine.

„Kommt, Jungs.“ Ihre Mutter stellte den Wagen ab, steckte die Hand unter ihren Sitz und brachte einen Strauß gelber Rosen zum Vorschein. „Wir besuchen euren Dad.“

Der Blick von der Spitze des Friedhofshügels war sogar noch besser als der vom oberen Ende ihrer Straße. Die Türme Londons reckten sich gen Himmel, und die The Shard genannte futuristische Glasnadel fügte sich seltsamerweise nahtlos neben der historischen Kuppel der St. Paul’s Cathedral in das Panorama ein. Das London Eye wirkte wie ein kreisförmiges Portal in eine andere Welt, vorausgesetzt, man versetzte ihm den richtigen Schwung.

Das Grab ihres Vaters wurde von einem kleinen, einfachen Stein geziert, einem Granitblock, auf dem folgende Worte standen:

DONALWILLIAMS

33 JAHREALT

ZUFRÜHVONDIESERWELTGEGANGEN

RUHEINFRIEDEN, GELIEBTER

Finn und John sahen zu, wie ihre Mutter die Rosen an den Grabstein lehnte, und warteten ab, während sie die Hand sanft an ihre Lippen führte und dem Grabstein ein Luftküsschen zuwarf.

„Elf?“, fragte Finn.

Seine Mutter nickte. Ihre Wangen hatten sich gerötet, das konnte er trotz des Make-ups deutlich sehen. „Natürlich.“

Sie hatte ihnen die Geschichte schon hundert Mal erzählt. An ihrem ersten gemeinsamen Valentinstag hatte Donal seiner Harriet ein Dutzend rote Rosen geschenkt – oder besser, er hätte ihr ein Dutzend rote Rosen geschenkt, wenn er nicht so lange gewartet hätte, dass der Blumenladen keine roten mehr gehabt hatte. Und wenn er besser hätte zählen können. Und darum hatte er ihr von da an jedes Jahr wieder genau das geschenkt, was er ihr bei diesem ersten, schicksalhaften Anlass mitgebracht hatte: elf gelbe Rosen.

Das war die Geschichte, an die Finn sich gerne erinnerte. Die, mit der alles begonnen hatte, nicht die, mit der alles zu Ende gegangen war – die Geschichte des Autounfalls. Wobei er keine Einzelheiten kannte – John war erst zwei Jahre alt gewesen, als ihr Vater gestorben war, und Finn noch nicht einmal auf der Welt. Er wünschte sich oft, dass er seinen Vater noch kennengelernt, ihn wenigstens ein einziges Mal gesehen hätte.

Als sie jetzt vor dem Grab standen, ging ihm wieder die Frage durch den Kopf, die ihn den ganzen Sommer über beschäftigt hatte. Er wusste gar nicht genau, weshalb er sie so lange zurückgehalten hatte. Vielleicht aus Angst, seine Mutter zu verärgern. Vielleicht auch aus Angst vor der Antwort. Vielleicht war es einfach nicht die richtige Zeit, nicht der richtige Ort gewesen.

Aber wann und wo, wenn nicht jetzt und hier?

„Hat er über Alyxa Bescheid gewusst?“

Seine Mutter schob sich zwischen ihn und John und hängte sich bei ihnen ein. Gemeinsam starrten sie auf den Grabstein.

„Ja“, sagte sie schließlich. „Er hat es gewusst.“

Finn stockte der Atem. Es war eine Erleichterung, tatsächlich zu hören, was er schon immer geahnt hatte.

„Und über deine Kräfte?“

„Er hat alles gewusst. Und er hat alles akzeptiert. Aber er wollte, dass ihr eine ganz normale Kindheit habt. Das wollten wir beide.“

„Hat nicht besonders gut geklappt“, meinte John.

„Das stimmt. Hat es nicht.“

Einen kurzen Augenblick lang überlegte Finn, ob er auch die andere Frage stellen sollte, die Frage, die ihn beschäftigte, seit er das alte Foto gesehen hatte, das in Geraint Kildairs Arbeitszimmer an der Wand hing. Das Foto, auf dem es so wirkte, als seien der Mann, der später Dekan werden sollte, und seine Mutter mehr als nur gut befreundet gewesen. Wie nah habt ihr euch wirklich gestanden?

Doch er ließ den Augenblick verstreichen.

Stell niemals eine Frage, wenn du die Antwort gar nicht wissen willst.

Dann machte ihre Mutter sich los und trat zurück auf den Pfad. „Wir sollten jetzt gehen.“

„Gibst du mir noch eine Minute, bitte?“ Finn konnte sich noch nicht von dem Grab losreißen.

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Ich warte im Wagen.“

Eine Windbö pfiff über den Friedhof und verteilte die gelben Rosen in alle Richtungen. Mit behutsamen Schritten sammelte Finn sie wieder ein und legte sie zurück an ihren Platz. Dabei berührte er mit den Fingerspitzen den glatten Granit des Grabsteins.

Eine Art Stromschlag schoss seinen Arm entlang, heiß und kalt zugleich. Dann hörte er etwas, was wie ein Peitschenknall klang. Alle Härchen an seinem Arm stellten sich senkrecht.

Er taumelte nach hinten. Der Grabstein war verschwunden, und an seiner Stelle ragte jetzt ein haushoher, grauer, mit spiralförmigen Mustern verzierter Felsblock in die Höhe. Auf der Vorderseite, genau in der Mitte, war ein Sechseck eingraviert.

Nur mühsam konnte Finn sich auf den Beinen halten. Es kam ihm vor, als sei er geschrumpft, als sei seine ganze Umgebung mit einem Mal riesig geworden. Er war klein und unbedeutend, nichts als ein winziger Käfer, der über die Erdoberfläche krabbelte.

Der Felsblock wand sich hin und her, als würden sich Muskeln in seinem Inneren bewegen. Schatten huschten über seine Oberfläche – ein Gesicht, eine Hand – und verschmolzen schließlich zu einer männlichen Gestalt. Sie löste sich von dem Stein und machte einen Schritt auf Finn zu. Der Mann besaß einen kahl rasierten Schädel, und seine Wangen waren mit Tattoos übersät – Sechsecke, genau wie auf dem Felsblock. Seine Nase zuckte, aber sein Kinn war spitz und scharf. Er trug einen langen fließenden Mantel aus rauem braunem Stoff.

Morvan …

Die Gestalt machte einen zweiten Schritt auf Finn zu, und dann noch einen. Seine Lippen öffneten sich. Seine Stimme klang säuselnd, wie verwehende Asche.

„Biern …“, sagte er. „Komm zu mir …“

Finn machte den Mund auf, wollte etwas sagen, aber mehr als ein Stöhnen drang nicht über seine Lippen. Er taumelte rückwärts, weg von dem Felsblock, und konnte seinen Blick nicht von der Erscheinung lösen, die jetzt auf ihn zukam. In dem Moment, als Morvan erneut den Mund öffnete, blieb Finn mit den Füßen irgendwo hängen und landete auf dem Rücken. Schon im nächsten Augenblick schoben sich zwei starke Arme unter seine Achseln und halfen ihm auf.

„Sehr witzig.“

Benommen starrte Finn in Johns besorgtes Gesicht. Als er sich danach wieder umdrehte, war der Felsblock verschwunden, genau wie Morvan auch. Da waren nur noch das Grab seines Vaters und die Rosen.

„Was hast du gesehen?“, fragte er John.

„Dich, wie du komisch rumgezappelt hast.“

Er warf einen Blick zum Auto. Seine Mutter saß am Steuer und hatte anscheinend nichts von alledem mitbekommen.

Trotz seines Grinsens war John das Unbehagen deutlich anzusehen. „Ich dachte, ich wäre derjenige mit den seltsamen Anfällen. Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?“

Finns Puls beruhigte sich allmählich wieder. „Ich habe heute Nacht schlecht geträumt, und daran musste ich gerade wieder denken. Das ist alles.“

John versetzte ihm einen Klaps auf den Rücken. „Na los, fahren wir.“

Gemeinsam gingen sie den Hügel hinunter zu ihrer Mutter, die sie jetzt vierhundertfünfzig Kilometer weit wegbringen würde, zur Insel Anglesey in Wales. Dort würden sie die letzte Etappe ihrer langen Reise in Angriff nehmen.

Bis sie beim Auto waren, musste Finn ununterbrochen an das seltsame Wort denken, das Morvan ihm entgegengeschleudert hatte.

Biern.

Ob es das war, was Morvan damals im Tempel hatte sagen wollen, kurz bevor er unter einer Säule begraben worden war? Er hatte damals „Bahre“ oder „Bohrer“ verstanden und sich den ganzen Sommer über gefragt, was das wohl bedeuten konnte.

Biern.

Finn war sich sicher, dass die Antwort auf diese Frage irgendwo auf jener fernen Insel im Meer zwischen Wales und Irland zu finden war. Ja, dort warteten seine Freunde auf ihn, aber nicht nur sie, sondern auch all die ungelösten Rätsel, die er zurückgelassen hatte. All die Geister, die noch keine Ruhe gefunden hatten.

„Seid ihr so weit?“, erkundigte sich ihre Mutter, als sie sich ins Auto setzten.

„Auf jeden Fall“, erwiderte John.

Finn nickte und machte die Augen zu.

Alyxa – ich komme!

Es war schon kurz vor zwei, als sie die Küste bei Holyhead erreichten. Bis auf einen kurzen Zwischenstopp an einer Raststätte nahe der walisischen Grenze, wo sie einen fettigen Hamburger gegessen hatten, waren sie ununterbrochen gefahren. Beim Snowdonia-Nationalpark war die Sonne hinter einer dicken Wolkendecke verschwunden, und als sie schließlich an der nordwestlichen Spitze von Anglesey angelangt waren, hatte der Himmel eine bleigraue Färbung angenommen. Finn wünschte, er hätte seine wasserdichten Klamotten nicht ganz unten in seinen Koffer gepackt.

John stieg als Erster aus, dann kam Finn. Auf dem Weg zur Hafenmauer dehnte er die Beine und betrachtete das Hin und Her der zahllosen kleinen Boote auf der ruppigen grauen See. Der Wind blies ihm ins Gesicht, kalt und mit einem herben Salzgeschmack. Über seinem Kopf kreisten kreischende Möwen.

„Wo ist der Hubschrauber?“, fragte John und sah sich um.

Ihre Mutter lachte. Finn war froh, dass sich ihre Anspannung vom Morgen wieder gelegt hatte. Das alles musste ihr sehr schwerfallen.

„Den Hubschrauber setzt Alyxa nur zu besonderen Gelegenheiten ein“, sagte sie.

Zum Beispiel, wenn sie die Sinne irgendwelcher ahnungsloser Kinder mit ihren Überlastern lahmlegen, um sie zu entführen?, dachte Finn und musste an den Abend denken, als er und John zum ersten Mal auf die Insel gebracht worden waren. „Anscheinend haben sie uns ein Boot geschickt“, sagte er und behielt seine Gedanken für sich.

Er deutete auf einen schmalen, ins Meer ragenden Anleger, an dem ein kleines weißes Schiff mit zwei mächtigen Schornsteinen festgemacht hatte. An beiden Seiten, etwa in der Mitte, befanden sich große runde Hauben, unter denen sich allem Anschein nach Schaufelräder verbargen. Am Bug waren die Worte Irish Sea Tours zu lesen. Nur die vielen Kinder, die sich vor der Gangway zwischen dem Boot und dem Anleger drängten, verrieten, dass es sich um ein Alyxa-Schiff handelte. Besonders der Junge mit dem breiten Gesicht, der ständig mit Steinen nach den vorbeifliegenden Möwen warf.

Xander – ich hätte wissen müssen, dass du auch hier bist.

„Ist das ein Raddampfer?“, erkundigte sich John, während sie mitsamt ihren Koffern die Treppe zum Anleger hinuntergingen.

„Nicht zu glauben, dass das alte Ding immer noch schwimmt“, erwiderte ihre Mutter. Ihr wissendes Lächeln verriet, dass auch sie damals von eben diesem Schiff hinüber zur Schule gebracht worden war.

„Finn!“ Eine Hand wurde in die Luft gereckt, und ein Mädchen schob sich durch die Menge auf ihn zu. Die dunkle Brille und die roten Haare ließen keine Verwechslung zu … das war seine Freundin Zoe aus dem Sehsinnclan.

Finn umarmte sie zur Begrüßung. „Hübsche Sonnenbrille. Du weißt aber schon, dass es bald anfängt zu regnen, oder?“

Sie rückte die dicke schwarze Brille gerade. „Die ist doch irgendwie besser als die Schutzbrille, findest du nicht auch? Vielleicht gewöhnen sich meine Augen ja irgendwann noch so an die Welt, dass ich gar keine Brille mehr brauche.“

Ein anderes Mädchen tauchte in Zoes Rücken auf, auch mit roten Haaren und Sommersprossen.

„Hallo, Kylie“, sagte Finn.

Zu seiner Überraschung bekam er auch von Zoes großer Schwester eine Umarmung. Nun ja, er hatte ihr, zusammen mit ein paar anderen, das Leben gerettet, nachdem sie sie in den unterirdischen Höhlengängen unter Alyxa halb tot in einem grässlichen Glaszylinder voller Flüssigkeit entdeckt hatten. Aber das sah man ihr jetzt nicht mehr an. Kylie und Zoe sahen vielmehr so aus, als gehörten sie zu einer Girlband – Instagram, wir kommen! Ein kleines Tänzchen gefällig?

„Wie war dein Sommer?“, wollte Zoe wissen.

„Schön“, erwiderte Finn. Das stimmte, auch wenn der Sommer und London und sein altes Leben ihm im Moment sehr weit weg erschienen. „Und eurer?“

„Fantastisch!“ Zoe lächelte ihre Schwester an. „Wir waren die ganze Zeit zusammen.“

Finn konnte kaum glauben, dass das das gleiche zurückgezogene, ernsthafte Mädchen war, das er damals im Aufenthaltsraum der Fördergruppe kennengelernt hatte. Aber sie hatte dieses Glück mehr als verdient, schließlich hatten alle anderen das Schlimmste vermutet, nämlich, dass Kylie von der berüchtigten Südklippe der Insel in den Tod gesprungen war. Nur Zoe hatte nie aufgegeben und unverdrossen nach einem Beweis dafür gesucht, dass ihre Schwester noch am Leben war.

Jetzt schlurfte ein untersetzter Mann in einem grünen Wollpullover und einer orangefarbenen Schwimmweste über die Gangway und löste die Kette. Sofort strömten die Kinder auf das Schiff.

„Immer einzeln!“, versuchte er sich über das Geplapper hinweg Gehör zu verschaffen und schüttelte den Kopf. „Ich weiß wirklich nicht, wieso ich mich überhaupt Kapitän schimpfe.“

Finn drehte sich zu seiner Mutter um. Sie kämpfte mit den Tränen und sah ihn mit glitzernden Augen an.

„Pass auf dich auf“, sagte sie.

„Mach ich.“

„Und auf John auch.“

Finn warf seinem Bruder, der gerade mit ein paar Mitschülern aus dem Tastsinnclan herumalberte, einen Blick zu. Er konnte sich nicht erinnern, John jemals so entspannt gesehen zu haben. „Ich glaube, das ist mittlerweile nicht mehr nötig.“

Seine Mutter gab ihm einen Kuss auf die Stirn und lächelte. „Dein Vater wäre so stolz auf dich. Ich bin stolz auf dich.“

Während seine Mutter sich von John verabschiedete, gingen Finn und Zoe gemeinsam über die Gangway. Kylie war vor ihnen. Da hörte er, wie ein junges amerikanisches Pärchen auf dem Anleger den Mann in der Schwimmweste nach einer Fahrkarte fragte.

„Ausgebucht“, erwiderte der Kapitän. „Probieren Sie’s bei der Fähre dahinten.“ Er sah Finn an und zwinkerte ihm zu.

Zum Schutz vor dem Wind eng aneinandergedrückt zog das Pärchen sich zurück. Eine Bö drückte Finn gegen die Reling, und die hölzerne Gangway unter seinen Füßen geriet ins Schwanken. Dabei bemerkte er die Roststellen am Rumpf des Schiffes. Hoffentlich kommen wir heil ans Ziel. Wo immer dieses Ziel sein mochte … Er hatte die Irische See bei Google Maps aufmerksam studiert, aber selbst auf den Satellitenbildern war nichts als Meer zu sehen gewesen. Ob die Weiße Wand daran schuld war oder womöglich die mächtige Alyxa-Stiftung, die Insel kam jedenfalls auf keiner Karte vor.

Kaum hatte Finn das Deck des Schiffes betreten, spürte er eine Hand an seinem Ellbogen. Er drehte sich um, freute sich schon auf ein freundliches Gesicht, doch obwohl der Junge, der vor ihm stand, ihn fröhlich anlächelte, hatte Finn nicht das Bedürfnis, dieses Lächeln zu erwidern.

„Ben“, sagte er. „Bist du immer noch als Spion im Auftrag des Dekans unterwegs?“

Bens Lächelns erlosch. Er fummelte an der Anstecknadel für Clanvorsteher herum, die direkt unter dem sternförmigen Abzeichen des Geschmackssinnclans an seiner Jacke steckte. „Das war doch bloß ein Missverständnis. Die Dinge sind sehr viel komplizierter, als du glaubst. Vergeben und vergessen?“

„Bestimmt nicht.“ Finn zog seine Hand weg und starrte den Älteren so lange grimmig an, bis dieser sich abwandte.

Jetzt ertönte im Inneren des Schiffes ein tiefes Rumpeln, während das Deck unter seinen Füßen zu vibrieren begann. Die beiden Schornsteine stießen dicke Qualmwolken aus. Finn hielt sich an der Reling fest und sah, wie das mächtige Schaufelrad an der Schiffsseite sich in Bewegung setzte. Immer schneller und schneller drehte es sich, bis das graue Hafenwasser sich in glänzend weißen Schaum verwandelt hatte. Gemächlich löste sich das Schiff vom Anleger. Die zurückbleibenden Eltern fingen an zu winken und „Auf Wiedersehen!“ zu rufen. Finn sah, wie auch seine Mutter die Hand hob, und winkte zurück. Als sie schließlich fast nicht mehr zu sehen war, machte er sich auf den Weg zum Bug des Schiffes. Da kam plötzlich hinter einer Brüstung ein ausgestrecktes Bein hervor und erwischte ihn am Knöchel. Finn geriet ins Stolpern, fuchtelte wie wild mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, und hörte, wie hinter ihm ein schallendes, nur allzu bekanntes Lachen ertönte.

„Ich wollte bloß sehen, wie du ins Wasser knallst“, nölte Xander. Seine Stimme war tiefer, als Finn sie in Erinnerung hatte, aber das spöttische Grinsen saß immer noch genauso fest auf seinem flachen Gesicht wie im letzten Schuljahr.

„Hallo, Xander“, sagte Finn. „Ich hätte eigentlich gedacht, dass du über den Sommer ein paar neue Tricks gelernt hast.“

„Die alten sind immer noch die besten.“

„Gut zu wissen, dass du weiterhin so berechenbar bist. Wäre doch schrecklich, wenn du dich irgendwie weiterentwickeln würdest.“

Er ließ Xander mitsamt seiner missmutigen Miene stehen und ging weiter. Xander war ein richtiger Quälgeist, aber es hatte tatsächlich etwas Tröstliches zu wissen, dass er sich kein bisschen verändert hatte. Wie sagte seine Mutter immer? Lieber ein großes bekanntes Übel als ein kleines unbekanntes.

Er ging auf die Steuerbordseite, wo sich ein Junge an die Reling klammerte. Finn schätzte, dass er nicht älter als elf sein konnte. Er hatte den Reißverschluss seines Anoraks bis ganz nach oben und die grün-weiß gestreifte Pudelmütze weit über beide Ohren gezogen. Und er sah hundeelend aus. Finn wusste nicht mehr genau, wie er hieß. Robert oder Richard vielleicht?

„Schöne Mütze“, sagte Finn. „Was ist denn los? Du bist doch nicht jetzt schon seekrank, oder?“

Der Junge schüttelte den Kopf. „Ich will nach Hause.“

Finn versuchte sich vorzustellen, wie er sich wohl gefühlt hätte, wenn er so jung schon nach Alyxa gekommen wäre. Es war ihm ja schon mit dreizehn sehr schwer gefallen.

„Auf Alyxa ist es cool“, sagte er. „Du fühlst dich da bestimmt wohl.“

Der Junge nickte. „Ich bin ja schon seit zwei Jahren da. Bloß diese Abschiede, die mag ich überhaupt nicht.“

„In welchem Clan bist du denn?“

„Hören.“

„Die Schaufelräder machen einen ganz schönen Krach, stimmt’s?“

Der Junge lächelte tapfer. „Ohrenbetäubend.“

„Ich heiße Finn.“ Er streckte dem anderen die Hand entgegen, und dieser schlug ein.

„Weiß ich doch. Das wissen alle. Ich heiße Rufus.“

Dann standen sie nebeneinander an der Reling und sahen zu, wie die schäumenden Wellen am Schiffsrumpf entlangglitten. Finn überlegte, was Rufus mit „Das wissen alle“ gemeint hatte. Eigentlich war er sich sicher, dass nur die wenigsten erfahren hatten, was er unterhalb der Südklippe erlebt hatte. Aber was war es dann, was seine Mitschüler über ihn wussten? Zum ersten Mal, seit er das Schiff betreten hatte, war er ein klein wenig verunsichert. Vor ihnen lag die offene See wie eine wogende Einöde, die sie zu sich rief.

Mit jeder Stunde hingen die grauen Wolken noch tiefer, wurden die Wellen noch höher. Wir sind wie der Belag auf einem riesigen Sandwich, dachte Finn, während der Raddampfer sich schnaufend seinen Weg durch den schmalen Spalt zwischen Meer und Himmel bahnte.

Je höher die Wellen, desto mehr schwankte das Schiff von rechts nach links, von vorne nach hinten. Salzwasser spritzte Finn ins Gesicht. Er war noch nie im Leben seekrank gewesen, aber selbst ihm wurde jetzt ein bisschen schummerig. Er taumelte ein paar Schritte zurück und stieß mit dem Kapitän zusammen, der gerade aus einer Luke nach oben kam.

„Unten ist es besser“, sagte der grauhaarige Seebär.

Doch kaum war Finn unter Deck, da beschlichen ihn ernsthafte Zweifel. Der ganze Raum war voll mit stöhnenden Kindern und dem durchdringenden Gestank nach Erbrochenem. Nachdem er fünf Sekunden lang zugesehen hatte, wie Kylie Zoe den Rücken streichelte, während ihre Schwester sich in einen Eimer übergab, machte er kehrt und ging wieder nach oben. Vorsichtig lief er über das glitschige Deck, klammerte sich mit kalten Fingern an die Reling und ließ den Blick über die endlosen Weiten des Ozeans schweifen. Wellen hoben und senkten sich, duckten sich wie graue Schultern unter dem Himmel. Weiße Gischt klatschte an den Rumpf. Der Horizont war ununterbrochen in Bewegung und vollkommen leer. Weit und breit kein Land in Sicht.

Er hörte jemanden stöhnen und sah sich um. Xander beugte sich, gar nicht weit entfernt von ihm, über die Reling und übergab seinen kompletten Mageninhalt an das Meer. Noch bevor Finn etwas sagen konnte, schlenderte der Kapitän vorbei. Es sah aus, als würde er einen kleinen Morgenspaziergang im Park machen.

„Besser raus als rein“, lachte er und klopfte Xander auf den Rücken. Xander ließ nur ein röchelndes Stöhnen hören. „Mach dir nichts draus, in fünfzehn Minuten legen wir an.“ Er nickte Finn zu und betrat das Cockpit, wo der Steuermann gerade mit dem Ruder kämpfte.

Finn ließ den Blick noch einmal über das Meer schweifen. Wieder nichts.

Ganz in der Nähe, an der hinteren Ecke des Cockpits, stand John an der Reling und starrte in die rauschenden Wellen hinab. Er sah blass und verschlossen aus.

Mit leichten, lockeren Schritten – trotz des schwankenden Decks – trat Finn zu ihm. Insgeheim freute er sich darüber, dass sein Magen stärker war als der seines Bruders. „Pass auf, dass du nicht auf deine Schuhe spuckst“, sagte er.

„Ich bin nicht seekrank“, erwiderte John.

„Du kannst es ruhig zugeben, ist doch kein Problem.“

John wandte sich zu ihm, und da erkannte Finn, dass seine Augen feucht waren. „Ich hätte sie retten müssen.“

Es dauerte einen Augenblick, bis Finn begriffen hatte, was er meinte, aber dann sah er es deutlich vor sich, inmitten der schäumenden Gischt. John hatte an ihre Flucht aus Morvans überflutetem Tempel gedacht. Er hatte überlebt. Aber Adriana nicht.

„Es war nicht deine Schuld, John. Es war der sechste Sinn. Das Buch Morvans. Du konntest ja nicht wissen, was sie ausgelöst hat.“

John beugte erneut den Kopf. „Sie auch nicht. Aber ich hätte sie retten können. Und ich habe es nicht getan.“

Xander rutschte zentimeterweise näher an sie heran, während er sich mit dem Handrücken den Mund abwischte. „Wen hättest du retten können?“, wollte er wissen. „Adriana?“

„Geht dich nichts an“, entgegnete John.

„Ich hab gehört, dass sie ertrunken sein soll.“

„Verzieh dich, Xander“, sagte Finn. Er sah, wie sein Bruder mit weißen Knöcheln die Reling umklammerte.

„Zu schade, dass sie nicht schwimmen …“, fing Xander an.

Doch bevor er den Satz zu Ende bringen konnte, versetzte John ihm einen kräftigen Schlag gegen die Brust. Entsetzt sah Finn, wie Xander über die Reling kippte. Er schrie auf und wollte den Stürzenden festhalten, doch John war schneller. Er erwischte Xander an den Fußgelenken. Aus voller Kehle kreischend baumelte Xander jetzt knapp zwei Meter über der schäumenden Gischt.

„Kannst du schwimmen, du Hosenscheißer?“, brüllte John ihn an. „Na los, sag schon – kannst du schwimmen?“

Xander schrie aus Leibeskräften, ließ seiner Todesangst freien Lauf, und Finn fragte sich, ob es überhaupt eine Rolle spielte, ob er schwimmen konnte oder nicht. Wenn er in das eiskalte Wasser fiel, hatte er so oder so nur eine geringe Überlebenschance.

„Was weißt du darüber?“, machte John weiter. „Na? Was weißt du?“

„Ich weiß gar nichts!“, heulte Xander. Dann kreischte er noch lauter, als John seinen einen Fuß losließ und nur noch den anderen festhielt.

„John, nicht!“, sagte Finn. Er blickte sich um. Ein paar ihrer Mitschüler starrten sie fassungslos an. „John, kannst du mich hören?“

John blitzte ihn wütend an. „Natürlich kann ich dich hören. Du brüllst mir ja direkt ins Ohr.“

Eine Welle schwappte gegen den Schiffsrumpf, durchnässte Xander bis auf die Knochen, und auch die beiden Brüder wurden von einem Gischtregen überzogen. Finn spuckte eine Mundvoll Salzwasser aus. John hievte Xander über die Reling und ließ ihn mit einem lauten Platsch an Deck fallen. Dort rollte er sich japsend zu einer Kugel zusammen. John grinste Finn an. „War doch nur Spaß.“

Na klar, dachte Finn. Und die Irische See besteht aus feinster Limonade.

Da riss eine Windbö die Cockpittür auf. Stimmen drangen nach draußen, und trotz des ganzen Getöses, das ihn umgab, hörte Finn, dass es irgendwie um die Kompasspeilung ging. Dann beugte der Kapitän sich über sein Funkgerät.

„Wand heben!“

Finn kehrte Xander den Rücken zu und hastete ganz nach vorne an den Bug des Schiffes. Schnell hatte sich hinter ihm eine ganze Gruppe Mitschüler versammelt, viele mit käsebleichen, kränklichen Mienen, aber voller Erwartung. Da drängte sich Zoe bis zu Finn.

„Geht es dir besser?“, erkundigte er sich.

„Reden wir nicht darüber.“ Sie blickte nach vorne. „Aber das da kann ich gar nicht oft genug sehen.“

Direkt vor dem Bug spritzte eine Fontäne in die Höhe und prallte gegen ein unsichtbares Hindernis. Die Luft bebte. Ein Muster aus Lichtstrahlen überzog jetzt den Himmel, ein riesiges Spinnennetz, das Finns gesamtes Sichtfeld ausfüllte, bevor es einen Moment später wieder erlosch und in Sekundenbruchteilen von einem Schattengeflecht abgelöst wurde. Gespenstische Umrisse tauchten im Inneren der Düsternis auf, eine Insel, flach wie ein Scherenschnitt. Unsicher stand sie für einen kurzen Moment auf ihrer eigenen Kante, ein Atemzug, noch ein Atemzug, und dann, als hätten ihre Lungen sich schlagartig mit Luft gefüllt, lag sie fest und massiv vor ihnen. Die Wolken hoben sich, die Wellen erstarben, und dort, wo vorher der Horizont gewesen war, befand sich jetzt eine hochaufragende Klippe mit einer grasbewachsenen, von kreischenden Möwen umgebenen Kuppe. Wie durch ein Wunder war die Insel Alyxa vor ihren Augen erschienen.

Finn starrte sie mit offenem Mund an. Sie war genau so wild und zerklüftet, wie er sie in Erinnerung hatte, und mindestens zehnmal schöner. Über den Klippen erhoben sich die schimmernden, kantigen Formen des Alyxa-Schulgebäudes. Zwei Spitzen des sternförmigen Bauwerks waren klar und deutlich zu erkennen, die anderen lagen verdeckt dahinter. Noch weiter entfernt waren baumbedeckte Hügel und die steil aufragende Kuppe des Zentralmassivs zu sehen.

Die Schüler an Bord brachen in lauten Jubel aus.

„Wir sind da.“ Zoe griff nach Finns Hand und drückte sie fest. Schweigend sahen sie zu, wie das Schiff sich näher schob. Schließlich ließ Zoe Finns Hand los und zeigte auf das weithin sichtbare Schulgebäude. „Wir werden schon erwartet.“

Finn kniff die Augen zusammen und konnte auf dem Dach gerade so eben eine ameisengroße Gestalt erkennen, einen winzigen schwarzen Strich vor dem stählernen Grau des Himmels.

„Das ist der Dekan“, sagte Zoe.

„Bist du sicher?“

Sie rückte ihre Sonnenbrille gerade. „Absolut. Eigentlich müsste er doch was Besseres zu tun haben, als nach unserem Schiff Ausschau zu halten.“

Und obwohl Finn keinerlei Beweise dafür hatte, sagte ihm sein Instinkt, dass Geraint Kildair keineswegs nach dem Schiff Ausschau hielt.

Er hält Ausschau nach mir.

Der Raddampfer machte an einem kleinen Anleger fest. Finn spürte deutlich das Rucken, als der Rumpf des Schiffes an dem mit alten Autoreifen gepolsterten, hölzernen Pier entlangschrappte. Die Gangway wurde abgesenkt, und die Schülerinnen und Schüler schoben sich mitsamt ihren Koffern von Bord.

„Ich kann es gar nicht glauben, dass wir wieder hier sind“, sagte Zoe und starrte die steile Klippenwand hinauf.

„Wer als Erster da ist!“, rief Finn.

„Das wird dir noch leidtun“, sagte John im Vorbeilaufen.

Eine steile, in den Fels gehauene Treppe wand sich die Klippen hinauf. Zuerst versuchte Finn noch, mit John Schritt zu halten, aber es dauerte nicht lange, dann gab er auf. Die Windböen waren so heftig, dass er sich trotz des Eisengeländers die meiste Zeit dicht an die Felswand drückte. Völlig außer Atem kam er oben an. John war ihm bei den letzten Stufen sogar noch behilflich. Er sah kein bisschen angestrengt aus.

Da hörte Finn, wie jemand seinen Namen rief, drehte sich um und sah, dass Lucy ihm entgegengerannt kam. Sie hatte ein breites Grinsen im Gesicht, und ihr schwarzer Pferdeschwanz hüpfte auf ihren Schultern hin und her. Sie schlang Finn die Arme um den Hals, und er hörte Xander leise sagen: „Besorgt euch doch ein Zimmer.“

Lucy hatte es anscheinend nicht gehört, aber für Finn war es Grund genug, sich von ihr loszumachen. Lucy runzelte die Stirn. „Rieche ich schlecht, oder was ist los?“

Finn versuchte, sie durch sein Keuchen und Schnaufen abzulenken. „Kannst du deinem Dad nicht sagen, er soll mal einen Aufzug einbauen? Er ist doch angeblich so ein Technikgenie.“

„Du armes Baby“, erwiderte Lucy. „Hey, Zoe. Wie war dein Sommer?“

„Toll, danke“, sagte Zoe. Lucy umarmte auch sie.

Die übrigen Kinder waren bereits auf dem Weg zur Schule. Finn, Lucy und Zoe trotteten ihnen hinterher. Unterwegs begrüßten sie einen rotblonden älteren Jungen mit einer Clanvorsteher-Anstecknadel am Kragen.

„Hallo, Jermaine“, sagte Finn.

Jermaine beugte sich ihm entgegen und schnüffelte. „Immerhin bist du nicht seekrank geworden“, grinste er.

„Ich hab einen halben Eimer voll gemacht.“ Zoe verzog angewidert das Gesicht.

„Angeberin!“, meinte Lucy.

„Eure Gruppe war die letzte. Am besten bringt ihr erst mal das Gepäck auf eure Zimmer. In einer halben Stunde fängt die Versammlung an.“

Beim Ostschuppen – einer niedrigen Scheune, die direkt an einer Seitenwand des Schulgebäudes stand – holten sie die anderen ein. Der über der Tür ins Holz geschnitzte Affe signalisierte, dass hier der Tastsinnclan zu Hause war. Das raue Holz des Schuppens bildete einen deutlichen Gegensatz zu der glatten, silberfarbenen Außenhaut des Schulgebäudes.

Auf dem kleinen Vorhof vor dem Schuppen stand ein Mann und hackte Feuerholz, trotz des kühlen Wetters mit nacktem Oberkörper. Während er seine mächtige Axt auf die dicken Holzstücke herabsausen ließ, glänzten die Schweißtropfen auf seinen Muskeln.

Kylie flüsterte Zoe ins Ohr: „Gustavsson ist so ein Angeber.“

Finn musste ihr recht geben. Der Hüter des Tastsinnclans, Magnus Gustavsson, war eine beeindruckende Gestalt – vor allem, wenn man in der Gefelstick-Arena gegen ihn antreten musste –, aber er hatte Finn immer anständig behandelt.

Die Kinder kamen näher, und Gustavsson stützte sich auf seine Axt, wischte sich den Schweiß von der Stirn und winkte John zu, der mittlerweile von einem halben Dutzend Freunden umlagert wurde. „Herzlich willkommen, ihr Schüler des Tastsinnclans. Die Einteilung der Schlafräume erfolgt noch vor der Versammlung.“

„Ich muss auch los“, sagte Zoe. „Ich muss mich beim Sehsinnclan melden.“

Als alle anderen sich verdrückt hatten, sagte Finn zu Lucy: „Dann sind also nur noch wir beide übrig.“

„Bloß du, du Superhirn. Hast du das gar nicht mitgekriegt? Ich bin nicht mehr bei den Blindgängern.“

Finns erste Reaktion war Enttäuschung. Aber gleichzeitig war er froh, dass Lucy ihre Kräfte so weit wiedergefunden hatte, dass sie das schonende Umfeld der Fördergruppe verlassen und sich wieder dem Tastsinnclan anschließen konnte.

„Dann sehen wir uns also in der Versammlung, schätze ich“, sagte er.

„Ich winke dir zu.“

Finn sah ihr nach, wie sie mit hastigen Schritten ins Hauptgebäude ging. Eine Windbö blies ein paar Holzstückchen über den leeren Vorhof. Und einen Augenblick später kam Jermaine vorbeigelaufen.

„Du bist ja immer noch hier“, sagte der Clanvorsteher.

„Ich weiß nicht, wo ich hinsoll.“

Jermaine warf einen Blick auf sein Tablet. „Fördergruppe“, sagte er schließlich. „Was hast du denn gedacht?“

Mit hängenden Schultern schlich Finn los. Den Weg in die Fördergruppe fand er fast wie von selbst, Biegung um Biegung, durch chromverzierte Gänge und breite steinerne Tunnel. Das war das Merkwürdige an Alyxa – im einen Moment glaubte man noch, auf einer Art Raumstation gelandet zu sein, und im nächsten schon kam man sich vor wie in einem Burgverlies. Finn hatte keine Ahnung, wie lange die ältesten Teile des Gebäudes schon hierstanden – Jahrhunderte wahrscheinlich, wenn nicht sogar Jahrtausende. Im vergangenen Trimester hatten sie das eine oder andere über die Geschichte der Insel gelernt und unter anderem erfahren, dass seit den Zeiten der Römer Druiden auf Alyxa gelebt und gewirkt hatten.

Vor seiner alten Zimmertür blieb er stehen. Er zögerte. Die Tür war das Modell „Burg“, mit einem Rundbogen und bestehend aus schweren Holzbrettern. Daneben an der Wand hing die vertraute Plakette mit der Larve, dem Symbol der Fördergruppe. Finn legte die Fingerspitzen auf die runde Metallplatte. Ob sie wohl immer noch auf seine Fingerabdrücke reagierte? Als das Türschloss sich mit einem vernehmlichen Klicken öffnete, fühlte er sich nur noch elender.

Sein Zimmer sah genauso aus, wie er es in Erinnerung hatte. Schlichte graue Wände, ein winziges, viereckiges Fenster, kaum Möbel. Langweilig, langweilig, langweilig. Aber das war natürlich beabsichtigt. Das Zimmer sollte die Sinne so wenig wie möglich stimulieren, damit überforderte Schülerinnen und Schüler sich erholen und ihre Kräfte neu sammeln konnten. So wie Lucy und Zoe.

Oder um diese Kräfte überhaupt zu entdecken, so wie in seinem Fall.

Finn ließ sich auf das Bett plumpsen. Wie lange würde er wohl noch hier festhängen, er, der ewige Blindgänger mit seinen lächerlichen Fähigkeiten? Er kam sich vor wie der größte Trottel der ganzen Schule. Unruhig stand er wieder auf und ging im Zimmer auf und ab. Dabei sah er sich im Spiegel und blieb stehen.

Aber du hast doch Kräfte, oder etwa nicht? Du lügst sie doch an. Und dich selbst auch.

Finn wandte sich ab. Das schlechte Gewissen legte sich wie ein Ring um seine Brust. Während der Ferien hatte er oft daran gedacht, was in Morvans Tempel geschehen war, als sein Bewusstsein sich irgendwie … von ihm losgelöst hatte. Fast so, als hätte sein Geist seinen Körper verlassen und wäre in Morvans eingedrungen. Doch je mehr er versucht hatte, sich genau an die Ereignisse zu erinnern, desto unsicherer war er geworden. War das denn wirklich eine besondere Begabung? Hatte er das bewusst herbeigeführt?

Er versuchte, diese Gedanken wieder abzuschütteln. Es war angenehmer, einfach so zu tun, als sei das alles niemals passiert. Denn nach allem, was er gelesen und gehört hatte, war diese spezielle Kraft etwas sehr Gefährliches. Die Fähigkeit, zwischen verschiedenen Körpern hin und her zu wechseln, war eine geächtete Praxis, die nur von den Jüngern des sechsten Sinnes angewandt wurde. Sie war seit den Tagen Morvans auf Alyxa streng verboten.

Wenn das stimmt, dann brauche ich mir keine Gedanken darüber zu machen, dass ich immer noch ein Blindgänger bin. Dann habe ich nämlich ganz andere Probleme.

Finn machte den Schrank auf und nahm einen grauen Jogginganzug vom Kleiderbügel. Daneben hingen noch mehrere von derselben Sorte. Als er hineinschlüpfte, hörte er aus dem Nebenzimmer einen Knall. Erleichtert machte er die Tür auf … wenigstens war er in diesem Jahr nicht der einzige Schüler in der Fördergruppe.

Doch dann erlosch sein Lächeln schlagartig, weil nämlich niemand anders als Xander dort die Sessel hin und her schob.

„Was machst du denn hier?“, wollte Finn wissen.

Xander lief knallrot an. „Kein großes Ding. Wenn du dich bis zum Äußersten verausgabst, dann brauchst du eben mal ein bisschen Erholung.“

„Du hast es übertrieben? In den Ferien?“

„Ich hab in den Ferien wahnsinnige Sachen gemacht! Aber unsere Kräfte sind wie Muskeln. Manchmal müssen sie sich erholen. Na ja, woher sollst du das auch wissen.“

„Ist schon okay, Xander“, sagte Finn. Einerseits war es eine grässliche Vorstellung, mit Xander zusammenzuwohnen, andererseits aber empfand er auch eine klammheimliche Freude darüber, dass der Schultyrann offensichtlich doch nicht so ein toller Hecht war, wie er selbst glaubte. „Du hast eben deine Kräfte verloren. Kann jedem mal passieren.“

Xanders Gesicht war mittlerweile dunkelviolett geworden, doch noch bevor er etwas erwidern konnte, ertönte im Flur eine Klingel.

„Versammlung“, sagte Finn und ging zur Tür. „Wir müssen los, sonst kommen wir zu spät.“

Der riesige, fünfeckige Saal wirkte seltsam düster. Finn legte den Kopf in den Nacken und sah, dass sich eine dicke graue Wolkenschicht vor die Oberlichter geschoben hatte. Die fünf Flaggen, jede so groß wie ein Schiffssegel und mit den verschiedenen Tiersymbolen der einzelnen Clans bedruckt, hingen schlaff von der Decke. Die gestaffelten Holzbänke waren bereits mit wartenden Schülerinnen und Schülern gefüllt. Finn und Xander gehörten zu den Letzten, die ihre Plätze ansteuerten.