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Deine Bestimmung ist dein Schicksal Auf der geheimnisvollen Schule der Alyxa werden Jugendliche ausgebildet, deren fünf Sinne auf übernatürliche Weise ausgeprägt sind. Als Finn dort aufgenommen wird, ist er skeptisch – denn seine angeblichen Fähigkeiten lassen auf sich warten. Gehört er wirklich hierher? Doch dann entdeckt Finn, dass die Schule eine dunkle Vergangenheit hat. Kann es sein, dass der mächtige sechste Sinn mehr ist als nur eine Legende? Entdecke alle Abenteuer rund um "Die Schule der Alyxa": Band 1: Der dunkle Meister Band 2: Morvans Erbe Band 3: Der sechste Sinn Entdecke auch die neue Reihe von R. L. Ferguson: "Catacombia"! Band 1: Abstieg in die Tiefe Band 2: Grimorgas Erwachen Band 3: Hüter der Flamme
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Seitenzahl: 381
Als Ravensburger E-Book erschienen 2018Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2018 Ravensburger Verlag GmbHOriginaltitel: Alyxa, Book 1: The Dark Master© Working Partners Ltd.Übersetzung: Leo StrohmUmschlaggestaltung: Frauke Schneider unter Verwendung von Motiven von depositphotos/yuriy2design, depositphotos/galdzer und depositphotos/davemhuntphotoVignetten im Innenteil: Adobe Stock/Alexander Potapov und Adobe Stock/paunovicAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-47921-4www.ravensburger.de
Mit besonderem Dank an Graham Edwards
Finn hätte gar nicht genau sagen können, was eigentlich schlimmer war – die erbarmungslos stampfende Partymusik oder die sterile Stille des Krankenzimmers. Irgendwie kam es ihm so vor, als würde das leise Piepsen der Herzüberwachung die Lautlosigkeit sogar verstärken. Aber zumindest bedeutete das Piepsen, dass sein Bruder noch am Leben war.
Er warf einen Blick auf sein Handy – 02.30 Uhr. Das letzte Mal war er an Silvester so lange wach gewesen. Sie hatten sich mit Fastfood und Naschkram vollgestopft und Brettspiele gespielt, nur Finn, John und ihre Mum. John war aufgedreht und lustig gewesen und hatte seit Monaten keinen Anfall mehr gehabt. Aber all das kam Finn jetzt unendlich weit weg vor.
Er schloss die Augen, doch dann wurde er sofort von den Erinnerungen an die Ereignisse des Abends überfallen. Sie hatten sich so auf diese Party gefreut – genau das Richtige, um den Abschluss des Schuljahrs zu feiern. Die wummernde Musik aus den fetten Boxen, die geöffneten Terrassentüren, der Garten mit dem beheizten Swimmingpool, die vielen bekannten Gesichter, lachend und fröhlich.
Aber dann war es passiert.
John, der sich bis dahin genauso gut amüsiert hatte wie alle anderen, war in der Küche auf die Knie gesackt und hatte mit den Fäusten gegen die Schränke getrommelt. Die Sehnen an seinem Hals waren zu dicken Stricken angeschwollen. Zuerst hatten die Leute das Ganze für einen Scherz gehalten, aber als sie das Blut auf seinen Knöcheln gesehen hatten, war das Gelächter verstummt. Das Dröhnen aus den Lautsprecherboxen war immer lauter und lauter geworden, bis sie irgendwann mit einem ohrenbetäubenden Kreischen explodiert waren und sämtliche Fenster in der Nähe zum Platzen gebracht hatten. Alle waren hastig irgendwo in Deckung gegangen, nur Finn hatte nach einem Notarzt gebrüllt und Johns schweißnassen Kopf in seinen Schoß gelegt.
An das, was danach passiert war, konnte er sich nur noch verschwommen erinnern. Die blinkenden Lichter, das Ende der Party, die routinierten Handgriffe der Sanitäter, die sich im Notarztwagen um seinen Bruder gekümmert hatten.
„Sollen wir eure Eltern anrufen?“, hatte eine der Krankenschwestern gefragt, während John bereits in die Notaufnahme des Resus Hospitals gerollt wurde.
Finn hatte sie einen Augenblick lang ratlos angestarrt und geantwortet: „Wir haben nur Mum. Ich hab’s schon bei ihr probiert, aber bei der Arbeit stellt sie das Handy immer aus.“
„Sollen wir es vielleicht auch noch mal versuchen?“
Finn hatte genickt und ihr die Nummer gegeben.
Eine gezackte Linie zuckte über den Monitor. Das war Johns Pulsschlag. Das Gesicht seines Bruders war nur halb zu erkennen, weil die Atemmaske die untere Hälfte komplett bedeckte. Trotzdem, die Risswunde über Johns Auge und der dicke blaue Fleck auf seiner Wange waren nicht zu übersehen.
Finn fuhr über das Pflaster, das seitlich an seiner linken Hand klebte. Er hatte sich an einer Glasscherbe geschnitten. Weshalb die Fensterscheiben nach innen und nicht nach außen zerplatzt waren, konnte er sich beim besten Willen nicht erklären, aber auch dafür hatte er jetzt keinen Kopf. Sie warteten auf das Ergebnis der Computertomografie. Bis dahin musste John auf jeden Fall die Halskrause tragen, für den Fall, dass er sich an der Wirbelsäule verletzt hatte. Und wer weiß, vielleicht hatte sein Gehirn ja irgendwelche Schäden abbekommen? Und alles bloß wegen so einer bescheuerten Party!
Wo blieb eigentlich Mum? Er konnte die Warterei nicht mehr länger ertragen. Er musste jetzt ihre schützenden Arme spüren, musste ihre Stimme hören, die ihm sagte, dass alles in Ordnung sei. Aber gleichzeitig hatte er Angst davor, ihr zu begegnen. Weil sie eine Erklärung verlangen würde. Ihnen war beiden klar gewesen, dass Mum ihnen niemals erlaubt hätte, auf diese Party zu gehen. Darum hatten sie es ihr gar nicht erst gesagt.
Als dann endlich die Tür geöffnet wurde, sprang Finn erwartungsvoll auf und schob den Stuhl mit lautem Kreischen über den Fußboden. Doch nicht seine Mutter betrat das Zimmer, sondern ein groß gewachsener Mann mit ergrauenden Haaren und scharfkantigen Wangenknochen. Er trug einen schiefergrauen Anzug ohne Krawatte und hatte das Hemd aufgeknöpft.
Wahrscheinlich ein Facharzt oder so, dachte Finn.
Der Mann musterte John mit einem raschen Blick, dann widmete er sich den Krankenblättern, die am Fußende des Bettes befestigt waren. Finn zupfte an dem Pflaster an seiner Hand herum und fragte sich, wie lange der Mann ihn wohl noch ignorieren wollte.
„Du bist der Bruder?“, sagte der Facharzt, ohne sich umzudrehen.
Finn nickte. „Ja.“
„Sehr gut. Ich möchte dir ein paar Fragen zu den Ereignissen des heutigen Abends stellen. Einverstanden?“
Finn trat von einem Fuß auf den anderen. „Klar.“ Also, von guten Manieren schien der Typ jedenfalls nicht viel zu halten.
Der Mann sah sich die Krankenblätter an und fühlte anschließend Johns Puls. Das war seltsam. Schließlich war der Herzschlag seines Bruders auf dem Monitor klar und deutlich zu erkennen.
„So etwas ist ihm schon öfter zugestoßen, ja?“, fragte der Facharzt und ließ Johns Arm ein wenig zu grob wieder auf das Bett zurückfallen.
„Aber so schlimm war es noch nie“, erwiderte Finn, noch bevor er sich fragen konnte, was dieser Arzt eigentlich wusste – und woher.
Er dachte zurück an den Tag, als John das Treppengeländer zerbrochen hatte. Damals hatte er nur gedacht, dass es eben die Begeisterung gewesen war, weil Arsenal in der Verlängerung noch das Siegtor gemacht hatte. Aber dann, nur eine Woche später, hatte John während eines Gewitters plötzlich angefangen zu weinen. Oder die Sache mit den Straßenarbeiten vor ihrem Haus? Da hatte Finn seinen Bruder im Badezimmer entdeckt, wo er sich vor Schmerzen auf dem Boden gewälzt hatte. Mum hatte ihn zu mehreren Ärzten geschleppt und sie hatten alle möglichen Tests mit ihm durchgeführt, aber ohne jedes Ergebnis. Danach waren mehrere Monate ohne einen Vorfall vergangen.
Wahrscheinlich hatten sie alle gehofft, dass es von selbst vorbeigegangen war. Aber das war es nicht.
„Dann war das also bis jetzt der extremste Vorfall?“, erkundigte sich der Facharzt.
„Ja.“
Der Mann beugte sich über Johns Kopf … und dann machte er etwas außerordentlich Seltsames. Er schnüffelte.
„Hat man die Polizei gerufen?“
Johns Herzschlag hüpfte über den Bildschirm. Der Mann im Anzug stand regungslos da und sein Gesicht, das sich im Bildschirm spiegelte, wirkte völlig emotionslos.
„Ich nicht, aber vielleicht jemand anders. Jedenfalls ist ziemlich viel kaputtgegangen.“
„Wie viele Zeugen?“
Finn zuckte mit den Schultern. Zeugen? Es war doch kein Tatort. „Auf der Party waren mindestens vierzig Leute.“
Der Facharzt ließ die Krankenblätter sinken, machte einen Schritt auf Finn zu und baute sich vor ihm auf. Zum ersten Mal sah er ihn direkt an und im selben Augenblick wurde Finn klar, dass dieser Kerl ganz bestimmt kein Facharzt war. In seinem Blick lag keine Spur von Wärme oder Freundlichkeit. Im Gegenteil, seine Augen wirkten irgendwie … gierig. „Und du? Hast du jemals ähnliche Symptome gezeigt wie dein Bruder?“
Finn erschrak und wich zurück, bis er mit den Beinen gegen den Stuhl stieß.
„Was hat das denn mit mir zu tun? Mein Bruder ist doch …“
„Ich habe dich etwas gefragt. Hast du jemals etwas Ähnliches erlebt?“
Finn hatte jetzt die Schnauze voll. Er richtete sich ein wenig auf. „Entschuldigung, aber wer sind Sie eigentlich?“, fragte er.
Der Mann verzog seine schmalen Lippen zu einem Lächeln. Finn hielt seinem Blick stand.
Da ging erneut die Tür auf. Nie war Finn froher gewesen, seine Mutter zu sehen. Mit klappernden Absätzen, das elegante Kleid völlig zerknittert, kam sie hereingehastet. Ihr Make-up war durch die Tränen völlig verschmiert.
Finn drängte sich an dem fremden Mann vorbei. „Mum!“
„Ich komme direkt von der Weinprobe“, sagte sie, ohne den Fremden zu beachten. „Es hat so lange gedauert. Ich dachte … Dann habe ich deine Nachrichten gelesen.“ Ihr Blick fiel auf John. „Oh, mein armer Junge!“
Sie eilte ans Bett und nahm Johns aufgeschürfte Hände in ihre. „Finn … was ist passiert?“
„Wir waren auf einer Party“, sprudelte die Wahrheit aus ihm heraus. „Die Musik war so laut … ich weiß nicht … John hatte wieder einen Anfall.“ Sie zuckte ein wenig zusammen. „Ich wünschte, wir wären da nicht hingegangen.“
Der Mann, der kein Facharzt war, machte leise die Tür zu. Von innen. Dann faltete er die Hände vor dem Bauch und sagte: „Hallo, Harriet.“
Finn starrte ihn fassungslos an, während es im Zimmer schlagartig eiskalt zu werden schien. Er kennt sie. Und eigenartigerweise drehte Mum sich nicht einmal zu ihm um.
„Dieses Mal ist es ohne schwere Verletzungen ausgegangen“, fuhr der Mann fort. „Aber wir haben dich immer wieder gewarnt, dass so etwas irgendwann passieren würde, Harriet.“
Er trat einen Schritt auf sie zu. Finn sah, wie seine Mutter die Zähne aufeinanderpresste, und versperrte dem Mann den Weg. Wieso redete er so mit ihr?
„Wer sind Sie?“, wollte er wissen.
Da ertönte vom Bett her ein leises Stöhnen und sie wandten sich alle John zu. Finns Bruder zog sich die Atemmaske vom Gesicht und sah sie mit feuchten Augen an.
„Ist jemand gestorben?“, krächzte er.
„Oh, John!“ Mum ignorierte den Fremden immer noch und streichelte ihrem Sohn stattdessen über die zerzausten Haare. Tränen rannen ihr über die Wangen und tropften auf Johns Gesicht.
„Harriet“, sagte der Mann mit großem Nachdruck. „Ich muss mit dir reden!“
„Sehen Sie eigentlich nicht, dass sie völlig fertig ist?“, widersprach Finn.
Er hätte gerne noch mehr gesagt, aber jetzt ließ seine Mutter Johns Hände los, erhob sich und berührte Finn mit den Fingerspitzen an der Schulter. „Ist schon in Ordnung.“
Sie holte ein Papiertaschentuch aus ihrer Tasche und tupfte sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Du bleibst bei deinem Bruder“, sagte sie zu Finn. „Ich bin gleich wieder da.“ Dann wandte sie ihm und John den Rücken zu und folgte dem Mann nach draußen.
Finn wäre ihnen am liebsten nachgegangen, aber er riss sich zusammen. John stemmte sich auf die Ellbogen, was ihm wegen der Halskrause ziemlich schwerfiel.
„Was ist denn eigentlich passiert?“ wollte er wissen.
„Kannst du dich an gar nichts mehr erinnern?“, fragte Finn zurück.
John runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht mal, wie ich hierhergekommen bin.“
Finn sah sich die Schürfwunde auf Johns Wange an. „Was macht dein Kopf?“
„Brummt wie verrückt.“
„Kannst du dich überhaupt an irgendwas erinnern?“
„Laute Musik. Blitzende Lichter.“ Er grinste. „Ein süßes blondes Mädchen.“
„Mehr nicht?“
John runzelte erneut die Stirn. „Ich weiß noch, dass ich jede Menge Spaß gehabt habe.“
Finn hörte die gedämpften Stimmen seiner Mutter und des Fremden draußen auf dem Flur. Sie stritten sich.
Er trat ans Fenster neben der Tür und schob die Jalousie ein Stückchen zur Seite. Durch die Lücke sah er, wie seine Mutter mit den Armen fuchtelte. Sie wirkte wütend. Ihre Worte konnte er nicht verstehen. Wenn er das Gefühl gehabt hätte, dass der Mann sie irgendwie bedrohte, dann wäre er nach draußen gegangen, aber der Mann stand nur regungslos da, die Arme vor der Brust verschränkt, und hörte zu. Wenn er etwas sagte, dann waren es lediglich kurze Sätze. Seine Miene blieb wie versteinert und manchmal schüttelte er kaum merklich den Kopf. Irgendwann ließ Finns Mutter die Schultern sinken und verstummte. Der Mann sagte noch etwas, dann starrte sie ihn lange an, bis ihre Verkrampfung sich schließlich löste. Sie nickte.
Finn drehte sich um, als er es im Bett rascheln hörte. Sein Bruder setzte sich gerade auf. Noch bevor Finn bei ihm war, hatte John die Klettverschlüsse der Halskrause gelöst und das ganze Ding abgenommen.
„Du solltest sie lieber dranlassen“, sagte Finn, doch John warf die Halskrause hinter die Herzüberwachung, sodass sie außer Reichweite war.
Jetzt kam ihre Mutter wieder herein, aber ohne den Mann.
„Mum, sag’s ihm“, sagte Finn. „Er kann doch nicht einfach …“
„Sei mal für einen Moment still, Finn. Wir haben nicht viel Zeit.“
„Zeit?“, erwiderte Finn. „Wofür denn Zeit? Was soll das heißen?“
„Ich kann euch jetzt nicht alles erklären.“
Irgendetwas an ihrer ganzen Art jagte ihm kalte Schauer über den Rücken. Ihre dumpfe Stimme, ihr fahles Gesicht.
„Mum?“, sagte John.
Sie legte die Hände an die Schläfen. Finn musste dabei sofort an John denken. So sah auch er jedes Mal aus, bevor er einen Anfall bekam. Doch dann ließ sie die Arme wieder sinken.
„Ich würde es euch gerne ausführlich erklären“, sagte sie. „Wirklich. Aber sie wollen nicht warten. Ihr müsst mir einfach vertrauen.“
Finn warf seinem Bruder einen Blick zu, erntete jedoch nur ein schwaches Achselzucken. „Vertrauen? Wie meinst du das? Mum, wer war der Mann?“
„Ihr müsst ihn begleiten“, sagte sie. „Und zwar beide.“
Finn machte den Mund auf, doch die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Kein Laut drang nach draußen. Er suchte den Blick seiner Mutter, aber sie hielt den Kopf gesenkt und starrte auf den Boden vor ihren Füßen.
„Ich habe versucht, euch zu beschützen“, fuhr sie fort. „Jahrelang habe ich es versucht. Aber jetzt kann ich nicht mehr.“ Sie holte tief Luft und dann endlich blickte sie Finn an. „Es gibt da eine Schule. Die nimmt euch beide auf, aber ihr müsst sofort abreisen. Es ist das Beste für euch, das könnt ihr mir glauben, das Allerbeste. Dort wissen sie genau, welche Bedürfnisse ihr habt. Dort wird man sich um euch kümmern.“
„Mum?“ John rieb sich den Nacken. „Du redest wirres Zeug. Ist alles in Ordnung mit dir?“
Finn starrte sie nur an. „Was für eine Schule denn? Wir gehen doch auf die St. Luke’s.“
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, Finn.“
„Aber ich verstehe das nicht!“, sagte Finn und ärgerte sich gleichzeitig darüber, wie weinerlich sich seine Stimme anhörte.
Seine Mum sah mehr als traurig aus. Sie war am Boden zerstört und wies mit dem Kopf in Richtung Tür.
„Dieser Mann da, er heißt Geraint Kildair. Er arbeitet für die Schule. Deshalb ist er hier. Er nimmt euch mit.“
Nimmt uns mit?
„Können wir noch unsere Sachen packen?“ Johns Stimme klang müde und verwirrt.
Sie schüttelte erneut den Kopf. „Tut mir leid. Ich weiß, das muss ein fürchterlicher Schock sein …“
„Ein Schock?“, platzte Finn heraus. Das ganze Zimmer fing mit einem Mal an, sich zu drehen, und ihm wurde schlecht. „Soll das ein Witz sein?“
„Ich wünschte, ich könnte es euch erklären, ganz ehrlich.“
Sie löste sich vom Türrahmen, trat ans Bett und drückte John einen Kuss auf die Wange. Dann wandte sie sich Finn zu. Er wich zurück. Nichts, was sie sagte, ergab irgendeinen Sinn, aber wenn sie ernsthaft glaubte, dass er sich von so einem unheimlichen Typen freiwillig von hier wegbringen ließ, dann hatte sie nicht mehr alle Tassen im Schrank.
„Wo ist diese Schule überhaupt?“, wollte John wissen.
„Alyxa“, sagte ihre Mum im Flüsterton. „Sie heißt Alyxa.“
Finn wich immer weiter zurück, bis er gegen die offen stehende Zimmertür stieß. Sie schwang zur Seite und er kam ins Stolpern, wäre beinahe gestürzt. Die Zimmerwände schienen immer näher zu rücken, schienen ihn erdrücken zu wollen.
Seine Mutter streckte die Hand nach ihm aus. Ihre Fingerspitzen streiften seinen Handrücken und Finn konnte nicht anders, er musste fliehen. Also machte er auf dem Absatz kehrt und rannte hinaus.
„Finn!“, rief sie ihm hinterher. „Komm zurück!“
Er rannte auf den Flur und prallte dort mit Kildair zusammen. Dieser stieß ein leises Stöhnen aus und wollte ihn festhalten, aber Finn duckte sich und rannte weiter. Er wusste nicht, wohin, er wusste nur, dass er wegwollte. Raus hier. Er kam an einem Getränkeautomaten vorbei und an ungefähr hundert Hinweisschildern für irgendwelche Krankenhausabteilungen. Dann sah er in der Ferne eine Doppeltür und darüber ein Schild. Darauf stand: ZUM AUSGANG.
Finn stürmte durch die Tür und fand sich in einem großzügigen Foyer mit vier Fahrstuhltüren wieder.
Er rang um Atem und ihm war ein bisschen schwindlig. Trotzdem lief er zu den Fahrstühlen und drückte auf jede einzelne Taste. Das kann doch alles nicht wahr sein. Völlig ausgeschlossen! Ein Schild an der Wand teilte ihm mit, dass er sich im dritten Stock befand. Und nach den Leuchtziffern zu urteilen, hing einer der Fahrstühle gerade im Keller, während die anderen drei aus höheren Stockwerken auf dem Weg nach unten waren.
„Nun mach schon!“, rief er und drückte noch einmal auf die Taste.
Der grauhaarige Mann kam um die Ecke gebogen, bedrohlich und locker zugleich. Irgendwie erinnerte er Finn an einen Leoparden auf der Jagd. Seine Miene drückte eine Mischung aus Anspannung und Verärgerung aus.
„Finn“, sagte Kildair. „Mit Weglaufen erreichst du gar nichts.“
Zischend öffnete sich eine Fahrstuhltür. Finn stürzte in die Kabine und drückte die Erdgeschosstaste. Unendlich langsam verstrichen die Sekunden, bis die Türen endlich zuglitten. Finn rechnete eigentlich jeden Moment damit, dass sich ein Fuß in die Öffnung schob, aber nichts dergleichen geschah. Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Außer ihm war noch jemand in der Kabine – ein Mädchen. Ihre Ohren waren voller silberner Piercings und am Kragen ihrer Jeansjacke steckte ein silbernes Abzeichen in Form eines fünfzackigen Sterns. Sie machte eine pinkfarbene Kaugummiblase und lehnte lässig an der verspiegelten Rückwand.
Das Handy in Finns Hosentasche vibrierte, einmal, zweimal, dreimal. Er beachtete es nicht.
„Willst du nicht rangehen?“, fragte das Mädchen. Sie machte noch eine Blase, ließ sie platzen und kaute weiter.
Wie hat sie das bloß gehört? Finn holte das stumm geschaltete Handy aus seiner Tasche. Es war seine Mum. Er drückte sie weg.
Das Mädchen grinste. Sie sah ein paar Jahre älter aus als Finn – siebzehn oder so –, war aber kaum größer als er. Die Augen hatte sie mit einem schwarzen Eyeliner umrandet und ihre dunklen Haare waren kurz und stachelig.
„Lass mich raten. Du bist Finn, stimmt’s? Der Bruder.“
Der Bruder. Genau das hatte Kildair auch gesagt … und das sogar in demselben, leicht abfälligen Tonfall.
„Was? Woher weißt du …?
Das Mädchen steckte die Hand ins Innere seiner Jacke und zog einen kurzen Stock hervor. Er sah aus wie ein Staffelstab, nur in Schwarz. Und außerdem hatten Staffelstäbe keine silbernen Tasten an einem Ende.
„Was ist das?“, fragte Finn und zog sich in eine Ecke der Fahrstuhlkabine zurück.
„Tut mir leid, Kleiner“, erwiderte das Mädchen.
Sie drückte auf eine der Tasten und am vorderen Ende des Stabes zuckte ein rotes Licht auf. Es bohrte sich in Finns Schädel, trampelte sein Schwindelgefühl nieder und ließ grelle Feuerzungen lodern.
Schlagartig kam Finn wieder zu sich. Er konnte nichts sehen. Etwas Weiches strich ihm über die Augenbrauen. Er wollte es wegwischen, konnte jedoch seine Arme nicht bewegen. Ein dumpfes, hämmerndes Geräusch dröhnte in seinen Ohren.
Tschump-a-tschump-a-tschump.
„Warte doch mal“, sagte eine Stimme. „Und zappel nicht so rum.“
Irgendjemand machte sich an seinem Hinterkopf zu schaffen und nahm ihm schließlich das schwarze Tuch von den Augen. Finn blinzelte.
Als er wieder einigermaßen klar sehen konnte, stellte er fest, dass er durch ein Fenster auf eine dunkle Landschaft starrte. Der Himmel war pechschwarz, aber wenn er den Kopf nach rechts drehte, dann waren dort bereits die ersten Ansätze der beginnenden Dämmerung zu erkennen.
Tschump-a-tschump-a-tschump.
Finn blickte sich um. Er saß in einer Hubschrauberkabine. Rundliche Wände mündeten in eine niedrige Decke. Auf einem elektronischen Display war so etwas wie eine Satellitenkarte zu erkennen, die sich langsam bewegte. Die ganze Kabine zitterte unter dem Rattern der Rotorblätter. Sogar sein Sitz vibrierte. Seine Handgelenke waren mit dünnen Bändern an den Armlehnen festgebunden, seine Füße am Sockel. Als er sich gegen die Fesseln stemmte, schnitten sie schmerzhaft in seine Haut.
John saß links neben ihm, entweder schlafend oder bewusstlos, jedenfalls baumelte sein gesenkter Kopf auf seiner Brust hin und her. Allerdings war er, im Gegensatz zu Finn, nicht gefesselt.
Ihnen gegenüber saßen der dünne Mann aus dem Krankenhaus und ein rotblonder Junge, der vielleicht siebzehn Jahre alt war. Kildair blickte zum Fenster hinaus, aber der Junge starrte Finn ununterbrochen an. Seine Nasenflügel bebten.
Finn versuchte, seine aufkommende Panik zu unterdrücken, und zerrte erneut an seinen Fesseln.
„Ganz ruhig“, sagte der Junge. „Du brauchst keine Angst zu haben.“
„Ich hab keine Angst“, blaffte Finn ihn an.
„Echt nicht? Dabei riechst du, als wärst du fast wahnsinnig vor Angst.“
„Bindet mich los!“ Als Finn wieder an seinen Fesseln zerrte, wurde ihm erneut schummerig.
„Wir waren gezwungen, dich zu fesseln, zu deinem eigenen Schutz. Du kommst gleich frei, sobald der Überlastungsimpuls abgeklungen ist.“
Aus dem Gefühl völliger Hilflosigkeit heraus spannte Finn Arme und Beine an und fing an, auf seinem Sitz hin und her zu schaukeln.
„Entspann dich, Bruderherz“, sagte John, blinzelte und gähnte. „Alles wird gut.“
Als er Johns Stimme hörte, beruhigte sich Finn ein wenig und lockerte seine Arme und Beine. „Was hast du eigentlich mit ‚Überlastungsimpuls‘ gemeint?“, wandte er sich an den rotblonden Jungen.
„Überlastung der Sinne“, ergriff Kildair das Wort. „Damit hat Adriana dich wehrlos gemacht.“ Er hob die gespreizte Hand. „Wie viele Finger sind das?“
„Ist mir egal“, erwiderte Finn. „Lassen Sie mich einfach gehen!“
„Verstehst du, was ich sage?“
„Verstehen Sie, was ich sage? Ich bin nicht Ihr Gefangener. Ich habe nichts Böses getan!“
„Hm, es deutet eigentlich alles darauf hin, dass du dich weitgehend erholt hast.“ Kildair setzte sich auf. „Darum kann ich hoffentlich davon ausgehen, dass du nichts Unüberlegtes tust. In 4000 Metern Höhe ist unüberlegtes Handeln kein ratsames Verhalten. Einverstanden?“
Finn blitzte ihn wütend an, dann nickte er kaum sichtbar.
Kildair zog einen Kugelschreiber aus seiner Tasche und drückte auf den Knopf am hinteren Ende. Doch statt einer Mine tauchte am vorderen Ende eine kleine Klinge auf. Kildair beugte sich nach vorn und löste Finns Fesseln mit ein paar raschen Schnitten.
Finn ließ den Blick Richtung Cockpit gleiten. Es sah aus wie eine Höhle aus Metall voller blinkender Lämpchen. Auf dem Platz des Co-Piloten saß ein Junge, der vielleicht ein, zwei Jahre älter war als John. Und Pilotin war das Kaugummi kauende Mädchen aus dem Fahrstuhl – Adriana vermutlich.
„Und? Wo sind wir?“, wollte Finn wissen.
„Unser momentaner Aufenthaltsort ist uninteressant“, erwiderte Kildair mit einer beiläufigen Handbewegung. „Das Einzige, was zählt, ist unser Ziel.“
„Und das heißt Alyxa, stimmt’s?“, fragte John.
„Sehr richtig“, erwiderte der Mann.
Finn schnaubte. „Seit wann müssen Schulen ihre Schüler eigentlich kidnappen?“
Kildair presste die Lippen aufeinander, sodass dasselbe schmale Lächeln zu sehen war, das Finn schon im Krankenhaus so sehr gehasst hatte. „In Kürze schon wird sich alles aufklären. Aber wie wär’s, wenn du dich bis dahin gemütlich zurücklehnst und den Flug genießt?“
Plötzlich fiel Finn sein Handy ein. Er griff in die Tasche, nur um festzustellen, dass sie leer war.
„Dein Telefon befindet sich in sicheren Händen“, sagte Kildair. „Genau wie du.“
John versetzte Finn einen Stoß mit dem Ellbogen.
„Jetzt sind wir schon mal hier, dann können wir auch mitmachen.“
Finn wandte sich ab. Konnte ja sein, dass John glücklich über die neuesten Entwicklungen war, aber er selbst wurde nicht so einfach damit fertig, dass ihre Mutter sie von einem Augenblick auf den anderen verstoßen hatte.
Linien aus Lichtpunkten schlängelten sich über das Land – Straßen, die eine Verbindung zwischen größeren Lichtflecken, den Dörfern und Städten, herstellten. Das schwach gelbe Band über dem Horizont befand sich jetzt ziemlich genau hinter ihnen. Und das bedeutete, dass sie Richtung Westen flogen.
Finn rechnete ein bisschen. Der Start beim Krankenhaus in London konnte kaum vor drei Uhr morgens erfolgt sein und im Sommer ging die Sonne immer ziemlich früh auf. Sie waren also um die zwei Stunden unterwegs und das bedeutete, dass sie noch über Großbritannien sein mussten.
Er musterte das Display mit der Satellitenkarte, aber das half ihm nicht weiter, da der Ausschnitt zu klein war, um einen Überblick zu bekommen. Also schaute er wieder aus dem Fenster. Weit weg im Norden war eine große Stadt zu sehen und dahinter eine riesige tiefblaue Fläche. Finn stellte sich eine Landkarte vor und nahm an, dass es sich bei der Stadt um Liverpool handelte. Richtung Westen wirkte die Landschaft relativ dunkel, dort gab es weniger Straßen und weniger Lichter. Keine großen Städte.
„Nordwales“, murmelte er leise.
Kildair warf ihm einen misstrauischen Blick zu.
„Da haben wir ja ein ganz schlaues Köpfchen dabei!“, rief Adriana aus dem Cockpit. Ihr Kopf steckte in einem dicken Helm. Sie musste fantastische Ohren haben.
„Schlau ist er“, pflichtete Kildair ihr bei. Er betrachtete Finn nachdenklich und ließ dann seine angespannten Schultern ein wenig sinken. „Möchtest du mir vielleicht ein paar Fragen stellen?“
„Soll das ein Witz sein?“, erwiderte Finn.
Kildairs Lächeln war genauso schmal wie immer, aber blitzte da in seinen Augenwinkeln eine winzige Spur Humor auf? „Nun, ich kann mich ja zumindest noch einmal vernünftig vorstellen. Mein Name ist Geraint Kildair – wie deine Mutter dir vermutlich bereits gesagt hat – und ich bin der Dekan von Alyxa.“
Finn war sich nicht sicher, was das genau bedeutete. War das so eine Art Direktor?
„Woher kennen Sie meine Mutter?“
„Wir sind zusammen zur Schule gegangen.“
„In Alyxa?“
Der Dekan nickte.
„Und was ist an dieser Schule so toll?“, wollte Finn wissen.
„Alyxa hat es sich zum Ziel gesetzt, Schüler, die besondere … Bedürfnisse haben, zu fördern“, erwiderte Kildair. „Normalerweise kommen unsere Schüler im Alter von elf Jahren zu uns. Ihr beide seid mit dreizehn und fünfzehn Jahren eine Ausnahme.“
John schien diese Erklärung bereitwillig zu akzeptieren, aber Finn war hinterher noch verwirrter als zuvor. Er hatte doch keine besonderen Bedürfnisse! An der St. Luke’s war er in mindestens drei Fächern der Klassenbeste.
„Gehst du auch auf die Alyxa?“, fragte er den Jungen, der ihm gegenüber saß.
Dieser machte seine Jacke auf und tippte mit dem Finger auf das Abzeichen an seinem Hemd – ein fünfzackiger Stern, genau wie der, den Finn im Fahrstuhl an Adrianas Jacke gesehen hatte.
Mittlerweile war der gelbliche Streifen am Himmel breiter geworden. Die ganze Welt wurde nun heller. Von unterhalb kam ihnen eine Bergspitze entgegen. Eisenbahnschienen wanden sich wie ein dunkles Band die steilen Hänge hinauf und endeten vor einem Gebäude auf dem Gipfel des Berges. Nun war Finn sich endgültig sicher, dass sie in westliche Richtung über Wales hinwegflogen. Diesen Gipfel hatte er vor zwei Jahren bei einem Schulausflug bestiegen.
„Da ist Mount Snowdon“, sagte er.
Kildair gab keine Antwort.
Nun tauchte die Küste vor ihnen auf und schon befanden sie sich über einem schmalen Kanal, über einer Insel mit einem Schloss – das musste Anglesey sein – und dann über dem offenen Meer.
Die Sonne stieg höher und höher, verlieh den schaumgekrönten Wellen und den Booten einer kleinen Fischfangflotte einen farbigen Anstrich. Unter dem Hubschrauber war nur Wasser, nichts als Wasser, bis Finn irgendwann in weiter Ferne einen winzigen Flecken Land erblickte.
„Ist das unser Ziel?“, erkundigte sich John.
„Ja, das ist es“, erwiderte der Dekan.
Die Wellen kamen nun näher – der Hubschrauber verlor an Höhe. Der kleine Landflecken wurde zu einer flachen Insel mit einem steilen Berg in der Mitte. Im Norden donnerten weiße Wellen an die steilen Klippen, während sie im Süden auf einen dunklen Sandstrand schwappten. Auf halber Höhe war ein Bergsee zu erkennen, aber der Rest der Insel war nichts weiter als eine karge Moorlandschaft, die sich wie ein Teppich an sanft geschwungene Hügel schmiegte.
„Ich sehe nirgendwo eine Schule“, sagte John.
„Hier AX-17. Erbitte Landeerlaubnis“, sagte Adriana in ein Mikrofon an ihrem Helm. Sie neigte den Kopf, ganz eindeutig, um die Antwort zu hören.
Finn spürte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief. Was mochte das für eine Schule sein, an der Kindern beigebracht wurde, einen Hubschrauber zu fliegen?
Adriana nahm den Kaugummi aus dem Mund und klebte ihn an die Kante der Instrumentenkonsole. „Danke, Kontrollturm. AX-17 Ende.“
„Manuelle Landung, Adriana, wenn ich bitten darf“, sagte Kildair. „Du weißt, dass ich mich mit dem Autopiloten unwohl fühle.“
„Ja, Sir“, erwiderte Adriana.
Der Hubschrauber schwebte jetzt dicht über den Klippen und schreckte einen Möwenschwarm auf. Abgesehen von struppigem Gras und dem steilen Berghang konnte Finn absolut nichts erkennen.
Und dann fing der Boden an zu leuchten.
Ein Gebäude nach dem anderen schälte sich aus der Landschaft heraus – eine niedrige Scheune, ein paar Hütten, etwas, das aussah wie ein Observatorium. Die Umrisse jedes einzelnen Gebäudes zitterten kurz, als würde Finn es durch einen Schleier aus Wasser sehen, und dann, mit einem Mal, wurden sie stabil.
„Das ist unmöglich“, keuchte Finn.
„Das ist cool“, sagte John.
Die Gebäude waren ringförmig angeordnet und standen auf einem Grundstück, das so groß war wie mehrere Fußballfelder. Jetzt begann die Luft über dem Grundstück zu beben. Ein mächtiger Umriss schälte sich aus dem Boden, fast wie ein Wal, der zum Luftholen an die Wasseroberfläche kommt. Und dann lag ein einziges, fantastisches Gebäude vor ihnen, mächtig wie eine Festung, elegant und strahlend schön im Licht der aufgehenden Sonne. Finn musste die Augen zusammenkneifen, so sehr blendeten ihn die Sonnenstrahlen, die sich in der silbernen Außenhaut spiegelten.
Von oben war die Form des Gebäudes unschwer zu erkennen. Ein fünfzackiger Stern.
Die Nase des Hubschraubers neigte sich jetzt nach vorn und das Tschump-a-tschump-a-tschump der Rotorblätter wurde dumpfer. Eine Reihe schlanker Bäume schwankte in dem plötzlichen Luftzug hin und her.
Der Co-Pilot warf einen Blick nach unten und rief den Passagieren dann über die Schulter hinweg zu: „Soweit ich sehe, haben sie sogar eine Begrüßungsparty für euch auf die Beine gestellt.“
Aber Finn sah nichts als reflektierte Sonnenstrahlen – von einer Party keine Spur.
„Ich hoffe, da ist ein Frühstück inbegriffen“, sagte Adriana.
Der rotblonde Junge schnüffelte. „Ist es“, sagte er und grinste. „Würstchen, wenn mich nicht alles täuscht.“
Der Hubschrauber sank immer tiefer und Finn packte John am Handgelenk. Ob das Herz seines Bruders wohl genauso heftig pochte wie sein eigenes?
Was war dieses Alyxa nur für eine Schule?
Der Hubschrauber schwebte genau über der Mitte des sternförmigen Gebäudes. Fünf silberne Blütenblätter entfalteten sich und brachten eine Art Nische im Dach zum Vorschein. Finn wurde kräftig durchgeschüttelt, als der Hubschrauber ein leuchtend blaues, von blinkenden Lichtern umgebenes Landefeld ansteuerte, und dann noch einmal, als er aufsetzte.
Noch bevor die Rotorblätter stillstanden, öffnete der rotblonde Junge die Kabinentür und ein kalter Wind blies herein. Finn leckte sich die Lippen und schmeckte Salz. Der Junge stieg aus, gefolgt vom Dekan.
„Nach dir, Kleiner“, sagte John und stupste Finn in die Rippen.
Adriana und der Co-Pilot legten alle möglichen Schalter um und nahmen die Helme ab. Finn holte einmal tief Luft und sprang nach draußen.
Die Oberfläche des fünfeckigen Landefeldes fühlte sich irgendwie schwammig an. Am Rand waren runde Glasbausteine in den Boden eingelassen, die aussahen wie durchsichtige Pflastersteine. An den fünf Seiten des Landefeldes ragten silberne Wände empor und in jeder befand sich eine bogenförmige Türöffnung.
Als John sich neben Finn stellte, glitten die Türen auf und fünf Personen kamen heraus, drei Männer und zwei Frauen. Sie alle trugen lange graue Umhänge, die vom Wind in alle Richtungen gepeitscht wurden. Am Kragen wurden die Umhänge von einer bronzenen Schnalle zusammengehalten.
Finn sah zu, wie Adriana aus dem Cockpit sprang. „Steh gerade“, sagte sie zu Finn. „Du willst die Hüter schließlich nicht gleich an deinem ersten Tag verärgern.“
Die fünf Gestalten versammelten sich unter den austrudelnden Rotorblättern des Hubschraubers. Sie sahen aus wie aus einer anderen Zeit. Kildair nickte ihnen der Reihe nach zu, doch Finn bemerkte, dass er ihnen nicht in die Augen sah und nichts weiter als ein knappes „Morgen“ von sich gab. Danach marschierte er mit entschlossenen Schritten auf die nächste Tür zu, gefolgt von dem rotblonden Jungen.
„So, so“, sagte einer der Männer mit Umhang. „Ihr seid also die Brüder.“
Finn blickte John an, der nur mit den Schultern zuckte.
„Ich bin Finn“, sagte er. „Und das ist John. Aber wer sind Sie, wenn Sie die Frage gestatten?“
Der Mann legte den Zeigefinger an die Spitze seines weißen Ziegenbärtchens. Er war ziemlich dick und seine leuchtenden Augen schienen sich einen Weg geradewegs in Finns Schädel zu bahnen. In die Schnalle, die seinen Umhang festhielt, waren die Umrisse eines Vogels eingeprägt – eine Art Falke.
„Mein Name ist Professor Panjaran“, sagte der Mann. „Ich bin der Hüter des Sehens. Meine Kollegen und ich sind hier, um euch zu begrüßen, so wie wir es mit allen neuen Schülern auf Alyxa tun. Dies ist zum einen in unserer Tradition verankert – auf Alyxa spielt die Tradition eine sehr große Rolle, wie ihr noch feststellen werdet –, aber wir tun es auch aus Respekt. Die Tradition erweist der Vergangenheit die gebührende Ehre, das liegt auf der Hand. Doch nur indem wir die Gegenwart würdigen, können wir darauf hoffen, auch die Zukunft würdig zu gestalten.“
Seine Stimme besaß einen leisen, hypnotischen Klang und seine Worte waren irgendwie nicht richtig fassbar. Finn fragte sich, ob er hier jemals auf eine klare Frage eine klare Antwort bekommen würde.
Professor Panjarans leuchtende Augen verengten sich zu Schlitzen. Finn hatte das Gefühl, als würde sein forschender Blick plötzlich seine ganze Seele erfassen.
„Vor euch liegt ein steiniger Pfad“, fuhr Professor Panjaran fort. „Gut möglich, dass ihr ins Straucheln geratet. Darum seht euch vor. Meine Augen werden über euch wachen.“
War das eine Drohung?
Jetzt trat ein zweiter Mann nach vorn. Er war das glatte Gegenteil von Panjaran, nämlich klapperdürr. Dazu hatte er ein scharfes Kinn und einen glatten, kahlen Schädel. Auf seiner Schnalle erkannte Finn die Umrisse einer zusammengerollten Schlange.
„Pietr Turminski“, sagte der Mann. Er gab zunächst Finn die Hand und dann John und schenkte ihnen beiden ein strahlendes Lächeln. „Ihr dürft den guten alten Panji nicht allzu ernst nehmen. Er quasselt einfach zu viel.“
„Dann sind Sie auch ein Hüter?“, wollte John wissen.
„Ich bin der Hüter des Geschmacks. Und das beweist eindeutig, dass ich Geschmack habe. Ha, war nur ein Witz. Aber jetzt verratet mir mal: Wisst ihr, warum ihr hier seid?“
„Sie glauben, dass wir besondere Bedürfnisse haben“, erwiderte Finn zögerlich.
Turminski blickte ihn mit spöttisch gehobener Augenbraue an. „Besondere Bedürfnisse, ja. Aber auch besondere Gaben. Und besondere Menschen bedürfen eines besonderen Ortes. Eines sicheren Ortes. Und genau das ist Alyxa: ein sicherer Ort für Schüler mit euren Fähigkeiten.“
Mit Turminskis Gesprächsstil konnte Finn erheblich mehr anfangen als mit Panjarans, aber trotzdem war er immer noch ziemlich durcheinander. „Was denn für Fähigkeiten?“
„Alle Schüler auf Alyxa verfügen über ungewöhnlich gute Sinneswahrnehmungen“, erwiderte Turminski. „Absolut unglaublich gute Sinneswahrnehmungen.“
„Sinneswahrnehmungen?“, meldete John sich zu Wort. „Sie meinen sehen, hören und so weiter?“
„Sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen.“ Turminski zählte sie an seinen ausgestreckten Fingern ab und strahlte die beiden Brüder an. Die anderen Hüter sahen schweigend dabei zu.
„Sinneswahrnehmungen“, wiederholte Finn. „Das ergibt … nun ja … Sinn.“
„Ha! Siehst du? Jetzt hast du auch einen Witz gemacht!“, sagte Turminski und lachte.
Finn musste an den Jungen mit den rotblonden Haaren denken, der behauptet hatte, er könnte Hunderte Meter über dem Boden frische Würstchen riechen. Und an Adriana, die sein stumm gestelltes Telefon gehört hatte …
Finn warf ihr einen Blick zu. Sie und ihr Co-Pilot schlüpften gerade aus ihren Pilotenoveralls und verstauten sie in einer Klappe an der Seite des Hubschraubers. Sie fing Finns Blick auf und tippte sich mit dem Finger ans Ohr. Der Junge neben ihr grinste.
„Also gut“, sagte Finn. „Ich glaube, das habe ich verstanden. Aber … Sie haben gesagt, dass wir hier in Sicherheit sind. Obwohl Sie uns entführt haben. Also, ich fühle mich dadurch nicht gerade sicher, ehrlich gesagt. Und außerdem habe ich überhaupt keine Supersinne.“
„Noch nicht“, entgegnete Turminski. „Aber das kommt noch. Ihr seid doch Geschwister, nicht?“
„Ja“, sagte John.
„Also dann.“
„Spielt das denn eine Rolle?“
„Es ist das alles Entscheidende“, erwiderte Turminski.
Finn konnte sein Misstrauen nicht so einfach ablegen, aber er freute sich über die Begeisterung, die sein Bruder an den Tag legte. Es war ja erst wenige Stunden her, dass John in einem Krankenhausbett gelegen hatte, und jetzt stand er auf einer abgelegenen Insel irgendwo mitten in der Irischen See, ließ sich vom Wind die Haare zerzausen und bekam zu hören, dass er etwas Besonderes war.
Und nicht nur er, dachte Finn. Ich auch.
„John“, sagte der dritte Mann aus dem Kreis der Hüter. Er war mit Abstand die beeindruckendste Erscheinung der fünf, zwar längst nicht so dick wie Professor Panjaran, dafür aber groß und breitschultrig, mit einem dichten blonden Rauschebart und Händen wie Baseballhandschuhe. „Du bist John.“
„Das stimmt“, erwiderte John.
„Ich heiße Magnus Gustavsson“, sagte der große Mann.
„Und Sie sind der Hüter des …?“, wollte Finn wissen.
„Ich bin der Tastsinn“, antwortete Gustavsson und richtete seine Schnalle gerade. Darauf waren die Umrisse eines Affen zu erkennen. Die Finger des Hüters waren dick wie Bratwürste und doch schienen sie sich sehr behutsam und feinfühlig zu bewegen.
„So, wie Sie reden, scheinen Sie mich irgendwie zu kennen“, sagte John.
„Das stimmt.“ Gustavsson zog einen Stapel Papiere hervor. „Untersuchungen. Sehr viele Untersuchungen. Von deinem Gehirn.“
„Von meinem Gehirn?“ John riss die Augen weit auf.
„Jawohl. Die Probleme, mit denen du zu kämpfen hast – wir können dir helfen.“
„Echt? Das ist ja Wahnsinn!“ John boxte Finn in die Seite. „Stimmt’s, Bruderherz?“
„Hammer.“ Finn war mehr mit der Frage beschäftigt, wie lange sie noch hier herumstehen und sich von diesen fünf Fremden mit ihren flatternden Umhängen begaffen lassen mussten. „Äh, wann können wir mit unserer Mutter sprechen?“
Gustavsson warf Turminski einen Blick zu, der wiederum die kleine Frau links neben ihm anstarrte. Auf ihrer Schnalle war ein Hund abgebildet. Sie legte den Kopf in den Nacken und fixierte Finn durch die dicke Brille auf ihrer langen, fast schnabelförmigen Habichtsnase. Das war vermutlich die Hüterin des Geruchssinns. Und das bedeutete, dass die andere Frau – die große sportliche, die bis jetzt noch kein einziges Mal die Augen aufgemacht hatte – die Hüterin des Hörens sein musste. Ihre Schnalle trug die Abbildung einer Fledermaus mit gespreizten Flügeln.
„Die Kommunikation mit der Außenwelt wird auf Alyxa strengstens überwacht“, sagte die langnasige Frau mit schriller Stimme. „Und für Schüler ist sie, fürchte ich, strikt verboten.“
„Verboten?“, wiederholte Finn. „Ich dachte, das wäre eine Schule und kein Gefängnis.“
„Dennoch hat Hüterin Blake voll und ganz recht“, schaltete sich Professor Panjaran ein. „Ich möchte euch dringend bitten, euch nicht zu sehr mit den Regeln zu beschäftigen, die wir aufgestellt haben, sondern mit euren persönlichen Wahrnehmungen. Alyxa existiert um euretwillen und es wird sein, was immer ihr daraus macht. Öffnet euch gegenüber den Möglichkeiten, die wir euch bieten, und ihr werdet reich beschenkt werden.“
„Aber Sie können uns doch nicht einfach wegsperren“, sagte Finn. „Schließlich gibt es auch so was wie Menschenrechte und …“
Professor Panjaran zeigte mit dem gestreckten Zeigefinger an den Himmel. „Spar dir deine Fragen für später auf. Heute ist der Tag eurer Ankunft. Du, Finn, kommst in die Fördergruppe.“ Er winkte Adrianas Co-Piloten zu sich. „Ben, du begleitest Finn in sein Quartier. John, du gehst zu Hüter Gustavsson.“
Noch bevor Finn wusste, wie ihm geschah, hatte der Hüter des Tastsinns sich zwischen ihn und John geschoben, mit einer Geschwindigkeit, die man ihm angesichts seiner Leibesfülle niemals zugetraut hätte. Gleichzeitig tauchte Ben an Finns Seite auf und ergriff ihn behutsam am Arm.
Doch Finn schüttelte Bens Hand mit einer schnellen Bewegung ab. „Halt!“, rief er und zwängte sich an Gustavsson vorbei, sodass er neben John stand. „Wir lassen uns nicht trennen!“
Professor Panjaran legte das Gesicht in strenge Falten und Finn hörte, wie die Frau mit der Habichtsnase, Hüterin Blake, scharf den Atem einsog. Dann legte John ihm die Hände auf die Schultern.
„He, Kumpel“, sagte John. „Nicht so stürmisch. Alles wird gut.“
„So wie bei der Party?“ Finn legte den Mund dicht an das Ohr seines Bruders und flüsterte: „Und sag bloß nicht, dass du keine Kopfschmerzen mehr hast. Ich weiß nämlich genau, dass das nicht stimmt.“
„Auf Alyxa sind wir sehr besorgt um das gesundheitliche Wohl unserer Schüler“, sagte die groß gewachsene Frau. Obwohl ihre Augen geschlossen waren, hatte Finn das Gefühl, als würde sie ihn durchdringend mustern. „Im Rahmen des Aufnahmeverfahrens wird auch eine umfassende medizinische Untersuchung durchgeführt. Ihr habt wirklich nicht das Geringste zu befürchten.“
Finn spürte, wie seine Finger sich zur Faust ballten. Er zwang sich mit aller Macht, ein wenig ruhiger zu werden. Eine Windbö strich ihm übers Gesicht und brachte Algengeruch mit sich.
„Bist du sicher, dass du das so willst?“, fragte Finn seinen Bruder.
„Na klar. Ich gehe zu dem Großen da“, erwiderte sein Bruder und grinste Hüter Gustavsson an. „Alles okay.“
„Und du kannst mit mir kommen“, sagte Ben zu Finn. „In Ordnung?“
Finn seufzte. „Ich schätze schon …“
Nachdem er John noch einen letzten Blick zugeworfen hatte, folgte er Ben quer über das Landefeld. Als sie an der Hüterin mit den geschlossenen Augen vorbeikamen, sahen sie, wie Adriana sich der Frau näherte und ihr ein Küsschen auf die Wange drückte.
„Hallo, Mum“, sagte sie.
„Das hast du gut gemacht, Adriana“, erwiderte die Frau und streichelte, ohne die Augen zu öffnen, das Gesicht ihrer Tochter. Dreißig Jahre jünger und mit einer Stachelfrisur hätte man sie auch für Adrianas Zwillingsschwester halten können. Sie drehten sich um und gingen gemeinsam davon.
Ben führte Finn nicht zu einem der großen Torbögen, sondern zu einer kleineren Tür. Über eine Treppe gelangten sie hinab in einen lang gezogenen Korridor. Quadratische Deckenleuchten verströmten kühles bläuliches Licht. Jeder ihrer Schritte rief auf dem gefliesten Fußboden ein lautes Echo hervor.
„Ich weiß, dass dir das alles sehr merkwürdig vorkommen muss“, sagte Ben. „Aber man gewöhnt sich dran. Mir ist es an meinem ersten Tag auch nicht anders gegangen.“
„Echt?“ Finns Blick fiel auf das Logo auf Bens sternförmigem Abzeichen: eine zusammengerollte Schlange und darunter drei parallele Balken. „Was haben die Abzeichen eigentlich zu bedeuten?“
„Okay, ich erklär’s dir. Die Schlange bedeutet, dass ich zum Clan des Geschmackssinns gehöre, und die drei Balken, dass ich auf dem dritten Level bin. Na ja, ich war auf dem dritten Level. Siehst du das da?“ Ben tippte auf eine silberne Anstecknadel, die an seinem anderen Kragen steckte. Das obere Ende war geformt wie ein Fünfeck. „Die bedeutet, dass ich Clanvorsteher bin.“
Finn nickte geistesabwesend, während Ben weiter über seine Pflichten und Aufgaben schwafelte, die größtenteils darin zu bestehen schienen, sich um das Wohl seiner Mitschüler zu kümmern. Finn fand die Verzierungen an den glatten Metallwänden aber deutlich interessanter. Darauf waren verhüllte Gestalten in eigenartigen Posen zu erkennen. Ob die Yoga machten? Jedenfalls fühlte Finn sich bei ihrem Anblick an ägyptische Hieroglyphen erinnert.
„Die Zahl Fünf spielt hier bei uns eine besondere Rolle, wie du vielleicht schon bemerkt hast“, fuhr Ben fort. „Fünf Häuser – bei uns heißen sie Clans –, fünf Hüter und fünf Symboltiere. Das hängt natürlich mit den fünf Sinnen zusammen. Obwohl wir jetzt auch noch Doktor Raj haben, aber der ist anders. Er sorgt dafür, dass die Weiße Wand immer intakt bleibt.“
„Die Weiße Wand?“, fragte Finn, doch da war Ben schon in einem Seitengang verschwunden. Finn folgte ihm und schnüffelte. Hier duftete es eindeutig nach …
„Würstchen!“, sagte Ben und scheuchte Finn durch eine weitere Tür in die Kantine. Das Erste, was ihm auffiel, war, dass es hier weit und breit kein Silber zu sehen gab – die Wände und der Boden des riesigen runden Saals waren voller bunter Spritzer in allen Farben des Regenbogens. Es sah aus wie nach einer kolossalen Paintballschlacht.
In der Mitte der Kantine befand sich eine kreisförmige Theke. Dahinter stand eine ziemlich dicke Frau und teilte Sandwiches an die Schüler aus, die sich vor ihr drängelten. Förderbänder und kleine Eimer kamen durch ein Loch in der Decke herabgeschwebt und lieferten ununterbrochen neue Bestellungen.
„Möchtest du was essen?“ Ben grinste Finn an. „Also, ich bin am Verhungern.“ Er bekam von der Frau, deren Haut noch dunkler war als seine eigene, zwei Sandwiches ausgehändigt.
Finns Magen knurrte laut. „Würstchen“, sagte er und klappte sein Sandwich auseinander. „Das hat doch der Junge im Hubschrauber gesagt: dass es Würstchen zum Frühstück gibt. Obwohl wir noch ziemlich hoch in der Luft waren. War das vielleicht so was wie ein Trick?“
„Das weiß man bei Jermaine nie so genau“, erwiderte Ben und mampfte mit dicken Backen sein Sandwich. „Er ist auch auf dem dritten Level, also kann es schon sein, dass er wirklich was gerochen hat.“
„Lass mich raten. Das höchste Level ist das fünfte, stimmt’s?“
„Du bist ein Blitzmerker, was? Obwohl die Hüter bestimmt keine Ahnung hätten, was sie mit einem Fünfer anstellen sollen. Die sind ja schon froh, wenn ihnen gelegentlich mal ein Vierer über den Weg läuft. Komm mit.“
Auf dem Weg zu der Tür am hinteren Ende der Kantine mussten sie um einen Tisch herumgehen, an dem zwei Mädchen und zwei Jungen saßen. Einer der Jungen war ungefähr in Finns Alter, mit einem flachen Gesicht und blassen, schläfrigen Augen. Als sie an ihm vorbeikamen, streckte er ein Bein aus. Finn konnte zwar ohne große Mühe ausweichen, aber es war klar, dass der Junge versucht hatte, ihm ein Bein zu stellen.
„Wer ist denn dein neuer Freund, Benjamin?“, sagte er mit einem deutlichen amerikanischen Akzent.
„Guten Morgen, Xander“, antwortete Ben. „Das ist Finn.“
Xander wischte ein paar Brotkrümel von seinem silbernen Affenabzeichen. Tastsinnschüler, zweites Level.
„Welcher Clan?“, wollte Xander wissen.
„Das steht noch nicht fest“, meinte Ben. „Ich bringe ihn in die Fördergruppe.“
Die anderen drei an Xanders Tisch fingen an zu kichern.
„Das reicht jetzt, Xander“, sagte Ben und schob Finn weiter.
„Viel Spaß bei den Blindgängern!“, rief Xander ihnen nach.
Finn schlurfte hinter Ben her. So viel anders als der Rest der Welt war Alyxa wohl doch nicht.
Sie ließen die Kantine hinter sich und gelangten wieder in einen Korridor. Doch im Gegensatz zu allem, was Finn bisher gesehen hatte, wirkte dieser Gang uralt. Raue, steinerne Wände stützten eine niedrige Decke, von der zahlreiche Laternen herabbaumelten. Finn musste sich immer wieder ducken, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Dann gelangten sie in einen Abschnitt, der mit dunklen Holzpaneelen verkleidet war, gefolgt von noch mehr Steinmauern. Er kam sich vor wie in einem Sammelsurium aus allerhand altertümlichen und modernen Elementen.
Zwischen den einzelnen Bereichen verliefen dicke Kabel, die mit massiven Metallklammern an den Wänden befestigt waren. An ihren Enden teilten sie sich auf und führten zu mehreren großen Monitoren, auf denen alle möglichen Tabellen zu sehen waren – so wie auf