Champagnerperlen süß-sauer - Linde Richter - E-Book

Champagnerperlen süß-sauer E-Book

Linde Richter

0,0

Beschreibung

Lilly hasst Entscheidungen, und ihre Scheidung war nicht ihre Entscheidung gewesen. Ein Umzug steht an. Ihr Verlag will einen gastronomischen Wegweiser herausbringen, Schwerpunkt französische Spezialitäten mit einem kulinarischen Wörterbuch. Lilly nimmt den Auftrag an und zieht für ein ganzes Jahr in ihr Ferienhaus - in die Champagne. Vergnügliche Abenteuer, rund um den Lac du Der-Chantecoq, bestimmen ihr Leben im Eulenhaus. Ihr begegnen ungewöhnliche Nachbarn und ein liebenswerter Tierdoktor. Zwei mysteriöse Todesfälle und ein tobender Sturm bringen ihr Leben gehörig durcheinander. Und da ist auch noch Heudebert. Und wieder muss sie sich entscheiden. Ein Roman mit Augenzwinkern und viel französischem Flair. Witzig, frech und bunt. Mit 15 außergewöhnlichen Rezepten aus der Champagne.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 251

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Aller Anfang ist schwer …

Eine kleine Hilfe durch das französische Wortdickicht ist im Glossar 1 ab Seite 253 verfügbar. Worte und Begriffe, die sich in der deutschen Umgangssprache eingebürgert haben, wurden nicht berücksichtigt.

Als das Buch fertig war und ich alle Rezepte nachgekocht hatte, war meine Waage kaputt. Sie zeigte ein Gewicht, das so nicht stimmen konnte.

Wer meine Rezepte nachkochen möchte, findet sie im Glossar 2 ab Seite 263. Für die korrekte Gewichtsangabe auf Ihrer Waage übernehme ich keine Haftung.

Selbstverständlich sind Handlung und Personen frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weder erfunden noch zufällig sind Land, Landstriche, Städte und Ortschaften. Es lohnt sich, dort Urlaub zu machen. Und wenn Sie das Buch zu Ende gelesen haben, wissen Sie auch wo.

Die Autorin

Merci

an meine französischen Freunde, Nachbarn und alle Bewohner meines Dorfes in der Champagne.

Sie haben mir viele Geschichten erzählt und damit meine Fantasie angeregt.

Ohne sie wäre dieses Buch nicht entstanden.

Trotzdem ist dieses Buch ein Roman und alle Handlung und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

»Hast Du schon unterschrieben? Sag mir bitte nicht, dass du schon unterschrieben hast.« Katharina packte mich an den Schultern und fixierte mich mit festem Blick.

Was sollte der Aufstand? In geschäftlichen Dingen unterschreibe ich nie etwas ohne ihren Segen.

Katharina ist klein, etwas pummelig und hat eine Energie für zwei. Außerdem ist sie die beste Literatur-Agentin der Welt und sorgt dafür, dass ich nicht nur Butter auf meine Brötchen bekomme; sie sorgt auch für den Belag und alle anderen Annehmlichkeiten in meinem Leben.

Ich überlegte: Heute war Freitag der Dreizehnte, und heute sollte ich einen neuen Mietvertrag unterschreiben. Ich hasse Entscheidungen und suche immer nach einem Opfer, auf das ich die Verantwortung abwälzen kann. Klappt auch meistens. Beruflich habe ich dafür eine Agentin, privat einen Ehemann. Gehabt, sollte ich sagen, denn das mit dem Ehemann konnte ich inzwischen knicken. Seit ein paar Monaten muss ich mich ganz alleine entscheiden, ohne Ehemann, denn meine Scheidung war nicht meine Entscheidung gewesen. Die hatte Andreas ganz alleine entschieden. Nach sieben Ehejahren, genau genommen einen Winter nach dem verflixten siebten Jahr.

Große Dachwohnung mit kleinem Balkon? Oder kleine Erdgeschosswohnung mit großer Terrasse? Ich sollte noch heute eine Entscheidung treffen und bei einem der Makler den neuen Mietvertrag unterschreiben. Aber bei welchem? Und was Katharina bei dieser Entscheidung zu suchen hatte, entzog sich mir vollends.

Katharina riss mich aus meinen Gedanken.

»Ich habe fantastische Neuigkeiten, du brauchst nur noch unterzeichnen. Der Vertrag ist sozusagen in trockenen Tüchern.«

»Du hast was?«

Ich funkelte sie empört an und sah mich schon in einer ungeliebten Wohnung sitzen, in die ich aus freien Stücken niemals eingezogen wäre.

Sie erklärte es mir.

Ich schnaufte empört: »Wie bitte? Du hast, ohne mich zu fragen, meine Mitarbeit für einen literarischen Schinken über gastronomische Absonderlichkeiten, in Verbindung mit einem Wörterbuch für Küchenanalphabeten zugesagt?«

»Nun mach aber mal langsam.«

Katharina erläuterte meinen zukünftigen Broterwerb: der Verlag wolle einen französischen Gourmet-Wegweiser in Verknüpfung mit einem Schlemmer-Wörterbuch herausbringen. Mit Spezialitäten, Raritäten, viel Lokalkolorit und dem dazugehörigen Nachschlagwerk. Nicht diese üblichen Fressgeschichten, sondern ein Buch mit weniger bekannten Liebhabereien aus der französischen Küche, vielleicht auch einigen Absonderlichkeiten. In Anekdoten verpackt, mit fachlichen Ausführungen und einem Feinschmecker-Lexikon im Anhang. Und natürlich bebildert. Um das Bildmaterial würde sich der Verlag kümmern, aber sie würden auch gerne Schnappschüsse von mir professionell aufarbeiten und entsprechend einbinden. Ich sollte mit der Champagne beginnen, weitere Departements würden folgen.

Mir stand der Kamm, und ich schnaubte aufgebracht: »Ich soll für die ein Wörterbuch schreiben? Wie soll das denn gehen? Ich bin weder geprüfte Dolmetscherin, noch Übersetzerin oder annähernd so was Ähnliches. Gibt’s dafür überhaupt Leser?«

»Lilly, soweit ich weiß, brauchst du dringend Geld, und es sollte dir schnurzegal sein, ob’s dafür Leser gibt oder nicht. Die wollen Atmosphäre und kein amtliches Siegel für ihr Wörterbuch. Die haben Untersuchungen und Marktanalysen gemacht; es gibt anscheinend nichts Vernünftiges auf diesem Gebiet. Das hast du bei deinen Frankreichaufenthalten auch immer gesagt. Das gastronomische Wörterbuch ist auch nur ein Nebenprodukt, der Schwerpunkt liegt auf deinen literarischen Beiträgen. Und vergiss eins nicht: du kannst dich auf Spesen unbegrenzt durchfuttern; in Restaurants, in Läden, auf Märkten, in Gastro-Manufakturen, sogar Übernachtungen kannst du absetzen. Überall gibt’s Histörchen und Rezepte, und auch immer was zum Probieren. Denk doch mal nach, da ist noch mehr drin. Die haben 101 Departements in Frankreich, plus fünf Übersee-Regionen. Wenn das klappt, hast du für den Rest deines Lebens ausgesorgt. Menschenskind, wach auf! Du könntest vorerst in deinem Ferienhaus in der Champagne leben, bräuchtest keine Miete zahlen und müsstest nicht mal umziehen. Jedenfalls nicht wirklich. Und außerdem – ich habe denen quasi schon zugesagt.«

Das war Katharina: praktisch, quadratisch, gut. Sie hatte recht.

Und sie legte noch einen drauf: »Ich regele das mit Andreas. Du brauchst dich um nichts zu kümmern. Du nimmst nur das mit, woran dein Herz hängt. Den Rest kann er behalten und dich auszahlen. Du packst ein paar Koffer, schmeißt dein Notebook und den Drucker ins Auto und ab geht’s in dein neues Leben.«

Das klang alles so einfach und so vernünftig. Mein Ex wollte nach meinem Auszug wieder in die eheliche Wohnung zurück. Mit seiner neuen Lebensabschnittgefährtin. Denn die Wohnung lag überaus praktisch, nur ein paar Schritte von seinem Arbeitsplatz entfernt.

Ich überlegte: Die teure Wohnung konnte ich mir alleine nicht mehr leisten, und auch eine neue, wesentlich kleinere Wohnung würde einen Großteil meiner Einkünfte schlucken. Das Trennungsjahr war eine gesetzliche Vorgabe, die eingehalten werden musste; wie und wo, das war den Gerichten letztendlich egal. Und dass Andreas sich mit den alten Möbeln und den alten Erinnerungen rumschlagen müsste, das hatte was. Da krabbelte plötzlich etwas in mir hoch, das ich nicht kannte, das mir bislang völlig fremd war. Es war wie ein Kribbeln und Kichern in meinem innersten Ich. Ich staunte über mich selbst, das war die reinste Schadenfreude, die sich da plötzlich in mir regte. Sollte er doch an den Möbeln, an dem Nippes und den alten Erinnerungen ersticken!

Ich holte tief Luft und war plötzlich ohne Ballast. Ich war frei. Und das Beste daran? Katharina hatte für mich die Entscheidung getroffen!

Ich ertappte mich dabei, wie ich ein Liedchen pfiff. Der Motor brummte gleichmäßig über die A63. Der Himmel war grau, ab und zu blinzelte die Sonne aus dunklen Wolken. Für Ende März war es ungewöhnlich mild und obwohl die Farben noch einen durchsichtigen Regenmantel trugen, stand der Frühling bereits in den Startlöchern.

In meinem Peugeot befanden sich drei funkelnagelneue Hartschalenkoffer. In knallrot! Diese praktischen Teile hatten integrierte Räder und waren nach Größen sortiert. Dazu hatte ich mir eine farbig passende Reisetasche, in einem fröhlichen Paisleymuster und ebenfalls knallrot, gekauft. Alle Koffer waren bis zum Rand vollgestopft und auf der Hinterbank fest gesichert. Mein Notebook und den Drucker hatte ich rutschfest zwischen eine Küchenkiste und eine Kühlkiste, sorgfältig in eine Übergangsjacke und in einen Poncho eingewickelt, im Kofferraum verstaut.

Leichtes Gepäck, wenn man in Betracht zog, dass ich mich von Deutschland verabschiedet hatte, um in Frankreich ein neues Leben zu beginnen.

Neun Kartons mit angeblich unzertrennlichen Dingen waren mit einer Spedition auf dem Weg in mein kleines französisches Dorf.

Maison Chouette, mein Ferienhaus in der Champagne. Ich war über ein Jahr nicht mehr in meinem Eulenhaus gewesen. Die Trennung hatte alle meine Kräfte aufgebraucht. Zuerst war da die Enttäuschung, danach der Zorn, und auch die nachfolgenden Ängste mussten erst verarbeitet werden. Mit Mitte Vierzig, Freelancer und geschieden, hat man nicht mehr so großartige Aussichten im Leben – dachte ich.

Meine Hausärztin dachte anders und schickte mich zu einer Therapeutin, die mir erklärte, dass „Anpassungsschwierigkeiten“ mein Hauptproblem seien, und dass auch das vorübergehen würde.

Nachdem wir dies ausdiskutiert hatten, sprachen wir hauptsächlich über den Umbau ihres geerbten Elternhauses, einem Fachwerk-Lehmbau wie mein Eulenhaus. Mit Lehm hatte ich Erfahrung und, wie ich später zugeben musste, der Austausch über Lehmputz, Fachwerkschindeln und Quarkfarben lenkte mich weitgehend von meinem Trennungsschmerz ab. Meine Seelenklempnerin prahlte mit ihrem neu erworbenen Fachwissen vor ihren Handwerkern und rettete damit – ganz nebenbei – mein marodes Seelengerüst vor dem Einsturz.

Ich atmete tief durch. Adieu, ihr selbst geschmierten Brote, ihr sorgsam entkernten Apfelschnitze. Adieu, ihr Gürkchen, Tomätchen und Radieschen. Und, vor allen Dingen, Adieu, ihr beiden Kaffeekannen, eine mit und eine ohne Milch. Von jetzt an zählte nur noch ich!

Durch einen kleinen, abseits gelegenen Grenzübergang fuhr ich in meine neue Heimat. Immer weiter nach Südwesten. In den Vorgärten der Dörfer blühten bereits Primeln und Narzissen. Ganze vier Wochen früher als in meiner alten Heimat.

Ich entdeckte ein gemütliches Bistro, wo ich zum ersten Mal meine geliebten Crevetten mit ganz viel Knoblauchsauce bis zum Abwinken aß. Zwei ganze Portionen nur für mich. Ich brauchte mir keine Gedanken mehr über einen nörgelnden Ehemann machen, der die ganze Fahrt über, die Nase rümpfend, Tiraden über mangelnde Rücksichtnahme und fehlende Achtsamkeit ablassen würde.

Über zwei Bergzüge fuhr ich über die inzwischen auf 80 km Höchstgeschwindigkeit beschränkten Landstraßen, quer durch die Departements Lothringen, Maas und Mosel, in die Haute Marne. Etwas wehmütig durchfuhr ich die zwölf Orte mit den ungewöhnlichen y-Endungen: Many, Herny, Béchy, Luppy, Buchy, Vigny, Louvigny, Limey, Flirey, Brousey-en-Wouvre, Commercy und Ligny-en-Barrois. Auf unseren gemeinsamen Fahrten hatten Andreas und ich es uns immer zu einem Sport gemacht, die nächsten Dörfer vor den Ortsschildern zu erraten.

Ich schaute etwas genauer hin, irgendwie kamen mir die verlotterten Ortschaften aufgeräumter, blumengeschmückter, bunter vor als bei meiner letzten Reise. Viele Neubaugebiete waren entstanden, es wurde überall gebaut. In Flirey waren die breiten Rasenstreifen vor den Häusern verschwunden und hatten einem gepflegten Bürgersteig mit Stellplätzen Platz gemacht. Ein neu eröffnetes schmuckes, lachsrosa Hotel stand am Straßenrand. Der Lac de Madine war nicht mehr weit.

In Gironville-sous-les-Côtes machte ich an einem einsamen, verwilderten Garten, an einen Berghang geschmiegt, einen kurzen Stopp, wo wir auch früher immer eine kurze Rast gemacht hatten. Beine vertreten war angesagt. Der Blick nach unten öffnete sich weit über Wälder, Wiesen und Felder. Dazwischen lagen, wie hingekleckert, ein paar Weiler. Rinder in Weiß, Schwarzbunt, Milchkaffee und Schokolade grasten im saftigen Grün.

Ich schlenderte durch die vernachlässigten Beete, an wuchernden Sträuchern vorbei, bis zu der verwitterten Gartenhütte. Dort stand einzig noch der Kamin. Das Dach war zusammengebrochen, die Wände nur noch zersplitterte Trümmer mit windschiefen Fensterrahmen. Auch der Türrahmen gähnte mir leer entgegen. Ich blickte wehmütig auf diese Vergänglichkeit, und mir kam unvermittelt der Gedanke, dass ich in Zukunft an solchen erinnerungsschwangeren Zwischenstopps nicht mehr Halt machen sollte.

Reiß dich zusammen, Lilly!

Vor der verfallenen Gartenhütte blinkte etwas im Sonnenlicht. Ich bückte mich und hob einen kleinen Dreckklumpen auf. Zwischen Erde und Pflanzenresten versteckte sich ein silberner Anhänger mit dem Buchstaben „L“ an einer kurzen Kette mit Clip. Vorsichtig schaute ich mich um. Niemand zu sehen. Ich gebe es zu, ich steckte den Anhänger in die Hosentasche und hatte dabei überhaupt kein schlechtes Gewissen. Der Garten wurde seit Jahren nicht mehr genutzt, der hatte schon lange keinen Besitzer mehr gesehen. Und ich heiße Lilly, also eigentlich Liliane. Bedarf es noch mehr Argumente?

Übermütig rupfte ich mir für meinen Garten noch ein paar Ableger aus. Pflänzchen, die sich später als wunderschöne Blumenstauden entpuppten und von mir mit viel Liebe gepflegt werden sollten.

Über einen kleinen Umweg besuchte ich die fabrication des Madeleines in einem verträumten Städtchen namens Commercy. Fast hätte ich den Wegweiser übersehen und donnerte krachend über eine nicht angekündigte Betonschwelle den Hang hinauf, zu einem etwas verwahrlosten Parkplatz. Oben, auf dem Hügel, stand wie fremdgesteuert ein futuristisch anmutender Holzbau. Vor den diagonal abgeschrägten, bodentiefen Glasfenstern saßen bereits einige Gäste auf der Terrasse und nutzten die ersten warmen Sonnenstrahlen.

Ich parkte, sortierte meine steif gewordenen Beine und ging in das Gebäude.

Ein warmer Duft umfing mich. Ich schaute mich um. Bunte Schachteln, pralle Tüten, peppige Bonbonnieren und handbemalte Dosen stapelten sich auf deckenhohen Etageren. Zwei Bäcker in gelben Hemden und weißen Schürzen, eine Bäckermütze pfiffig über die Haare gestülpt, wuselten hinter Glasscheiben und schütteten duftendes, muschelförmiges Gebäck von großen Blechen in hölzerne Gefache: Madeleines nature1, Madeleines mit Schokolade, Madeleines mit alkoholisierten Mirabellen gefüllt, oder miniature. Ich durfte probieren. Das zarte Gebäck zerschmolz auf der Zunge und löste Erinnerungen an Wohlsein und eine fröhliche Kindheit aus. Ich kaufte von jeder Sorte einen Beutel. Das bisschen Butter, Puderzucker und Mehl hatte seinen Preis, die Schokoladigen und die Beschwipsten waren noch teurer.

Nebenan, im angeschlossenen Café, bestellte ich mir eine heiße Trinkschokolade und eine kleine Auswahl aller angebotenen Sorten. An einem bodentiefen Fenster, mit schönem Blick über das weite Tal, ließ ich mir genüsslich meine feinen Errungenschaften auf der Zunge zergehen.

Hoppla, da musste mir wohl ein Schmatzer von den Lippen geflohen sein, denn mein Nachbar, ein wohlgerundeter Lothringer, erzählte mir in charmant gebrochenem Deutsch die Geschichte der Madeleines: Im Jahr 1755 weilte der polnische Exilkönig Stanislaus Leszczynski im Sommerschloss des Herzogs von Lothringen in Commercy. Sein Besuch kam überraschend, die Vorräte waren knapp und die Küchenmagd Madeleine Paulmier sehr erfinderisch. Sie entzückte die Adelsgesellschaft mit einem schnell zusammengerührten Gebäck, und zum Dank benannte der Exilkönig diese Leckerei nach ihr.

Ich hing an seinen Lippen und hörte ihm aufmerksam zu.

Mein Nachbar empfahl mir, die gekaufte Menge zu verdoppeln, das Gebäck einzufrieren und nach dem Auftauen auf einem Toaster zu rösten. Er warnte mich: die industrialisierte Version aus den Supermärkten koste zwar nur die Hälfte, würde aber dem Produkt aus Commercy nicht annähernd das Wasser reichen. Allein der Preis für diese Köstlichkeit ließ mich seinen Rat nicht befolgen, was ich später tief bereuen sollte.

Es war Sonntag. Die Bäckereien haben in Frankreich auch sonntags geöffnet, auf den Dörfern aber nur über die Mittagszeit. Für meine Bedürfnisse war ich viel zu spät dran. Ich staunte nicht schlecht, als ich auf meiner Route über die beschaulichen Landstraßen an Parkplätzen oder Dorfplätzen mehrere Baguette-Automaten entdeckte. Das musste neu sein. Ich konnte mich nicht erinnern, so etwas auf meinen früheren Fahrten bemerkt zu haben.

Ich hatte bei meinem letzten Besuch in meinem Ferienhaus den Kühlschrank ausgeräumt und den Gefrierschrank abgetaut. Alle Vorräte hatte ich nach Deutschland mitgenommen, infolgedessen herrschte in meiner französischen Küche Ebbe. Ich brauchte für den Sonntagabend etwas zu essen, also kramte ich zwei Eurostücke aus meinem Portemonnaie und kaufte zwei Stangen Weißbrot. Es dauerte eine Weile, bis der Apparat meine Brote ausspuckte. Das Gerät war zwar nur ein Automat, aber in der Wartezeit wurden meine beiden Baguettes auf den Punkt genau ausgebacken.

Schon nach kurzer Zeit begann es im ganzen Auto verführerisch zu duften.

Ich konnte nicht widerstehen und brach mir ein Stück von dem frisch gebackenen Brot ab. Es blieb nicht dabei. Kurz vor der Kreisstadt stellte ich fest, dass ich auf der Fahrt ein ganzes Weißbrot verspeist hatte.

Bildete ich mir das nur ein, oder hatte sich die Kreisstadt zu ihrem Vorteil verändert? In der Hauptstraße gab es neue Geschäfte, neue Bistros, und an dem halbrunden Wohnkomplex, mitten in der Innenstadt, waren die Gebäude renoviert; der Platz davor mit jungen Bäumen bepflanzt. An der Uferbefestigung der Marne spazierten die Bürger zwischen neuen Bänken, frisch bepflanzten Blumenrabatten und den noch spärlich blühenden Sträuchern. Große Bruchsteine aus hellem Kalksandstein schufen interessante Einblicke in eine ansprechende Gartenarchitektur.

Die Stadtverwaltung hatte sich mächtig angestrengt, um der Stadt ein besseres Image zu verpassen.

Wie sagte einmal eine Französin in Deutschland zu mir: »Wo haben Sie nochmal ihr Ferienhaus in Frankreich? Ah, in der Nähe von Saint-Dizier. Das ist mit Abstand die hässlichste Stadt in ganz Frankreich.«

Madame würde sich wundern, wenn sie das Städtchen heute sehen würde.

Je mehr ich mich dem See näherte, desto unruhiger wurde ich. Der Lac du Der-Chantecoq, mit 4.800 Hektar Wasserfläche, ist Frankreichs größter, künstlicher Binnensee. Er entstand von 1964 bis 1974, als mehrere kleine Seen, drei Dörfer, und etliche Bauernhöfe geflutet wurden. Der flach eingedeichte Stausee „Zum krähenden Hahn im Eichenwald“ reguliert heute die Marne über Kanäle und Hebewerke und damit auch die Seine, um das Hochwasser der Flüsse im Herbst und Winter einzudämmen. Der Zuflusskanal war randvoll und die beiden Vogelschutzgebiete bereits reichlich bevölkert.

Ich roch das Wasser, und als ich den See von einer kleinen Anhöhe aus endlich in seiner vollen Ausdehnung sah, öffnete sich mein Herz ganz weit. Ich war in meiner neuen Heimat angekommen. Ich war zuhause.

In Giffaumont am See gab es einen weiteren Automaten. In Weiß und mit viel Chrom und Glas. Es war ein Kühlautomat, an dem ich mir frische Vollmilch aus dem Hahn zapfen konnte. Entweder in mitgebrachten Behältnissen oder in Glasflaschen, die vor Ort für wenige Münzen erhältlich waren.

Ich staunte nicht schlecht, was sich in kürzester Zeit alles verändert hatte.

Vor meinem Häuschen stand ein knallroter Sportwagen, und aus dem Schornstein quoll Rauch. Als ich mein Auto parkte, ging die Tür auf, und eine breit grinsende Tina-Lisa stand mit zwei gefüllten Champagnergläsern im Eingang.

»Bienvenue im Eulenhaus. Corinne hat mir gesagt, dass du heute ankommst, und ich wollte dich die ersten Tage nicht alleine in dem kalten Haus lassen.«

Wir umarmten uns mit einem dicken Schmatzer auf beide Wangen. Die beiden Champagnergläser schwappten gefährlich. Sie drückte mir eins in die Hand und lächelte dabei.

»Schön, dich wieder in meiner Nähe zu haben.«

Da stand ich nun mit meiner besten Freundin, die extra aus Paris angereist war, und blickte auf meinen Sitzplatz im Vorgarten, auf meinen großen Nussbaum, und auf die Dorfstraße vor meinem Haus. Ich fühlte mich seit langer Zeit endlich wieder einmal glücklich und zufrieden.

Diese blöde Scheidung konnte mich mal!

»Komm rein, ich habe den Kamin angemacht. Das Gepäck kann warten.«

Tina-Lisa hatte nicht nur ein Kaminfeuerchen gemacht, das ganze Haus roch frisch geputzt, und ein Blick in die Küche verriet mir, dass sie die Vorräte aufgefüllt hatte. Auf dem Esszimmertisch standen Zweige mit dem ersten Birkengrün.

»Ich dachte, dass wir nachher in den Dorfkrug gehen. Du kannst jetzt duschen und dich für ein paar Minuten hinlegen. Die Betten sind auch schon frisch bezogen.«

Das war meine praktische Tina-Lisa. Dabei sieht sie alles andere als praktisch aus; ihre junge Ehe hatte sie nicht zum Nachteil verändert, im Gegenteil. Tina-Lisa strahlte von innen heraus. Ihre langen, schwarzen Locken fielen noch immer bis auf die Schultern, und ihre imposante Größe, reichlich übergewichtig doch gut proportioniert, unterstrich sie – wie immer – mit Schwindel erregend hohen Stöckelschuhen und einem bunten Outfit in knalliger Farbkombination. Dazu kohlrabenschwarze Augen und ein knallrot geschminkter Mund. Alles wie gehabt, nur mit dem Unterschied, dass sie seit über einem Jahr mit einem höchst bemerkenswerten Franzosen verheiratet war.

»Du siehst blendend aus, die Ehe scheint dir gut zu bekommen.«

Meine beste Freundin strahlte mich an: »Maurice trägt mich auf Händen, und Paris ist die schönste Stadt der Welt.«

Maurice ist der Bruder meines vis-à-vis Nachbarn Jean-Jacques und ein begnadeter Bildhauer. Erfolgreich und vermögend, gehört Maurice zu den besten Familien Frankreichs. Er lebt in einem beeindruckenden Stadthaus auf der Ile Saint-Louis, der kleineren Seine-Insel, mitten in Paris, das ihm, seiner Mutter und seinem Bruder Jean-Jacques zu gleichen Teilen gehört. Er ist ungefähr fünfzehn Zentimeter kleiner und mindestens dreißig Kilo leichter als seine heißgeliebte Ehefrau. Doch das stört den kleinen, selbstbewussten Maurice nicht im Geringsten.

Als die Koffer und Taschen in meinem Schlafzimmer verstaut und ich frisch geduscht war, machte ich einen Rundgang durch das Haus. Obwohl Tina-Lisa gut durchgeputzt hatte, merkte man, dass es für eine ganze Weile leer gestanden war. Es roch nach altem Haus. Überall waren Spuren von kleineren und größeren Baustellen zu sehen. Andreas hatte mehrere Renovierungsversuche unternommen, aber nie zu Ende gebracht. Langsam kroch wieder die Wut in mir hoch – überall halbfertige Baustellen. Die dicken Abflussrohre in der Toilette und im Badezimmer lagen noch immer offen, die Türen und Rahmen waren nur zur Hälfte gestrichen, in der Küche standen seit Monaten eine kaputte Waschmaschine und ein kaputter Geschirrspüler und warteten auf Entsorgung. Und im Bauernzimmer hatte Andreas eine gesprungene Fensterscheibe notdürftig mit Tesafilm abgeklebt. Das waren nur die Schönheitsfehler auf den ersten Blick. Wer weiß, welche Überraschungen sonst noch auf mich warteten.

So ein fast dreihundert Jahre altes Fachwerkhaus ist nicht nur pure Romantik. So ein altes Haus lebt im wahrsten Sinne des Wortes. Da kann es schon mal vorkommen, dass man nach einem Einkaufsbummel feststellt, dass alle Bilder schief hängen, oder dass man mit einem unverhofften Stolpern bemerkt, dass sich über Nacht einige Fließen am Boden gelockert hatten. Oder sich plötzlich auf dem Dachboden eine Eulenfamilie vermehrt hat, deren Nachwuchs selbst einem begnadeten Schläfer wie mir, fauchend und zischend, die Nachtruhe raubt. Nicht zu vergessen, die vielen kleinen Fremdlinge, die sich ständig unbefugten Eintritt in mein Wohnhaus verschaffen. Unbekannte Krabbeltiere aller Art besuchen meine Räumlichkeiten aus der Luft, durch Türen und Fenster, oder durch mikroskopisch kleine Löcher und Ritzen.

»Ich habe Hunger. Komm, lass uns in den Dorfkrug gehen.« Tina schob mich durch die Haustür.

Im Dorfkrug war viel Betrieb. Eine junge, dralle Schönheit bediente flink die Gäste.

»Wo ist denn die Mürrische abgeblieben?«

Tina-Lisa schüttelte den Kopf. Sie war dafür nicht der richtige Ansprechpartner.

« Bonjour mesdames, désirez-vous un apèritif? » Die junge Frau strahlte uns an und überreichte die Menükarten.

Was war hier los? Wo war die Mürrische abgeblieben? Und wer ist diese nette Person?

Ich bestellte ein Picon-Bière, ein Gemisch aus hellem Bier mit einem Spritzer Orangen-Dessertwein. Tina-Lisa überlegte nicht lange und entschied sich für einen Kir aus trockenem Weißwein mit einem Spritzer Johannisbeerlikör. Dann versanken unsere Blicke in den Speisekarten.

Der Besitzer und Koch des kleinen Dorfkrugs hatte mich schon in der Vergangenheit mit seinen delikaten und kreativen Vorschlägen begeistert, aber was uns da jetzt angeboten wurde, überraschte mich doch. Wenn er nur annähernd das erfüllte, was die Karte versprach, würden wir einen unvergesslichen Abend haben, immer umschwirrt von dieser jungen, drallen Schönheit.

« Un petit noir? Ou désirez-vous autre chose, mesdames? »

Der Küchenchef brachte höchstpersönlich den Kaffee und begrüßte uns wie alte Bekannte. Er stellte uns seine neue Lebensgefährtin vor: »Das ist Marielle, mein Goldschatz.« Der Goldschatz war mindestens zwanzig Jahre jünger und schmachtete den Chef und Liebhaber unverhohlen mit kuhäugigen Blicken an. So was gefiel den Männern, auch unserem verkappten Dreisternekoch.

Und ganz ehrlich: Marielle war definitiv der bessere Tausch gegen die Mürrische.

Kam der aufsteigende Magensaft vom üppigen Essen, oder musste ich schon wieder an meinen Ex und seine jüngere Neue denken?

Am anderen Morgen gestand mir Tina-Lisa das vorrangige Problem. Das Desaster. Die Katastrophe. Die Sintflut. Der Keller stand unter Wasser, und der ebenerdige Brunnen lief beständig nach. Ich erinnerte mich: das hatten wir schon mal. Aber dieses Mal war ich einzig und allein verantwortlich für die Beseitigung des Problems. Der Abfluss war nach außen verstopft, und ich watete im knöcheltiefen, eiskalten Wasser.

Verdammt, verdammt, verdammt.

Mein Kratzen, Schaufeln und Schöpfen half wenig. Mein Schimpfen noch weniger. Nach einer Weile fing ich vor Kälte und Erschöpfung an zu zittern.

Und begann zu telefonieren.

Tina-Lisa guckte die Kellertreppe runter und kollerte: »Sag mal, geht’s noch? Wo ist dein gesunder Menschenverstand geblieben? Warum telefonierst du da unten in der Kälte? Und noch dazu mit einem Prepaid-Handy. Ich habe ein Handy mit Vertrag, das kannst du wirklich billiger haben.«

Ich hatte ein Handy mit Karte, denn ich wollte mich erst in Frankreich nach einem günstigen Vertrag erkundigen. Die Einheiten purzelten nur so von meinem Konto, als ich versuchte einen Handwerker zu erreichen. Alle meldeten sich nur mit Anrufbeantworter. Klar doch, die Leute mussten schließlich arbeiten.

Tina-Lisa schimpfte mit Recht. Ich war augenscheinlich noch immer unfähig, die allerkleinsten Probleme mit gesundem Menschenverstand zu lösen. Und auch immer noch ziemlich unglücklich. Und im Kopf offenbar noch immer nicht ganz klar. Nicht umsonst hatte ich mich nach der Offenbarung meines Ehegatten in eine psychotherapeutische Behandlung begeben. Die Trennung von Andreas hatte mich in ein tiefes Loch gestürzt, offenkundig war ich da noch nicht durch.

Wie plem-plem musste man sein, um nicht mal die elementarsten Dinge des Lebens in den Griff zu bekommen? Die Unmengen Wasser im Keller mussten meine Hirnwindungen erst korrodiert, und danach aufgeweicht haben.

Ich fing an zu heulen. Meine Therapeutin hatte gesagt, dass mir mein angeknackstes Selbstwertgefühl die Algorithmen im Kopf durcheinandergewirbelt hätten. In schweren Stresssituationen schalte das Denkorgan auf Stand-by und funktioniere nur noch in der allerkleinsten Gangschaltung. Die gute Nachricht aber sei, dass man mit professioneller Hilfe und viel Disziplin wieder auf Normalbetrieb umschalten könne. Ein Prozess, der von den Betroffenen indes unterschiedlich angegangen würde. Die schlechte Nachricht war, dass ich die professionelle Hilfe bereits hinter mir hatte, und dass Disziplin für mich ein Fremdwort ist. Die Nichtexpertin für Wörterbücher, egal in welcher Sprache, zerfloss vor Selbstmitleid.

Tina-Lisa rief meinen Nachbarn Marcel an, und nach gut vierzig Minuten war der Abfluss wieder frei, das Wasser abgeflossen, und der Keller blitzeblank sauber gewischt.

Seine Frau Corinne brachte uns kurze Zeit später sechs legefrische Eier aus ihrem Hühnerstall vorbei.

Ich schniefte noch immer.

Corinne nahm mich beiseite und wedelte mit einer Visitenkarte.

»Ruf ihn an und mach mit ihm einen Termin. Der Mann ist grandios und hat schon vielen geholfen. Glaube mir, ich spreche aus Erfahrung.«

Sie drückte mir das Visitenkärtchen in die Hand. Darauf stand in schlichten Buchstaben: „Clément Moreau, magnétiseur animal“ und darunter die Adresse.

Ich schaute erst auf das Kärtchen, dann zu Corinne.

»Das ist nicht dein Ernst, oder? Ich soll zu einem Vieh-Scharlatan gehen?«

Ein leises Lächeln umspielte Corinnes Mund. Dann klärte sie mich auf: ihre Freundin Anaïs war seit einem Jahr geschieden und habe anfangs große Anpassungsschwierigkeiten gehabt.

Ich horchte auf, dieses Wort hatte ich schon mal gehört.

Sie fuhr fort: Anaïs habe schon nach wenigen Wochen Konsultation bei diesem Moreau ihr Selbstwertgefühl wiedergefunden, und seit zwei Monaten auch wieder einen neuen Freund. Und, Corinne machte eine bedeutungsvolle Pause, auch ihr habe der magnetiseur geholfen. Ihre Neurodermitis sei bereits am Abklingen, und sie könne mir den Meister nur empfehlen. Im Übrigen habe der Begriff, und jetzt grinste sie von einem Ohr zum anderen, also habe der Begriff magnétiseur animal absolut nichts mit Tieren zu tun. In alten Übersetzungen bedeute animal das Geschöpf, und im Magnetismus beziehe sich das auf eine bestimmte Art der Behandlung.

Ich schaute Corinne sprachlos an. Nie im Leben wäre ich auf die Idee gekommen, dass Corinne an so einen Hokuspokus glauben würde. Ich hatte zwar schon von magnetischen Platten, magnetisierter Watte und Waffensalbe gehört. Auch von Fluiden, Strömen, Hypnose und Trance. Ich schüttelte den Kopf: Nein danke, Corinne, dann doch lieber noch einen weiteren Feldversuch mit diesem schwer zugänglichen Fremdwort, das da Disziplin heißt.

Corinne ging nachhause. Die Visitenkarte hatte sie auf dem Tisch liegen gelassen.

Tina-Lisa fuhr ein paar Tage später zurück nach Paris. Sie nahm mir das Versprechen ab, sie baldmöglichst zu besuchen. Ich seufzte tief auf. Es gab noch so unendlich viel zu organisieren, noch so unendlich viel zu tun.

Um nicht völlig durchzudrehen oder, schlimmer noch, in Agonie zu versinken, machte ich eine Aufstellung und nummerierte alle anstehenden Aufgaben nach Prioritäten. Dazu hatte mir meine Therapeutin geraten.

Zufrieden betrachtete ich meine To-do-Liste. Die Frau hatte recht, ich fühlte mich mit dieser Liste bereits sehr viel besser, noch bevor ich auch nur einen Finger krumm gemacht hatte.

Als Allererstes musste ich mein Arbeitsmaterial auf Vordermann bringen. Dafür brauchte ich einen festen Vertrag für mein Handy und Internet im Haus. Ich brauche ein hohes Datenvolumen für meine Schreiberei, das gehört einfach zu meinem täglichen Handwerk. Ein Blick hinter den Fernsehsessel, der übrigens ein Fernsehsessel ganz ohne Fernsehgerät ist, beglückte mich mit einem noch nie benutzten Telefonanschluss. Wenigstens das hatte Andreas noch in die Wege geleitet.

Ich fuhr in die Kreisstadt. Schon die Strecke in die 25.000 Seelen große Mittelstadt erwies sich als neue Herausforderung. Zwei neue Kreisel, zwei Sperrungen, zwei Umleitungen. Plötzlich befand ich mich nur noch zwischen Kühen und Pferden auf einer neuen Schnellstraße. Mit dem letzten Tropfen Benzin erreichte ich gerade noch so vor den Toren der bragards die letzte Tanke von Frankreichs zweitgrößter Supermarktkette.

Je weiter ich in die Innenstadt fuhr, desto mehr sah ich die Veränderungen in der Stadt. Gute, wie auch schlechte. In der Rue Gambetta sah ich schon von weitem das orangefarbene Schild der Telefongesellschaft France Orange, und auch die Poller vor dem Geschäft, die ein Parken unmöglich machten. Die wenigen Parkplätze auf der anderen Straßenseite waren natürlich alle belegt. Ich hatte einen Termin gemacht, der einzuhalten galt. So schlau war ich gewesen, das heißt Jean-Jacques hatte mir den Tipp gegeben. Nachdem ich fünf Mal um den Block gefahren war, ergatterte ich doch noch einen gerade frei gewordenen Parkplatz in der schmalen Einkaufsstraße.

Der Laden war gerammelt voll. Die Leute standen, saßen und liefen in den Verkaufsräumen herum, palaverten mit dem Personal oder quatschten lautstark wild durcheinander. Es war keine Reihenfolge, auch keine Ordnung zu erkennen. Die meisten beschwerten sich wortreich und händefuchtelnd über irgendwas. Ich schaute mir das eine Weile an und wusste nicht, wie ich mich da hätte einordnen sollen. Kurzerhand drängelte ich mich frech vor und erklärte, dass ich einen Termin hätte. Hatte ich ja auch. Es gab wütende Blicke, deutlich gemurmelte Beleidigungen in meine Richtung, und einen knapp gehaltenen Rempler in meine Seite. Es war mir egal, ich hatte endlich einen Berater am Wickel.

Nach fünfzehn Minuten war ich wieder draußen, mit einer Schachtel unterm Arm, einer Betriebsanleitung in der Hand und dem Versprechen, dass ich das Kabel des schwarzen Kästchens nur noch in die vorhandene Telefonbuchse stecken und auf meinem Laptop ein paar Knöpfe drücken müsse, damit wäre alles paletti.

Mein zweifelnder Blick zitierte: „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“ Aber ein Blick auf mein iPhone bestätigte mir schon beim Hinausgehen, dass ich ab sofort eine Kundin von Frankreichs führender Telefongesellschaft war.

In der Kreisstadt war Markttag. Die fest installierte Markthalle interessierte mich nicht sonderlich, da wollte ich erst im Winter hin. Der Ort meiner Begierde war ein kleiner, offener Markt, den ich auf der Suche nach der Telefongesellschaft France Orange zufällig entdeckte.

Der Marktplatz hatte in seiner Mitte eine Konstruktion aus eisernen Jugendstilpfosten, mit einem über dem offenen Gebälk schwebenden, ausladenden Dach. An den Pfosten standen bunt bepflanzte Blumenkübel, und in den Dachverstrebungen hingen üppig blühende Blumenampeln.

Ich kaufte ein, als müsste ich eine fünfköpfige Familie versorgen. Überall boten die Verkäufer Kostproben an.

Beim Metzger wanderten Schinken, Pasteten, Kaninchenschlegel und Kalbsnierchen in meinen Einkaufskorb.