Und immer ist es der falsche Job - Linde Richter - E-Book

Und immer ist es der falsche Job E-Book

Linde Richter

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Beschreibung

Gitti hat Geldsorgen. Frisch geschieden zieht die Frührentnerin in das ehemalige Versorgungshaus einer Seniorenresidenz. Ihr Umfeld hat viel Zeit und beobachtet Gittis Privatleben neugierig. Gitti versucht sich in aufregenden Nebenjobs und wird unfreiwillig in komische Situationen, menschliche Turbulenzen und packende Todesfälle verwickelt. Die ehemalige Versicherungsagentin hat einschlägige Erfahrungen im investigativen Bereich und unterstützt - nicht ganz freiwillig - Kriminalhauptkommissar Wolfram, der ihr immer wieder über den Weg läuft. In der Kleinstadt tobt der Bär. Kein Wunder, denn ... wieso hängt ihr italienischer Nachbar kunstvoll verschnürt im Sadomaso-Bereich eines Bordells, und was hat Gitti dort zu suchen? weshalb interessiert sich Gitti plötzlich für lokale Politik, und wodurch wird sie in Kleinstadtintrigen mit Todesfolgen verwickelt? wozu muss Gitti am Flughafen Koffer zählen und illegale Pillen kaufen, und woher kennt sie einen toten Golfspieler aus New Delhi? Die Antworten finden Sie in diesem Buch.

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Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

PROLOG

Sie vermuten, dass Sie die Kleinstadt vor den Toren der Großstadt kennen? Dass Sie die Straßen wiedererkennen, die Kneipe, den Biergarten?

Das ist falsch!

Sie meinen, dass Sie Gittis Nachbarn schon einmal begegnet sind? Dass Sie die örtlichen Geschäftsleute, die Politiker identifizieren?

Das ist auch falsch!

Und Sie glauben auch, dass Sie Gitti längst getroffen haben? Und dass Sie den Kriminalhauptkommissar schon gesehen haben?

Alles falsch!

Handlung und Personen sind frei erfunden. Sollte sich die eine oder andere Person in dieser fiktiven Handlung wiederfinden, so kann ich nur mit der Devise des englischen Hosenbandordens antworten:

« Honi soit qui mal y pense » (Altfranzösisch)

„Ein Schelm sei, wer schlecht darüber denkt“ Frei nach König Eduard III. von England (1312–1377)

1

Da saß ich nun zwischen meinen hochwertigen, zeitlos schönen Wohnzimmermöbeln, die ich mir bereits vor meiner Ehe buchstäblich vom Munde abgespart hatte. Mein exquisites Rolf Benz Wohnzimmer hätte ich meinem Ex niemals überlassen. Sechsunddreißig Umzugskartons und ein Gästebett zum Ausklappen ergänzten meinen etwas dürftigen Besitz. Das Ehebett wollte ich nicht mehr haben, das unbequeme Gästebett musste zunächst genügen. Mehr hatte ich nicht mitgenommen. Dass ich im Vorruhestand noch einmal umziehen würde und das unter diesen Umständen, hätte ich mir auch in meinen wildesten Träumen nicht vorstellen können.

Als ich kurz vor meinem Rentenantritt von meiner letzten Geschäftsreise zurückkam – ich spürte in meinem Berufsleben Versicherungsbetrüger auf – fand ich drei lange, tizianrote Haare unter meinem Kopfkissen und einen mit Testosteron abgefüllten Ehemann vor. Er glaubte im Leben etwas verpasst zu haben und hatte sich in meiner Abwesenheit einen sechzehn Jahre jüngeren Betthasen gesucht. Das wäre notfalls noch zu verkraften gewesen, aber er hatte außerdem noch sämtliche Konten geräumt. Von Beruf Künstler, hatte er mir in schöner Selbstverständlichkeit eine Ehe zu Dritt vorgeschlagen – dies sei in Künstlerkreisen durchaus üblich. Ich war damit nicht einverstanden. Und da er schon immer sehr freizügig mein Geld ausgegeben hatte, schlug er mir außerdem noch vor, dass ich alle laufenden Kosten weiterhin bestreiten dürfe. Ich war schon wieder nicht einverstanden – und zog aus.

Es klingelte. Vor der Wohnungstür standen eine kleine Mollige mit einem spitzen Gaultier-Busen und ein hochgewachsener, dünner Mann.

»Ich bin Edda Schwemmer und das ist mein Mann Georg. Wir sind die Nachbarn unter Ihnen«, stellte sie sich und ihren Begleiter vor. »Ich war Lehrerin für Ethik, Biologie und Geschichte, und mein Mann hat fürs LKA gearbeitet.«

Ihr Mann Georg sah nicht nach einem Hüter der kriminalistischen Obrigkeit aus, aber vielleicht musste man bei der Landeskriminalbehörde auch möglichst unauffällig aussehen. Und da ich quasi in einer Seniorenresidenz wohnte, war Herr Schwemmer infolge dessen ein Kriminalbeamter a.D.

Bei meiner überhasteten Wohnungssuche war ich zufällig auf eine geräumige Drei-Zimmerwohnung auf dem Gelände einer Seniorenwohnanlage gestoßen. Die großzügige Dachgeschosswohnung stand schon längere Zeit leer. Generös geschnitten und mit einer großen Dachterrasse bestückt, aber viel zu teuer, lag dieses Juwel im zweiten Stock. Ohne Aufzug, leider, was der hauptsächliche Grund des langen Leerstandes war. Das Haus lag etwas abseits von den Kettenhäusern der Senioren und hatte nur drei Parteien. In dem Haus hatten in besseren Tagen ein Hausmeister, eine Gemeindeschwester und ein Arztehepaar für die Seniorenwohnanlage gewohnt. Inzwischen hatte die Stadtverwaltung die Wohnungen des Versorgungshauses kurzerhand auf den freien Wohnungsmarkt geworfen. Einzige Bedingung war, dass die neuen Mieter vom Alter her zu den Bewohnern der Seniorenresidenz passen mussten. Ich passte und bezog die frühere Wohnung des Arztehepaars.

Frau Schwemmer drückte ihren spitzen Busen an mir vorbei und marschierte schnurstracks in die Küche. Ihre Wohnung, ein Stockwerk tiefer, hatte den gleichen Grundriss, sie kannte sich also aus. Aus ihrem Einkaufskorb zauberte sie Geschirr und Besteck sowie einen Topf mit gekochten Kartoffeln, eine Flasche Wein und eine Flasche Wasser.

»Ich habe auch noch selbst gemachten Kochkäse, geputzten Salat und ein Balsamico-Dressing für Sie mitgebracht. Zum Kochen haben Sie jetzt bestimmt keinen Kopf.«

Sie stand bereits in meinem zugerümpelten Wohnzimmer, und ihre hellen Mäuseäugelein ließen keine Kiste und kein Möbelstück aus. Ihr Ehemann wartete noch immer etwas verlegen im Treppenhaus. Man ist ja höflich und so komplimentierte ich ihn auch ins Wohnzimmer und entschuldigte mich für das Durcheinander. Nachdem sich beide satt gesehen hatten, gingen sie wieder.

Eigentlich ganz nett, dachte ich, nur ein wenig neugierig und stellte die Kartoffeln mit dem Kochkäse in die Mikrowelle. Die Küche hatte ich komplett von meinen Vormietern übernommen Gepflegter Landhausstil mit allen elektrischen Geräten, ich musste nur noch den Inhalt der entsprechenden Kartons einräumen und die Kühl- und Gefrierkombination mit Lebensmitteln füllen. Sehr praktisch.

Ich wollte mich gerade in den Fernsehsessel setzen und balancierte den dampfenden Teller auf meinem Kniekissen, als es schon wieder schellte. Die Nachbarin vom Parterre stand mit ihrem Gatten vor der Tür.

»Hallo, ich bin die Christyna Sikora und das ist mein Mann Martin.«

Sie streckte mir einen bunten Blumenstrauß entgegen. Ich verschob mein Mittagessen auf später und bat die beiden ins Wohnzimmer.

Frau Sikora erzählte mir, dass sie ursprünglich aus Schlesien stamme und seit sechsunddreißig Jahren in Deutschland lebe. Sie erzählte außerdem von den Bewohnern der Kettenhäuser und den Bewohnern der Nachbarhäuser. Ich wurde über Status und Lebensläufe der Mitmenschen in meinem unmittelbaren Umfeld ausführlich aufgeklärt. Sie informierte mich über naheliegende Läden, die angrenzende S-Bahn-Station und die wichtigsten Ärzte in der Umgebung. Und eine Bushaltestelle in das Zentrum unserer Kleinstadt gäbe es auch noch direkt vor der Tür.

Nachdem sie gegangen waren, schwirrte mir der Kopf ob der vielen Namen, der diversen Geschichten und der vielen Herzlichkeit. Ich schenkte mir erst mal ein Glas Wein ein, und dann noch eins. Mein Blick fiel auf die vollen Kartons, dann schaltete ich den Fernseher an und holte mein inzwischen kalt gewordenes Essen aus der Küche. Morgen war auch noch ein Tag.

Als alle Kartons ausgepackt waren, musste ich den Sachbearbeiter der Stadtverwaltung, der für meine Wohnung zuständig war, anrufen. Ich hatte ein kleines Problem mit dem heißen Wasser im Bad – es gab keins. Er ging nicht ans Telefon und obwohl ich ihm mehrmals auf seinen Anrufbeantworter sprach, wartete ich vergebens auf einen Rückruf. In meiner Not ging ich ein Stockwerk tiefer und klingelte bei meiner Nachbarin, der Frau Schwemmer. Als ich ihr von meinem Dilemma erzählte, beschwerte sie sich in epischer Breite über die Stadt und deren Mitarbeiter, und ich erfuhr bei dieser Gelegenheit, dass der Beamte nur noch auf seinen Rentenantritt warte und entweder krank oder in Urlaub sei. Man fühle sich in der Anlage nicht ernst genommen und würde gegen Windmühlen laufen, war ihr genervter Kommentar.

Und dann wurde Frau Schwemmer etwas leiser, und fing sogar an zu flüstern: Seitdem in unmittelbarer Nachbarschaft auch noch ein Puff eröffnet habe, fühle man sich obendrein moralisch untergraben. Bei diesen Worten fiel mir ein, dass Frau Schwemmer einstmals Ethik unterrichtet hatte. Für sie musste die Eröffnung dieses Etablissements in ihrem Umfeld eine persönliche Attacke gewesen sein. Sie erzählte von nächtlicher Randale, von aufreizend gekleideten, fast nackten Damen und dicken Autos aus der nahegelegen Großstadt.

Ich flüchtete nach unten, um frische Luft zu schnappen und rannte direkt in die Arme von Frau Sikora. Nun erfuhr ich, dass diese von ihrem Schlafzimmerfenster aus direkt in den Empfangssalon des Bordells schauen könne und sie an Schlafstörungen leide, und damit sei sie sozusagen gezwungen, die ganze Nacht das Treiben zu beobachten. Mein Mitleid hielt sich in Grenzen. Trotzdem, ein Puff in unmittelbarer Nähe einer Seniorenresidenz, das war schon ein starkes Stück.

Die Anlage lag nicht weit von einer feudalen Villenkolonie und wurde nur durch einen kleinen, baumreichen Park von den millionenschweren Bewohnern getrennt. Wie konnte sich hier ein Bordell etablieren?

Nach und nach wurde ich von den Bewohnern meiner Wohnanlage aufgeklärt. Unser Gelände liegt direkt an einem gewerblichen Mischgebiet und das Nachbargrundstück hatte vormals einer größeren Werbeagentur gehört. Die Werbeagentur wurde verkauft und der neue Besitzer meldete kurz darauf ein anderes Gewerbe an – das älteste Gewerbe der Welt.

Wenige Tage später saß ich im gemeinschaftlichen Garten unterm Pavillon und spielte mit Menio Salvatore, einem verwitweten Italiener, dem Ehepaar Czybilla und Siegfried Lauser, alle Bewohner aus dem nächsten Kettenhaus, Rommé Cub. Ich kannte das Steinespiel nicht und hatte so meine Schwierigkeiten, was hauptsächlich an den wirren Erklärungsversuchen meiner Quasi-Mitbewohner lag. Menio Salvatore kannte die Regeln, die Czybillas andere. Und Siegfried Lauser war ein Deutsch-Russe, der kaum zu verstehen war und sich an keine Regeln hielt. Ein schwieriges Spiel, zumal der nebenan gelegene Puff die Gemüter zusätzlich erregte.

Frau Schwemmer schaute dem Spiel nur zu, schwatzte aber lautstark mit. Frau Czybilla wusste über die letzten Ereignisse von gegenüber Bescheid, Frau Schwemmer nicht und ich sowieso nicht. Frau Sikora hatte Frau Czybilla bereits am frühen Morgen angerufen und ihr die Erlebnissen der vergangenen, schlaflosen Nacht geschildert.

Sie berichtete: Um drei Uhr in der Früh kamen vier Männer in einem dicken Mercedes angerauscht und wollten den Puff für sich alleine mieten. Eine Sexarbeiterin hatte wohl den Geschäftsführer gerufen, der den gut besuchten Puff aber nicht für läppische vier Freier räumen wollte. Es gab eine lautstarke Schlägerei mit Polizeieinsatz, und erst im Morgengrauen trat wieder Ruhe ein. Woher wusste Frau Sikora nur die vielen Details?

Der rotgetigerte Kater von dem Einfamilienhaus an der gegenüberliegenden Straßenseite schlich um meine Beine und bettelte um Kartoffelchips. Viel zu salzig für Katzen! Ich erklärte ihm die gesundheitlichen Nachteile von salzigen Lebensmitteln, und er trollte sich.

Vom Pavillon aus konnte man direkt auf die Vorderseite des Bordells sehen. Ein langhaariger Rotschopf kam in knallengen Jeans, hochhackigen Stilettos und Glitzerkorsage um die Ecke und fummelte an einem weißen Cabrio rum. Die Tür schien zu klemmen, oder die Dame hatte ein Problem. Ich guckte schärfer. Mann, war die geladen. Sie musste entweder vollgekokst oder mit Alkohol zugedröhnt sein, der Schlüssel fiel ihr mehrfach zu Boden. Ein schwarzer Bubikopf mit endlos langen Beinen in einem Nichts von Mini und schulterfreiem Top kam ihr zur Hilfe. Der Schlüssel passte endlich ins Schloss. Die Schwarzhaarige setzte sich nach einigen Diskussionen ans Steuer und der Sportwagen röhrte vom Hof.

»Ah, dachte ich mir’s doch, die Nachhut. Die Schwarze macht nämlich immer die Abrechnung«, erläuterte Menio Salvatore fachmännisch.

Ich merkte schon, meine Nachbarschaft war bestens informiert.

Frau Sikora erschien auf der Bildfläche: »Mann, oh Mann, war das wieder eine Nacht.»

Frau Sikora guckte müde. Frau Schwemmer sprühte die Neugier aus allen Poren. »Erzähl mal, wie war das mit den Freiern?«

Frau Sikora ließ sich nicht lange bitten und beschrieb ausführlich den Mercedes, die vier Herren im feinen Nadelstreifen und den etwas locker gekleideten Geschäftsführer des Etablissements.

»Die waren so laut, dass man sie bis in mein Schlafzimmer hören konnte. Viertausend Euro haben sie dem Nico für die alleinige Nutzung der Katzerlburg geboten.«

Ich verstand nur Bahnhof. Nico? Katzerlburg?

Menio Salvatore klärte mich auf: »Der Nico ist der Geschäftsführer von dem Puff und die „Katzerlburg“ ist der Name vom Puff. «

Einen Schriftzug gab es nicht an dem betreffenden Gebäude, nur ein paar schwarze Katzen aus Gusseisen tummelten sich auf der Frontseite des betroffenen Bauwerkes.

Frau Sikora zeigte sich bestens informiert und beschrieb ausführlich Inhalt und Diktion der nächtlichen Auseinandersetzung sowie den Einsatz der Polizei. Die Nachbarn von gegenüber, die mit dem rotgetigerten Kater, hatten sie wohl gerufen. Und Frau Sikora hatte sich sogar die Nummer des Mercedes aus der benachbarten Großstadt gemerkt.

Ich hatte genug von undurchsichtigen Steinespielen mit unterschiedlichen Regeln und den aufreibenden Aufregungen der vergangenen Nacht. Ich zog mich leise zurück. Meine Mitbewohner diskutierten hitzig weiter und bemerkten nicht einmal meinen Abgang.

Als ich durch meine Wohnungstür trat, tönte ein ohrenbetäubendes Scheppern von meiner Terrasse. Ich hastete ins Wohnzimmer. Drei Eichhörnchen spielten in meinem Freiluftzimmer Fangen und schmissen übermütig einige Übertöpfe durch die Gegend. Ich hatte noch keine Zeit gehabt, die Zinktöpfe zu bepflanzen, sodass der Lärm ohrenbetäubend war. Nachdem ich ein paar Mal erfolglos in die Hände geklatscht hatte, schloss ich genervt die Terrassentür.

Mein Bedarf an Aufregungen war für heute gedeckt.

Am nächsten Tag telefonierte ich mit drei renommierten Anwaltskanzleien, die mir jede für sich erklärte, dass es bei einer Gütergemeinschaft keinen Diebstahl in der Ehe gäbe. Spätestens nach dieser Auskunft wurde mir klar, dass das Geld von unseren gemeinsamen Konten ein für alle Mal futsch war. Ich reichte die Scheidung ein.

In meinem Freundeskreis brodelten inzwischen die Gerüchte. Mein Ex würde von einer Sekte manipuliert, er nähme Drogen, er sei plötzlich schwul geworden, man kenne das doch aus Künstlerkreisen. Nichts von alldem sollte stimmen und es interessierte mich – offen gesagt – auch nicht mehr. Ich hatte zu tun.

Im Schlafzimmer stand ein aufklappbares Gästebett. Sonst nichts. Meine Kleidung zerknüllte in Kartons, meine Schuhe wühlte ich bei Bedarf aus zweckentfremdeten Müllsäcken. Frau Sikora benannte mir ein Möbelhaus in der Nähe. Der Fachverkäufer hatte seinen Glückstag und konnte am Abend eine fette Provision einsacken. Ich kaufte ein Bett, zwei Kleiderschränke, zwei Wäschekommoden und einen Schuhschrank. Zwei Straßen weiter entdeckte ich einen kleinen Laden, der günstig Balkonmöbel verkaufte. Bunte Sitzkissen und eine passende Tischdecke hofften mit mir auf ein paar sonnige Tage auf der Terrasse. Und ja, die Zinktöpfe sollte ich möglichst bald bepflanzen. Nach und nach lebte ich mich in meinem neuen Umfeld ein.

Und plötzlich glühten die Telefondrähte. Freunde und Bekannte riefen mich an und erzählten mir von der neuen Freundin meines Ex. Er hatte sie stolz wie Bolle im Bekanntenkreis herumgezeigt, und die lieben Mitmenschen berichteten mir brühwarm von ihren ersten Eindrücken. Bunt und auffallend war noch die netteste Bezeichnung für seine neue Flamme. Aufreizend gekleidet sei sie, stark geschminkt sei sie, und knallgrüne, knallrote, knallblaue lange Fingernägel kamen ins Spiel sowie ihre lange, tizianrote Mähne. Und sie sehe gut aus, sehr gut sogar. Der Informationsfluss wollte und wollte nicht enden.

Mein Bedarf am Aussehen meiner viel jüngeren Konkurrentin war schnell gedeckt und ich ausreichend genervt. Außerdem hatte ich wichtigere Dinge im Kopf und ziemliche Geldsorgen. Der Tagessatz meiner Scheidungsanwältin verursachte mir Albträume, der Umzug und die Schlafzimmer- und Gartenmöbel hatten große Summen verschlungen. Ich war pleite.

Genervt blätterte ich das lokale Blättchen nach Stellenanzeigen durch. Junges Team war eine gekonnte Umschreibung dafür, dass man ab Dreißig bereits zum alten Eisen gehörte. Ich war doppelt so alt. Man sehe mir mein Alter nicht an, hörte ich immer wieder. Beneidenswert deine Haut und deine Figur, du gehst glatt als gut erhaltene Endvierzigerin durch. So weit, so gut, aber im Ausweis steht trotzdem mein echtes Alter.

Fast hätte ich die Anzeige überlesen. Bescheiden klein geschrieben, suchte man eine Hausdame: offen und freundlich, verantwortungsbewusst, gerne auch etwas älter. Kurzerhand griff ich zum Telefon und rief die Handynummer an. Eine angenehme, männliche Stimme meldete sich. Ich erklärte ihm mein Anliegen und verschwieg vorsorglich mein Alter. Herr Nadel schien interessiert. Er sei in einer Zwangslage und benötige schon heute Abend dringend Hilfe. Ich fragte nach Aufgaben, Arbeitszeit und Bezahlung. Die Spätschicht von 16.00 bis 22.00 Uhr sei vakant, die Stunde würde nach Tarif vergütet und außer Wäsche- und Getränkeausgabe sei nur ein wenig Ordnung zu halten. Für die Reinigung der Gästezimmer sollte ich den Putzdienst beaufsichtigen. Aha, dachte ich, ein kleines, überschaubares Gästehaus. Das klang nach leicht verdientem Geld und passte gut in mein Zeitschema. Ich war begeistert und sagte zu. Ganz zum Schluss sagte mir Herr Nadel noch die Adresse. Mir fiel fast der Hörer aus der Hand.

Um 15.45 Uhr verließ ich meine Wohnung und drückte mich über ein halb verlassenes Gartengrundstück in den versteckten Hintereingang der Katzerlburg. Herr Nadel empfing mich in den Wirtschaftsräumen. Als ich so nebenbei erwähnte, dass ich bereits Frührentnerin sei, überraschte mich Herr Nadel mit einem Vorschlag. Da könne man doch was machen, meinte er, ganz ohne Steuern und so. Ich dachte an meinen Nachbarn mit LKA-Vergangenheit und stellte mich erst einmal dumm.

Dann zeigte er mir mein Arbeitsgebiet: sechs Gästezimmer, vier Bäder und ein Domina-Studio. Mein zukünftiges Reich verschlug mir kurz die Sprache. Jedes Gästezimmer hatte einen speziellen Einrichtungsstil mit entsprechenden Namen, wie „Athena“, „Moulin Rouge“, „Road 69“, „Bangkok“, „Adlerhorst“ und „Garten Eden“. Ähnlich verhielt es sich mit den Badezimmern. Mit den vorderen Räumlichkeiten, also Empfangssalon und Bar, hätte ich nichts zu tun. Ich atmete auf; damit konnte ich mich hoffentlich dem nächtlichen Beobachtungsradius von Frau Sikora entziehen.

Mann trinke gerne Bier, die Damen Schampus oder auch mal ein Likörchen. Er überreichte mir die Preisliste. Wie in der Gastronomie, verdiente Herr Nadel an den Getränken ziemlich gut. Eine langhaarige Blondine kam aus einem Zimmer geschlendert, das Herr Nadel augenzwinkernd als „Renovierungsbude“ bezeichnete.

»Komm gleich mit rein, dann kannst du schon ein paar von den Mädels kennenlernen. Ach übrigens, wir duzen uns hier«, sprach’s und schob mich in einen überhitzten Raum mit mehreren Spiegeln und ein paar ausrangierten Plüschsesseln, auf denen drei leicht bekleidete Damen in bunten Zeitschriften blätterten. »Das ist Natascha, unsere Spezialistin für russisches Roulette.« Er zeigte auf eine Brünette mit slawischen Wangenknochen und üppiger Oberweite. »Und dort hinten sitzt Elena. Bei der kannst auch du buchen.«

Ich überlegte, was er wohl damit meinte?

»Das da ist Chantal, Mathematikstudentin im zehnten Semester und meine rechte Hand.« Die Schwarzhaarige kannte ich schon vom röhrenden Cabrio, das musste ich ihm aber nicht sagen. »Kitty hast du ja eben schon kennengelernt.« Er meinte das langhaarige Blondchen von vorhin.

Dann fragte er nach meinem Vornamen. Am Telefon hatte ich mich mit meinem Mädchennamen vorgestellt, den wollte ich sowieso wieder annehmen.

Schnell sagte ich: »Ich heiße Gitti, schön euch kennenzulernen.«

Gitti hatte mich seit meiner Abi-Feier niemand mehr genannt, und ich hatte meinen veralberten Vornamen bis vor wenigen Minuten fast vergessen, jetzt erschien er mir wieder angebracht.

Die Mädels taxierten mich von oben bis unten, und ihre Begeisterung hielt sich in Grenzen. Erst als Nico klarstellte, dass ich die neue Hausdame sei, kümmerten sie sich nicht weiter um mich. Ich spielte nicht in ihrer Liga.

Plötzlich stürmte eine mütterlich aussehende Frau in die Renovierungsbude. Sie war ein wenig pummelig und auch schon etwas älter; ich schätzte sie auf Anfang, Mitte Sechzig.

»Sorry, ich weiß, ich bin wieder zu spät. Aber ich musste noch meine Enkelin von der Kita abholen und sie auch noch ins Bett bringen.«

Nico Nadel stellte sie mir vor: »Das ist unsere Rosi, die gerne von den Jungspunten für ihre ersten Versuche gebucht wird.«

Mir wurde langsam klar, dass ich noch eine Menge lernen würde.

Was soll ich sagen, meine Arbeit war leicht verdientes Geld. Ich bestückte die Gästezimmer nach jedem Herrenbesuch neu mit einem festen Kontingent an Getränken und rechnete nach Dienstschluss mit den Mädels ab. Das Geld lieferte ich bei Chantal ab. Die Bettwäsche wurde nach jeder Schicht vom Putzdienst gewechselt, außerdem war ich die Hüterin der Wäscheausgabe. Wenn mal was schief ging, gab es von mir auch zwischendurch ein neues Laken. Der unschöne Teil meines Aufgabengebietes war, dass ich nach jedem Herrenbesuch die Papierkörbe leeren musste. Mit Gummihandschuhen und spitzen Fingern entsorgte ich die Papiertaschentücher und Kondome in die große Sammeltonne neben dem Hintereingang. Für Nachschub an den benannten Materialien war ich ebenfalls zuständig. Über alles musste ich akribisch Buch führen: Datum, Schichtzeit, Deckname der Sexarbeiterinnen und Art und Anzahl der ausgegeben Sachen. Wie gesagt, leicht verdientes Geld.

Zwischendurch blätterte ich in der reichlich verfügbaren Regenbogenpresse, wechselte die Duschtücher in den Bädern und versuchte mit den Mädels ins Gespräch zu kommen. Die waren aber nicht interessiert. Wenn eine mal einen Moment Pause hatte, wurde die mit Aufbrezeln, Telefonieren oder Zigarettenrauchen genutzt. Ich langweilte mich schnell. Also riss ich ein Blatt aus meinen Abrechnungsblock und erstellte eine Statistik. In meinem früheren Job war die Recherche mein Spezialgebiet gewesen, das kam jetzt wieder durch. Inzwischen kannte ich die Serviceangebote des Hauses und die Preise der Mädels, zumindest einige davon. Mit den angebotenen Abkürzungen konnte ich allerdings nichts anfangen, noch nicht. Und staunte nicht schlecht über die Verdienstmöglichkeiten der Prostituierten.

In der ersten halbe Stunde wurden die Freier in einem Badezimmer ihrer Wahl gebadet und massiert. Das war Pflicht und kostete hundert Euro vorab. Die gingen netto an Nico. Danach arbeitete jedes Mädel auf eigene Rechnung. Pro Schicht zahlten die Sexarbeiterinnen dreihundert Euro Miete an Nico für die Nutzung der Räumlichkeiten. Die Mädels konnten vorab übers Internet gebucht oder von der Laufkundschaft an der Bar abgegriffen werden. Nach meiner Kalkulation kam eine Prostituierte locker auf sechshundert bis tausend Euro pro Schicht oder mehr, je nach Fleiß und Angebot, unter Abzug aller Kosten. Bei extravaganten Dienstleistungen sogar noch mehr, sehr viel mehr. Ich war baff und fragte mich, ob ich in meiner Jugend etwas falsch gemacht hatte.

Frau Sikora fing mich am Briefkasten ab: »Ich habe Sie gar nicht heimkommen gehört, gestern Abend.«

Ich zierte mich, aber sie ließ nicht locker: »Mein Mann und ich, wir gehen auch manchmal aus. So einmal pro Monat, mehr nicht.« Ich hatte noch immer keine Antwort parat. Sie bohrte weiter: »Ist wohl spät geworden gestern Abend, oder?«

Ich musste mir etwas einfallen lassen. Wenn sie mitbekam, dass ich öfters nach zehn Uhr abends nachhause kam, würde sie keine Ruhe geben. Nico Nadel hatte mich nach Dienstschluss in sein Büro rufen lassen und mir ein lukratives Angebot gemacht. Ich könne alle drei Tage Spätschicht machen und dafür netto den Tarifsatz kassieren. Ohne Papierkram versteht sich. Ich war mir über die Legalität der angebotenen Modalitäten nicht ganz sicher, nahm das Angebot aber dankend an.

Ich strahlte Frau Sikora an. »Ach wissen Sie, ich Babysitte manchmal, also eigentlich ziemlich regelmäßig.« Jetzt begann ich doch herumzustottern: »Ich habe da zwei Familien, die mich öfters brauchen.« Uff, das wäre geschafft. Ich hatte auf die Schnelle eine Ausrede gefunden. Frau Sikora schluckte die Kröte und war erst einmal zufrieden.

Am Nachmittag luden mich Frau Schwemmer, Herr Salvatore und der neue Mieter vom Nebenhaus in den offenen Pavillon zum Kaffeeklatsch ein. Es gab selbstgebackene Waffeln mit heißen Sauerkirschen und Sahne. Der Neue stellte sich als Konrad Müller, vormals Polizeiwachtmeister, vor. Ich fühlte mich auf einmal sehr sicher und beschützt. Einen Ex-Beamten vom LKA und einen früheren Polizeiwachtmeister in der unmittelbaren Nachbarschaft zu haben, das war doch was. Da konnte einem nicht viel passieren, oder? Plötzlich wurde mir etwas heiß unter meinem kurzärmeligen Pullover. Hoffentlich war meine monetäre Abmachung mit Nico nicht im Visier von so viel geballter Polizeipräsenz a.D. Schnell schob ich meine schwarzen Gedanken beiseite.

Der graue Kater, von dem Bungalow zwei Straßen weiter, schob sich zwischen meine Füße und bettelte um eine Waffel. Ich erklärte dem grauen Double der Sheba-Werbung die gesundheitlichen Nachteile von Zucker, und er trollte sich.

Herr Müller war an meiner Person interessiert. Zu sehr interessiert für meinen Geschmack. Seine Fragen wurden mir langsam peinlich, und als er immer mehr über meine Lebensumstände wissen wollte, trollte ich mich. Eigentlich schade, ich hätte gerne noch eine zweite Waffel mit heißen Sauerkirschen und frisch geschlagener Sahne gegessen.

Frau Sikora stand bereits an der Wohnungstür und hatte alles von ihrem Fenster aus beobachtet: »Ich wollte gerade ein Mittagsschläfchen machen, aber irgendwie konnte ich nicht richtig einschlafen.«

Wie denn auch, die Gespräche unterm Pavillon waren ihr Lebenselixier.

»Alte Männer brauchen wir nicht, die haben wir selber, oder?«, sagte Frau Sikora und meinte damit Herrn Müllers Interesse an meiner Person.

Na ja, sie und Frau Schwemmer hatten vielleicht alte Männer. Ich hatte keinen, nicht mal einen alten. Obwohl, wenn ich mir so mein Umfeld betrachte, dann hat Frau Sikora absolut Recht. Alte Männer brauche ich wirklich nicht. Ich ging getröstet nach oben, setzte mich auf meine Terrasse in die späte Nachmittagssonne und trank ein Glas Wein.

Als ich einen Tag später wieder durch den halb verlassenen Garten zum Hinterausgang der Katzerlburg schlich, prallte ich fast mit einem gut gebauten, blondgesträhnten Mann zusammen.

»Der Haupteingang ist gleich um die Ecke nach links. Sie können ihn nicht verfehlen«, beeilte ich mich zu sagen.

Er lächelte mich mit einem halben Grübchen an.

Wieso hatte ein Mann seines Kalibers einen Puff nötig? Die Frage erübrigte sich, als ich ihn etwas später neben Nico stehen sah und mein unmittelbarer Chef mir meinen direkten Vorgesetzten vorstellte: »Das ist Leo Lutz, dein Chef und Besitzer von der Katzerlburg.«

Ich wurde knallrot. Das war mir peinlich, aber so was von peinlich.

Mein oberster Chef grinste mich an. »Dachtest du, dass ich ein Freier sei?«, frage er mich.

Ich wurde noch ein Tick röter, falls das überhaupt möglich war. Na, das war ja ein richtig guter Einstieg bei meinem Oberboss!

»Ich habe zu tun«, war meine Antwort und flüchtete in die Wäschekammer.

Dort setzte ich mich auf einen Stapel Badetücher und überdachte die Situation. Der Kerl sah gut aus, hatte eine ordentliche Portion Charme und war obendrein ein Zuhälter. Ich versuchte meine Hormone in den Griff zu bekommen, die gibt es nämlich noch in meinem Alter. Aber für einen Loddel sollten sie nun doch nicht vergeudet werden.

Die Spätschicht zog sich, und mein Oberboss war wie vom Erdboden verschwunden. Ich lernte Alexia kennen, die Rothaarige mit dem Schlüsselproblem. Ihre Spezialität waren Abkürzungen wie AV, KB, GB, VE und FE, was immer das heißen mochte. Sie war die Einzige in der Spätschicht, die fast immer ausgebucht war.

Und dann kam Lady DO in die Renovierungsbude. Mir fielen die Zeitschriften auf den Boden, die ich gerade fächerförmig auf einem Beistelltischchen ausbreiten wollte. Lady DO kam in voller Montur. Es fehlte nur noch die schwarze Gesichtsmaske, die ich von ihrem Internetauftritt kannte. Ich hatte alle meine Kolleginnen gegoogelt – man muss ja schließlich wissen, was ab geht.

Lady DO schmiss ihren Trenchcoat auf einen Stuhl, darunter kam eine schwarze Kreation zum Vorschein, die aus superdünnen Latexfäden bestand. Millimeterweise schimmerten die feinen, schwarzen Schnüre mit ihrer schneeweißen Haut um die Wette. Kein Sonnenstrahl hatte je diese Haut erblickt. Die hochhackigen, ebenfalls schwarzen Lackstiefel endeten oberhalb der Knie und gaben einen Blick auf hauchdünne Netzstrümpfe frei. Lady DO hatte eine Figur für Männer zum Träumen und für Frauen zum Neidzerfressen. Eine Figur, die man laut Internetrauftritt nicht anfassen durfte. Sie war halt die DO, eine dominante Domina und anerkannte Spezialistin für Bondage. Auch dieses Wort hatte ich inzwischen gegoogelt.

Die Katzerlburg hatte noch eine Domina im Angebot: Lady DE. Die devote Sado-Maso-Spezialistin konkurrierte im Wechsel mit der dominanten Herrscherin.

Die DO zog ein paar lange Latexhandschuhe und eine schwarze Halbmaske aus ihrer ALDI-Tüte. Die Mädels brachten ihre Arbeitskleidung immer mit und nahmen sie auch wieder nach Hause. Jede wachte akribisch darüber, nichts auszuleihen.

Lady DO war Anfang dreißig und schaute mich aus schrägen Katzenaugen an. Oh ha, diesen Blick kannte ich aus meiner Studienzeit, als meine Mitkommilitonin Judith mir beichtete, dass sie in mich verknallt sei.

Die anderen Mädels schauten auf, die Luft fing an zu flirren. Mir wurde etwas flau im Magen. Ich hasse Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, und diese war vorprogrammiert.

Leo Lutz platzte in die Idylle. Er erkannte und rettete die Situation: »Gitti, Süße, wenn du fertig bist, fahren wir zusammen nachhause.«

Damit hatte er eine Grenze gezogen; ins Revier vom Oberboss traute sich keiner. Auch keine Lady DO.

Leo Lutz nahm seine Worte wörtlich und packte mich nach Dienstschluss in seinen roten Ferrari. Eine oberpeinliche Kiste, aber ich wollte ihm keinesfalls verraten, wo ich wohnte. Also musste ich mit ihm fahren, was blieb mir anderes übrig?

Und ich will mich auch gar nicht rausreden. Es war toll, einfach nur toll. Ich fühlte mich als Frau bestätigt, der Kerl war eine Bombe im Bett und auch nur läppische acht Jahre jünger.

Seine Penthouse-Wohnung war sehr sparsam möbliert, gleichwohl irgendwie gemütlich. Gar nicht Ferrari. Mit einem sagenhaften Blick auf die Skyline der benachbarten Großstadt. Seine Stadt hatte keinen guten Ruf. Der Streit zwischen der Großstadt und seiner kleinbürgerlichen Nachbarstadt schwelte politisch, und auch sonst wie, in den Medien. Die Bewohner zankten sich, hüben wie drüben, wegen aller möglichen Querelen: Vom gesellschaftlichen Status, über die örtliche Lage, bis hin zur kleinen und der großen Politik – Jahrhunderte lang! Gestern wie heute.

Ich bestand nach einem gemütlichen Frühstück auf die S-Bahn und wollte auf keinen Fall meine Wohnsituation an einer Seniorenresidenz offenbaren, schon gar nicht gegenüber von seinem Puff. „An“ einer Seniorenresidenz wohlgemerkt, aber würde dies einen Unterschied machen? Leo durfte nicht wissen, wie alt ich bin und auch nicht, wo ich wohnte. In der S-Bahn kam mir der Gedanke, dass mein Leben von jetzt an kompliziert sein würde.

Frau Sikora erwartete mich bereits an ihrer Wohnungstür.

»War wohl eine Ausnahmesituation letzte Nacht? Geburtstagsfeier? Oder Hochzeitstag? Sie sind einfach über Nacht bei den Kinderchen geblieben, weil es später wurde, stimmt‘s?«

Ach du lieber Himmel, schlief diese Frau denn niemals? Ich murmelte etwas von müde. Meine zerknitterten Gesichtszüge untermauerten glaubhaft meine Worte. Ich flüchtete nach oben. Zwei Stockwerke zu Fuß machten sich nach einer ungewohnt sportlichen Liebesnacht unangenehm bemerkbar. Ich fiel in mein Bett und schlief bis in die Abendstunden durch.

Der Anrufbeantworter blinkte. Menio Salvatore hatte die Nachbarschaft um 20.00 Uhr zum Lasagne-Essen in den Gemeinschaftsraum geladen. Er habe Lust zum Kochen, und um mitgebrachte Weine werde gebeten. Ich kapierte langsam, das Rentnerdasein versprach nicht nur kompliziert und anstrengend, sondern auch amüsant zu werden.

Im Spiegel schaute mich eine knapp Sechzigjährige mit trüben Augen und Ringen unter den selbigen an. In diesem Zustand durfte und sollte mich niemand sehen. Ich probierte die neue Augenmaske aus. Also nicht so eine, wie Lady DO sie benutzt. Die meinige bestand aus beruhigenden Ingredienzien, glättenden Ölen und duftenden Essenzen. Ich fühlte mich danach glatt zehn Jahre jünger. Also so wie gestern Abend im Ferrari.

Die Lasagne von Menio Salvatore schmeckte wie in einem Drei-Sterne-Restaurant, und die mitgebrachten Weine lockerten unsere Zungen. Wie immer war die Katzerlburg Gesprächsthema Nummer eins, und mein italienischer Nachbar berichtete ausführlich über den aktuellen Bestand der Mädels. Entweder hatte er seine Informationen aus dem Internet oder er kannte sie von persönlichen Besuchen. Ich musste auf der Hut sein und mich keinesfalls in der Nähe des Empfangssalons blicken lassen.

Am nächsten Morgen platzte die Bombe. Eine Polizeibeamtin und ihr Kollege klingelten jeden Bewohner aus der Anlage und baten alle in den Gemeinschaftsraum. Auch die Bewohner aus dem ehemaligen Versorgungshaus wurden gebeten. Im benachbarten Puff sei ein Mord geschehen. Der Besitzer war erstochen in der Wäschekammer aufgefunden worden.

Mir wurde verständlicherweise etwas schlecht.

Erst wurden wir gemeinsam verhört, danach einzeln. Ob uns etwas aufgefallen sei, ob wir etwas gemerkt hätten? Hatten wir nicht.

Ich ging nochmals die gemeinsame Nacht mit Leo durch. Ohne die Hilfe der Polizeibeamten, versteht sich. Es war toll gewesen, wie gesagt. Wir hatten ziemlich viel Wein getrunken, herumgealbert, Musik gehört, getanzt und uns sexuell ausgetobt. Und am nächsten Morgen gemütlich zusammen gefrühstückt. Es gab keinerlei Anzeichen, dass Leo keine zehn Stunden später nicht mehr am Leben sein würde. Sein Tod war gegen 20.30 Uhr festgestellt worden. Da war ich längst weg und hatte Lasagne im Kreise meiner Nachbarschaft gegessen.

Ich stürzte zur Toilette und übergab mich. Ehrlich gesagt, fühlte ich mich danach auch nicht viel besser.

Noch schlechter ging es mir, als ich wieder meinen Dienst in der Katzerlburg antreten musste. Nico führte weiterhin die Geschäfte, jetzt ohne den Inhaber.