Chances in Livingshire - Jane Aiven - E-Book

Chances in Livingshire E-Book

Jane Aiven

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Beschreibung

Die fünfundzwanzigjährige Reese führt nach außen hin ein gewöhnliches Kleinstadtleben. Als sie überraschend ein Cottage im entfernten Livingshire erbt, hat sie die Chance, ihrem Alltag auf Zeit zu entfliehen und in das Leben ihrer verstorbenen Tante einzutauchen. Aber an das Erbe sind Bedingungen geknüpft, von denen Reese nichts ahnt. Als sie ein Geheimnis ihrer Tante lüftet, von dem sie nicht einmal etwas wusste, und gleichzeitig Caleb kennenlernt, gerät ihre Welt ins Wanken. Reese ist verheiratet und weiß, dass sie kurz davor steht, unmoralisch zu handeln. Trotz der Idylle der Stadt holt sie die Vergangenheit ein, und es scheint, als würde sie alles verlieren.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Prolog
Kapitel 1
Foldham, Mai 2012
Kapitel 2
Foldham, Mai 2012
Kapitel 3
Foldham, Juni 2012
Kapitel 4
Foldham, August 2012
Kapitel 5
Kapitel 6
Foldham, September 2012
Kapitel 7
Foldham, Oktober 2012
Kapitel 8
Foldham, Oktober 2012
Kapitel 9
Foldham, Oktober 2012
Kapitel 10
Foldham, 03. November 2012
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Foldham, Januar 2018
Kapitel 15
Kapitel 16
Foldham, März 2013
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Schlusswort
Danksagung
Quellen

Jane Aiven

 

 

Chances in Livingshire

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Chances in Livingshire

 

 

 

© 2024 VAJONA Verlag GmbH

Originalausgabe bei VAJONA Verlag GmbH

 

 

Lektorat: Désirée Kläschen

Korrektorat: Désirée Kläschen und Vera Schaub

Umschlaggestaltung: VAJONA Verlag GmbH unter

Verwendung von Motiven von rawpixel

Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz

 

VAJONA Verlag GmbH

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

 

 

 

 

 

 

 

 

Für alle Janes da draußen:

Wenn jemand sagt, das geht nicht,

das kannst du nicht …

Tu es!

Könnte gut werden.

 

Hinweis

 

Dieses Buch behandelt Themen wie häusliche Gewalt.

Mehr Infos hierzu findest du im Schlusswort.

 

Prolog

Foldham, 1996

 

»Okay, Süße«, sagt sie vorsichtig, als sie sich langsam nach unten beugt und die Hände ihrer Nichte in den ihren hält, »ich muss jetzt los.«

»Was meinst du, Tante Grace? Wohin gehst du?«

Grace seufzt und streicht Reese behutsam über das braune Haar, das sich wie immer in Wellen über ihre Schultern legt.

Das Mädchen neigt den Kopf zur Seite und blinzelt der Sonne entgegen, um das Gesicht ihrer Tante sehen und deuten zu können. Grace dreht sich kurz um und zeigt auf das Auto, das mit laufendem Motor in der Einfahrt steht.

»Ich habe dir doch erklärt, dass ich wegziehen werde. Dorthin, wo Benson wohnt.«

»Aber dein Zuhause ist hier. Bei Mom und mir. Bei uns!«

In Reese kommt Panik auf. Obwohl Grace ihr in den letzten Monaten immer wieder gesagt hatte, dass sie bald weggehen würde, war es wie ein Schlag in die Magengrube, dass der Tag tatsächlich schon da war. Aber für ein sechsjähriges Kind ist Zeit nicht greifbar und ein absurdes Konstrukt.

»Reese, hör mir zu.« Grace setzt sich mit ihrer Nichte auf die Stufen der Veranda und versucht, das wiederholte Hupen des Autos im Hintergrund zu ignorieren.

»Mommy geht es besser, sie kommt jetzt ohne mich klar und …«

»… aber ich komme nicht ohne dich klar!«

Reese’ Augen füllen sich mit Tränen, die ihr schnell die Wangen herablaufen und sich in der Kuhle unterhalb ihres Halses zu einem kleinen See sammeln.

»O doch«, ermahnt ihre Tante sie und greift ihr Kinn mit Daumen und Zeigefinger, um ihren Kopf anzuheben. »Du kommst wunderbar ohne mich klar. Und weißt du auch wieso?«

Reese schüttelt langsam den Kopf. Das Auto hupt noch einmal, dann öffnet sich die Tür. Ein Mann steigt aus und bleibt in der geöffneten Wagentür stehen.

»Grace, komm schon!«

»Ich komme gleich!«, ruft sie über ihre Schulter und wendet sich wieder Reese zu.

»Du kommst klar, weil du das stärkste und schlauste kleine Mädchen bist, das ich kenne. Und das darfst du nicht vergessen, Reese. Versprich es mir.«

Reese sieht schmerzverzerrt in die hellblauen Augen ihrer Tante und zwingt sich zu einem Nicken.

Bevor Reese antworten kann, öffnet sich die Haustür im Hintergrund und es ertönt das Geräusch von Reifen, die über Holz rollen. Ein vertrautes Geräusch, seit Reese’ Mom aus der Reha zurückgekehrt ist. Mit einem Rollstuhl.

Es klirrt und beide drehen sich ruckartig um.

»So ein Mist!«

Rose versucht, vom Sitz aus nach den größeren Scherben des Glases zu greifen, das zu Boden gefallen ist und dort eine helle Pfütze hinterlässt.

»Warte, ich helfe dir.«

Grace steht auf und verschwindet im Haus, um kurze Zeit später mit Handfeger und Schaufel zurückzukommen. Während sie die Scherben aufkehrt, ruft der Mann am Auto erneut.

»Grace!«

Sein Ton ist nun rauer und Reese dreht sich nach ihm um, um ihn zu mustern. Tante Grace hatte ihn vor wenigen Monaten kennengelernt und beschlossen, Foldham zu verlassen, um mit ihm in seine Heimat zu ziehen.

»Siehst du, wir kommen nicht ohne dich klar!«

»Reese!«

Ihre Mutter straft sie mit einem strengen Blick – eine unausgesprochene Ermahnung, die Reese sofort versteht und schweigt.

»Nun geh schon, Grace«, sagt Rose und greift nach der kleinen Schaufel, die ihre Schwester immer noch in den Händen hält, um sie auf dem Tisch neben ihr abzulegen. »Benson wartet auf dich. Eine neue Stadt wartet auf dich. Ein Abenteuer!«

Ihre letzten Worte werden von Tränen erstickt. Reese beobachtet die Szene, wie ihre Mutter und ihre Tante sich in den Armen liegen. Grace vornübergebeugt, Rose nach oben gestreckt. Die Hände auf dem Rücken der anderen, zum Abschied sanft streichelnd und tastend. Tröstend, Mut spendend.

»Okay«, flüstert Grace und schnieft. »Okay. Livingshire ist nicht aus der Welt. Fünf Stunden mit dem Auto, dann seid ihr da.«

Reese hatte keine Vorstellung, wie lange fünf Stunden waren. Wie lange man fahren musste, um diese Zeit zu überbrücken.

Grace wendet sie sich auf der Treppe der Veranda noch einmal an Reese und drückt sie zum Abschied an sich. Sie reicht ihrer Tante gerade einmal bis zum Bauch und die beiden wiegen sich einige Sekunden hin und her.

Dann beugt sich Grace nach unten.

»Weißt du noch, was das Mädchen dem Prinzen in unserem Märchen antwortet?«, flüstert sie in das Ohr ihrer Nichte, die daraufhin augenblicklich lachen muss.

»Ich brauche keinen Prinzen auf einem Gaul! Ich brauche einen Mann, der kochen kann und keine Frau sucht, die ihn aushält!«, beendet die Sechsjährige den Satz.

Beide lachen.

»Was bringst du ihr da bei?«, fragte Rose gespielt tadelnd im Hintergrund.

»Alles, was sie für die Zukunft wissen muss!«

Dann tippt Grace ihrer Nichte mit dem Zeigefinger auf die Nasenspitze und drückt ihr einen langen Kuss auf die Stirn.

»Bis bald, Süße.«

»Bis bald, Tante Grace.«

Während sie die Stufen der Veranda nach unten eilt, dreht sie sich noch einmal lächelnd um. Ihr Gesicht, ihre Erscheinung und das Glück, das sie an diesem Tag ausstrahlt, sind ein absoluter Kontrast zu dem lauten Knall der Tür, die auf der Fahrerseite zugeschlagen wird.

Rose kommt an Reese’ Seite und zieht ihre Tochter auf ihren Schoß, während das Auto zurücksetzt.

Winkend sehen sie Grace und Benson nach, die in ein neues Leben fahren.

»Hey, ich verspreche dir, wir bekommen das hin«, flüstert Rose ihr ins Ohr.

»Sie wird mir trotzdem fehlen. Wieso kann sie nicht einfach weiter bei uns wohnen? Ich hatte mich daran gewöhnt, als …«

Sie bricht ab, aber Rose weiß, was ihre Tochter zu sagen versucht.

»… aber jetzt geht es mir wieder gut. Siehst du?«

Sie dreht sich mit dem Rollstuhl und Reese auf ihrem Schoß um die eigene Achse. Erstmals erfüllt Kinderlachen die Luft in diesen frühen Sommerabendstunden und Reese tröstet sich mit dem Gedanken, ihre Tante bald dort besuchen zu können, wo sie ihr Glück versuchen will.

Denn es gibt nur ein Glück im Leben. Lieben und geliebt zu werden.

An diesem Tag im Sommer hatte Reese noch keine Ahnung, welches Geschenk Tante Grace ihr viele Jahre später machen würde.

Und welches Geheimnis sich dahinter verbirgt.

Kapitel 1

 

Foldham, 2018

 

»Reese!«

Das Hämmern gegen die Badezimmertür wird heftiger. Ich stütze mich mit den Händen am Waschbecken ab und starre auf das Stück Plastik, das vor mir liegt.

»Ich komme gleich!«

Ich kann Hunter auf dem Flur vor sich hin fluchen hören und weiß, dass ich mich beeilen muss. Aber fünf Minuten sind fünf Minuten und scheinen in Momenten wie diesen eine halbe Ewigkeit zu dauern.

»Bitte kein zweiter Strich, bitte kein zweiter Strich …«

Wie ein Mantra sage ich die Worte immer und immer wieder, während ich versuche, mein Gedankenkreisen zu unterbrechen, das mittlerweile volle Fahrt aufgenommen hat. Es war unwahrscheinlich, ich nahm die Anti-Baby-Pille. Ich hatte sie nie vergessen. Aber da war dieser eine Abend in der mexikanischen Bar, in der ich zu viel getrunken und es schmerzlich bereut hatte. Bei dem Gedanken an jene Nacht dreht sich mir der Magen um. Schmerzverzerrt blicke ich in mein eigenes Spiegelbild. Ich streiche meine braunen Haare glatt und befühle die Spitzen, die mir mittlerweile bis zu den Schultern reichen, aber dort nicht aufliegen.

Ein Blick auf die Uhr. Drei Minuten.

»Reese!«

Ich bin auf dem Klo!«

»Herrgott …«, flüstere ich und schließe kurz die Augen.

Ich nehme eine Packung Kopfschmerztabletten aus dem Badschrank, lasse den Blick dann wieder auf den Test gleiten und lege den Blister beiseite. Was, wenn doch? Ich schüttele den Gedanken nervös ab und betrachte mein Shirt. Wer hatte die Farbe Türkis für die Arbeitskleidung ausgesucht? Schrecklich. Ich griff nach einem Lipgloss und befeuchte damit meine Lippen.

Zwei Minuten.

Das Namensschild an meinem Oberteil ist schief. Ich rücke es gerade und lese zum hundertsten Mal, was darauf geschrieben steht – Weltons. Unter dem Namen der Supermarktkette mein eigener – Reese White.

»Verdammt, Reese, ich komme zu spät!«

Ein erneutes Poltern gegen die Tür und ich zucke zusammen.

Eine Minute.

Ich weiß, dass ich öffnen muss. Ich habe keine andere Wahl. Verliert Hunter die Geduld, gibt es keinen Ausweg aus der Spirale. Nicht für ihn, nicht für mich, nicht für uns. Ich atme mit geschlossenen Augen tief ein und schließe dann abrupt die Tür auf.

»Was hat da so lange gedauert?«

Er sieht mich mit erhobenen Händen und gerunzelter Stirn an.

»Tut mir leid, wirklich.« Ich küsse seine Wange und lege meine Hände um seinen Hals. Körperkontakt ist meist eine Möglichkeit, ihn zu beruhigen.

»O mein Gott! Bist du …«

Er reißt die Augen auf und sein Blick bleibt auf dem Plastikstück haften, das ich auf dem Waschtisch abgelegt habe.

Null Minuten.

Hunter geht an mir vorbei und greift nach dem Streifen, den er anstarrt.

Im Schockzustand drehe ich mich um und reiße ihm den Test aus den Händen.

»Was heißt das? Sag schon!«

Während er an meine Hüfte greift, um mich an sich zu ziehen, atme ich erleichtert auf. Negativ.

Negativ ist hier positiv. Auch wenn ich das für mich behalte und nicht ausspreche. Ich lächele und flüstere ein stummes Danke gen Himmel.

»Tut mir leid«, sage ich sanft und streiche über seinen Rücken. »Wieder nichts.«

Er zieht mich eng an sich und legt seine Hände auf meinem Po ab.

»Ich kann es nicht abwarten, bis wir ein Baby haben …«, raunt er in mein Ohr und verteilt kleine Küsse auf meinem Hals.

»Es wird passieren, lass uns die Zeit bis dahin zu zweit genießen«, versuche ich ihn abzulenken.

Er sieht mich entgeistert an.

»Du willst das gar nicht richtig, oder?«

Schnell lenke ich ein.

Kein Ausraster. Kein Streit. Nicht jetzt.

»Doch«, flüstere ich und drücke ihn ganz eng an mich.

Er scheint besänftigt, lächelt und reibt seine Jeans an meiner. Dann küsst er sich einen Weg von meinem Hals zu meinen Lippen, von denen er sich jedoch schnell löst.

Der Lipgloss. Ich weiß, es ist der Lipgloss.

»Nun komm schon, wir müssen los«, sage ich.

Er geht einen Schritt aus der Tür, bleibt stehen und zeigt dann mit ausgestrecktem Zeigefinger auf meine Lippen.

»Wische dir das aus dem Gesicht.«

 

 

Auf der Fahrt zum Supermarkt spricht Hunter kein Wort. Er starrt auf die Straße vor uns, eine Hand am Lenkrad, eine auf dem Schaltknauf. Ich weiß, dass es wegen des negativen Schwangerschaftstests ist. Er wünscht sich im Vergleich zu mir dieses Baby so sehr. Und er hat keine Ahnung, dass es das ist, was ich absolut nicht will und wovor ich mich, uns, schütze.

»Nun komm schon, neuer Monat, neues Glück«, schwindle ich. Ein Versuch, ihn aufzuheitern.

Ich bin eine gottverdammte Lügnerin.

Ich bin eine gottverdammte Lügnerin, um nicht auch noch ein Kind hier reinzuziehen. Um ein Kind zu schützen, das es noch nicht einmal gibt. Wie eine echte Mutter das tun würde.

Er reagiert nicht. Stattdessen schaltet er das Radio an und wippt mit dem Kopf leicht im Rhythmus des Songs. Ich betrachte sein Profil – mein Mann ist attraktiv. Er ist groß und hat durch die körperliche Arbeit in der Autowerkstatt einen definierten Körper, kurz geschorenes dunkles Haar und einen Dreitagebart. Dennoch ist er kein Frauenmagnet, was vor allem daran liegt, dass er stets einen festen und fast schon versteinerten Gesichtsausdruck zeigt. Etwas, das das andere Geschlecht abschreckt. Während ich sein Gesicht mustere, erinnere ich mich an sein Lachen. Damals, als wir uns kennenlernten, vor sechs Jahren. Nachdenklich sehe ich aus dem Seitenfenster und lehne meinen Kopf gegen die Scheibe.

Damals. Ich war neunzehn und hatte diesen Traum. Den Traum von einem eigenen Atelier. Von Farbpaletten und Pinseln, die miteinander tanzen, sich liebkosen und dann wieder trennen. Von Nächten mit Leinwänden und verkleksten Kleidungsstücken, die mich für immer daran erinnern, was ich geschaffen habe. Von Kunstgeschichte und eigenen Ausstellungen.

Aber es war das Leben, das mir dazwischenkam, und das Schicksal hatte andere Pläne.

»Warum funktioniert es nicht?«

Hunters Satz ist wie ein schneidendes Messer, das zwischen meinen Gedankenströmen niedersaust und mich zurückholt.

»Was meinst du?«

Statt sich zu erklären, spricht er weiter.

»Du bist fünfundzwanzig, ich bin einunddreißig, wir sind jung und gesund. Wieso klappt es nicht?«

Ich schüttele langsam den Kopf und lege meine Hand auf seine, die er direkt wegzieht. Mittlerweile weiß ich, dass es hier nicht um mich geht. Es ist die Wut, die sich in ihm ausbreitet und Macht über ihn hat. Ich kenne das.

Mit der Faust schlägt er kurz und heftig auf das Lenkrad, weshalb das Auto für einen Bruchteil einer Sekunde leicht ausschert und er versehentlich die Hupe betätigt. Der Wagen, der uns überholt, hupt ebenfalls und der Beifahrer zeigt mit Mimik und Gestik durch die Scheibe, wie erschrocken und wütend er ist. Hunter gestikuliert wild zurück und ruft wüste Beschimpfungen und Beleidigungen gegen die geschlossene Scheibe.

»Hey, hey, hey!« Ich greife nach seinem Arm und versuche, ihn aus diesem Modus zu holen. »Lass ihn. Konzentriere dich auf das hier.«

Er atmet tief ein und aus und beruhigt sich wieder. Bevor ich weitersprechen kann, vibriert etwas in meiner Handtasche.

»Ist das dein Handy?«, fragte er und versuchte einen Blick auf meinen Bildschirm zu erhaschen, als ich es bereits in den Händen halte.

»Ich kenne die Nummer nicht«, flüstere ich und zeige ihm das Display.

»Geh nicht ran.« Er zuckt mit den Achseln.

Ich werfe es zurück in meine Handtasche.

»Wer soll dich jetzt anrufen?«, fragte er und schmunzelt plötzlich, dieser Stimmungswechsel geht bei Hunter extrem schnell. »Ich bin doch bei dir.«

Ich zwinge mich zu einem Lächeln und realisiere, wie recht er damit hat, denn außer zu meinem Ehemann Hunter habe ich außerhalb meiner Arbeitszeiten zu niemandem Kontakt.

Nicht mehr.

 

 

»Ich hole dich nach der Schicht hier ab, aber ich muss für das Bike von letzter Woche die Rechnung fertigmachen. Kann sein, dass du etwas warten musst.« Ich rolle genervt mit den Augen. »Das würde nicht passieren, wenn wir getrennt zur Arbeit fahren würden. Schließlich haben wir zwei Autos. Wo ist …«

Blitzschnell greift Hunter nach meinem Handgelenk. Ich zucke unwillkürlich zusammen. »Es liegt auf dem Weg. Je mehr Geld wir sparen können, desto besser«, sagte er.

Ein mahnender Blick, der auf mir ruht. Situationen wie diese gibt es genügend und ich habe aus meinen Fehlern in der Vergangenheit gelernt – reize nie einen Löwen, der angriffslustig ist und Beute machen will.

»Okay.« Ich gebe mich geschlagen und drücke ihm einen scheuen Kuss auf die Wange.

»Das war’s?«, witzelt er, während er ein Lächeln unterdrückt. »Keinen richtigen Kuss für deinen hart arbeitenden Ehemann?«

Ich lache. Momente wie diese machen mich glücklich. Sie zeigen mir, dass Hunter trotz all dem, was zwischen uns passiert, immer noch irgendwo da ist. Tief unter der Fassade, die er wie einen Schutzschild vor sich herträgt. Ein geprügeltes Kind. Ein Produkt seiner eigenen Vergangenheit. Ich kenne seine Erzählungen, die mir jedes Mal einen Schauer über den Körper jagen.

Ich küsse ihn auf die Lippen, berühre mit meiner Nasenspitze seine und halte inne. Ich sauge den Moment in mich auf wie ein Lebenselixier. Als müsste ich meine Seele für längere Zeit damit nähren. Zuneigung, Liebe, Verbundenheit. Hunter und ich. Es gibt uns immer noch.

»Bis später«, flüstere ich und löse den Autogurt, bevor ich aussteige.

Als ich über den Parkplatz zum Eingang des Supermarkts laufe, hupt es hinter mir. Ich drehe mich um und sehe Hunter weiter über den Beifahrersitz gebeugt. Fragend hebe ich die Hände, wartend, was er will.

»Heute Abend indonesisch?«

Ich nicke lächelnd. Es gibt wohl niemanden, der Bami Goreng so sehr liebt wie er.

Dann lässt er die Reifen quietschen und fährt mit dem Auto in die Richtung, aus der wir gekommen sind.

Ja – oft denken wir, dass ein Ziel in der Richtung liegt, die wir eingeschlagen haben. Aber in Wirklichkeit ist das nur selten der Fall.

 

 

Foldham, Mai 2012

 

Der Tag, an dem ich Hunter kennenlerne, ist ein Montag. Ich sitze an Kasse Nummer sieben bei Weltons, aber in Gedanken bin ich woanders. Ich, neunzehn Jahre alt, jung und sicher auch so naiv zu denken, alles fügt sich und wird gut werden. Ich hatte die Schule beendet und den Aushilfsjob im Supermarkt angenommen, um für ein kleines Polster für mein Studium zu sorgen. In drei Wochen würde ich in Hörsälen ein- und ausgehen, mich mit Kunst und Kunstgeschichte befassen und endlich das tun, wofür ich brenne. Energiegeladen, stark und willig, die Welt zu verändern.

Während ich eine Rolle mit Kleingeld auf der Kante aufschlage, um die Banderole zu lösen, und die Münzen in das jeweilige Fach der Kasse gleiten lasse, rollt eine Lawine Erbsen über das Kassenband. Kreischend versuche ich sie mit meinen Händen aufzuhalten, aber sie suchen sich ihren Weg und kullern über die Scanfläche in meinen Schoß und von dort auf den Boden zu meinen Füßen. Ich bücke mich und versuche sie aufzusammeln, gebe aber nach einer Handvoll auf und komme zurück an die Oberfläche.

Dort sehe ich ihn.

Er steht vor mir mit einer aufgerissenen Packung und kratzt sich verlegen am Kopf mit Millimeterhaarschnitt. Ein Grinsen huscht über sein Gesicht.

»Qualitätskontrolle …«, raunt er mir entgegen und es klingt eher wie eine Frage als nach einer Feststellung.

Bevor ich antworten kann, muss ich laut loslachen. Und er stimmt mit ein.

»Ich zahle die natürlich«, sagt er, als wir uns beruhigt haben.

»Nein«, sage ich und nehme die leere Packung entgegen, um sie in den Mülleimer zu werfen, der neben mir steht, »das musst du nicht. Schon okay. Das passiert ständig, aber …«

Ich lache erneut und sehe in seine Augen, die mich sofort festhalten und seit diesem Tag nie wieder losgelassen haben. »… nicht mit Erbsen.«

»Wird das noch einmal was?«

Die alte Mrs Bridge stützt sich teilweise auf das Band und begutachtet die Situation.

»Alles gut, Mrs Bridge«, versuche ich sie zu beschwichtigen und ziehe die restlichen Lebensmittel über das Band.

»Ich bin Hunter«, sagt er und sieht auf mich herunter.

»Reese«, antworte ich und lächele.

Er ist attraktiv. Und er hat etwas an sich, das eine Faszination auf mich ausübt.

Als er Richtung Ausgang läuft, dreht er sich immer wieder nach mir um und ich erwidere seinen Blick, halte ihn und schmunzele.

Am Folgetag kommt er wieder und fragt nach meiner Nummer. Ich sage nein. Es ist mein Arbeitsplatz, er ist ein Kunde und so etwas sieht man nicht gerne. Ich will nicht riskieren, einen angenehmen Job mit wohlgesinntem Chef zu verlieren. Ich kann den Nebenjob während des Studiums gut gebrauchen. Auch am Tag danach lasse ich ihn abblitzen. Am vierten Tag zerreißt er gleich zwei Beutel mit Tiefkühlerbsen auf dem Band, diesmal mit Absicht.

»Wenn es das braucht, damit du mir mehr Zeit schenkst, zerreiße ich täglich Tüten mit Tiefkühlerbsen. Und ich zahle gerne dafür.«

Es bringt mich zum Lachen und imponiert mir. Seine Hartnäckigkeit lässt meine Arbeitskollegin und Freundin Joyce, die neben mir abkassiert, förmlich dahinschmachten.

Am Abend meiner nächsten Schicht wartet er am Eingang des Supermarktes auf mich.

»Gib ihm eine Chance, der ist wahnsinnig«, raunt sie mir ins Ohr und lässt mich allein mit ihm zurück.

»Wenn es der Arbeitsplatz ist, dann hier, hier arbeitest du nicht«, sagt er schmunzelnd und greift nach meiner Hand. Ich kann mich nicht wehren und bin ihm verfallen. Aber das geht alles viel zu schnell. Und trotzdem kann ich nicht anders.

»Geh mit mir aus, Reese.«

Ich lasse die Waffen sinken und ergebe mich. Lächelnd nicke ich und lasse so den Wolf im Schafspelz in mein Leben.

Kapitel 2

 

 

 

Als ich nach meiner Schicht auf dem Parkplatz stehe, werfe ich einen Blick auf mein Handy. Eine Nachricht von Hunter: Komme ein paar Minuten später. Warte draußen auf mich.

Es war eine typische Nachricht. Kein Smiley, kein Kussmund, kein Herz. Nicht, wie ich Nachrichten schreibe. Ich schüttele die Gedanken wie Regentropfen von mir ab und bemerke erst jetzt, dass mein Mobiltelefon fünf Anrufe in Abwesenheit zeigt. Wieder die Nummer, die ich nicht kenne. Stirnrunzelnd kopiere ich sie aus dem Telefonfeld und füge sie in eine Internetsuchmaschine ein.

»Hey, Reese, wie sieht’s aus? Kommst du mit?«

Bevor ich auf Enter tippen kann, steht eine kleine Gruppe von Leuten vor mir. Jace, Braxton, Bree und Joyce – meine Arbeitskollegen aus dem Supermarkt. Mein Blick trifft auf den von Joyce und das versetzt meinem Herzen einen Stich. Gedanken an längst vergangene Tage, an denen wir fast unzertrennlich waren. Sie sieht betreten nach unten.

Ich stecke das Handy zurück in meine Handtasche und schaue mich unruhig auf dem Parkplatz um. Von Hunter ist noch keine Spur zu sehen.

»Oh, hi, ich …« Ich durchsuche meine Gedanken nach einer Ausrede, die nicht nach einer solchen klingt. »… kann nicht. Danke für das Angebot.«

»Du kannst nicht was?«

Während die Gruppe weiter über den Parkplatz läuft, bleibt Jace stehen und sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Was?« Ich bin verwirrt und weiß nicht, was er mir damit sagen will.

»Na, du sagst, du kannst nicht, dabei weißt du gar nicht, was du nicht kannst. Oder weißt du, was wir vorhaben?«

Er lächelt mich verschmitzt an und ich weiß, dass er meine Lüge erkennt, mich entlarvt hat und hartnäckig bleibt.

»Ich kann nicht, Jace. Danke.«

Ein weiterer Blick huscht verstohlen zur Einfahrt des Parkplatzes. Als ich Hunters Auto sehe, wie es in meine Richtung fährt, fühle ich mich, als hätte ich einen Fehler begangen und etwas Verbotenes getan.

»Ich muss los«, murmele ich und lasse ihn stehen, um auf das Auto zuzulaufen, das zum Stehen kommt.

»Reese!«

Mit schnellen Schritten gehe ich auf den Wagen zu und versuche, Jace’ Rufe zu ignorieren.

Bitte nicht, nicht jetzt. In meinem Kopf sage ich mir diese Worte wieder und wieder. Voller Hoffnung, Hunter würde kein Thema daraus machen.

»Es ist nur ein Drink unter Kollegen, komm schon!«

Ich öffne die Wagentür, setze mich nervös auf den Beifahrersitz und küsse Hunter scheu auf den Mund.

»Was will er von dir? Weiß er nicht, dass du verheiratet bist?«

Shit.

»Er ist nur ein Kollege, Hunter, komm schon«, versuche ich ihn zu beschwichtigen, »lass uns fahren, ich habe Hunger.«

Aber Hunter rührt sich nicht und starrt an meinem Kopf vorbei aus der Scheibe. Dort, wo einige Meter entfernt immer noch Jace auf dem Parkplatz steht und nun hilflos die Hände hebt.

»Reese!« Als er meinen Namen Richtung Auto ruft, überkommt mich Panik, weil ich spüre, dass es der Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Hunter löst impulsiv seinen Gurt und reißt die Wagentür auf. Bevor er aussteigen kann, greife ich schnell nach seinem Oberschenkel und kneife etwas zu fest hinein, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.

»Hunter«, sage ich eindringlich und sehe in seine Augen, als er mir ins Gesicht blickt, »lass uns nach Hause fahren. Bitte. Bitte mach kein Thema daraus. Er ist ein Kollege und hat mich gefragt, ob ich mit ein paar Leuten etwas trinken gehen möchte. Er ist nicht alleine. Siehst du? Da vorne sind die anderen. Dort ist auch Joyce.«

Fast schon panisch zeige ich auf die Gruppe von Kollegen, die wartend an ein Auto gelehnt stehen und die Szene beobachten.

Joyce’ Augen sprechen Bände und in mir macht sich Scham breit. Ich weiß, dass sich längst alle das Maul darüber zerreißen, dass ich nie ja sage und nie mitgehe. In diesem Moment fühle ich Dankbarkeit, weil ich erst wieder in drei Tagen arbeiten muss, und hoffe, dass die Gespräche bis dahin verebbt sind und das Ganze Schnee von gestern sein wird.

»Okay«, flüstert Hunter schnaufend und sieht mir erstmals richtig in die Augen. »… okay.«

Als sich seine Muskeln entspannen und er langsam blinzelt, atme ich erleichtert auf. Dann küsst er mich flüchtig und schließt die Tür. Mit quietschenden Reifen fahren wir an der Gruppe meiner starrenden Kollegen vorbei und biegen auf die Schnellstraße ein. Joyce’ und mein Blick halten aneinander fest, während wir die letzte Kurve nehmen.

 

 

»Essen ist da!«

Mit dem Klingeln an der Tür verbessert sich Hunters Laune schlagartig. Während ich Wasser in zwei Gläser einschenke, bezahlt er den Lieferanten und kommt mit zwei vollen Tüten zurück in die Küche.

»Ich sterbe vor Hunger.«

Ich nehme ihm eine Tüte ab und packe das Essen auf den Tisch. Als ich die rot-weißen Pappschachteln öffne, greife ich nach meinen gebratenen Garnelen und kippe süß-saure Soße über duftenden Reis.

»Mmmmhh«, summe ich und vermische alles mit den Essstäbchen. Während ich schon auf meinem Platz sitze, steht Hunter mir noch gegenüber und starrt in die Packung vor ihm auf dem Tisch.

»Wo ist mein Bami?«

Ich kaue und schlucke dann etwas zu hastig, um ihm schnell antworten zu können.

»Es muss doch da drin sein, Nummer neununddreißig.«

»Neunundvierzig«, sagt er leise und schließt die Augen, »Bami Goreng hat die Nummer neunundvierzig. Schon immer, Reese.«

Er greift nach der geöffneten Schachtel und hält sie mir etwas zu nah unter die Nase, sodass ich den Kopf zurückziehe.

»Sieht das für dich nach gebratenen Nudeln aus?«

Das tut es in der Tat nicht.

Bevor ich etwas darauf antworten kann, fliegt die Schachtel haarscharf an meinem Kopf vorbei und prallt gegen den Kühlschrank im Hintergrund. Erstarrt sitze ich am Tisch und fühle, wie mein Puls sich beschleunigt. Ich lege die Stäbchen nieder und versuche angestrengt, ruhig und bedacht mit Hunter zu sprechen.

»Tut mir leid.«

Hunter schlägt mit beiden flachen Händen auf den Tisch, sodass Wasser aus den Gläsern schwappt und kleine Pfützen auf dem Holz bildet. Er sieht mich mit versteinertem Gesichtsausdruck an und schnauft so schnell und intensiv, dass seine Nasenflügel sich aufblähen.

»Wieso sagst du nicht die Namen, verdammt noch mal?«

»Was?!«

Verwirrt runzele ich die Stirn und sehe ihn an. »Die Namen der Gerichte«, erklärt er mit zusammengebissenen Zähnen und greift nach meiner Schachtel mit Reis. »Reis mit Garnelen. Bami Goreng. Ist das so schwer, Reese?«

Er stellte die Schachtel hastig zurück auf den Tisch, sie fällt zur Seite und der in Soße getränkte Reis landet auf dem Küchenboden.

»Gottverdammt«, flucht er vor sich hin und stößt den Stuhl hinter sich um.

Und plötzlich fühle ich mich, als wäre ich in einem Film gelandet, den man vorwärts spult, so schnell geht alles: Hunter greift nach dem Trinkglas und drückt zu. Als das Glas in seiner Hand zerbricht und sich das Wasser mit der roten Flüssigkeit vermischt, entfährt mir ein leiser Aufschrei.

»O Shit, Hunter!« Ich greife nach seinem Arm und er lässt das kaputte Glas los, das klirrend in Einzelteilen auf den Boden fällt. Dann hebt er abwehrend die Hände und Blut läuft von seiner Handfläche über den Unterarm, zieht eine Spur nach sich, während er mich mit starrem Blick ansieht. Ich weiß, dass es das Zeichen ist, keinen Schritt weiter auf ihn zuzugehen. Er ist wie ein Vulkan, der jeden Moment explodiert. Und obwohl ich meinen Ehemann liebe, kommt in Augenblicken wie diesen Angst in mir auf. Angst davor, was als Nächstes passiert.

Er greift nach dem Küchenhandtuch auf der Anrichte und umwickelt damit seine Faust. Dann geht er in den Flur und nimmt seinen Schlüssel, der am Wandbrett hängt.

»Wo willst du hin?«

Ohne mir zu antworten, geht er nach draußen und schlägt die Tür zu. Sekunden später höre ich sein Auto mit quietschenden Reifen aus der Einfahrt fahren.

Da stehe ich nun. An einem Mittwochabend zwischen Reis in roter Soße, Resten von gebratener Ente am Kühlschrank und auf dem Küchenboden und Glasscherben mit Blutresten meines Ehemanns. Ich hole ein Kehrblech, um zuerst die Scherben zu entfernen. Während ich die großen Teile mit den Händen hochhebe und in den Mülleimer neben mir werfe, schneide ich mir in den Finger.

»Autsch!«

Der brennende Schmerz durchzieht mich und ich gebe einen zischenden Laut von mir. Aus der Küchenschublade ziehe ich ein neues Handtuch hervor und drückte es auf die Wunde.

Und dann, in dieser Sekunde, ist es dieser Gedanke, der sich in meinem Kopf manifestiert. Mal wieder – wie ist es so weit gekommen?

Die Gefühle überrollen mich wie eine Lawine. Weinend rutschte ich am Küchenschrank auf den Boden und lecke meine Wunden.

Wie schon so oft.

 

 

Als ich wieder einen klaren Gedanken fassen kann, raffe ich mich auf. Ich entferne die Reste des Essens und wische den Küchenboden. Die weißen Pappboxen werfe ich in den Mülleimer und stelle die kleine Vase mit Schnittblumen zurück in die Tischmitte. Wie paradox das ist – ein Tisch, der einladend aussieht, aber noch eine Stunde zuvor der Schauplatz von Schmerz, verletztem Stolz und auch Angst war. Angst – mir einzugestehen, dass mein Inneres von diesem Gefühl während Hunters Ausrastern begleitet wird, hat etwas Entwürdigendes. Dabei sollte eine Ehe auf Vertrauen und Liebe, auf einer tiefen Bindung zueinander aufbauen. Dinge, die das Fundament unserer Ehe ausmachen, einmal ausgemacht haben.

Ja, ausgemacht hatten.

Ich seufze und greife nach meiner Handtasche, die immer noch auf dem Küchenboden liegt, seit wir nach Hause gekommen sind. Als ich sie weghänge, vibriert ihr Innenleben. Ich greife nach meinem Telefon und sehe wieder die unbekannte Nummer, die mich schon den ganzen Tag zu erreichen versucht. Einige Sekunden starre ich auf das Display, wie paralysiert von den Zahlen, die dort stehen.

Wer um alles in der Welt versucht mich immer und immer wieder zu erreichen?

»Scheiß drauf …« Ich atme tief durch und drücke auf den grünen Hörer.

»Hallo?«

»Hallo? Mit wem spreche ich bitte?« Ein Mann meldet sich am anderen Ende der Leitung. Seine Stimme ist mir unbekannt.

»Hier ist Reese White.«

»Mrs White, endlich! Hier ist Dr. Peter Poleski.«

Ich wartete, bis er weiterspricht. Der Name sagt mir nichts.

»Mrs White, können wir uns sehen? Diese Woche noch?«

Verwirrt schaue ich auf den Kalender im Flur.

»Worum geht es bitte?«

»Entschuldigen Sie«, erklärt er hektisch und ich höre im Hintergrund Papier rascheln, »ich bin Notar und habe hier etwas für Sie, das ich Ihnen überbringen soll. Das kann ich nicht am Telefon machen.«

»Ist das eine Masche? Eine Abzocke oder so etwas in der Art?«

»Miss White, ganz und gar nicht!« Er scheint ehrlich geschockt. »Das werden Sie schnell merken. Passt Ihnen Freitag? Ich komme zu Ihnen. Ihre Adresse ist korrekt?«

Dann liest er Hunters und meine komplette Adresse vor.

Verwirrt und überfahren von der Situation willige ich ein. Freitag, siebzehn Uhr.

»Mister Polman«, unterbreche ich seine Abschiedsfloskeln, »sagen Sie mir wenigstens, worum es geht? Ich bin völlig ahnungslos.«

»Entschuldigen Sie, natürlich«, setzt er erneut an, »es geht um Ihre Tante, Grace Oley, und um ihren Nachlass.«

 

 

Ich gehe früh zu Bett und liege lange Zeit wach im Dunkeln. Während ich an die Wand gegenüber starre, wo die Lichter der vorbeifahrenden Autos auf der nahe gelegenen Schnellstraße verschiedene Formen an die Tapete werfen, denke ich an meine Tante Grace. Ich erinnere mich an Bruchstücke aus meiner Kindheit, die sie damals mit ihrer bloßen Anwesenheit wie in eine warme Decke packte, sodass ich mich stets geliebt und wertgeschätzt fühlte.

»Schlaues Mädchen«, flüstere ich vor mich hin. Etwas, das sie oft zu mir sagte. Bilder füllen meine Gedanken wie kleine Blitze und mir wird ganz warm dabei, an Grace’ Geruch, an ihre Stimme und ihre Arme zu denken.

Grace ist tot und ich bin die Einzige, die aus unserer Familie übrig ist. Dass sie nicht mehr da ist, macht keinen Sinn. Jemand hätte angerufen. Wir haben telefoniert, wir haben uns gesehen und getroffen. Schmerzlich erinnere ich mich daran, wann ich das letzte Mal Kontakt zu ihr hatte. Es war, nachdem Hunter und ich in dieses Haus gezogen waren. Es hatte einen fürchterlichen Streit gegeben, weil er sich durch ihren Besuch eingeschränkt fühlte. Danach kam sie nicht mehr. Das letzte Telefonat hatten wir vor Monaten geführt, als ich sie an ihrem Geburtstag angerufen hatte.

Wow. Ganze Monate. Und erst jetzt fällt es mir auf. Ich fühle mich schrecklich und wälze mich in einem Meer aus Kissen und Laken umher. Was wird dieser Notar mir sagen? Wieso will er dafür herkommen? Und vor allem – was genau ist passiert?

Meine Träume sind in dieser Nacht gespickt mit Bildern von Grace Oley. Grace und ich im Garten meiner Eltern nach dem Unfall, der meinen Vater aus dem Leben riss und meine Mutter in den Rollstuhl brachte. Grace und ich in der Küche beim Pfannkuchenbacken. Sie versuchte stets, Tierformen zu gießen. Aber es misslang meistens und wir benannten die seltsamen Teigvariationen nach Fabelwesen, bevor wir sie aufaßen.

Das Letzte, woran ich denke, bevor ich einschlafe, ist der Abschied auf der Terrasse, als sie mit Benson nach Livingshire zog.

Im Unterbewusstsein nehme ich irgendwann wahr, wie sich Hunter von hinten an mich schmiegt und mir über den Oberarm streicht. Ich kann spüren, dass seine Hand verbunden ist, und erst dann erinnere ich mich an die Geschehnisse in der Küche vom Vorabend zurück – indonesisch. Bami Goreng. Reis mit roter Soße auf den Küchenfliesen.

»Schläfst du?«

Er drückt mir vorsichtig Küsse auf den Oberarm. Ich lasse die Augen geschlossen und stelle mich schlafend.

Augen schließen. Ein Schutzschild bei Tag und bei Nacht, welches wie ein einfühlsamer Freund die Arme ausbreitet und mich willkommen heißt. Bis ich wieder tief einschlafe.

 

 

»Wenn es um Schulden geht, werden wir das nicht zahlen, hörst du? Wir werden uns einen Anwalt nehmen und …«

Während Hunter im Flur hektisch hin- und herläuft, immer wieder einen Blick nach draußen werfend, um zu sehen, ob Dr. Poleski eintrifft, blende ich seinen Vortrag komplett aus. Kaffee läuft durch die Maschine in der Küche und erfüllt die Umgebung mit einem Wohlfühlduft. Unser Haus ist klein, aber reicht für uns beide völlig aus. Es ist nichts Besonderes und eigentlich eine Art Container, ein mobile home, das schön hergerichtet ist, aber wir konnten es bezahlen und ich versuche stets, das Beste rauszuholen, ohne viel Geld ausgeben zu müssen. Uns geht es finanziell nicht schlecht, aber zusätzliche Ausgaben sind immer eine Belastung. Mir kommen Sätze von Hunter in den Kopf, als ich ihn am Fenster Richtung Einfahrt durch den Vorhang hindurchspähen sehe: Wenn du erst einmal schwanger bist, kannst du kündigen. Wir brauchen kein zweites Gehalt. Wir können von meinem Geld leben. Ich werde ein paar Zusatzschichten einlegen.

Als ich einen Blick in den Spiegel vor mir werfe, frage ich mich, wer die Frau ist, die mir mittlerweile entgegenblickt, und der Gedanke erschreckt mich irgendwie.

»Er ist da.«

Hunters Ruf holt mich ins Hier und Jetzt zurück.

Der Notar legt eine Mappe auf den Tisch. Auf der Vorderseite ist ein Kunstdruck eines Gemäldes zu erkennen.

»Ist das ein Falusca?« Ich zeige gebannt auf das Abbild einer Frau mit Kind an der Hand, die über Kopfsteinpflaster flanieren und von Blumenranken eingerahmt werden, die an den Mauern links und rechts herunterwachsen.

Überrascht sieht er auf.

»Sie kennen Falusca?«

Ich nicke lächelnd.

»Interessante Persönlichkeit, toller Künstler.« Er scheint beeindruckt und nickt mir zu. »Sind Sie Kunstliebhaberin, Miss White?«

Ja, schreit mein Herz.

Nein, mahnt mein Kopf.

»Nein, ich …«, in meinem Kopf lege ich mir die Antwort zurecht und fühle mich ertappt, »… habe mich früher einmal für Kunst interessiert.«

Wie leicht einem Lügen über die Lippen gehen, um das zu schützen, was man wirklich liebt.

Hunter räuspert sich. Eine Ermahnung, endlich zum Punkt zu kommen. Und es wirkt. Dr. Poleski tut es ihm nach.

»Nun, Mrs White«, spricht der Notar murmelnd vor sich hin, als er die Mappe öffnet und Papiere hervorholt, »es geht wie gesagt um Ihre Tante, Grace Oley.«

Ich stelle die Tasse schwarzen Kaffee vor ihm ab und nehme meinen Personalausweis wieder an mich, den er zuvor verlangt hat.

»Sie ist vor vier Wochen gestorben.«

Der Satz rast wie ein Beil auf den Küchentisch herab.

Obwohl ich wusste, dass es um ihren Nachlass geht, trifft mich die Nachricht direkt ins Herz. Es zu hören macht etwas mit mir und verändert meine Wahrnehmung. Bilder von Grace rasen nun wie wilde Hummeln in meinem Kopf umher. Wie ein Schwarm von Insekten bewegen sie sich und nehmen mir fast die Luft zum Atmen.

»Aber wieso …« Ich stammele wirr Sätze zusammen, während Hunter seine verbundene Hand auf meinem Arm ablegt. »Niemand hat uns angerufen, mich angerufen. Hätte mich nicht jemand in Kenntnis setzen müssen? Ich weiß gar nicht, wie …«

Hunter unterbricht mich, indem er etwas zudrückt und die gesunde Hand anhebt.

»Meine Frau und Grace Oley hatten ein gutes Verhältnis, wissen Sie«, erklärt er und sieht mich an. »Wir sind nur verwundert, dass wir das so spät und auch durch einen Notar erfahren. Sind Sie deswegen gekommen? Um uns das mitzuteilen?«

Mister Poleski schüttelt den Kopf und sieht mich über seine Brillengläser hinweg an.

»Da sind noch andere Dinge, die ich Ihnen überbringen soll. Wenn Sie so weit wären …« Er zeigt matt lächelnd auf den Stuhl, den ich gerade verlassen habe.

»Hören Sie, wenn es um Schulden geht …«, setzt Hunter an und zeigt mit den Armen um sich, »dann können wir diese nicht übernehmen. Wir zahlen die Hypothek für das Haus ab und haben kein Erspartes, auf das wir zurückgreifen können.«

Peter Poleski lässt seinen Blick von Hunter zu mir und zurück gleiten. Ich setze mich wieder an den Tisch und falte die Hände, um mich zu erden. Ich muss hören, weshalb er noch hier ist. Was er noch von mir will, was Grace noch von mir will. Über den Tod hinaus.

»Was ist es?«, frage ich geradeheraus und schalte jegliche Emotionen auf Pause.

»Miss White«, setzt er an und sieht auf seine Papiere, »Ihre Tante möchte Ihnen ihr Cottage in Livingshire vermachen. Es ist komplett abbezahlt und würde somit ganz Ihnen gehören.«

Ich starre ihn an und lasse die Hände auf den Tisch sinken. Es ist Hunter, der zuerst seine Stimme wiederfindet.

»Ein Cottage? So ein altes Häuschen, wofür die Menschen unheimlich viel Geld bezahlen, um es zu kaufen oder dort Ferien zu machen? So ein Cottage meinen Sie?«

Peter Poleski legt das Bild eines alten Hauses auf den Tisch. Es wirkt wie in einem Märchen. Meine Gedanken verpflanzen das alte Steinhaus mit Steinmauer und Einfahrt in einen Wald und lassen die Fabelwesen der misslungenen Pfannkuchen aus meiner Erinnerung darum tanzen. Ich muss lächeln.

»Wie viel ist es wert?«

Um Hunters Frage zu beantworten, sucht der Notar murmelnd die Seiten durch und zieht dann ein Gutachten aus dem Stapel, das er uns vorlegt.

»Es wurde vor wenigen Monaten von einem unabhängigen Gutachter geschätzt. Der Marktwert liegt demnach bei ungefähr zweihundertneunzigtausend britischen Pfund.«

»Was?!«

Hunter und ich sehen uns an. Lediglich die Wanduhr ist im Hintergrund zu hören, wie sie langsam vor sich hin tickt.

»Wo ist der Haken?«, fragt Hunter misstrauisch.

»Ich würde es nicht Haken nennen«, erklärt Peter Poleski zögernd. »Eher eine Bedingung, die Miss Oley stellt, ehe das Cottage in den Besitz von Miss White übergeht und sie darüber frei verfügen kann.«

Hunter greift meine Hand. Ich bin immer noch sprachlos, dass meine Tante mir so ein Geschenk macht.

»Welche Bedingung? Was müssen wir dafür tun?«

Mister Poleski zieht ein Blatt hervor. Emotionslos, recht stupide und etwas zu schnell liest er die Auflagen vor, die an das Vermächtnis von Grace geknüpft sind.

»Miss Reese White erbt das Cottage in der Westmoore Road 82 in JMN 3110 Livingshire, England, und kann darüber absolut frei verfügen, sofern sie bereit ist, bis zum fünften Oktober 2018 nach Livingshire zu reisen, um dort einige Angelegenheiten für die verstorbene Grace Oley zu regeln. Sie kann dort …«

»Fünfter Oktober?«, unterbricht ihn Hunter aufgebracht und sieht mich entgeistert an. »Aber das sind … drei ganze Monate! So lange kann ich mich nicht freistellen lassen. Wie stellt sich diese Frau das vor?«

Ich spürte, wie sich sein Gemüt wieder erhitzt. Beschämt blickte ich in das Gesicht des Notars.

»Das müssen Sie nicht, Mister White«, ergänzte er und lächelt ihn matt an. »Es ist der ausdrückliche Wunsch von Miss Grace Oley gewesen, dass Ihre Frau diese Reise alleine antritt. Wenn Sie gestatten …«

Er hält das Papier kurz hoch, um seinen Vortrag abzuschließen, den Hunter unterbrochen hatte.

»Sie kann im Cottage wohnen und von den Rücklagen leben, bis die drei Monate verstrichen und die Angelegenheiten geregelt sind. Das Cottage geht dann in Ihren Besitz über.«

Hunter und ich sehen uns an. Mein Blick gleitet zu dem Foto des Cottage, das immer noch auf dem Küchentisch liegt und mich förmlich anstarrt.

Welche Angelegenheiten sind so wichtig, dass Grace sie mir über ihren Tod hinaus aufträgt und nicht von jemand anderem vor Ort erledigen lassen kann? Dass ich mich alleine darum kümmern soll? Dass sie mir zum Dank ein ganzes Haus vermacht?

»Ich werde draußen warten. Sie beide können sich beraten, ob Sie das Angebot annehmen möchten, Miss White. Ansonsten wird der Erlös des Cottage gespendet. Ich brauche noch heute eine Entscheidung von Ihnen. Auch das war eine Auflage Ihrer Tante.«

Mit diesen Worten lässt er den Verschluss des Aktenkoffers zuschnappen und verlässt das Haus, um in der Einfahrt im Wagen zu warten.

Als er die Haustür hinter sich zuzieht, erhebt sich Hunter und läuft unruhig in der Küche umher.

»Zweihundertneunzigtausend Pfund, das ist eine ganze Stange Geld.«

Ich nicke und nehme das Bild in die Hand, das der Notar zurückgelassen hat.

»Das ist es. Aber es ist auch ein schönes Haus. Es wäre ein Neuanfang für uns.«

Hunter sieht mich entgeistert an.

»Unser Leben ist hier.« Sein Ton lässt keine Diskussionen zu. »Und war es nicht schon immer unser Traum, eine eigene Werkstatt zu führen? Damit wäre es uns endlich möglich, das zu tun.«

Dein Traum. Das ist dein Traum. Und du kennst meinen. Ich habe meinen für dich aufgegeben, du hältst an deinem weiter fest und zwingst mich dazu, ihn zu leben. Vom Erbe meiner toten Tante Grace, die ich bisher noch nicht einmal betrauern konnte.

Ich erschrecke über die Gedanken, die sich in meinem Kopf manifestieren.

Er kommt auf mich zu und nimmt mein Gesicht in seine Hände. Sein Blick wird weich und ich fühle mich für den Bruchteil einer Sekunde zurückversetzt. Zurück in die Jahre, in denen alles noch magisch und neu und aufregend war. Eine junge und naive Liebe, die viel zu früh begann.

»Lass es uns tun«, sagt er dann und blickt mir von einem Auge ins andere, »und im Herbst gehört uns dieses Cottage, das wir verkaufen, um eine Werkstatt zu eröffnen.«

Er legt die Arme um mich und zieht mich an sich heran. Ich stehe wie gelähmt in unserer Küche und starre auf das Bild an der Wand, das uns am Tag des Umzugs in dieses Haus zeigt. Hunter trägt mich Huckepack und ich halte einen Schlüssel in die Kamera. Wir lachen beide und sehen glücklich aus. Ja, das war eine frühere Version von uns und ich bin mir immer noch sicher, dass sie irgendwo in uns schlummert und nur wachgerüttelt werden muss. Irgendwie.

Aber als ich das Bild betrachte, zieht eine Sache meine Aufmerksamkeit fast schon magisch an, die mir bisher nicht aufgefallen war: Das Bild hängt schief.

 

 

Der anfängliche Schock Hunters lässt schnell nach, je mehr er sich mit dem Gedanken auseinandersetzt, zu so viel Geld zu kommen. Ich solle meinen Job im Supermarkt kündigen, das sei ohnehin schon lange der Plan gewesen, argumentiert er. Doch statt dies zu tun, bitte ich meinen Chef, den Vertrag wegen einer Familienangelegenheit für die Zeit ruhen zu lassen. Ich bin eine gute Arbeitskraft, pünktlich und verlässlich. Ich erzähle Hunter nichts von dem heimlichen Deal. Wie es weitergeht, würde ich im Oktober klären.

Ich trauere stumm und für mich um meine tote Tante Grace. Vielleicht, weil ich weiß, wie Hunter darauf reagieren würde. Vielleicht auch, weil das schlechte Gewissen mich plagt, was die Sache angeht. Ich weiß nicht einmal, woran sie starb. Aber die Vorbereitungen mit dem Notar lassen darauf schließen, dass sie wusste, wie es um sie bestellt war. Wenn es eine Möglichkeit gibt, das alles herauszufinden, dann in Livingshire. Eine Stadt, die mir bisher völlig unbekannt war. Eine Stadt, in der Grace mit Benson damals das Glück gesucht und anscheinend gefunden hat. Würde ich in der Zeit meines Aufenthalts glücklich sein? Alleine? Die Vorstellung beunruhigt mich, weil es eine große Unbekannte ist.

 

 

»Die Zeit wird vergehen wie im Flug, du wirst sehen«, spricht mir Hunter Mut zu, als er wenige Tage später meine Koffer in mein Auto lädt. »Wir werden telefonieren. Und ich werde dich besuchen. Versprochen.«

Dann schließt er den Kofferraumdeckel und zieht mich an sich. Er küsst mein Haar und legt die Arme so fest um mich, dass ich das Gefühl habe, nicht frei atmen zu können. Plötzlich überkommt mich Panik und ich weiß nicht, ob es an seiner Umklammerung oder an der Tatsache liegt, dass ich mehrere Monate getrennt von ihm in einer absolut fremden Stadt leben werde. Bisher hat niemand gefragt, ob ich das überhaupt will. Aber ich muss herausfinden, was Grace so wichtig war, dass sie mich damit beauftragte. Das ist mir wichtiger als dieses Erbe selbst.

Wir küssen uns und ich konzentriere mich immer noch auf meinen Atem, als ich bereits im Auto sitze. Im Rückspiegel sehe ich meinen Ehemann in der Einfahrt stehen, während ich den Weg abfahre, den mein Navigationssystem mir anzeigt.

Der Weg in das Leben von Grace Oley.

Und je kleiner Hunter im Rückspiegel wird, desto freier kann ich atmen.

 

Foldham, Mai 2012

 

Nur eine Woche, nachdem ich Hunter kennengelernt habe, sitzen wir an einem Samstagabend in einem indonesischen Schnellimbiss und verbringen den ersten Abend miteinander. Es ist wenig romantisch, aber seine Blicke, die er mir über den Tisch hinweg zuwirft, ziehen mich in diesen Bann, gegen den ich mich nicht wehren kann oder will. Er erzählt mir von sich und ich sauge alle Informationen auf wie ein Schwamm. Als habe es eine immense Bedeutung, mir all das zu merken, was er mir offenbart – Hunter, fünfundzwanzig Jahre, Automechaniker in der örtlichen Werkstatt. Er liebt Autos, Motorräder und das Schrauben. Er wohnt in einer Wohnung in der Stadt und liebt Kaffee. Schwarz. Mit Zucker. Und Bami Goreng, das er zwischen seinen Erzählungen mit Essstäbchen aufnimmt.

Ich mustere ihn. Er hat einen definierten Oberkörper, der sich unter einem weißen Longsleeve abzeichnet, einen Drei-Tage-Bart und grüne Augen, die an Smaragde erinnern.

Nach dem Essen schlendern wir durch die Innenstadt und er lädt mich auf einen Espresso in seine Wohnung ein. Wir haben schnellen hemmungslosen Sex an der Rückseite der Eingangstür, und als der Rausch vorbei ist und das beflügelnde Gefühl bei mir nachlässt, meldet sich eine mahnende Stimme in meinem Inneren zu Wort, die nicht fassen kann, dass ich gerade mit einem fast wildfremden Mann geschlafen habe, den ich erst vor einer Woche während der Arbeit am Kassenband kennengelernt habe. Tiefkühlerbsen, die über das Band kullern.

Es fühlt sich an, als hätte ich die Ereignisse von mehreren Wochen oder sogar Monaten an einem einzigen Abend erlebt und fühle mich von mir selbst überrannt. Aber mein Bewusstsein antwortet mir, dass ich es immer wieder tun würde, als er mich zum Abschied küsst.

Kapitel 3

 

 

 

Die Töne aus dem Radio werden von einem penetranten Piepen unterbrochen. Bitte tanken blinkt es auf dem Display auf. Das Navi zeigt eine Entfernung von zehn Meilen an.

»Ernsthaft?« Ich seufze und drücke verschiedene Tasten, um mir Tankmöglichkeiten in der Umgebung anzeigen zu lassen. Es ist heiß im Auto. Längere Strecken ohne funktionierende Klimaanlage sind Anfang Juli eine Qual, aber Hunter schiebt die Reparatur seit einem Jahr immer wieder auf – du fährst so selten, wir sparen uns das Geld.

Ich schüttele lachend den Kopf. Wenn die Sache mit dem Cottage erledigt ist, gehören Sätze wie diese hoffentlich der Vergangenheit an. Ein für alle Mal.

Ich fühle, wie meine Finger durch die Hitze leicht geschwollen sind. Mein Ringfinger schmerzt, weil mein Ehering einschneidet und nicht einmal mehr Raum lässt, ihn lose zu drehen, wie sonst. Ich zögere, aber dann ziehe ich ihn mit schmerzverzerrtem Gesicht mühevoll vom Finger. Er gleitet mir aus den Händen und verschwindet zwischen Autositz und Handbremse. Es wirkt fast so, als lache mich das Schicksal mit ausgestrecktem Zeigefinger aus – das erste Mal, dass Hunter und du räumlich voneinander getrennt seid, und dir passiert genau das?!

»So eine Scheiße!«, fluchend verbiege ich mich hinter dem Lenkrad, versuche konzentriert die Straße im Blick zu haben und gleichzeitig mit meinen Fingern in den Spalt zu fassen, wo eben mein Ring verschwunden ist. Dann ploppt auf dem Display meines Navis das Suchergebnis der Tankstellen in der Nähe auf – eine Meile entfernt. Seufzend gebe ich auf und lasse mich in den Sitz sinken. Den Ring würde ich später suchen. Kurz darauf biege ich links ein und parke eng an der Zapfsäule.

Während ich tanke, lasse ich die Sonne auf mein Gesicht strahlen, schließe die Augen und lehne den Kopf zurück. Es ist ein herrlicher Sommertag und ich versuche, Pläne zu schmieden, was ich mit so viel freier Zeit über drei Monate anfangen soll. Auch, wenn ich noch keine Ahnung habe, was mich erwartet und was ich für Grace im Nachgang erledigen soll. Als ich einsteige, um weiterzufahren, klatscht ein riesiger weißer Klecks von oben direkt in mein Gesichtsfeld auf meine Frontscheibe.

»Das darf doch nicht wahr sein …«

Ich lasse meinen Kopf mit der Stirn auf das Lenkrad fallen und betätige versehentlich die Hupe, was mich direkt aufschrecken lässt. So kann ich unmöglich weiterfahren. Ich sehe so gut wie nichts mehr.

Welcher monströse Vogel macht solche Haufen?

Seufzend steige ich wieder aus und sehe mich um. Am Rand der Zapfsäule steht ein Eimer mit Seifenlauge und Putzutensilien. Ich tauche den Scheibenputzer mehrmals in die Flüssigkeit, wo bunte Seifenblasen die Oberfläche benetzen. Ein Kreischen über mir lässt mich nach oben schauen.

»Das ist also der Übeltäter«, flüstere ich und halte meine Hand zum Schutz über meine Augen, um besser Richtung Sonne blicken zu können. Ich laufe ein paar Meter rückwärts und sehe weit über der Tankstelle zwei Vögel mit beachtlicher Flügelspannweite am Himmel kreisen, die dann weiterfliegen.

»Was sagt man über Störche?«, murmele ich und muss dabei an meine Mutter denken, die dem Aberglauben Beachtung schenkte, dass Störche Nachwuchs ankündigen.

Als ich mich umdrehe, rumst es und ich stoße gegen eine andere Person. So heftig, dass das schmutzige Putzwasser überschwappt und sich über mein olivfarbenes Top und das blütenweiße Hemd meines Gegenübers ergießt. Der Eimer fällt zu Boden und das Wasser sucht sich dort den Weg in jegliche Ritzen.

Geschockt sehe ich vom Boden auf in das Gesicht des Mannes, der es gerade mit den Fingern von Wasserspritzern befreit.

»O Gott, es tut mir so leid, ich …« Mit offenem Mund starre ich ihn an, dann gen Himmel, wo gerade noch die beiden Vögel ihre Kreise gezogen haben, dann zur Windschutzscheibe im Hintergrund, die immer noch schmutzig ist. Er lächelt und fährt sich mit der rechten Hand durch den dunkeln Bart, um auch dort die hängen gebliebenen Seifenreste zu entfernen.

»Diese verdammten Störche, es tut mir leid, ich habe Sie nicht gesehen. Man sollte wohl nicht rückwärtslaufen, schätze ich.«

Ich zwinge mich zu einem verkrampften Lächeln und fühle mich wie ein Kind neben ihm, das bei etwas Verbotenem ertappt wurde.

»Kraniche«, sagt er und zeigt nach oben, dann auf mein Auto. Mit den Händen schüttelt er sein locker sitzendes Hemd auf, sodass das Wasser nach unten tropft.

»Wie bitte?«

»Keine Störche, das sind Kraniche«, erklärt er.

Ich weiß nichts mit der Info anzufangen.

»Ich ersetze natürlich das Hemd oder … zahle die Reinigung. Das ist meine Schuld.«

Er winkt ab.

»Halb so wild. Es ist Sommer, das trocknet. Und die Waschmaschine ist gut genug.« Dann wischt er sich die rechte Hand an der Hose ab und streckt sie mir entgegen. »Ich bin Caleb.«

»Reese«, sage ich verlegen und tue es ihm gleich.

Und dann ist da dieser Moment.

Der Moment, der meinen Blickwinkel ändert. Der Moment, der alles ändert. Wir bücken uns gleichzeitig und fast schon synchron, um den Eimer aufzuheben. Als sich unsere Fingerkuppen berühren, halten wir beide inne und sehen einander in der Hocke an. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich einem Mann abgesehen von Hunter zuletzt so nah gewesen bin. Ich ziehe die Sonnenbrille ab und betrachte sein Gesicht. Er hat dunkle Haare, die zu einem Bun zusammengebunden sind, buschige Augenbrauen, dunkle Augen und einen Bart, der seine Lippen wie ein Gemälde einrahmt. Sein nasses Hemd klebt an seinem Oberkörper und zeichnet ihn so genau nach, dass ich weiß, wie er ohne aussehen muss, und es macht mich nervös.

Sehr sogar.

»Das …«, flüstert er und sieht mir direkt in die Augen, »… ist filmreif.«

»Das hier?«

Ich muss lachen.

»Es ist wie im Film, ja …«

»Eine Komödie vielleicht«, antworte ich und nun lachen wir beide.

Ein Mitarbeiter der Tankstelle unterbricht uns und stellt einen Eimer mit frischem Putzwasser ab. Es ist wie ein Signal, aufzustehen und meine Gedanken zur Ruhe zu ermahnen.

»Ich helfe dir mit der Frontscheibe und dem Kranichurin.«

»Kot«, verbessere ich ihn und verziehe angewidert das Gesicht, während wir zum Wagen gehen.

Als er meine Scheibe putzt, erklärt er mir, was er meint.

»Ist das Sekret von Vögeln ganz weiß, ist es eher Urin. Er ist konzentrierter als bei uns Menschen, deshalb die Farbe. Aber Vögel scheiden Kot und Urin über eine einzige Körperöffnung aus, deshalb …«

Er unterbricht seine Ausführungen und bedeckt sich lachend mit den Händen das Gesicht.

»Tut mir leid, ich rede hier auf dich ein und …«

Ein Telefon klingelt. Er hebt seinen Zeigefinger als Zeichen, dass er einen Moment braucht, und geht ran. Während er spricht, bewegt er sich einige Schritte hin und her und ich kann ihn in Ruhe ganz betrachten. Er ist groß und definiert. Nicht so muskulös wie Hunter, aber alles an ihm scheint stimmig. Wie Teile eines Puzzles, die perfekt zueinander passen. Dass ich an Hunter denke, jagt mir einen Schrecken ein – was würde er sagen, wenn er diese Begegnung sehen könnte?

Ich schüttele den Gedanken ab, als er zurückkommt.

»Tut mir leid, das war meine Tochter.« Er zeigt auf das Handy und steckt es ein.

Seine Tochter. Er hat eine Tochter, er ist Familienvater, Ehemann. Wieso fühlt sich der Gedanke wie ein Schock für mich an?

»Ich muss los«, sagt er und zeigt auf sein Auto im Hintergrund.

»Dann .

---ENDE DER LESEPROBE---