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Ivy Sanchéz verliert durch einen tragischen Unfall im Kindesalter beide Elternteile. Selbst als junge Frau von vierundzwanzig Jahren kämpft sie noch mit Alpträumen. Durch einen Zufall trifft sie eines Tages auf den verschlossenen Blake McBoyd, für den sie widersprüchliche Gefühle entwickelt und der sie wie ein Magnet anzieht. Ivy taucht ein in ein Familiengeheimnis dreier Brüder. Sie verliert sich dabei immer mehr und gerät letztendlich in große Gefahr.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Jane Aiven
New Start in Livingshire
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© 2024 VAJONA Verlag GmbH
Originalausgabe bei VAJONA Verlag GmbH
Lektorat: Désirée Kläschen
Korrektorat: Désirée Kläschen und Susann Chemnitzer
Umschlaggestaltung: VAJONA Verlag GmbH unter
Verwendung von Motiven von rawpixel
Satz: VAJONA Verlag, Oelsnitz
VAJONA Verlag GmbH
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
Für alle, die täglich gegen Dämonen kämpfen.
Dämonen des Selbstzweifels, der Selbstfindung,
der chronischen Erkrankung, der Sucht,
der Depression und gegen den Dämon Krebs.
Die Playlist zum Buch
Dunkel und schwer legt sich die Decke über mich und nimmt mir die Möglichkeit, zu sehen und zu atmen. Die Kälte bohrt sich wie Nadelstiche in meine Haut und schmerzt so sehr, dass ich mich hin- und herdrehe, hin- und herwende, um den Schmerz abzuschütteln, obwohl mir bewusst ist, dass es nicht klappen kann. Wild strample ich mit den Beinen und versuche, mich nach oben zu kämpfen. Dahin, wo es hell ist. Dahin, wo es Rettung und Hoffnung gibt. Aber egal, wie sehr ich mich bemühe, ich bewege mich nicht von der Stelle und fühle mich wie auf einer endlos wirkenden Straße ins Nirgendwo. Eine Hand packt mich am Unterarm und ich erschrecke so sehr, dass ich den Mund öffne und salziges Wasser schlucke.
Ich muss hier raus.
Jetzt.
Sofort.
Schnell!
Die Hand zieht mich aus dem Wasser, ich schnappe hektisch nach Luft und reiße die Augen auf. Mein Dad hievt mich über die Reling zu sich auf das Boot. Ich nehme die großen Lettern an der Seite wahr – Infintiy.
Heißt unser Boot Infinity?
Als ich festen Boden unter meinen nackten Füßen spüre, lasse ich mich erschöpft nach hinten fallen und lege mich auf den Rücken, huste und drehe mich direkt auf die Seite, um das Salzwasser auszuspucken, das ich geschluckt habe. Aber es schmeckt gar nicht salzig, im Gegenteil. Es schmeckt süß. Nach Erdbeeren und Sahne.
Plötzlich kommt mir alles unwirklich vor.
Ich sehe in das Gesicht meines Dads und merke, dass er einen Anzug mit Krawatte trägt statt einer Badehose.
»Dad, was …«, stottere ich ihm entgegen und sehe mich auf dem Boot nach Mom um, »… tust du hier?«
»Dir das Leben retten, Schätzchen.«
Er lächelt auf mich herab und hält mir die Hand hin.
»Deine Mom und ich vermissen dich. Komm schon.«
Ich starre wie paralysiert auf die Hand, die mir immer die vertraute Wärme spendet und mich hält, tröstet und mir über Haare und Rücken streicht.
»Mom?«
Panisch rappele ich mich auf und drehe mich um meine eigene Achse. Das Schaukeln um mich herum hat aufgehört und das Boot bewegt sich nicht mehr sanft mit den Wellen des Ozeans, sondern liegt brach auf einem Sandbett.
»Was zur ….« Ich lasse den Fluch unbeendet und starre meinen Dad an, der mich immer noch anlächelt und mir geduldig die Hand hinhält.
»Sie wartet schon auf uns«, flüstert er und nickt mit dem Kopf in die andere Richtung.
Bevor ich eine Frage stellen kann, merke ich, dass er immer mehr verblasst, bis er sich ganz auflöst.
Und ich schreie.
Schreiend setze ich mich auf und blicke durch einzelne Haarsträhnen in die Dunkelheit, die mich umgibt. Ich atme keuchend ein und aus, versuche mich und meinen hämmernden Puls zu beruhigen, indem ich die Augen für einige Sekunden schließe und in Gedanken langsam bis fünf zähle, dann die Luft kurz anhalte und noch länger wieder ausatme. Als ich bei acht angekommen bin, öffne ich die Augen und erkenne nun die Umrisse der Möbelstücke in der Dämmerung – den Schrank, meinen Schreibtisch, Regale mit Büchern, aus denen unendlich viele Zettel und kleine bunte Papierstreifen herausragen. Ich nutze sie, um die Stellen schnell wiederzufinden, die mich beeindrucken, die mir etwas bedeuten und mich zum Nachdenken anregen. In diesem Moment beruhigen sie mich, denn ich fühle mich wieder sicher und verdränge die Bilder vor meinem geistigen Auge. Die Bilder des Albtraums, der mich seit Jahren begleitet. Die Bilder vom Boot, von meinem Vater, von den Wassermassen um mich herum.
Ich reibe mir mit beiden Handflächen über mein Gesicht, um klarer zu sehen, und werfe einen Blick auf mein Handy, das auf dem Nachttisch neben mir liegt – 5:16 Uhr. Wenigstens ist es fast schon Zeit, aufzustehen. Die Angst vor der Uhrzeit ist größer als die Angst vor dem Traum selbst. Ich hasse es, nachts wach zu liegen, im eigenen Angstschweiß, und nicht mehr in den Schlaf zu finden, weil mich die Bilder nicht loslassen wollen. Die Bilder meiner eigenen Vergangenheit in verzerrter und abstruser Form.
Ich stehe auf und drehe meine langen fast weißblonden Haare zu einem Knoten am Hinterkopf, bevor ich die Jalousie hochziehe und meinen Blick wie jeden Morgen über die Hinterhöfe von Hartford schweifen lasse. Als kleines Kind hatte ich es geliebt, wach zu werden und direkt auf Wasser zu blicken. Mittlerweile bin ich froh, dass mir diese Aussicht erspart bleibt. Der Blick auf die Wasseroberfläche versetzt mich nicht mehr in Panik, aber macht nach wie vor etwas mit mir und meiner Seele. Die eigenen Eltern mit nur fünf Jahren bei einem Bootsunglück zu verlieren, war traumatisierend und schmerzt auch mit vierundzwanzig Jahren immer noch. Aber die Tatsache, dass ich dieses Unglück als Einzige überlebt hatte, grenzt an ein Wunder, das ich viele Jahre einfach nicht akzeptieren wollte.
Über meinem Schreibtisch hängt ein Wandkalender, auf dem ich jeden abgeschlossenen Tag mit einem Kreuz markiere. Es symbolisiert Belohnung und Motivation zugleich: Belohnung dafür, dass ich einen weiteren Tag geschafft habe, und Motivation deswegen, weil ich sehe, wie viele Tage noch vor mir liegen. Tage, die ich nutzen will. Auch wenn mir das passierte, was für die meisten Menschen ein wahrgewordener Albtraum ist, so bin ich dankbar für alles, was ich habe. Für das, was aus mir geworden ist, und dafür, dass ich Zeit habe. Denn Zeit ist kostbar. Sie läuft durch die Sanduhr des eigenen Lebens und verrinnt irgendwann vollständig, aber wir merken es erst, wenn nur noch wenig Sand übrig ist.
»Guten Morgen, mein Herz.«
Valéria sitzt am Küchentisch, vor ihr eine Tasse Tee und die Zeitung. Ein Anblick, der sich mir fast täglich bietet, sofern ich nicht die Frühschicht im Krankenhaus habe und sie vor mir aufgestanden ist. Der Rosenkranz daneben gehört genauso zu ihr und ihrer Geschichte wie die Albträume zu meiner.
»Guten Morgen«, antworte ich und gehe die drei Schritte rückwärts zu ihr zurück, um ihr zuerst einen Kuss auf den Scheitel zu geben, bevor ich mir Kaffee in eine Tasse einschenke. Dann lasse ich mich auf dem Stuhl neben ihr nieder und inhaliere den Dampf, der aus der Tasse aufsteigt, bevor ich trinke.
»Bist du bereit, Leben zu retten?«
Sie sagt es mit einer Mischung aus Stolz und der notwendigen Ernsthaftigkeit, gekrönt mit einem Schmunzeln, das ich erwidere.
»Bereit schon«, sage ich und drücke die Stelle an meiner Nasenwurzel zusammen, wobei ich kurz die Augen schließe, weil ich mich daran erinnere, welches Gespräch heute noch ansteht. »Aber man lässt uns oft nicht. Das System ist das Problem, verstehst du?«
Sie nickt und tätschelt mir die Hand. Ich blicke auf die Falten, die ihr Handrücken zeigt, und denke daran, wie mit der Zeit immer mehr und mehr von ihnen dazugekommen sind und wie wenige Falten da waren, als ich ihre Hand das erste Mal gehalten habe.
»Ich weiß«, sagt sie dann und schnauft. »Aber du tust täglich dein Bestes. Und das zählt.«
Ich muss an Miles denken, den sechsjährigen Jungen auf Station 5B, der die günstige Variante einer Magensonde bekommen hat, die ihm regelmäßige Operationen im Abstand von wenigen Jahren beschert, und das nur, weil seine Versicherung nicht mehr zahlt. An Irina, die mit ihren Eltern in einer Sozialwohnung am Stadtrand lebt und gar keine Versicherung hat und daher nur notfallmäßig versorgt wird. Ich habe Monate damit verbracht, einen Spendenlauf des Krankenhauspersonals zu organisieren, den ich aber noch durch den Vorstand bringen muss. Wenn ich an das Gespräch heute denke, wird mir fast schon schlecht. Es muss einfach klappen. Ich bin Krankenschwester geworden, weil ich Menschen helfen möchte. Weil ich ihnen in den dunkelsten Zeiten ihres Lebens eine Hand reichen will und ihnen Mut machen kann, dass sie das durchstehen. Aber die Bürokratie rollt uns Steine in den Weg und hat mir in der Vergangenheit schon so oft Möglichkeiten verbaut, die vieles hätten besser machen können.
»Lass es auf dich zukommen, corazón.«
Corazón – Herz. Valérias spanischer Kosename für mich, seit wir uns kennen. Sie sagte es damals zu dem kleinen Mädchen, das verängstigt und verstört darauf gewartet hat, aus dem Albtraum zu erwachen, der keiner war. Und sie sagt es heute zu der jungen Frau, die ich geworden bin, die immer wieder von Albträumen heimgesucht wird.
Sie steht auf, während sie sich auf der Tischplatte abstützt. Als sie zum Badezimmer geht, erinnere ich mich an die Tabletten, die sie morgens einnimmt, und eile hinterher.
»Lass mich das machen«, sage ich sanft und nehme ihr die Pillenschachteln aus der Hand, um nach Medikamentenplan einzelne Tabletten aus den Blistern zu drücken und ihr auf dem kleinen Tablett anzurichten, das wir dort deponiert haben. Währenddessen kommt sie auf das Gespräch zurück.
»Das Leben als Krankenschwester in der Notaufnahme ist sicher alles andere als einfach, als fácil, Ivy.«
Dass sie immer wieder Wörter ihrer Herkunftssprache untermischt, ist wie eine Umarmung für mich und ich fühle mich geborgen, weil es schon immer so war. Seit sich unsere Wege gekreuzt haben.
»Ich will einen Unterschied machen, verstehst du?«, erkläre ich ihr mit gestikulierenden Händen, reiche ihr das angerichtete Tablett und lasse Wasser in das Glas laufen, das auf der Anrichte steht. Dann lehne ich mich an den Türrahmen, während ich meine Ziehmutter beobachte, wie sie die Tabletten schluckt und anschließend das Glas in einem Zuge leert.
»Ich will Menschen helfen, ohne an der Bürokratie zu scheitern. Ich will mehr, Valéria. Außerhalb dieser Schichten passiert nichts in meinem Leben. Nichts Schicksalsträchtiges oder Filmreifes, verstehst du?«
»Muss es denn so sein?«
»Valéria …« Ich rolle mit den Augen und gehe zurück zur Küche, um mir einen Joghurt und Apfel aus dem Kühlschrank zu holen, die ich mit ins Krankenhaus nehmen werde.
»Ich meine ja nur …«, ergänzt sie und folgt mir, um wieder am Tisch Platz zu nehmen.
Während ich zurück in mein Zimmer gehe, um meine dunkelblaue Arbeitskleidung zu holen, ruft sie mir durch den Flur nach: »Dein Leben ist alles andere als langweilig!«
Ich strecke den Kopf aus der Tür, die ich offen gelassen hatte.
»Das sage ich auch nicht.«
»Nó?«
»Nein«, sage ich fest, während ich beladen mit Kleidungsstücken ins Bad zurückkehre, wo wir gerade eben noch die Tabletten gerichtet haben. »Ich sage nur, dass da noch mehr möglich sein muss. Man muss mehr tun können, als in Schichten im Krankenhaus Leben zu retten.«
Als ich beginne, meine Zähne zu putzen, merke ich, dass sie wieder da ist. Sie greift nach dem Inhalator, der neben den Zahnputzbechern griffbereit steht, und benutzt ihn. An Tagen wie heute, im Hochsommer, wenn es schon früh morgens so warm in der Wohnung ist, macht ihre Lunge besonders Probleme. Valéria ist auf der Liste für ein Spenderorgan, aber ihr hohes Alter und die höhere Dringlichkeit bei Patienten, denen es schlechter geht als ihr, lassen sie darauf warten. Als Krankenschwester weiß ich, dass die Chancen bei fast null stehen, dieser Geschichte zu einem Happy End zu verhelfen, und ich bin mir sicher, dass Valéria das auch weiß und bereits ihren Frieden damit gemacht hat. Aber noch ist es nicht so weit und wir verdrängen beide erfolgreich die Zeichen der Zeit und des Schicksals.
Vielleicht ist es unsere eigene Geschichte, die von Valéria und mir, die mich so denken lässt, die mich so geprägt hat, dass ich mehr will. Mehr tun möchte, um zu helfen. Die Geschichte eines kleinen Mädchens aus dem Heim, das von einer kinderlosen spanischen Ordensschwester aufgenommen und vom ersten Tag an geliebt wurde. Bis heute.
Ich verstaue die Zahnbürste und den Becher im Schrank vor mir und greife nach Valérias rechter Hand.
Sie wartet einen Moment, nickt dann einsichtig und tätschelt meine Wange. Ihr Lächeln wärmt mich und ich fühle diese Dankbarkeit, dass sich unsere Wege vor all den Jahren gekreuzt haben.
»Ich warte auf eine Eingebung. Auf ein Ereignis. Vielleicht heute.«
Ich muss über meine eigenen Worte und den aufgesetzten Optimismus lachen.
»Aber jetzt muss ich mich für die Schicht fertig machen.«
Ich drücke ihr einen schnellen Kuss auf die Wange und schließe die Tür zum Bad.
Gähnend öffnete ich den Joghurt und rührte ihn mit einem Löffel durch. Ada summt ein Lied und wirkt fröhlicher denn je. Obwohl bei ihr das Glas immer halb voll statt halb leer ist, ist ihre gute Laune heute selbst für ihre Verhältnisse auffällig.
»Du hast anscheinend eine grandiose Nacht gehabt«, ziehe ich sie auf und beobachte sie. Sie grinst und winkt ab.
»Nein … Also ja, hatte ich«, sie lacht mich an und ich weiß, dass sie keine Witze macht. »Aber das ist es nicht.«
Sie grinst über ihrer Brotbox, aus der sie ein Sandwich herausholt und genüsslich hineinbeißt. Dunkles Brot mit Avocado-Scheiben, gewürzt mit Zitrone, Salz und Pfeffer. Wie jeden Morgen, wenn wir gemeinsam die Schicht antreten. Es gehört zu meiner Freundin wie der Rosenkranz zu Valéria. Kombinationen, die mir seit Jahren bekannt sind und einen sicheren Rahmen bieten.
»Was ist es denn?«, hake ich nach und führe den Löffel zum Mund, bekleckere mein Oberteil und fluche leise, während ich versuche zu retten, was zu retten ist.
Ihr Lächeln schwindet und sie sieht mich etwas zu ernst an. »Ich kann es noch nicht sagen«, sagt sie und mich beschleicht ein komisches Gefühl. »Aber ich verspreche dir, du bist die Erste, der ich es sage, wenn ich noch ein paar Dinge geklärt habe.«
»Okay«, damit gebe ich mich zufrieden.
Weil ich ihr vertraue.
Weil das in Ordnung ist, auch wenn man sich sonst restlos alles erzählt.
»Du siehst müde aus«, sagt sie zu mir und zeigt mit dem Zeigefinger abwechselnd auf meine beiden Augen.
Ich lächele matt und lasse den Löffel in den Becher vor mir fallen.
»Tolles Kompliment«, antworte ich.
»Wieder der Traum?«
Ich nicke und beginne langsam und nachdenklich zu essen.
»Immer wieder dieser Traum.«
»Was sagt deine Therapeutin dazu?«
Ich zucke die Schultern und lasse den Blick geradeaus aus dem Fenster gleiten. Von der Nordseite des Krankenhauses kann man über den Rest der Stadt blicken. Man sieht den Kirchturm und das Rathaus, das Verkehrschaos weiter unten auf den Straßen, und wenn man weit genug blickt, sieht man die Kronen der Weidenbäume, die den See einrahmen, Hartford Lake. Obwohl der Unfall auf dem Meer passiert ist, erinnert er mich an meine eigene Geschichte und versetzt mir einen Stich in der Brust. Mein Feind, das Wasser. Ein Feind, dem ich aus dem Weg gehe und keinen Platz in meinem Leben einräume. Die Gedankenblitze zu dem Traum, der mich immer wieder aufsucht, bringen mich dazu, den Joghurt doch wieder zu verschließen und zurück in den Kühlschrank zu stellen. Ich schlage die Tür etwas zu fest zu, dabei fällt eine der USA-Postkarten herunter, die Ada immer ans Schwesternzimmer des Krankenhauses schickt, wenn sie und Gus eine ihrer Rundreisen machen. Sie hat sich vor Jahren in das Land der grenzenlosen Möglichkeiten verliebt und einen richtigen Narren daran gefressen. Seitdem sparen die beiden sich von Urlaub zu Urlaub. Ich hebe die Karte mit dem berühmten Las Vegas-Schild auf und befestige sie wieder mit dem Magneten an der Kühlschranktür. »Sie sagt, mein Unterbewusstsein verarbeitet damit das, was passiert ist«, beantworte ich ihre Frage und ziehe meine Turnschuhe aus, um in meine weißen Arbeitsschuhe zu schlüpfen, die hinten offen sind.
»Nach all den Jahren träumst du immer noch diesen Traum«, fasst Ada zusammen und bindet ihre wilde Lockenmähne zu einem straffen Zopf am Hinterkopf. »Sieht sie keine Möglichkeit, dir dabei zu helfen, es … zu verarbeiten? Ich meine, ist das nicht der Grund, weshalb sich Menschen gerade nach traumatischen Ereignissen in Therapie begeben? Um mit diesen Dingen fertigzuwerden und … die Seele zu erleichtern?«
Ich antworte nicht und schlage auch die Tür meines Spinds etwas zu fest zu. Nicht, weil ich wütend auf meine langjährige Freundin und Arbeitskollegin bin. Sie kennt mich, meine Geschichte, die Geschichte von mir und Valéria und was uns zusammengeführt hat. Sie weiß, was ich denke, träume und fühle. Sie, Valéria und sonst niemand. Und das ist gut so. Ich habe nicht vor, die Liste zu erweitern. Mehr vertraute Menschen gibt es in meinem Leben nicht. Nachdem meine Eltern durch den Unfall ums Leben gekommen sind, wurde ich einen Tag später allein auf dem Boot gefunden, das auf dem Ärmelkanal im Wasser trieb. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was zwischen dem Verschwinden meiner Eltern in den Tiefen des Wassers und der Rettungsaktion passiert ist. Es ist wie ein schwarzes Loch, das einen Teil meiner Gedanken und meiner Erinnerung auszulöschen scheint, und ich bin mir nach all den Jahren immer noch unsicher, ob das gut oder schlecht ist. Ich will mich erinnern, weil ich weiß, dass gerade diese ungeklärten Dinge mir die Albträume bescheren. Und meine Abneigung gegen Wasser, das ich vor dem Unfall so sehr geliebt habe.
Damals so sehr geliebt. Heute umso mehr verhasst.
Nach der Rettungsaktion wurde ich in ein Kinderheim in Hartford gebracht, weg von der Küstenstadt, die vorher mein Zuhause gewesen war. Es gab keine Verwandten. Keine Großeltern, Onkel oder Tanten. Es hatte nur meine Eltern und mich gegeben und die Psychologin vor Ort meinte, es wäre besser, mich nicht in einer Stadt am Meer unterzubringen, da das Wasser ein ständiger Trigger meiner Gefühle und meiner Angst sein würde. An meinem ersten Tag im Heim lernte ich Valéria Sanchéz kennen. Sie war eine der Ordensschwestern und die Frau, die sich in mein Herz kämpfte, bis ich nicht mehr abblocken konnte und ihr eines Tages schluchzend um den Hals fiel, als sie auf ihrer Geige für mich spielte. Unsere Geschichte endete damit, dass sie mich adoptierte und mir ein liebevolles Zuhause schenkte, in dem wir immer noch wohnen. Nach all den Jahren.
Eigentlich ist das falsch. Damit endete unsere Geschichte nicht, damit hat sie damals begonnen.
»Ivy!«
Adas Stimme reißt mich aus den Gedanken und bringt mich in den Pausenraum des Hartfort Belle Rock Memorial zurück. Ich schrecke zusammen und blicke in ihr Gesicht, wie sie ungeduldig am Türrahmen steht und die Arme verschränkt. Ihr Temperament kommt immer dann durch, wenn sie sich aufregt oder ungeduldig ist. Aber bei Gus, ihrem Ehemann, ist sie wie Wachs. Man sieht förmlich ihrem Gesicht an, wie sie sich verändert in seiner Nähe und ganz weich wird.
Weich, entspannt, ruhig.
Ihre Stirn liegt in Falten und ich weiß, dass ich ihr etwas geben muss, damit sie sich beruhigt. Sie macht sich Sorgen, und obwohl sie mich oft nervt mit unendlichen Fragen dieser Art, bin ich dankbar, dass sie Teil meines Lebens ist. Ich hole tief Luft und sage ihr die Wahrheit.
»Sie sagt, ich soll aufs Wasser.«
»Aufs Wasser? Wie –«
Ich unterbreche sie kurzerhand, um zu erklären, was Dr. Mooley erst vor zwei Wochen wie ein Mantra wiederholt hat.
»Sie sagt, ich kann dieses Trauma nur überwinden, indem ich dorthin gehe, wo die Angst herkommt. Aufs Wasser eben.« Ada holt Luft und ich kann sehen, dass sie Ängste und Einwände loswerden will, und komme ihr zuvor. Ich lege ihr als Stoppzeichen beide Hände auf die Schultern, sodass sich ihr Mund direkt wieder schließt. Die Uhr über der Tür zum Schwesternzimmer zeigt 7:02 Uhr an. Wir sind bereits zu spät dran und ich spreche schneller als gewöhnlich, um nicht noch später zu meiner Schicht in der Notaufnahme zu kommen.
»Es muss nicht das Meer sein, es muss nicht dort sein, wo … es damals passiert ist. Und sie kann mich begleiten, wenn ich das versuchen will. Sie sagt …«
Betreten blicke ich auf meine Schuhe.
»Willst du es denn versuchen?«
Adas Augen suchen in den meinen nach Ehrlichkeit, nach der Wahrheit. Sie kennt mich so gut, dass sie weiß, wie oft ich Dinge sage, nur, um Menschen zum Schweigen zu bringen, um sie zu beruhigen. Vielleicht ist das Teil unseres Jobs. Krankenschwestern sagen zu oft, dass alles gut wird. Dabei können wir das zu diesem Zeitpunkt meist noch gar nicht wissen.
Lügen ist gegenüber Valéria und Ada zwecklos, also versuche ich es erst gar nicht.
»Ich … weiß es nicht. Ehrlich gesagt. Aber ich weiß jedenfalls, wie und wo ich es angehen kann, wenn ich es möchte. Und mit wem.«
»Ich kann auch mitkommen, wenn du mich brauchst. Das weißt du, Ivy.«
Ich nicke und küsse ihre rechte Wange.
Meine Art, ihr zu danken, dass sie da ist.
Auf dem Weg zur Notaufnahme läuft eine Pflegekraft an uns vorbei und zwinkert uns zu. Ada kichert wie ein kleines Mädchen und krallt sich regelrecht in meinen Oberarm, den sie umschlungen hält. Sie dreht sich nach ihm um und ich mich durch ihre Körperdrehung gezwungenermaßen auch.
»Der ist süß«, flüstert sie mir zu.
»Und du bist verheiratet«, ermahne ich sie spielerisch und hebe grinsend den Zeigefinger.
»Sei nicht albern.« Sie haut mir freundschaftlich auf den Arm, »ich denke dabei an dich!«
Ich pruste los und lege ihr meine Hand auf den Kopf, durchwühle ihr Haar und dann lachen wir beide.
»Glaub mir, ein Mann ist gerade das Letzte, was ich in meinem Leben brauche.«
»So eine verdammte Scheiße!«
Ich lasse das Messer fallen. Als es klirrend zu Boden geht, verteilen sich kleine Blutspritzer auf den weißen Kacheln um mich herum. An meiner Hand breitet sich ein warmes Gefühl aus und das rote Rinnsal bahnt sich seinen Weg über meine Finger. Ich greife nach dem Handschuh, den ich hätte tragen sollen, und presse ihn auf die Wunde.
»Spinnst du, Mann?«, Sam schnappt sich das Plastikteil und wirft es zu Boden. Dann läuft er zur Wand, wo ein Waschbecken befestigt ist, holt einige Tücher aus dem Spender und bringt sie mir. »Du wirst ’ne Infektion kriegen, wenn du das alte Ding draufdrückst. Da sind ja noch Fischinnereien dran.«
Ich ignoriere ihn und presse die Tücher auf den Cut, während ich versuche, eine dunkle Haarsträhne aus meinem Gesichtsfeld zu schütteln.
»Wenn Tony das sieht, flippt er aus«, raunt er mir zu und sieht sich um. »Du darfst dir keinen Schnitzer erlauben. Nicht in deiner Position, Mann.«
»McBoyd!«
Als Tonys Stimme mit italienischem Akzent durch die Halle dröhnt, sieht er mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, als wollte er mir sagen, dass er mich gewarnt hätte. Bevor ich etwas erwidern kann, tritt er vor uns und zeigt auf die Tücher an meiner Hand, die sich mittlerweile vollgesogen haben. Ich hab mich nicht an die Vorschrift gehalten und das Sicherheitsprotokoll vernachlässigt, mal wieder. Und ich weiß, wie empfindlich mein Chef ist, was das angeht.
»Wie ist das passiert, heilige Scheiße!« Während er spricht, kaut er Kaugummi und zeigt abwechselnd von meiner verletzten Hand auf mich, dann auf Sam, als hätte er etwas damit zu tun. Der hebt abwehrend die Hände und bückt sich nach dem Messer, das zu unseren Füßen liegt.
»Hast du wieder die Handschuhe ausgezogen? Du weißt, wie wichtig Hygiene in einer Fischfabrik ist. Wenn das Gesundheitsamt hier auftaucht, dich ohne Handschuhe und Haube auf dem Kopf sieht, war’s das. Willst du mich ruinieren?«
Obwohl er sich übertrieben aufspielt, kann ich ihn sogar verstehen. Diese Fabrik hier, Fisch und dessen Verarbeitung, ist sein Leben. Damit verdient er seine Brötchen und er ist verantwortlich dafür, dass es läuft, dass das Geld stimmt, das er uns allen auszahlt und mit dem er schließlich nach Hause geht. Deshalb muss ich hier funktionieren, wie jeder andere Mitarbeiter auch. Doch genau das ist es, was ich nicht will. Ich will zurück zur Werft und spüre das an jedem einzelnen Tag, an dem ich hier Fische zerlege und für den Weitertransport verpacke. Jeden fucking Tag.
»Mister Castillano, ich …« Bevor ich mich erklären kann, klingelt und vibriert mein Handy in der Hosentasche. Ich breche meinen Satz ab und schließe die Augen. Das kann alles nicht wahr sein, was hier passiert. Tony Castillano dreht uns den Rücken zu, fährt sich mit beiden Händen über das Haarnetz auf seinen schwarzen, nach hinten gegelten Haaren, stemmt dann die Hände in die Hüften und ruft italienische Schimpfwörter vor sich hin. Auch wenn ich ihn nicht verstehe, bin ich mir sicher, er nennt mich gerade einen Wichser, ein Arschloch, das seine Existenz gefährdet. Komm runter, Tony. Aber ich spreche die Gedanken nicht aus. Ich darf diesen Job auf keinen Fall verlieren. Einen Job, den ich nicht machen möchte. Den ich aber machen muss, um endlich wieder das tun zu können, was ich liebe. Ich versuche das Handy herauszufischen, merke aber, dass ich den Druck nicht von der Wunde nehmen sollte. Also lasse ich es sein. Aber ich weiß, dass es Teddy ist, der mich zu erreichen versucht. Er und unser jüngerer Bruder Hugo sind die Einzigen, die diese Nummer haben. Sie sind auch die Einzigen, die von uns übrig geblieben sind.
»Mister Castillano, wenn Sie mich heute zehn Minuten früher gehen lassen, kann ich Blake ins Krankenhaus fahren. Das muss genäht werden. Ich kann die Zeit morgen dranhängen.«
»Du wirst die Zeit morgen dranhängen, Axeter!«, ruft er uns zu und läuft rückwärts von uns weg, während er mich ansieht und mit dem Finger auf mich zeigt. »Und du musst die Stunden aufholen!«
Während er in die Hände klatscht und seinen Rundgang durch die Halle fortsetzt, stecken Sam und ich unsere Zeiterfassungskarten in den Automaten an der Wand neben dem Ausgang.
In Sams Auto schiebe ich Kuscheltiere und einige Spielzeuge vom Sitz und lasse mich auf das Polster fallen.
»Hier.« Er wirft mir ein Geschirrhandtuch zu, das er von der Rückbank gefischt hat. Mit gerunzelter Stirn wickle ich es langsam um meine Hand, und bevor ich fragen kann, antwortet er bereits.
»Als Vater von drei Kindern fährt man alles Mögliche durch die Gegend. Ich wohne fast in diesem Auto.«
»Du siehst deine Kinder nur alle zwei Wochen, Sam.«
»Autsch«, flüstert er und sieht mich geschockt an.
»Sorry, das war …« Ich breche ab und versuche mich anzuschnallen. Die Scheidung war für ihn alles andere als leicht und ich will kein Arsch sein. Ich selbst habe keine Kinder und kann mir nicht einmal vorstellen, welche zu haben. Geschweige denn, welche zu haben und sie so selten sehen zu können. Erst seit zwei Wochen sehe ich Hugo wieder, den ich als kleinen Bruder bezeichne, der aber so groß ist wie ich, nur um einiges jünger. Da er erst zwanzig Jahre alt ist, habe ich wie auch Teddy das Gefühl, ihn beschützen zu müssen. Weil er er ist und wir das Unglück einfach magisch anziehen. Er und ich. Und das verbindet uns und macht uns zu denen, die wir wirklich sind. Während Sam den Motor startet, um in Richtung Krankenhaus zu fahren, ziehe ich das Handy aus meiner Hosentasche und sehe mehrere Anrufe in Abwesenheit – Teddy. Ich wähle die Rückruftaste und stelle den Lautsprecher an.
»Hey, was gibts? Alles okay mit Hugo?«
Teddy schnauft und ich kann hören, dass nicht alles okay ist.
Fuck.
»Wo ist er?«
Meine Stimme ist wie ein Messer, das niedersaust. Angst überkommt mich.
Sam wirft mir einen Blick zu. Er kennt die Geschichte, aber nicht alle Einzelheiten. Als wir uns in der Fabrik kennenlernten, habe ich mich damit zurückgehalten, Dinge aus meiner Vergangenheit zu erzählen. Dinge, die so viel preisgeben, dass ich, dass wir Brüder angreifbar sind. Irgendwann hat sich das geändert. Aber Sam weiß noch längst nicht alles. Und ich bin mir sicher, dass er auch eigene Geheimnisse bewahrt. So wie jeder Mensch.
»Er schläft seinen Rausch aus.«
Ich lege die verletzte Hand gegen meine Stirn und schließe die Augen. Das ist ein Albtraum und ich habe das Gefühl, wir steuern gerade auf einen Abgrund zu.
»Du verarschst mich, Ted«, raune ich ins Telefon und schlage dann wütend auf das Armaturenbrett vor mir.
»Hey, Mann«, zischt Sam mir zu und ich hebe entschuldigend die Hände hoch.
»Nein, er … hat meinen teuren Whiskeyvorrat geplündert. Keine Pillen oder irgendeinen anderen Scheiß.«
»Wenigstens das …«, murmle ich und fahre mir übers Gesicht.
»Er schläft seinen Rausch aus«, wiederholt Teddy und ich kann im Hintergrund ein Geräusch hören, das sich anhört, als ließe er sich auf die Ledercouch im Wohnzimmer fallen. »Das gibt uns wenigstens Zeit.«
»Wofür?« Ich muss lachen, obwohl mir nicht zum Lachen zumute ist. Es ist eher ein Ausdruck von Verzweiflung. Unser kleiner Bruder Hugo ist drogenabhängig und Zeit ist das, was er nicht hat. Zeit ist das, was er und wir so dringend brauchen, um ihn clean zu bekommen, und auf der anderen Seite ist es genau das, was gerade sein schlimmster Feind ist: Denn mit der Zeit kommt er auf dumme Gedanken und katapultiert sich und damit auch uns in die nächste Situation, aus der wir nur schwer herauskommen. Fast schon stelle ich mir selbst die Frage, wieso Hugo immer wieder Scheiße bauen muss, aber dann beantworte ich sie mir direkt. Weil er gebrochen ist. Es ist das Leben, das ihn so weit gebracht hat. Ich fasse mir mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel und drücke zu, um den aufkommenden Kopfschmerz zu ersticken. Aber ich merke, dass er wie eine Welle angerollt kommt.
»Um darüber nachzudenken, wie wir es anpacken. Alleine schaffen wir es nicht, Blake, und du weißt es so gut wie ich.«
Ich weiß, dass er recht hat, und nicke, obwohl er mich nicht sehen kann.
»Er hat mich angebettelt, Blake.«
Ich weiß, was er damit meint, und frage nicht nach.
»Er hat die Schublade ausgeleert, in der sich mein Tablettenvorrat befindet. Aber mehr als Aspirin und Hustenstiller ist hier nicht zu holen.«
»Was hat er gesucht, weißt du das?« Ich versuche das alles zu verstehen. Ich habe noch nie Drogen genommen, und wenn ich Hugo sehe, bin ich froh, dass das so ist. Sie haben aus ihm einen anderen Menschen gemacht und in solchen Phasen erkenne ich ihn nicht wieder. Und plötzlich macht sich dieses Gefühl in meiner Brust breit, dass ich etwas unternehmen muss, etwas für ihn tun muss. Etwas, das es besser und erträglicher macht.
»Irgendwas, das es für ihn besser macht. Irgendeinen Scheiß, was weiß ich … Fuck« Ted klingt, als würde er aufgeben und resignieren.
»Wir reden, wenn ich zu Hause bin. Wir können ihn nicht hängen lassen.«
»Das habe ich nicht gesagt«, ergänzt Ted leise.
»Ich komme, so schnell ich kann. Lass ihn nicht aus den Augen.«
Ich lege auf, Sam biegt in die Straße des Hartford Belle Rock Memorial Hospital ein und parkt rückwärts in die Parklücke gegenüber des Eingangs.
»Danke fürs Fahren.« Unsere Fäuste berühren sich freundschaftlich und ich steige aus. Sam hebt die Hand. Als ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite angekommen bin, ruft er mich durch das geöffnete Fenster.
»Wie kommst du nach Hause? Klingt nicht so, als könne dich jemand abholen.«
Da hat er nicht ganz unrecht. Ted kann Hugo nicht allein lassen, nachdem er sich willenlos betrunken hat und kurz davor ist, sich wieder einen Schuss zu setzen oder Tabletten einzuwerfen. Er hat wirklich alles durch, und wenn wir eins gelernt haben, dann, dass er eigentlich nicht mehr alleine im Haus am See bleiben kann. Zumindest vorerst nicht. Dieses ständige Abhauen, Wiederkommen oder Von-Teddy-und-mir-zurück-zum-Haus-gebracht-Werden scheint seit den wenigen Wochen, in denen Hugo dort wohnt, ein ständiger Begleiter zu sein, und wir wissen beide, dass das kein Zustand ist.
»Ich nehme mir ein Taxi.«
Er will etwas sagen, dann nickt er nur und hebt noch einmal kurz die Hand, bevor ich mich umdrehe und durch die Drehtür ins Krankenhaus verschwinde. Und als ich den Schildern zur Notaufnahme folge, kommen Teddys Worte wie ein Echo zurück zu mir – etwas, das es für ihn besser macht. Etwas, damit wir nicht mehr das Gefühl haben, auf einem Laufband zu rennen und nicht vorwärts zu kommen, weil es sich genau so anfühlt. An mir läuft eine Krankenschwester vorbei und trägt mehrere Schachteln in den Händen.
Fuck. Teddy hat recht. Er ist kein Arzt. Ich bin kein Arzt. Aber ich weiß, wo wir etwas bekommen, sodass es für Hugo einfacher ist.
Stationsschwester Margret verteilt die anstehenden Aufgaben. Ich nehme eines der Klemmbretter mit Blankoformularen und Stift entgegen, die sie in der Runde verteilt, und rolle mit den Augen. Ich liebe meinen Job, ich liebe es, wenn Menschen nach einem Aufenthalt im Belle Rock Memorial das Krankenhaus verlassen und »Danke für alles« sagen. Ich liebe es, wenn sie wieder den Sinn des Lebens sehen, und ich liebe es, wenn hier neues Leben willkommen geheißen wird. Aber ich hasse die Bürokratie, die hinter alldem steht. Die Formulare, die Akten, die Rechnungen und Mahnungen an Menschen, die sich bereits erfolgte Behandlungen kaum leisten können.
»Das habe ich genau gesehen, Schwester Ivy«, spricht sie mich direkt an, »aber auch das muss gemacht werden.«
Ich nicke und zwinge mich zu einem Lächeln. Ada stößt mir den Ellbogen in die Seite und wir verkneifen uns ein Lachen. Am anderen Ende des Gangs öffnet sich mit einem lauten Geräusch die Flügeltür und zwei Sanitäter schieben einen Mann auf einer Bahre durch den Flur. Er hält sich mit beiden Händen den Kopf. Auf ein Zeichen wird er in einen der Behandlungsräume geschoben. Einer der Sanitäter ist Gus, Adas Ehemann. Sie haben sich in diesem Krankenhaus kennen und lieben gelernt, noch bevor Ada hier angefangen hatte zu arbeiten. Seitdem ist sie überzeugt davon, dass dieser Ort dem Herzen all das gibt, was es braucht. Ada lächelt ihm zu und er zwinkert.
»Ada, Mary, Sie gehen zu unserem neuen Patienten in die Sieben.« Sie macht mit ihren Armen Bewegungen, um alle von sich zu scheuchen und in den Dienst zu entlassen, bis nur noch ich übrig bleibe. »Und Sie, Schwester Ivy, gehen in die Drei. Führen Sie das Erstgespräch, bis ein Arzt kommt.«
Während sie ebenfalls auf den Raum mit der leuchtenden Sieben zusteuert, rufe ich ihr hinterher.
»Um was geht es in der Drei?«
»Finden Sie es heraus!«, ruft sie mir über die Schulter zu, ohne sich umzudrehen.
Auf dem Weg zum Behandlungszimmer spiele ich mit der Klammer am Klemmbrett und lasse sie mehrmals auf die Unterlage aufkommen. Das monotone Geräusch und der Rhythmus beruhigen mich irgendwie und in meinen Gedanken formt sich eine Melodie dazu, die ich aus dem Radio kenne. Mit der rechten Hand greife ich nach der Klinke und öffne die Tür. Und dann flattern die unzähligen Formulare, die diese Klammer bis eben noch zusammengehalten hat, nach unten. Sie segeln regelrecht sanft gen Boden und verteilen sich dort auf den weißen Fliesen des Behandlungszimmers. Im ersten Moment bin ich wie paralysiert, weil es mich an die Wellen des Meeres erinnert.
»Ich bin gleich bei Ihnen«, murmle ich, ohne aufzusehen, und mache mich daran, die Papiere wieder aufzusammeln und zu ordnen.
Die Formulare sind schuld daran, dass ich ihn zuerst gar nicht sehe. Die unzähligen weißen Seiten, die sanft von links nach rechts auf den Boden fallen und dann dort darauf warten, wieder aufgesammelt zu werden. Sie haben mir den Moment, ihn wahrzunehmen, genommen. In der Notaufnahme weiß man nie, was einen hinter der Tür erwartet. Wer dort sitzt und auf Hilfe wartet. Ich bin stets auf alles vorbereitet, wenn ich eine dieser Türen öffne. Aber darauf nicht. Wer hätte damit rechnen können, dass die Begegnung am heutigen Tag mein ganzes Leben verändern würde? Ich richte mich auf und dann sehe ich ihn. Mein erster Blick auf ihn fühlt sich wie ein Stich an und ich weiß nicht, warum. Genau genommen ist es kein Stich, es ist das Gefühl, von einer auf die andere Sekunde nicht mehr atmen zu können. Er raubt mir schlichtweg die Möglichkeit dazu.
Er sitzt auf einem der beiden Stühle, die sich am Ende des Raumes befinden, und hält ein Küchenhandtuch um seine Hand gewickelt, das rot eingefärbt ist. Er blutet. Strähnen seines dunklen Haars fallen in seine Stirn und er sieht mich aus diesen grauen Augen an. Graue Augen, die an einen Wolkenbruch erinnern. An etwas, das sich am Himmel zusammenbraut und einen so sehr einnimmt, dass man nicht wegsehen kann. Augen, die mich regelrecht festhalten. Trotz der warmen Temperaturen trägt er ein schwarzes Longsleeve und eine schwarze Jeans, die an den Knien aufgerissen ist. Der einzige Kontrast, den ich wahrnehme, sind die weißen Schnürsenkel in den dunklen Sneakern.
»Hi. Ich … habe mich verletzt. Es hört nicht auf zu bluten.«
Seine Stimme und das dunkle Vibrieren, das ich darin hören kann, lösen einen Schauer aus und erinnern mich an das Gefühl von Fingerspitzen, die vorsichtig und langsam über meinen Rücken fahren. Ich räuspere mich, um den Gedanken und die Bilder in meinem Kopf zu verdrängen.
»Darf ich mal sehen?«
Ich setze mich auf den Stuhl vor ihm, und als er sich bewegt, kommt diese Duftwelle zu mir herüber, die meinen Blick direkt wieder auf seinen richtet – er riecht erdig und erinnert mich an Momente im Frühjahr. Gott, dieser Geruch hat schon etwas Betörendes und ich komme mir bei dem Gedanken mehr als total dämlich vor. Aber ich kann nichts gegen das Gefühl machen, das es in mir auslöst.
Erde und nach Minze. Ich kann ihn fast schmecken, obwohl das totaler Blödsinn ist.
Er wickelt seine Hand aus dem Handtuch, das auf der Innenseite bereits rot eingefärbt ist. Der Stoff klebt leicht an der verletzten Stelle fest und er zieht Luft durch die Zähne, als er die Wunde vorsichtig freilegt. Der Schnitt sieht tief aus, und als ich sehe, wie sich direkt frisches Blut an die Oberfläche drückt, springe ich auf und hole einige Wundkompressen und ein Kühlpad aus dem kleinen Kühlschrank an der Wand.
»Das muss eventuell genäht werden«, sage ich mechanisch und schalte sofort alle Gedanken und Gefühle ab, die mich noch vor wenigen Minuten beschäftigt haben. Ich schalte den Autopiloten ein, der mich im Krankenhaus stets begleitet, wenn Entscheidungen mit einem klaren Kopf getroffen werden müssen. So wie jetzt.
»Aber vorher müssen wir die Blutung stillen«, beschließe ich, ziehe Handschuhe an und desinfiziere die Wunde mit einem Spray, bevor ich erst die Kompressen, dann das Kühlpad aufdrücke.
Er hebt den Kopf und sieht mich direkt an. Und ich konzentriere mich darauf, zu atmen.
»Drücken Sie ein wenig«, weise ich ihn an und will meine Hand zurückziehen, als er seine auf meiner ablegt und ich dem Blick nun nicht mehr ausweichen kann, weil es sich wie eine Aufforderung, fast schon wie eine Ermahnung anfühlt. Langsam ziehe ich meine Hand unter seiner hervor. »Der … Druck und die Kälte ziehen die Blutgefäße zusammen. Das soll sich später ein Arzt ansehen.«
»Später?« Fast klingt es, als hätte er es eilig. »Ich hatte auf jetzt gehofft. Wie lange dauert das denn?«
Sein Bein beginnt auf- und abzuwippen und er blickt sich suchend im Raum um. Mich beschleicht ein seltsames Gefühl. Irgendetwas stimmt nicht.
»Wir müssen zumindest ein wenig warten, ansonsten kann der Arzt keine richtige Naht machen. Wir können …« Ich greife nach dem Klemmbrett und Stift. »… in der Zeit die Formalitäten klären. Dann haben wir das bereits erledigt. Bitte nennen Sie mir Name, Anschrift und Ihre Versicherung … Ich bin übrigens Ivy.« Erst jetzt fällt mir ein, dass ich mich nicht vorgestellt habe, und schieße die Info schnell hinterher. Ich erwarte, dass er mir seinen Namen nennt, aber das tut er nicht.
»Können wir das später erledigen? Die Hand schmerzt. Kann ich etwas gegen die Schmerzen haben?«
Irritiert halte ich einen Moment inne und lege dann das Klemmbrett wieder ab. Ich hebe kurz die Kompressen an und kontrolliere den Blutfluss, der sich zum Glück schon verlangsamt hat. »Okay«, antworte ich ihm und gehe zum Medikamentenschrank, den ich mit meinem Schlüssel öffne. »Ich gebe Ihnen Ibuprofen gegen die Schmerzen und die Entzündung. Wie ist Ihnen das überhaupt passiert? Wir müssten eventuell eine Tetanusspritze geben, um …«
»Haben Sie nichts Stärkeres als Ibuprofen?«
Ich halte inne und mustere ihn. Während meiner Ausbildung habe ich viel über die Anzeichen von Schmerz beim Menschen gelernt – verzerrtes Gesicht, Schweißausbrüche, Unruhe, Tränen, Panik. In seinem Gesicht kann ich nichts davon erkennen.
»Ibuprofen sollte genügen«, antwortete ich und greife in ein leeres Fach, indem die Schmerztabletten aufbewahrt werden. Kurz schließe ich die Augen und atme durch. Wer auch immer die letzte Schicht gestern Nacht hatte, hat seinen Job nicht ordentlich erledigt und die Bestände nicht aufgefüllt. Das Fach daneben ist zwar prall gefüllt mit weiteren Schmerzmitteln, die jedoch nur von Ärzten verabreicht werden dürfen. Ich ziehe einige Blister heraus und sehe nach, ob sich eine Packung leichtes Schmerzmittel dazwischen verirrt hat.
»Geben Sie mir einfach etwas davon«, sagt er von seinem Stuhl aus und beäugt mich, wie ich die Blister nacheinander wieder zurücklege.
Ich drehe mich um und verschränke die Arme.
»Sagen Sie mir endlich, wie das passiert ist.«
Langsam verliere ich die Geduld und mich beschleicht mehr und mehr das Gefühl, dass hier etwas nicht so ist, wie es scheint. Gleichzeitig fühle ich diese Anziehung, die er auf mich ausübt, und sträube mich dagegen.
Als er schweigt, weiß ich, dass ich so nicht weiterkomme.
»Warten Sie hier«, ermahne ich ihn und gehe Richtung Tür. »Ich sehe nach, wo der Arzt bleibt.«
Auf dem Gang herrscht Durcheinander. Ich sehe Ada, die mit schnellen Schritten neben einer Bahre herläuft und eine Infusionsflasche nach oben hält.
»Was ist hier los?«, frage ich und laufe einfach mit.
»Autounfall auf der M270. Ein Reisebus ist durch die Leitplanke gedonnert.«
Als sie es ausspricht, ist mir bereits klar, dass ich so schnell keinen Arzt finden werde, der mit mir kommt. Und auch, dass hier mehr helfende Hände benötigt werden.
»Ich komme sofort!«, rufe ich ihr nach und hechte wieder zurück zu den Behandlungsräumen.
Es wird ihm nicht gefallen, wenn er hört, dass sich sein Aufenthalt hier verlängern wird oder er in das nächste Krankenhaus außerhalb fahren muss. Ich bereite mich auf eine Konfrontation vor und betrete mit klopfendem Herzen Raum Nummer drei.
»Es tut mir leid, aber ich schätze, Sie …« Ich breche meinen Satz ab, als ich in das leere Zimmer blicke. Er ist weg.
Dann sehe ich den offenen Medikamentenschrank, den ich noch vor wenigen Minuten durchforstet habe, und suche panisch in meiner Hosentasche nach dem Schlüsselbund. Aber ich finde ihn nicht.
»Scheiße!«
Der Schlüsselbund liegt auf der Anrichte, wo ich ihn vorhin liegen gelassen habe. Ich laufe schnell zu dem Vorrat an der Wand und durchsuche die Kästchen, in denen die unterschiedlichen Tabletten wie Schmerzmittel einsortiert sind.
Waren.
Sie sind leer. Panik macht sich in mir breit, weil ich weiß, dass ich schuld bin. Ich habe einen Fehler gemacht, der Folgen haben wird. Niemals darf jemand vom Krankenhauspersonal die Schlüssel irgendwo ablegen, außer im Pausenraum. Niemals dürfen wir Patienten den Zugang zu Medikamenten ermöglichen.
»Scheiße!«, entfährt es mir ein weiteres Mal und ich lasse mich an der Wand bis zum Boden herabsinken, um mich zu sammeln.
»Ich werde meinen Job verlieren«, murmle ich und stütze den Kopf in die Hände. Ich weiß weder, wie er heißt, noch, wo er wohnt. Ich weiß gar nichts über ihn. Nur dass er mich von Anfang an belügen wollte und betrogen hat. Aus Wut auf mich selbst drücken sich einige Tränen an die Oberfläche und fallen auf meine dunkelblaue Arbeitskleidung. Als ich den Blick hebe, sehe ich etwas Schwarzes unter dem Medikamentenschrank liegen.
Ich beuge mich herüber und greife danach. Es ist ein Geldbeutel, der wohl zuvor niemandem aufgefallen war. Ich öffne ihn und blicke in sein Gesicht. Es ist der Geldbeutel von Blake McBoyd – dem Mann mit den fast schon grauen Augen.
Mein Beeper zwingt mich, das Portemonnaie einzustecken und nicht weiter zu durchsuchen. Der Notfallcode auf dem kleinen Bildschirm erinnert mich an den Unfall des Reisebusses und ich renne aus dem Zimmer in den Flur zurück, wo das Chaos herrscht. Ich schalte den Autopiloten wieder an und funktioniere nur noch. Während ich in einem Automatismus den Anweisungen von Ärzten folge, Wunden versorge, gemeinsam mit Ada und anderen Schwestern Patienten zum Röntgen und zum CT bringe, fühle ich den Geldbeutel, der sich im Inneren meiner Hosentasche bei jedem Schritt ein wenig mehr gegen mein Bein drückt.
Ich habe den Namen und die Adresse. Ich weiß, wer er ist. Und ich weiß, wo ich ihn finde.
Ich arbeite zwei Stunden länger, was in diesem Job keine Seltenheit ist. Mein Termin mit dem Vorstand fand demnach nicht statt und wurde verschoben. Aber all das gehört zum Krankenhausalltag – Notfälle fragen nicht nach Schichtplänen und sie fragen nicht nach privaten Terminen. Sie treffen alle mit voller Wucht und hinterlassen ein Durcheinander, Erschöpfung, Müdigkeit. Aber auch oft ein gutes Gefühl, wenn es ein Happy End gibt. Man vergisst die Zeit und alles um sich herum und erledigt eine Aufgabe nach der anderen. Bis der Trubel abnimmt und man das Gefühl hat, alles normalisiert sich wieder. An Tagen wie diesen rufe ich Valéria kurz an und gebe ihr Bescheid. Nicht weil ich das muss, sondern weil ich hören möchte, dass alles okay ist. Dass es ihr gut geht. Sie ist achtzig Jahre alt und die Menschen, die uns nicht kennen, denken, sie sei meine Großmutter. Aber es ist nicht der Zahn der Zeit, der mich beschäftigt. Vielmehr ihr Gesundheitszustand. Mir fällt es schwerer, den Gedanken zuzulassen, als Valéria selbst. Vielleicht, weil sie alles ist, was ich habe, und sie mir dieses neue Leben ermöglicht hat. Mir stets Liebe, Wärme und Fürsorge geschenkt hat. Mit einundsechzig Jahren noch ein Kind zu adoptieren und dann einen Teenager großzuziehen, wenn andere ihren Ruhestand genießen, verdient besonderen Respekt und Hochachtung. Und vielleicht war es gerade das, was mich immer davon abgehalten hat, unvernünftige oder für Teenager typische Dinge zu tun, die ihr Sorge bereiten könnten.
Völlig erschöpft verlasse ich mit Ada das Belle Rock Memorial durch die verglaste Drehtür. Im Augenwinkel nehme ich Gus wahr, der sich anschleicht und Ada von hinten die Hände über die Augen legt. Sie lächelt sofort und berührt seine Finger, bleibt mit ihm im Weg stehen und dreht sich um, um ihn zu küssen. In Momenten wie diesen fehlt mir das Gefühl, nicht alleine zu sein. Wenn ich die beiden betrachte, fühle ich, dass sie zusammengehören. Sie gehören zusammen, und obwohl es Männer in meinem Leben gegeben hat, hatte ich nie das Gefühl, meinen Gegenpol gefunden zu haben.
»Ich bin völlig erledigt.«
Gus gähnt, legt seinen Arm um Ada und wir treten in die Hitze nach draußen, die uns nach Stunden in einem voll klimatisierten Gebäude noch härter trifft. Es fühlt sich an wie ein wärmendes Feuer und beruhigt mich. Feuer ist das Element, das konträr zu Wasser ist. Vielleicht mag ich deshalb alles, was Wärme spendet – den Sommer, die Sonne, Lagerfeuer, Kerzenschein, Wärmflaschen und eine geöffnete Backofentür. All das gibt mir Sicherheit.
»Ich auch«, antwortet Ada und stimmt in sein Gähnen mit ein. »Ich brauche nur noch ein Glas Wein, eine Pizza und die Couch.«
»Mehr nicht?« Gus küsst sie und sie kichern beide vor sich hin.
»Zeit für mich zu gehen«, murmle ich und lege meiner Freundin eine Hand auf die Schulter.
Beide winken mir, während ich zur Bushaltestelle laufe. Ich brauche vier Stationen, bis ich in der Straße angekommen bin, in der ich mit Valéria wohne. Viele, die hören, dass ich mit meiner alten Adoptivmutter in einer gemeinsamen Wohnung lebe, fragen, wieso ich nicht ausziehe und mir eine eigene Bleibe suche. Das tun sie, weil sie unsere Geschichte nicht kennen. Valéria gibt mir alle Freiheiten, die ich brauche, und schränkt mich nicht ein. Im Gegenteil. Sie ermutigt mich, auszugehen und Freunde zu treffen und hat vor langer Zeit aufgegeben, mich dazu zu bewegen, ein ganz eigenes Leben in einer modernen Stadtwohnung zu führen.
Während der Busfahrt hole ich den Geldbeutel hervor, den ich bisher wie einen Schatz verborgen in meiner Hosentasche getragen habe. Erst jetzt merke ich, dass ich Ada nichts von dieser Begegnung erzählt habe, und ich weiß nicht, wieso. Sie würde mich nicht verurteilen, auch nicht für Fehler, die ich begehe. Aber ich habe das Gefühl, dieser Fremde und ich, Blake McBoyd und ich, haben eine Rechnung offen, die ich zuerst begleichen muss, bevor ich sie einweihe, was sich an diesem Tag ereignet hat.
Du hast heute einen großen Fehler gemacht, ein Fehler, der dich deinen Job kosten kann.
Die innere Stimme ist plötzlich so präsent, dass ich zusammenzucke. Ich habe meinen Schlüssel mit Zugang zu allen Räumlichkeiten und Medikamentenvorräten bei einem Patienten gelassen, der die Situation ausgenutzt und sich bedient hat und dann abgehauen ist.
Was, wenn etwas passiert und ich zur Rechenschaft gezogen werde, weil ich den Vorfall nicht gemeldet habe? Aber wenn ich ihn gemeldet hätte, hätte man mich dann direkt entlassen? Oder hätte man mich nur abgemahnt?
Das Gedankenkarussell nimmt volle Fahrt auf und treibt mich regelrecht in den Wahnsinn. Ich lege meine Stirn an die kühle Scheibe und versuche, mich selbst zu beruhigen. Ja, ich habe einen Fehler begangen, aber dieser Typ auch. Er hätte nicht an den Medikamentenschrank gehen dürfen, Schlüssel hin oder her. Es ist nicht sein Recht. Ich bin fast etwas beruhigt, dass die Angst und Unsicherheit der Wut Platz machen, die sich an die Oberfläche kämpft. Die Gedanken begleiten mich, bis ich den Schlüssel ins Schloss stecke und Valérias und meine Wohnung betrete.
Man kann den Fernseher hören und die eingespielten Lacher der Sitcom, die sie regelmäßig schaut. Ich schlüpfe aus meinen Schuhen, lasse die Tasche auf den Boden daneben gleiten und gehe durch den Flur zum Wohnzimmer, vorbei an dem breiten Rahmen an der Wand, in dem ein Bild von Jesus am Kreuz hängt und vor dem stets eine Kerze brennt. Nur zur Nacht oder wenn wir beide außer Haus sind, löschen wir das Feuer. Valéria hat ihr ganzes Leben Gott gewidmet, darin nie Platz für einen Mann gehabt, aber für so unendlich viele Kinderseelen, die sie im Kinderheim umsorgt, umarmt und denen sie Liebe geschenkt hat. All diese Kinder hat sie nicht vergessen und ihnen einen Platz in ihrem Herzen und an der Wand unseres Flurs reserviert. So finden sich um die Darstellung von Jesus’ Kreuzigung zahlreiche Bilderrahmen in unterschiedlichen Größen und Formen, mit abgesplittertem Holz und abgeplatztem Lack, die an all diese Kinder erinnern, die schon längst erwachsen sind und sich ein eigenes Leben aufgebaut haben. Aber ich weiß, wie bedeutend Valéria diesbezüglich war, und das macht mich stolz auf die Frau, die mich gerettet hat. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb ich nicht von ihr loskomme – ich fühle eine unendliche Liebe zu ihr, aber habe auch das Gefühl, dass all das Pflichtbewusstsein und die Dankbarkeit dieser Seelen an unserer Wand auf meinen Schultern lasten und es meine Aufgabe ist, dies bis an Valérias Lebensende auszudrücken.
Aber ich will das tun.
Und muss es tun.
Ich betrete das Wohnzimmer und sehe sie strickend auf der Couch sitzen, den Blick auf den Bildschirm gerichtet.
»Hi, Valéria.« Ich drücke ihr einen Kuss auf den Scheitel und lasse mich erschöpft in den Sessel neben ihr fallen.
Sie lässt ihre Stricknadeln ineinandergleiten und wirft mir einen kurzen Blick zu.
»Hattest du nach der Arbeit noch einen Drink?«
»Schön wär’s.« Ich gähne und reibe meine Augen. »Ich habe Überstunden gemacht. Ein Unfall …«
»Natürlich.« Sie wendet sich abrupt in meine Richtung und legt ihr Strickzeug ab. »Der Bus. Wie geht es dir und wie geht es den Menschen, die eingeliefert wurden, mein Herz, mi corazón?«
Ich erzähle ihr die Kurzversion der Ereignisse und Zusammenhänge, über die sie nur den Kopf schütteln kann. Auch für mich hören sich die Dinge im Nachhinein immer an, als stammten sie aus einem Film.
Nach einer kurzen Sprechpause findet sie die Worte wieder.
»Du hättest dir heute Morgen nicht ein spannenderes Leben wünschen sollen, schätze ich.«
Ich erinnere mich an unsere Diskussion und muss schmunzeln. Dabei stütze ich den Kopf auf mein Handgelenk und spiele mit einer meiner hellblonden Haarsträhnen, die ich gedankenverloren mustere.
»So hatte ich das nicht gemeint.«
»Das weiß ich doch.«
»Im Kühlschrank steht etwas zu essen, wenn du Hunger hast.«
Sie zeigt auf den Zugang zur Küche und nimmt ihre Arbeit wieder auf.
»Ich habe keinen Hunger, ich bin unendlich müde.«
»Geh schlafen, mein Herz.«
Ich stehe auf und küsse sie auf die Stirn.
Im Bad fällt mir auf, dass triefend nasse Wäsche in einem Wäschekorb liegt und die Maschine daneben leer und geöffnet ist.
»Was ist mit der Waschmaschine los?«, rufe ich aus der Tür den Flur hinunter.
»Ich glaube, sie hat den Geist aufgegeben«, ruft Valéria zurück und muss husten, bevor sie weiterspricht. »Ich beauftrage morgen einen Klempner.«
»Kommt nicht infrage! Ich schaue sie mir zuerst an!«
Ich habe die letzten Jahre einige unserer Haushaltsgeräte selbst repariert, was uns Geld und Nerven gespart hat. Angefangen hat alles mit einem defekten Rollladen im Wohnzimmer, den ich mit Videoanleitung ausgebaut habe. Seitdem versuche ich mein Glück und bis auf den Kühlschrank konnte wirklich alles mithilfe des Internets, Anleitungsvideos und bestellten Ersatzteilen selbst fixen.
Sie lässt sich auf den Deal ein, aber ich muss ihr versprechen, damit bis morgen zu warten. Wieder einmal bin ich dankbar für ihre Hartnäckigkeit. Das Letzte, was ich heute gebrauchen kann, ist die Reparatur einer Waschmaschine. Mein Kopf fühlt sich paradoxerweise voll und leer zugleich an und ich brauche dringend eine Pause. Schlaf. Ruhe. Ich stelle mich unter die Dusche und schamponiere meine Haare. Als das Wasser über meinen Körper prasselt, rieche ich Erde und Minze.
Dunkelgraue Augen, die in meinen Blick eindringen und mich halten. Dunkle Haarsträhnen, die sein Gesicht einrahmen. Ich schnappe nach Luft und reiße die Augen auf, drehe das Wasser ab und schüttle die Gedanken von mir. Aus irgendeinem Grund ist es mir unangenehm, dass er so eine betörende Wirkung auf mich hat.
Weil er mich anlügen wollte.
Weil er mir wahrscheinlich etwas vorgespielt hat.
Aber die Wunde war echt, der Cut war da und ich versuche mir einen Reim darauf zu machen, was das Ganze soll.