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Callie hatte immer gewusst, was sie wollte. Sie hatte gewusst, dass sie ihr Geld mit Videospielen verdienen wollte. Dass es richtig gewesen war, ihr ganzes Erspartes in Aufnahmeequipment zu investieren. Doch nun wusste sie rein gar nichts mehr... Callie lebt ein ungewöhnliches Leben - und das liegt nicht nur an ihrer Fähigkeit, Risse zwischen Realitäten zu öffnen. Doch als Nathan auftaucht, der sie zu kennen behauptet und sie vom Militär gejagt wird, beginnt ihr ganzes Weltbild zu zerfallen. Denn sie ist nicht, wer sie selbst zu sein glaubt.
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Seitenzahl: 647
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01. Zwischen den Welten
02. Niemand ist wirklich frei
03. Der Preis der Macht
04. Anzug. Anziehend. Arschloch.
05. Mächtige Feinde
06. Auf der Straße
07. Ein neues altes Leben
08. Callie und Amaya
09. Bermuda-Dreieck
10. Die uns einst Helden nannten
11. Ein Sturm hinter dem Fenster
12. Vertraut und Fremd
13. Wir sind alle ihr Eigentum
14. Risiken und Verluste
15. Opfer
16. Das Richtige tun
17. Worte wie Ketten
18. Ein falscher Schritt
19. Gefangen
20. Ein Strick für jeden von uns
21. Loyalität
22. Makellos
23. Entbehrlich
24. Die gefährlichste Waffe
25. Zerbrochene Realitäten
26. Zurück an den Anfang
There’s no unique picture of reality
Stephen Hawking
Du bist verrückt. Zum ersten Mal hatte ihre Mutter ihr das gesagt, als Callie sieben Jahre alt war. Sie konnte sich noch an jede Einzelheit erinnern. An den Ausdruck in ihren Augen, als sie sie angestarrt hatte, an die entsetzten Gesichter der anderen Restaurantgäste. An das einsame Stück Käsekuchen, das auf ihrem Teller gelegen hatte. Jedes noch so kleine Detail, unauslöschlich in ihrem Gedächtnis. Vermutlich, weil es ihr Geburtstag war. Vielleicht hatte ihre Mutter sie zurückgelassen, weil sie wirklich verrückt war. Sie konnte es ihr kaum verübeln. Manchmal machte sie sich selbst Angst.
Angespannt zupfte Callie an ihrem Kleid. Egal wie oft sie diesen Weg ging, jedes Mal erwartete sie, dass irgendetwas Unvorhergesehenes passierte. Dass ihr ein Fehler unterlief, der ihr das Genick brach. Vermutlich bestand nicht einmal Grund zur Sorge. In dem Chaos, das um sie herum herrschte, achtete niemand auf das Mädchen, das sich zielstrebig ihren Weg durch die Menschenmassen bahnte. Ob sie sich hingegen jemals an diese Art Kleider gewöhnen konnte, war ihr schleierhaft. Sie sehnte sich fast ein wenig nach ihren Gaming-T-Shirts und ihren ausgewaschenen Jeans. Auch ihre gefärbten Haare hatte sie unter einem Tuch versteckt. Im Florenz des 15. Jahrhunderts konnten türkise Haare gefährlich werden.
Die Straßen waren belebt. Ein Pestarzt schob sich so hektisch an Callie vorbei, dass seine Schnabelmaske ihre Schulter streifte und beinahe das Tuch von ihren Haaren riss. Hastig zog sie den Stoff wieder zurück und schob sich in eine der umliegenden Gassen. Mit langsamen Atemzügen versuchte sie, ihr Herz zu beruhigen, versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Sie musste sich auf ihre Aufgabe konzentrieren.
In der Luft lag ein Potpourri aus Gerüchen und umschwirrte die Menschen, die in der prallen Mittagssonne unterwegs waren. Der Wind, der über ihre Haut strich, war trocken und heiß und brachte den Duft von Lavendel mit sich. Darunter mischte sich der feuchte Geruch von geronnenem Blut und Fischinnereien, die von den Marktständen zu ihr herüberwehten. Beinahe krampfhaft versuchte sie, sich auf ihren Weg zu konzentrieren, als Übelkeit in ihr aufstieg.
An den Ständen entlang der Straße verkauften Händler ihre Waren – feinste Gewürze, prunkvolle Gewänder und meisterhaft geschmiedete Waffen. Callie beschleunigte ihre Schritte, als sie an einem Arzt vorbeikam, der sich über seinen Patienten lehnte, um ihm einen Zahn zu ziehen. Sie hatte einmal den Fehler gemacht, zu genau hinzusehen – keine Erfahrung, die sie wiederholen wollte.
Ein Lächeln zupfte an ihren Lippen, als sie Fetzen eines Gesprächs auffing. Der Akzent, der sich in das Italienisch der Frauen mischte, machte es ihr schwer, zu folgen, doch trotzdem verstand sie, dass sie über den talentierten Wissenschaftler sprachen, der nur wenige Straßen weiter wohnte.
Callie schob sich aus dem regen Strom der Menschen in eine schmale Seitengasse. Nur noch wenige Meter bis zu ihrem Ziel. Ihr Herz schlug hart gegen ihre Rippen und ließ sie nur kleine Atemzüge machen. Sie zögerte einen Moment und sah nach rechts und links, ehe sie an die Tür klopfte. Jedes Mal, wenn sie an dieser Schwelle stand, fürchtete sie, vielleicht doch einen Fehler gemacht zu haben. Fürchtete, nicht von dem Mann begrüßt zu werden, der ihr wie ein Mentor war, sondern einem völlig Fremden gegenüberzustehen. In einer Realität zu landen, in der er nicht einmal existierte.
Drinnen blieb es still. Callie wunderte das nicht. Auch nicht, dass die Hintertür offenstand. Es gab viele Dinge, die Leonardo so sehr in den Bann zogen, dass er nichts mehr anderes wahrnahm.
Der Geruch nach Farbe und Ruß schlug ihr entgegen, als sie die Werkstatt durch den Hintereingang betrat. Ihr Mentor stand mit dem Rücken zu ihr an einer Leinwand und ließ seinen Pinsel über die raue Leinwand gleiten. Er war so sehr in seine Arbeit vertieft, dass er seinen Besuch erst bemerkte, als Callie neben ihn trat. Sein Lächeln wurde breit, als er den Pinsel sinken ließ und sich ihr zuwandte. Schwielige Finger umfassten ihre Hände. „Du bist zurück, mein Mädchen", sagte er und schob seine Mütze zurecht. Die meiste Zeit sprach er so langsam, dass sie ihn auch mit ihrem brüchigen Italienisch verstehen konnte. Nur wenn er sich über etwas aufregte, überschlug sich seine Stimme derart, dass sie keine Chance mehr hatte, seinen Worten zu folgen.
Leonardo machte einen Schritt auf einen der Tische zu. Wie die anderen Möbelstücke in diesem Raum war auch auf dieser Tischplatte kaum noch ein freier Fleck zu finden. Werkzeuge und Ölfarben türmten sich in abenteuerlichen Bergen empor. Er schien etwas zu suchen, doch dann drehte er sich wieder ruckartig zu Callie um, als hätte etwas ihn aus einem tiefen Gedanken gerissen. Erneut griff er nach ihren Händen und musterte sie eingängig. „Du bist zu dünn", sagte er und rückte ihr einen Stuhl zurecht. „Hast du heute denn noch nichts gegessen?" Ein leiser Vorwurf schwang in seiner Stimme mit. Er kannte sie mittlerweile gut genug.
„Zählt eine Hand voll Trockenfrüchte?" Callie schmunzelte, als Leonardo tadelnd die Augenbrauen hob. Dabei hatte sie doch schon den Energy Drink verschwiegen, den sie vor ihrem Sprung noch schnell vernichtet hatte. Sein Blick hellte sich auf, als er die Tasche entdeckte, die sie auf dem Boden abgestellt hatte.
„Hast du mir mitgebracht, worum ich dich gebeten habe?" Callie zögerte kurz, nickte dann aber und zog das Bündel Blätter aus der Tasche. „Molto bene", flüsterte er. Seine volle Aufmerksamkeit galt bereits den Unterlagen.
Callie ließ sich auf den Stuhl sinken, während ihr Mentor die einzelnen Abhandlungen durchging. Sie hatte keine Ahnung, ob es richtig war, was sie hier tat. Doch er war der Einzige, der ihr helfen konnte, ihre seltsame Fähigkeit zu verstehen. Sie hatte mehr zufällig herausgefunden, dass sie Risse zwischen Realitäten öffnen konnte. Der Zufall schien sich wie ein roter Faden durch ihr Leben zu ziehen. Selbst in Leonardo war sie fast aus Versehen hineingestolpert. Damals dachte sie noch, sie würde in der Zeit reisen. Erst nach und nach begriff sie, dass das, was sie tat viel komplexer war. Leonardo setzte alles daran, ihr zu helfen, diese sonderbare Macht zu verstehen – soweit es ihm mit seinen Mitteln möglich war. Doch ihre Besuche wurden immer seltener. Er wusste nicht, dass sie sich davor fürchtete, zu springen. Dass sie mehr und mehr die Kontrolle verlor.
„Möchtest du üben?“, fragte Leonardo nach einer Weile, ohne von der Zettelsammlung aufzusehen. Er wartete ihre Antwort nicht einmal ab. Er wusste, dass sie jede Möglichkeit zum Üben nutzte. Callie schluckte kaum merklich und machte sie sich auf das gefasst, was sie durch einen Riss herholen sollte. „Ein Apfel“, sagte er schließlich und ließ sich auf einen der Hocker sinken.
Callie hob die Augenbrauen. „Ein Apfel?“, fragte sie, ohne ein Schmunzeln verbergen zu können.
Ihr Mentor zuckte unbeteiligt mit den Schultern. „Ich habe nun einmal Hunger.“
Nun gut. Dann war es eben ein Apfel. Noch einmal atmete Callie tief durch und konzentrierte sich, versuchte ihre Sinne zu öffnen. Es gab unzählige Realitäten. Alle gleich und alle verschieden. Die meisten Unterschiede waren kaum zu erahnen. Hier ein anderer Läufer, dort ein Tisch auf der entgegengesetzten Seite. Doch manchmal entdeckte sie etwas Besonderes im Chaos der Welten. Ein Apfel sollte nicht allzu schwer zu finden sein. Die Wahrscheinlichkeit in einem Wohnhaus etwas Obst aufzutreiben, war bedeutend höher, als eine spezielle Pflanze oder hochprozentigen Alkohol.
Sie schloss die Augen und streckte die Hand aus, um einen Riss zu öffnen, so wie sie es immer tat, um sich zwischen den Realitäten zu bewegen. Doch sie hatte es erst vor kurzem angefangen die Risse auf diese Weise zu nutzen. Der Sog, der von dem Riss ausging, war übermächtig. Die Versuchung, einfach durch ihn hindurchzutreten, wurde von Sekunde zu Sekunde größer. Mit aller Kraft stemmte sie sich dagegen und machte einen Schritt zurück.
„Faszinierend“, murmelte Leonardo und machte sich einige Notizen. Er stutzte als er den Blick hob. „Das ist kein Apfel.“
„Eine Birne. Obst ist Obst, oder etwa nicht?“
Leonardo schnaubte leicht und hob die Augenbraue auf seine unverkennbare Art und Weise. „Präzision war nie deine Stärke, was?“
Sie widerstand dem Drang, die Zunge rauszustrecken.
„Wie wäre es denn mit etwas Größerem? Eine eurer neumodischen Waffen vielleicht?“
Callie verschluckte sich beinahe an ihrem Lachen. „Leonardo, ich...“ Sie stockte. Einen Apfel in diese Realität zu bringen war eine Sache... Aber eine Waffe? Schon mit den Plänen, die sie ihm brachte, lehnte sie sich vermutlich weit über den Abgrund. Das hier war ein ganz anderes Kaliber. Wenn sie etwas von Marty McFly gelernt hatte, dann, dass es schlecht war, mit der Zeit zu spielen. Das galt auch für das Manipulieren von Realitäten.
Leonardo fluchte auf Italienisch, ehe seine Stimme weicher wurde. „Das ist schon in Ordnung, mein Mädchen. Mach dir keine Sorgen.“ Da war er wieder: der Mentor, dem sie bedingungslos vertraute. Sie mochte den überehrgeizigen Wissenschaftler nicht, der für seine Forschung über Leichen ging. Er machte ihr Angst. „Hast du einen Blick auf diese Realität werfen können?“
Callie schüttelte den Kopf. „Der Sog war zu stark. Ich konnte mich kaum umsehen."
„Zu stark sagst du?" murmelte Leonardo abwesend vor sich hin und machte sich einige Notizen. „Ist dir ansonsten noch etwas aufgefallen? Seltsame Erinnerungen, Gerüche, Empfindungen?"
Verwirrt sah sie ihn an. „Nein. Weshalb fragst du?"
„Reine wissenschaftliche Neugierde. Nichts weiter." Er legte das Blatt aus der Hand und kritzelte einige Begriffe auf einen der Zettel, die an der Wand hingen. Kurz huschte dabei sein Blick über einen Gegenstand, der unter einem Tuch verborgen in einer Ecke lag. Callie runzelte die Stirn. Einmal hatte sie versucht, ihren Mentor auf dieses mysteriöse Tuch anzusprechen, doch er hatte sie nur wirsch abgewimmelt. Seitdem hatte sie es gekonnt ignoriert, auch wenn es sie unter den Nägeln brannte, nachzusehen, was es damit auf sich hatte. Vermutlich würde das Mysterium verpuffen, sobald sie das Tuch hob. Vielleicht war es ein Spiegel oder eine dieser hässlichen Vasen, die man im Museum bewundern konnte. Im Grunde war es ihr egal. Sie hatte nichts für Antiquitäten übrig und solange Leonardo es ihr nicht zeigte, war es scheinbar nicht für sie von Belang.
Leonardo stand auf und reichte ihr einen Zettel. „Wir machen für heute Schluss. Du musst immerhin noch nach Hause kommen und ich sorge mich, dass dir die Energie ausgeht", sagte er, als würde Callies Weg sie nur in das Nachbardorf führen. „Das sind die Dinge, die du mir zum nächsten Treffen mitbringst."
„Meinst du wirklich..." Callie verstummte, als Leonardos Blick sie traf. Sie wusste, dass er nicht gerade geduldig war, wenn es um Gespräche ging, die ihn nicht interessierten.
„Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Ich gehe mit den Informationen, die du mir lieferst, sorgsam um."
Sie glaubte ihm. Sie zweifelte nicht an seinen Absichten und Versprechungen. Nicht er war es, dem sie nicht vertraute. Es waren die Folgen, die diese Entscheidungen nach sich ziehen würden. Die Dinge, die sie in Gang setzte und die sich ihrer aller Kontrolle entzogen.
„Pass auf dich auf, mein Mädchen", sagte Leonardo, als sie aufstand und einen Riss öffnete.
„Nathan, jetzt beeil dich endlich!“ zischte sein bester Freund Archer an der Tür. Nathan hob nicht einmal den Kopf vom Bildschirm des Recvhners. Er benötigte all seine Konzentration, um keinen Fehler zu machen. Einen übernervösen Freund konnte er dabei nicht gebrauchen. Immerhin hackte er sich nicht jeden Tag in den Laptop des Generals.
„Bist du sicher, dass du das tun solltest?“, fragte Archer unruhig und trat von einem Fuß auf den anderen.
„Ab und an muss man auch mal mutig sein“, entgegnete Nathan und ließ seine Finger über die Tastatur fliegen. Das hier war ein öffentlicher PC. Er durfte hier sein. Trotzdem musste keiner der Offiziere mitbekommen, was er hier tat. Das Eis auf dem er sich bewegte, war dünn genug. Seine Eltern hatten ihn immer gedrängt, mutig zu sein und neue Dinge auszuprobieren. Zugegeben – vermutlich hatten sie dabei nicht im Sinn, sich ins System zu hacken, um an die Fragen für den nächsten Test zu kommen. Doch er konnte nicht anders. Der Laptop des Generals bettelte förmlich, darum geknackt zu werden.
„Nathan!“
Mit einigen schnellen Klicken hatte er das Interface geschlossen und den Rechner heruntergefahren. Er stand gerade rechtzeitig auf, bevor General Meloy sehen konnte, was er da trieb. Der General war ein hagerer Mann mit verbittertem Gesicht und immer wütenden Augen. Abschätzig ließ er seinen Blick von den Bildschirmen zu Nathan wandern. „Was habt ihr hier verloren?“, fragte er misstrauisch.
„Lernen“, gab Nathan einsilbig zurück. Er sah nicht Meloy an, sondern das Mädchen, das neben ihm stand.
„Das ist Amaya“, sagte Meloy und drehte sich wieder zur Tür um. „Sie ist ab heute in dieser Einheit. Führt sie ein wenig herum. Ich habe für so etwas keine Zeit.“ Noch ehe sie etwas erwidern konnten, war die Tür ins Schloss gefallen und der General verschwunden.
Verwundert musterte Nathan das fremde Mädchen. Sie sah nicht aus, wie einer der typischen Rekruten. In ihrem bunten Sommerkleid wirkte sie zu brav und behütet, um hier reinzupassen. Ihre weizenblonden Haare hatte sie sich zu einem Zopf nach hinten geflochten. Entspannt pustete sie sich eine freie Strähne aus der Stirn. Zudem war sie spät dran – oder zu früh. Der nächste Rekrutenjahrgang würde erst in zwei Monaten eintreffen. Er wusste das. Immerhin war er nach dem Tod seiner Eltern förmlich hier aufgewachsen. Wer war sie also?
Er tauschte einen kurzen Blick mit seinem besten Freund. Durch seinen Vater hatte Archer seine Augen und Ohren überall. Doch er schien genauso ratlos zu sein, wie er.
Das Mädchen wirkte in keinster Weise nervös. Unbeirrt sah sie sie an, ohne auch nur irgendeine Scheu oder Unsicherheit. Nicht wie die Neuzugänge, die hier normalerweise durch die Tür spazierten. Sie war völlig gelassen. Nathan wusste nicht, ob er das bewundernswert oder beängstigend finden sollte.
Archer machte als Erstes einen Schritt auf Amaya zu. „Das ist Nathan und ich bin Archer“, sagte er mit einem Grinsen und hielt ihr die Tür auf. „Komm, wir zeigen dir alles.“
Viel zu normal. Viel zu gewöhnlich. Nathan wurde aus diesem Mädchen nicht schlau. Wer war diese Amaya?
„Nathan, kommst du?“, fragte sein bester Freund belustigt.
Nathan warf noch einen kurzen Blick auf den Bildschirm. Eigentlich sollte er zu Ende bringen, was er angefangen hatte. Doch wenn er ehrlich zu sich war, wollte er mehr über diese Amaya erfahren, deren Augen ihn so herausfordernd anfunkelten.
„Wo kommst du her?“, fragte Archer, als sie das Gebäude verließen und sich auf den Weg in Richtung Speisesaal machten. „Was hat dich hierher verschlagen?“
„Meine Eltern hielten es für das Beste“, erwiderte Amaya unbeteiligt. „Immerhin scheint es interessanter, als dieses bescheuerte Internat in den Alpen zu sein.“
Archers Grinsen wurde breit. „Na, darauf kannst du aber einen lassen.“
Nathan folgte den beiden stumm. Sollte Archer doch das Gespräch an sich reißen – es war ihm ganz recht. So blieb ihm mehr Zeit, Amaya zu beobachten. Archer scherzte auf seine gewohnt lässige Art mit ihr, erzählte ihr eine Geschichte nach der Nächsten. Egal wie Nathan es drehte: Er wurde einfach nicht schlau aus diesem Mädchen. Ihre andere Option war ein Internat in den Alpen? Was dachte sie denn, wohin sie hier gekommen war?
„Du musst bei Pete aufpassen. Sprich ihn bloß nicht an, wenn er das Essen verteilt. Außer natürlich du stehst auf Spucke im Salat“, erklärte Archer gerade, als sie am Speisesaal vorbeiliefen und den Weg in Richtung der Unterkünfte einschlugen. Viele der Gebäude auf dieser Anlage erweckten fast den Eindruck einer überdurchschnittlich großen Jugendherberge. Doch Nathan wusste, wie viele Stockwerke sie in die Tiefe reichten. Wusste, was dort unten geschah.
Amaya schmunzelte. „Ich werd's mir merken.“ Nathan hob den Kopf, als sie sich das erste Mal direkt an ihn wandte. „Was auch immer du da vorhin gemacht hast, du bist es falsch angegangen.“
Er zuckte unter ihren Worten unmerklich zusammen, schaffte es aber, weiterhin unbeteiligt zu wirken. „Was glaubst du denn, was ich getan habe?“
„Eine sehr kreative Art und Weise zu lernen. Du wärst dabei viel schneller, wenn du nicht so veraltete Tools benutzen würdest.“ Sie fuhr fort, noch bevor er die Chance hatte, zu antworten. „Keine Sorge. Euer General hat nichts davon gesehen. Selbst wenn, hätte er es vermutlich ohnehin nicht gerallt. Er weiß nicht, wonach er suchen muss.“
Nathan hob die Augenbrauen und ignorierte das Grienen seines besten Freundes im Nacken. „Ach und du weißt es?“
„Ich habe mich vor einem Monat in das Netzwerk meiner Schule gehackt. Kam nicht unbedingt gut an. Mir hat es dafür Spaß gemacht, ein wenig Robin Hood zu spielen und mit Noten zu jonglieren. Die waren ohnehin alle nur gekauft.“
Archers Augen weiteten sich. „Das kannst du doch nicht machen.“
„Reg dich ab, Jiminy Grille.“ Amaya schnaubte belustigt und wandte sich wieder Nathan zu. „Was hattest du wirklich damit vor?“
„Testfragen.“
„Klassisch.“
„Genau wie bei dir.“ Nathan konnte nicht anders, als ihr Grinsen zu erwidern.
„Nun ja...“ Amaya duckte sich unter Nathans spielerischem Schlag hindurch und lachte. „Ich sollte mich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Ich habe nur ein einziges Mal tatsächlich etwas gehackt und wurde gleich dabei erwischt. Die übrigen Male haben sich alle nur in meinem Kopf abgespielt.“
Amaya hatte eine dieser Stimmen, die jeden dazu brachten, sich umzudrehen und zuzuhören. Nathan konnte nicht anders, als ihren Worten zu lauschen, selbst als Archer das Gespräch wieder anführte und mit ihr scherzte. Er blieb still und beobachtete sie. Wie sie eine ihrer blonden Strähnen hinter ihrem Ohr feststeckte. Wie sie hin und wieder mit dem Daumen über ihre Fingerkuppen rieb. Er war fast schon enttäuscht, als sie am Wohnheim ankamen.
„Wir sehen uns dann morgen?", fragte sie, ohne den Blick von Nathan abzuwenden und öffnete die Tür zu ihrem Zimmer.
„Halb sechs, draußen am Trainingsplatz“, antwortete Archer an seiner Stelle und wandte sich ab, als Amaya die Tür nach einer kurzen Verabschiedung schloss. Als sein bester Freund keine Anstalten machte, ihm zu folgen, drehte er sich noch einmal um. „Nate?“
Nathan schreckte aus seinen Gedanken auf und blickte in Archers wissend grinsendes Gesicht. Schmunzelnd schüttelte er den Kopf und schubste ihn im Vorbeigehen, ehe er den Weg in Richtung der Computerräume einschlug. Er hatte da noch etwas zu erledigen.
Draußen war es noch dunkel, als Nathan am Morgen aus dem Wohnheim trat. Archer lag noch seelenruhig im Bett und schnarchte vor sich hin. Kurz hatte Nathan überlegt, ihn ein wenig zu ärgern, indem er ihn weckte, doch dann hätte er sich den ganzen Tag sein Gejammer anhören dürfen. Und nichts war nervtötender als Archer, der nicht genug Schlaf bekommen hatte. Gut für ihn, dass sein Vater hier eine ziemlich wichtige Position innehatte. Nathan hatte schon früh begriffen, dass für seinen besten Freund andere Regeln galten, als für die meisten anderen.
Frostkalte Luft strich über seine Haut, als er die Gebäudeschluchten hinter sich ließ und aufs offene Feld heraustrat. Er zog den Verschluss seiner Trainingsjacke noch ein Stück höher und stöpselte seine Kopfhörer ein. Musik an. Welt aus.
Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass er eigentlich sogar noch zu früh unterwegs war. Er war noch nie ein Langschläfer gewesen. Warum Zeit im Bett vergeuden, die er anderweitig nutzen könnte? Er blendete seine Umwelt völlig aus, als er auf dem schmalen Pfad durch den Wald in Richtung des Sportplatzes lief. Kurz schloss er die Augen. Er liebte die Ruhe, die ihn hier in dem kleinen Waldstück umgab, das Zwitschern der Vögel, die von der Kälte noch nicht vertrieben worden waren und das Rascheln des Laubs unter seinen Füßen.
Jemand berührte ihn an der Schulter. Als er den Kopf drehte, erkannte er, dass es Amaya war. Wie schon am Vortag hatte sie auch heute ihre Haare zu einem Zopf nach hinten geflochten und trug genau wie Nathan die Sportkleidung mit dem Logo der Anlage auf dem Ärmel. Das Lächeln breitete sich in seinem ganzen Körper aus, bevor es auf seinen Lippen erschien. „So früh schon unterwegs?“, fragte er und ließ die Kopfhörer in seiner Jackentasche verschwinden. Er hatte nicht erwartet, dass noch jemand schon unterwegs war. Ob sie wegen ihres ersten Trainings nervös war? Doch nervös wirkte sie ganz und gar nicht. Eher im Gegenteil.
„Warum warten? Die Welt gehört uns.“ Sie warf den Kopf in den Nacken und atmete die kalte Luft genussvoll ein.
Nathan kannte niemanden, der um diese Tageszeit schon derart gut gelaunt war. Er konnte nur hoffen, dass das Militär ihr nicht diese Fröhlichkeit nehmen würde.
Das Schweigen, das sich zwischen ihnen ausbreitete, war ein angenehmes. Unauffällig warf Nathan ihr einen Seitenblick zu. Noch immer fragte er sich, was sie in ihre Einheit verschlagen hatte. Die ganze Nacht hatte er gegrübelt und war doch nicht weitergekommen. Sie wirkte wie das nette Mädchen von nebenan, doch er war sich sicher, dass sie ein Geheimnis hatte. Jeder Mensch hatte eins. Er machte sich eine gedankliche Notiz. Ihres musste er unbedingt in Erfahrung bringen.
„Wo ist Archer?“, fragte Amaya und kickte einen Stein quer über den Waldweg.
„Warum sollte ich das denn wissen?“
Amaya grinste, ehe sie die Hände hinter ihrem Kopf verschränkte. „Ist er nicht dein Wurmfortsatz?“
Nathan konnte nicht anders, als das Grinsen zu erwidern. „Wer hat dir das denn erzählt?“
„Jeder, der mir über den Weg gelaufen ist. Also, wo ist er?“
„Du hast deine ganz eigenen Regeln, wenn dein Vater in der Chefetage sitzt. Also hängt er noch im Bett und pennt.“
Amaya steckte sich eine widerspenstige Strähne hinter dem Ohr fest. „Es bringt sicherlich Vorteile, mit so jemandem befreundet zu sein,“
„Eher im Gegenteil. Für Archers Vater war ich immer der Bad Boy auf dem Motorrad, der seine tugendhafte Tochter entführen wollte.“
Amaya lachte und berührte ihn leicht am Arm. Ihre Berührung strahlte durch seinen ganzen Körper und erfüllte ihn mit Wärme.
Ihr Trainer lehnte bereits an der Metallabzäunung des Sportplatzes, als Nathan und Amaya näherkamen. Manchmal fragte Nathan sich, ob der Asiate niemals schlief. Egal wie früh er hier auflief, Chen Dawei stand schon dort, bereit, jeden Schritt verbal aus ihnen herauszuprügeln. Er beobachtete die beiden Rekruten gelangweilt, als sie ein paar Runden liefen, um sich aufzuwärmen. Ob er jemals lächelte? Nathan hatte es jedenfalls noch nie gesehen.
Nach und nach füllte sich der Platz. Während ihr Trainer sie von einer Übung in die nächste scheuchte, konnte Nathan nicht anders, als ständig zu ihr herüberzusehen. Es war fast, als zöge sie ihn an, wie das Licht die Motte. Obwohl sie erst gestern angekommen war, fiel es ihr nicht schwer, mit den anderen mitzuhalten. Das war nicht durch simple Sportlichkeit zu erklären. Sie schien noch jünger als er selbst und er gehörte schon zu den Jüngsten der Anlage. Dieses Mädchen war ein einziges Geheimnis, doch Nathan würde es sich nicht nehmen lassen, es zu ergründen.
Als sich ihre Blicke kreuzten, lächelte sie ihm zu. Es war unmöglich, ihr Lächeln nicht zu erwidern. Er hoffte so sehr, dass die Zeit bei ihnen ihr nichts von ihrer Menschlichkeit rauben würde. Er selbst war ein Meister darin, sich abzuschotten und nichts an sich heranlassen. Anders konnte man hier nicht bestehen. Hier wurde Aggression gefördert. Ihr Trainer hetzte sie auf, spielte sie mit Siegen und Niederlagen gegeneinander aus. Nur der Konkurrenzkampf war entscheidend. Nathan konnte nur hoffen, dass ihre Freundschaft es ebenso aushielt, wie die zu Archer.
Mit einer harschen Handbewegung gab ihr Trainer ihnen zu verstehen, dass es nun an der Zeit für den Querfeldeinlauf war. Nathans Augenbrauen zogen sich zusammen, als er zwei Rekruten beobachtete, die sich Amaya von der Seite näherten. Er verstand nicht, was sie ihr entgegenjohlten, aber ihr Gesichtsausdruck verriet, dass es ihr nicht sonderlich zu gefallen schien. Doch noch bevor er eingreifen konnte, hatte Amaya dem einen schon die Füße weggetreten und an dem Arm des anderen gerissen, um ihn zu Boden zu schleudern.
„Hör auf zu spielen, Kaldany!“, brüllte ihr Trainer zu ihnen herüber.
Amaya achtete nicht auf ihn. „Sonst noch was?“, fragte sie, ehe sie sich abwandte und den Weg in Richtung Wald einschlug. Nathan folgte ihr und konnte seine Verwunderung kaum verbergen. Vielleicht war sie nicht so weich wie er dachte.
Locker joggten Nathan und Amaya nebeneinander her. Ihr Trainer lief ein Stück weit hinter ihnen und brüllte Anweisungen über die Gruppe hinweg. Eine Zeit lang schafften die beiden es, sich locker zu unterhalten, doch als ihr Trainer das Tempo anzog und der Boden unebener wurde, kam auch Nathan ins Schwitzen. Er atmete im Rhythmus der Schritte durch den Mund und konzentrierte sich ganz auf den Weg, der sie quer durch das Dickicht schien.
Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie ihr Trainer missbilligend die Augen rollte. Dann entdeckte auch er Archer, der durch das Unterholz brach und zu ihnen aufschloss. Auch wenn ihr Trainer ihn nicht direkt für sein Zuspätkommen maßregeln durfte, hatte er seine ganz eigene Bestrafung für ihn. Archer war das völlig egal. Ihm war sein Schlaf wichtiger als die halbherzigen Disziplinierungsversuche ihres Trainers.
Der Pfad, auf dem sie liefen, wurde steiler und unwegsamer. Nathan spürte die Anstrengung bis tief in die Knochen, doch noch hielt er dem stand. Anders als einer der Rekruten, der ganz in seiner Nähe lief. Immer wieder strauchelte er und schaffte es kaum, seine letzten Reserven zu mobilisieren. Ihr Trainer klebte ihm förmlich im Nacken. „Ihr sollt rennen, nicht flennen!", brüllte er und brachte den Rekruten damit weiter aus dem Takt. Nathan hatte kein Mitleid. Entweder man lernte, sich anzupassen, oder man kam unter die Räder. Vorsichtig schielte er zu Amaya herüber, die nicht weit von ihm lief. Er versuchte, in ihrem Gesicht zu lesen, doch er konnte keine einzige Regung ausmachen.
Angst überkam Callie, rasend schnell wie ein herannahendes Unwetter Heute schaffte sie es kaum, ihre Nervosität zu besänftigen, als sie durch den Riss trat. Doch sie musste sich konzentrieren, Zwischen den Welten balancierte sie jedes Mal auf Messers Schneide. Nur ein falscher Schritt und sie rutschte ab. Das beklemmende Gefühl, das sie jedes Mal beschlich, wenn sie sich vorsichtig voran tastete, war heute stärker als sonst. Sie konnte kaum atmen. Ihr Hals war ein einziger Kloß. Sie streckte die Hand vor und machte einen langsamen Schritt nach dem anderen, vorsichtig, um nicht die Orientierung zu verlieren und durch einen falschen Riss zu treten.
Wie jedes Mal hatte sie das Gefühl durch mehrere Schichten Spinnweben zu waten. Es wirkte so real, dass sie selbst nach all der Zeit noch immer erschrak, als sie versuchte, die Weben wegzuwischen. Ihre Haut fühlte sich klebrig an, auch wenn ihr Verstand wusste, dass da nichts war. Trotz allem spürte sie die Andersartigkeit dieser Zwischenwelt wie winzige Nadelstiche, die sich tief in ihre Knochen bohrten. Es sorgte dafür, dass sich ihr Herzschlag beschleunigte und ihr Mund trocken wurde. Sie wurde das Gefühl, beobachtet zu werden, einfach nicht los. Wurde sie langsam aber sicher paranoid? Doch was wusste sie schon über den Raum zwischen den Welten?
Nathan riss die Unterarme nach oben, als die Fäuste seines Gegners auf sein Gesicht zu schnellten. Das Jahr war erst wenige Tage alt und schon sollte einer der neuen Rekruten ihn zu Boden schicken? Diese Schande würde er nicht überleben. Doch heute fiel es ihm noch schwerer als sonst, sich zu konzentrieren. Und das lag nicht nur daran, dass Amaya mit ihm zusammen in diesem Abschnitt der Halle trainierte. Wobei Halle nicht unbedingt das richtige Wort war. Der Trainingsraum war nach oben hin offen. Ihre Trainer liefen auf den Zwischenwänden entlang, um mehr Schüler gleichzeitig beobachten zu können. Auch Chen war dort oben und betrachtete ihn, die Arme hinter dem Rücken verschränkt.
Nathan warf einen unauffälligen Blick auf Amaya. Kaum zu glauben, dass sie schon ein Jahr hier bei ihnen war. Einer der Trainer stand gerade neben ihr. Er trat ihr so lange gegen das Bein, bis es die exakte Verlängerung ihres Arms war. Amaya nahm das ohne Murren hin. Konzentrierte nickte sie, als der Trainer ihr noch einige Tipps gab und wandte sich wieder ihrem Gegner zu.
Noch immer war es ihm ein Rätsel, warum sie tatsächlich hier war. Bislang hatte er nichts herausfinden können. Auf seine Fragen hatte Amaya nur eintönig geantwortet und auch Archer hatte mit seinen Kontakten keinen Erfolg. Vielleicht hatten sie ja wirklich etwas gemeinsam.
„Herrera! Konzentrier dich gefälligst!“, kam es harsch von oben. Hastig wandte Nathan seine Aufmerksamkeit wieder seinem Gegner zu und rief sich in Erinnerung, was er gelernt hatten. Die Hände schützend vor das Gesicht. Die Füße in flachen Halbkreisen bewegen. Sein Gegner ging zum Angriff über, doch er schaffte es, auszuweichen. Nathan schlug nach ihm und traf mit der Faust seine bloße Schulter, konzentrierte sich und öffnete seine Sinne. Sobald er ihn berührte, war alles klar. Seine Stärken. Seine Schwächen. Er konnte geradezu aus ihm lesen. Er wusste, wann er unachtsam wurde, welche Schrittfolgen ihm schwerfielen und was sein Schwachpunkt war. Nathan duckte sich unter dem nächsten Schlag hindurch und zielte – nutzte die Schwächen seines Gegners und spielte ihn gegen sich selbst aus. Seine Faust traf ihn genau im richtigen Winkel und ließ ihn wie ein nasser Sack zu Boden gehen.
Entspannt ließ Nathan sich in das hohe Gras fallen. Die Luft war noch sommerlich warm, auch wenn der Abend schon spät war. Amaya lag neben ihm auf der Anhöhe, durch die Hecken vor den Augen der Anderen verborgen. Eigentlich durften sie nicht einmal hier sein. Niemand durfte ohne ausdrücklichen Befehl das Gelände verlassen. Sie wussten, dass es verboten war, doch sie wollten Zeit fernab von Disziplin und Gehorsam verbringen – und wenn es nur wenige Stunden waren.
Archer hatte sich eine Weile zu ihnen gesellt. Doch anders als Amaya und Nathan konnte er die Stille zwischen den Bäumen nicht genießen. Immer wieder hatte er nervös in Richtung des Hauptgebäudes gestarrt, in der Angst, sie könnten jeden Moment erwischt werden. Es dauerte nicht lange, bis er sich von ihnen verabschiedete. Nathan konnte nicht anders als zu schmunzeln. Man könnte meinen, dass jemand, der jede Möglichkeit ausreizte, um mehr Schlaf zu bekommen, ein wenig mehr auf Risiko spielte.
Nathan und Amaya lagen einfach nur da und erzählten. Von der Zeit, bevor sie hierhergekommen waren und von dem, was sie irgendwann einmal tun wollten. Ihre Arme berührten sich. Eine kaum wahrnehmbare Nähe und doch spürte Nathan sie in jeder Faser seines Körpers. Er konnte nicht aufhören, ihr zuzuhören. Ohne weiter von ihr wegzurücken, drehte er sich zu ihr um und stützte seinen Kopf mit der Hand ab. Viele Soldaten verdrängten die Möglichkeit, dass sie die Kenntnisse, die sie erwarben, auch in Gefahrensituationen einsetzen mussten. Er wusste das. Seine Eltern waren Botschafter gewesen. Er war schon früh mit der hässlichen Fratze des Krieges konfrontiert. Sein Blick glitt über Amayas Gesicht, über ihre graublauen Augen, während sie zu versuchen schien, jeden einzelnen Stern am Himmel zu zählen. Er fragte sich, wie sie wohl mit diesem Wissen umging.
Nathan lehnte sich auf die Ellbogen, ohne den Blick von ihr abzuwenden. Die Menschen, die sie hier kennenlernten, waren Kameraden, keine Freunde. Freunde konnte man sich aussuchen. Doch sie war viel mehr als das.
Als Amaya bemerkte, dass er sie beobachtete, rollte sie belustigt mit den Augen. „Du bist unmöglich", brummte sie gutmütig und warf ihm ein Kleeblatt an den Kopf.
„So bin ich nun einmal", entgegnete er und lächelte ihr zu.
Sie erwiderte sein Lächeln. Doch dann bewölkte sich ihr Gesicht. „Was war das vorhin?", fragte sie und strich über den dunklen Schatten, der sich über seinem Jochbein ausbreitete.
Er versuchte die Fröhlichkeit auf seinem Gesicht festzuhalten. „Nichts Schlimmes. Ich bin nur aufgeflogen." Die Disziplinarmaßnahmen waren nicht das Schlimmste. Es war das, was sie ihm in dem Gespräch vor Augen geführt hatten. Amaya durfte niemals erfahren, was sie gegen ihn in der Hand hatten. Niemand durfte das.
„Hast du dich etwa ungeschickt angestellt?", fragte sie und lachte, doch ihr Lachen klang holprig.
„Meine Signatur war wohl etwas auffällig." Er spürte, dass sie es ihm nicht abkaufte. Als hätte sie ebenfalls das, was alle bei ihm Menschenkenntnis nannten. Welche Fähigkeiten wohl in ihrem Inneren schlummerten? Sie war nicht so unscheinbar und normal, wie er erst gedacht hatte. Irgendetwas verbarg sie, doch er wagte es nicht, einen Schritt weiterzugehen und ihr Geheimnis gegen ihren Willen in Erfahrung zu bringen. So etwas konnte er ihr nicht antun.
„Ich habe da eine Idee“, sagte sie, um die gedrückte Stimmung mit einem Lachen hin wegzustreichen. „Lass uns wetten.“
Nathan hob die Augenbrauen. „Was wettest du denn?“
„Ich wette, dass ich mir selbst ein Tattoo stechen kann.“ Amayas Grinsen wurde breiter. „Jetzt guck nicht so geschockt. So schwer kann das gar nicht sein.“
„Und was willst du im Gegenzug?“, fragte er und richtete sich ein Stück weit auf.
Der Ausdruck auf ihrem Gesicht bekam etwas Diebisches. „Wenn ich es schaffe, darf ich dir auch eines stechen. Egal was.“
Nathan sah sie einen Moment lang an, ehe sich ein Grinsen auf seine Lippen schlich. „Deal.“
Callie seufzte genervt auf, als sie von einem lauten Rumpeln geweckt wurde. War ihr denn keine Minute Schlaf gegönnt? Ihr erster Impuls war es, nach dem Harry Potter Wecker zu greifen und ihn dem Störenfried an den Kopf zu werfen – doch dafür war sie einfach viel zu müde. Leise Worte drangen an ihr Ohr. Sie erkannte die Stimmen sofort. War das wirklich ihr verdammter Ernst?! Erschöpft hob sie eines ihrer Lider.
Die beiden Eindringlinge schienen in dem Halbdunkel ihres Zimmers etwas zu suchen. „Sei leise“, zischte Malik. Auch in seiner Flüsterstimme schwang sein hebräischer Akzent mit. „Sie schläft.“
Etwas schwerfällig richtete Callie sich auf. „Sie schläft nicht."
Prompt riss Malik die Vorhänge auf und grinste sie breit an, als wäre er nicht gerade auf frischer Tat ertappt worden.
Callie stöhnte auf, als das Sonnenlicht sie blendete. „Danke auch! Ich brauchte meine Augen ohnehin nicht."
Anders als ihr bester Freund Malik, der sich keines Unrechts bewusst zu sein schien, stand ihrem Kollegen David das Unbehagen förmlich ins Gesicht geschrieben.
„Könnt ihr mir mal sagen, was zum Teufel ihr hier sucht?", fragte sie und gab sich nicht einmal die Mühe, den genervten Unterton in ihrer Stimme zu verbergen.
Malik störte das kaum. Er wusste, dass sie morgens unausstehlich war. Sein Grinsen wurde nur noch breiter. „Wolltest du nicht heute Morgen arbeiten und einige Videos schneiden?"
Callie schreckte auf und tastete nach ihrem Handy. „Wie spät ist es?"
„Halb neun. Keine Panik, du hast noch Zeit."
Callie achtete nicht mehr auf ihn. Mit dem Fuß zog sie ihren Schreibtischstuhl heran und weckte ihren Computer Torin aus dem Tiefschlaf. Vor ihrem Treffen hatte sie noch eine ganze Menge tun. Sie musste Videos schneiden und hochladen und noch einige andere organisatorische Dinge erledigen. „Du wolltest mir noch sagen, was ihr hier sucht", warf sie über die Schulter zurück. „Und warum du in meiner Unterwäscheschublade herumwühlst."
„Vielleicht will ich sie ja bei eBay verticken", gab Malik trocken zurück. „Wir brauchen noch ein HDMI-Kabel für die Redaktionskonferenz. Du hast doch sicher noch eins hier rumfliegen."
„Schublade neben dem Fernseher." Sie wandte den Blick nicht von dem Bildschirm ihres Rechners ab. Ihre Finger flogen geradezu über die Tastatur. Callie liebte das, was sie tat. Sie kommentierte Spiele, machte Reportagen und News und stellte sie ins Netz. Gemeinsam mit ihrem Bruder und einigen Freunden hatte sie vor einiger Zeit ein Netzwerk ins Leben gerufen. Nun planten sie ihre erste wirklich große Veranstaltung und so langsam, aber sicher überkam sie Nervosität. Im stillen Kämmerlein Videos aufzunehmen oder den ein oder anderen Livestream zu veranstalten war eine Sache, aber so eine Großveranstaltung mit schicker Location, B-Promis und ganzer Aufnahmeleitung?
Angenervt pustete sie sich eine türkise Strähne aus dem Gesicht, die ihr immer wieder ins Auge fiel. Egal, was sie tat, sie wollte einfach nicht an ihrem Platz bleiben.
Malik grinste wissend und verschränkte die Arme vor seinem Maniac Mansion-T-Shirt. Sie hatte sich schon gestern über den unfähigen Friseur ausgelassen. Am liebsten hätte sie ihn einfach mit einem Laserschwert enthauptet. Nicht, dass sie vorher sonderlich viel länger gewesen wären. „Weißt du, kurze Haare sind modern.“
Ihre Augen verengten sich, doch sie schaffte es nicht, das Schmunzeln zu verbergen. Sie konnte Malik einfach nicht böse sein. „Dann bestellt euch doch beim nächsten Mal Inka Bause!“ Wieder ertönte das Klacken ihrer Tastatur. Seufzend strich sie über ihren Nacken. Warum musste diese Datei nur so störrisch sein? „Wo ist Maarten?“, fragte sie, während sie ein anderes Programm ausprobierte.
David sah von der Schublade auf, in der er nach dem Kabel kramte. „Der hat grad eben angerufen. Er wollte sich auf dem Weg noch eine Location ansehen. Bis zur Konferenz ist er aber wieder da.“
Callie nickte nur. Ihr Kopf pochte und ließ sie kaum einen klaren Gedanken fassen.
Malik zog einen Stuhl heran und setzte sich neben sie. „Sag mal, was hast du da letzte Nacht aufgenommen? Klang ja, als würde ein Tier verenden.“
„Danke auch“, erwiderte sie trocken und schob ihm die Spielehülle zu, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.
Doch Malik achtete kaum auf das Spiel. Seine Augen wanderten an ihr vorbei. „Probleme?“
„Kannst du laut sagen. Ich hoffe, ich kann die Aufnahme noch irgendwie retten.“ Ansonsten hatte sie völlig umsonst eine Nachtschicht eingelegt.
„Codec-Fehler?“
Callie zuckte mit den Schultern und schloss die Augen, als sich ein unsichtbares Messer in ihre Schläfe rammte. „Das ist ein Puzzle. Ich habe die Außenteile gefunden. Jetzt hilf mir in der Mitte.“
„Lass mich mal ran.“ Malik schob sie auf ihrem Schreibtischstuhl zur Seite und rutschte selbst vor den Rechner. Während er sich an ihrem Problem zu schaffen machte, warf sie sich eine Kopfschmerztablette ein. Wenn einer ihr bei ihrem Problemen helfen konnte, dann er. Er hatte sich schon neben seines Biologiestudiums mit dem Programmieren und Videoschnitt beschäftigt, bevor er schließlich bei dem gelandet war, was sie hier alle taten. Auch wenn er, neben den Videos, tatsächlich noch das tat, was er einmal gelernt hatte - ganz im Gegensatz zu Callie. Sie wandte ihren Blick von dem Bildschirm ab. David kramte noch immer nach dem Kabel. Es lebe ihre Unordnung. „Du blutest“, sagte Malik besorgt und reichte ihr ein Taschentuch. „Alles in Ordnung? Warum...?“
Sie schüttelte schnell den Kopf, als David auf einmal neben ihnen stand. In der Hand hielt er das gesuchte Kabel. „Alles klar?“
Glücklicherweise wurde sie vor einer Antwort bewahrt. „Problem gelöst“, sagte Malik und verbeugte sich halb mit einem diebischen Grinsen. Der bewölkte Ausdruck war von seinem Gesicht verschwunden.
Callie sah erst ungläubig zum Bildschirm und dann weiter zu Malik, ehe sie ihm um den Hals fiel. „Du bist ein Engel.“
„Als wäre das etwas Neues“, sagte Malik und stand auf. „Komm, lass was zu essen besorgen."
Sie schnappten sich ein paar Sandwiches aus dem Kühlschrank und kletterten durch das Fenster auf die Feuertreppe. Malik sog an seiner Zigarette und schnipste die Asche über das Geländer. Seine Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen. „Wie kann man verdammt nochmal so schnell essen?"
„Das ist nur eine von vielen Fähigkeiten, mein Lieber", gab Callie mit einem eindeutigen Handzeichen zurück.
„Schau mal. Herr Slenderson ist wieder draußen unterwegs."
Callie folgte seinem Blick. Ehrlich gesagt hatte keiner von ihnen eine Ahnung wie dieser Kerl hieß, den Namen hatten sie ihm irgendwann selbst gegeben – aus Gründen. Mr. Slenderson war blind und geschätzte zwei Meter groß. Seine langen Arme schlackerten bei jedem Schritt. Ständig stand er in seiner immer gleichen schwarzen Hose und dem schwarzen Hemd mit seinem Besen am Straßenrand. Und am liebsten brüllte er wüste Beschimpfungen quer über die Straße zu ihnen herüber. Selbst die Straßenbahn, die gelegentlich vorbeifuhr, konnte seine unangenehme Stimme nicht überdecken.
„Wie war's bei Leo?"
Callie schmunzelte. „Ich glaube, er fände es super, wenn du aufhörst, ihn so zu nennen."
„Er wird es nie herausfinden, wen kümmert's also?" Malik hob die Schultern. „Warum machst du das eigentlich nicht viel öfter? Immerhin steht dir die ganze Welt offen. Unzählige Welten! Du könntest jetzt sofort überall sein. Du könntest alles haben. Jetzt und hier könntest du mir einen Döner durch einen deiner kosmischen Risse herzaubern."
„Erinnere mich daran, dass ich dich nachher deabonniere", sagte sie und schnaubte belustigt. Doch dann bewölkte sich ihr Gesicht. „Wenn alles möglich ist, ist es gar nicht mehr so verlockend", fügte sie leise hinzu. Ganz abgesehen von der Angst, in einen falschen Riss zu stolpern. Jedes Mal, wenn sie den Schritt wagte, ging sie das Risiko ein, einen Fehler zu machen. In einer Realität zu landen, in der sie nicht sein sollte. Nicht mehr nach Hause zu finden. Sie kannte ihre Macht nicht gut genug, um ihr komplett zu vertrauen.
Während sie ein Quizspiel auf dem Handy spielten, bemerkte sie Maliks besorgte Blicke. Vermutlich zog er die richtigen Schlüsse aus ihrem Nasenbluten, so wie er es immer tat. Sie wusste ja selbst nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Am liebsten würde sie sofort Leonardo fragen. Er hatte mit Sicherheit die ein oder andere Theorie parat. Ob sie nun wirklich stimmte, war mal dahingestellt. Es würde sie schon beruhigen, dem Ding einen Namen geben zu können. Doch sie fürchtete sich davor, zu springen. Vielleicht war das Ganze ja auch nur vorübergehend.
„Da ist Maarten", sagte Malik auf einmal.
Callie blickte auf. Ihr Bruder drosselte gerade den Motor und stellte seine Maschine am Straßenrand ab. Maarten war so ein typischer motorradfahrender James Dean-Verschnitt. Über seinem geliebten Punisher-Shirt trug er eine kurze Lederjacke. Er kam mit den Händen in den Jackentaschen die Außentreppe herauf und grinste, als er die beiden entdeckte.
„Wie siehf's aus?“, fragte Malik und schlug bei ihm ein.
Kurz umarmte Maarten seine Schwester, ehe er sich an Malik wandte. „Alles bestens. Groß genug für unsere Zwecke. Und das Wichtigste: Es tropft nicht von der Decke, wie in der letzten Bruchbude.“ Er nickte zur Tür. „Kommt. Ich habe mit den anderen telefoniert. Sie warten schon.“
David und seine Freundin Thea wohnten direkt über ihnen – mit dem einzigen Unterschied, dass ihre Wohnung dreimal so groß war. Als Journalistin verdiente Thea recht gut und David war der Prototyp eines Erben. Callie hatte keine Ahnung, wie viel sein Vater mit Energy Drinks machte, doch es war mehr als genug, um seinem Sohn einen gehobenen Lebensstil zu finanzieren. Und der nutzte das Geld, um es in gemeinsame Projekte zu investieren.
David stand schon in der Tür, als sie die Treppe nach oben kamen. Er grinste breit und zupfte an seinem viel zu großen Basketball-Trikot. Wenn man ihn so ansah, könnte man meinen, dass das ganze Leben ein Kinderspiel war. Vermutlich war es das auch, mit so einem Vater, der im Hintergrund den Monopolymann spielte.
Maarten begrüßte David mit einem Handschlag. „Guybrush, wo hast du deine Elaine gelassen?“
Sein bester Freund schlug spielerisch nach ihm. „Lass sie das bloß nicht hören“, erwiderte er, als sie an ihm vorbei in die Wohnung traten. Sie folgten ihm durch den langen Flur in den Raum, den sie zu ihrem Konferenzsaal auserkoren hatte. Thea war gerade dabei den Beamer zu richten. Ihre fransigen blonden Haare hielt sie mit einem bunten Band aus dem Gesicht. Ein paar der Creator, die bei dem Liveevent mitwirken würden, wollten sich per Skype einklinken. Hauptsache, sie sahen das Chaos in der Ecke nicht. Dort türmten sich noch die Überreste ihrer letzten Zusammenkunft auf. Pizzakartons en masse, leere Energy Drink-Dosen und mittendrin das The Legend of Zelda Cosplaykostüm, das Malik sich für sein nächstes Video ausleihen wollte.
Callie ließ sich auf einen der Stühle fallen. Einen Moment lang erlaubte sie es sich, die Augen zu schließen, doch nur Sekunden später wurde sie von einem Klacken auf dem Tisch aufgeschreckt. Maarten hob die Augenbrauen und schob ihr die Flasche Mate zu, um die sie ihn gebeten hatte. Ein verzweifelter Versuch ihrerseits wenigstens ein wenig gesünder zu leben.
David sah genauso müde aus, wie sie sich fühlte. „Lange wach gewesen?“, fragte sie und erwiderte Theas Umarmung, als diese sich neben sie setzte.
„Game of Thrones-Marathon", antwortete seine Freundin für ihn. David grummelte nur zustimmend.
„Was ist dir denn über die Leber gelaufen?" Maarten trank einen Schluck aus der Dose und sah seinen Kumpel abwartend an.
„Ich muss noch die Red Wedding-Episode verdauen."
Maarten grinste gehässig. „Jetzt weißt du wenigstens, weshalb dein nerdiger bester Freund in der siebten Klasse so mies drauf war."
„Du hast mir das Buch an den Kopf geworfen!"
„Ich wollte dich nur an meinem Schmerz teilhaben lassen."
Callie schaffte es kaum, der Redaktionskonferenz zu folgen. Die ganze Zeit umkreisten ihre Gedanken den Sprung zu Leonardo und die neuen Nebenwirkungen ihrer Macht. Das Nasenbluten, das ihr mehr Sorgen machte, als sie sich eingestehen wollte. Glücklicherweise hatte ihr Bruder ohnehin so gut wie alle Unstimmigkeiten beseitigt. Er hatte es sogar geschafft, noch einige bekanntere Gesichter für ihre Sache zu gewinnen.
„Es hat Vorteile, dass das Ganze nicht aufgezeichnet wird", kam es von dem Berliner Rapper via Skype. „Immerhin müssen wir uns so keine Sorgen machen, dass einem dieser Pappenheimer etwas passiert, bevor die Show ausgestrahlt wird. Sonst könnten wir die ganze Aufnahme in die Tonne kloppen."
Callie konnte den Kerl nicht ausstehen und das beruhte auch auf Gegenseitigkeit. Das Aufblitzen in Maliks Augen verriet ihr, dass er durchaus bemerkt hatte, wie sehr dieser Typ sie allein durch seine Anwesenheit nervte.
Nathan lief immer schneller. Selbst die Schlingpflanzen, die nach ihm schlugen und die Domen, die an seiner Kleidung rissen, schafften es nicht, sein Tempo zu drosseln. Egal was geschah, er durfte nicht langsamer werden. Immer tiefer führte sein Weg ihn in den Dschungel. Schüsse peitschten über seinen Kopf hinweg und durch das Unterholz. Er wagte es nicht, sich umzudrehen, um zu sehen, wie weit ihre Verfolger zu ihnen aufgeschlossen hatten. Das Pochen seines Herzens hallte in seinem Hals wider und die Luftfeuchtigkeit, die sie umgab, nahm ihm fast den Atem.
„Beeil dich!", schrie Amaya über den Kampflärm hinweg. Sie schlug sich dicht neben ihm durch das dichte Buschwerk. Schweiß mischte sich mit dem Dreck und Blut auf ihrem Gesicht. Ein tiefer Schnitt verlief über ihre Stirn. Im Laufen schob sie mit ihrer Waffe Zweige aus dem Weg. „Lauf!"
Und wie er das tat. Sein Arm schmerzte von der Kugel, die ihn gestreift hatte. Er hatte Glück gehabt. Die Kugel hätte ihr Ziel auch treffen können. Doch sie waren nicht in Sicherheit. Noch konnte dieses Schicksal sie ereilen. Aber selbst, wenn sie es nicht lebend hier rausschaflten, hatten sie ihre Pflicht erfüllt. Ihr Auftrag war ein voller Erfolg gewesen, wie jede ihrer gemeinsamen Missionen. Sie waren ein gnadenloses Duo, ohne Gewissen und mit tödlichen Fähigkeiten. Das Blut, das an ihren Händen klebte, hatte sie nie gestört.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter und riss ihn aus dem Nebel seiner Erinnerungen. Nathan brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er nicht in Gefahr schwebte, sondern hier in seinem Wohnzimmer auf der Couch saß. Erst, als er in Amayas Gesicht sah, war auch der letzte Rest seines Bewusstseins zurückgekehrt. Sie lehnte sich vor und küsste ihn sanft auf die Lippen. „Du warst so weit weg."
„Mach dir keine Sorgen. Es ist nichts", erwiderte er und schob den Controller von seinem Schoß. Das Videospiel, das sie gespielt hatten, schien schon seit einiger Zeit zu pausieren.
Sie hatte seine Miene schon längst durchschaut. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, wie immer, wenn sie ihm etwas nicht glaubte. „Was ist los?“, fragte sie und streichelte sachte über seinen bandagierten Arm. „Denkst du über den Auftrag nach?“
Kurz schloss Nathan die Augen. Schüsse über ihnen. Ein toter Botschafter. Ein geknackter Safe. Erst schüttelte er den Kopf, doch dann hielt er in der Bewegung inne. „Du bist zu weit gegangen.“
Amaya runzelte die Stirn. „Wovon sprichst du?“
„Du kanntest unseren Auftrag ganz genau. Das, was du getan hast, war nicht richtig!“
„Das Blut klebt trotzdem an unseren Händen“, zischte sie. Mit jeder Silbe wurde ihre Stimme lauter. „Wir haben den Auftrag zu Ende gebracht. Ein voller Erfolg. Das hast du selbst gesagt. Das hat Cavanagh gesagt.“
„Das ist nicht, was ich meine und das weißt du auch“, gab Nathan scharf zurück. „Du bist leichtsinnig gewesen.“
„Ich und leichtsinnig? Ich habe das einzig Richtige getan!“
Wut kam in Nathan auf, als die Geschehnisse ihn wieder einholten. Sie hatten nur eine Aufgabe gehabt. Diese Sache mit dem Mädchen war nicht ihr Problem gewesen. „Du hast die Mission gefährdet“, entfuhr es ihm harscher, als beabsichtigt.
„Ich habe rein gar nichts gefährdet. Wir haben unseren Auftrag abgeschlossen, oder nicht?!“ Sie atmete tief durch und legte etwas versöhnlicher die Hand auf seinen Arm. „Es wäre nicht richtig gewesen.“
Ein Teil von ihm wollte ihr beipflichten, doch Cavanaghs Stimme saß ihm zu dicht im Nacken. Wie konnte sie nur glauben, dass das in Ordnung war? Immer schon hatte sie haarscharf am Abgrund gestanden, doch sie war nie weit darüber hinweggegangen. Bis jetzt. Er würde auch weiterhin seinen Kopf hinhalten, um sie zu decken. Er würde es vertuschen. Doch er wusste nicht, wie lange Cavangh dieses Spiel noch mitspielen würde. Nathans Stimme war so steif, als wäre jeder seiner Muskeln bis zum Äußersten angespannt. „Du machst hier keine Politik, du befolgst Anweisungen. Du wirst machen, was man von dir verlangt. Das und nichts anderes.“
Wieder atmete Amaya tief durch. Es war, als wäre mit einem Schlag all die Kraft aus ihrem Körper entwichen. Sie stützte ihre Stirn auf die Hände. „Vielleicht möchte ich aber gar nicht so sein.“
„Du hast keine Wahl“, erwiderte Nathan erbarmungslos. „Du kannst nicht einfach gehen. Du kannst nicht fliehen.“
„Dir ist auch wirklich alles egal, oder?“, fuhr sie ihn an. „Hast du überhaupt noch ein Herz oder hat Cavanagh das schon einkassiert?“
Nathan knirschte mit den Zähnen. „Ich wünschte, das wäre so.“ Einen Moment lang war er völlig aus dem Takt gebracht. Er atmete durch die Nase aus und versuchte, die Wut aus seiner Stimme zu verbannen. „Du musst doch einsehen, dass du machtlos bist“, versuchte er es ruhiger und berührte sie an der Schulter. „Sie werden uns immer in der Hand haben. Wir gehören ihnen.“
„Und das stört dich überhaupt nicht?“, fragte sie und sprang auf. Nathan versuchte, nach ihr zu greifen, um sie wieder auf das Sofa zu ziehen, doch sie wand sich aus seinem Griff. Unruhig lief sie vor dem Sofa auf und ab.
„Warum frage ich dich überhaupt? Du bist der geborene Befehlsempfängen Cavanaghs Marionette.“
„Natürlich stört es mich!“, gab er gereizt zurück. „Aber wir können nun einmal nichts daran ändern. Warum sollten wir uns also den Kopf darüber zerbrechen?“
Amaya hielt ruckartig in der Bewegung inne und starrte ihn an. „Du verstehst es einfach nicht, oder?“
Nathan schluckte. Das Militär riss alles an sich. Zeit. Individualität. Das ganze Leben. Er wollte nicht, dass es so war, aber es war ein Fakt, an dem niemand rütteln konnte. Doch Amaya wollte er sich nicht nehmen lassen. Er versuchte, seine Stimme zu beruhigen und streckte die Hand nach ihr aus. „Können wir den Krieg eine Nacht warten lassen?"
Amaya rang mit den Händen, wie immer, wenn sie sich aufregte und durcheinander war. Sie haderte mit sich selbst, das sah Nathan. Es steckte tief in jeder Faser ihres Körpers. Doch dann seufzte sie. Sie ergriff seine Hand und ließ sich zurück aufs Sofa ziehen.
Nervös kratzte Callie sich an der Schulter. Seit endlosen Minuten stand sie schon in dem Chaos, das sie vor ihrem Kleiderschrank hinterlassen hatte. Über dem Stuhl hing noch immer das Kleid, das Thea ihr rausgesucht hatte, doch sie würdigte ihm keines Blickes. Nie und nimmer würde es anziehen. Mit dem Ding sah sie aus wie Professor Snape. Das Jucken an ihrer Schulter wurde von Minute zu Minute schlimmer. Dieser verdammte Stressausschlag. Mittlerweile hatte der Fleck an ihrer Schulter schon die Form einer Landkarte von Europa und Russland angenommen und es wurde einfach nicht besser.
Sie drehte sich nicht um, als es an der Tür klopfte und Malik hereinkam. Für seinen belustigten Blick erntete er nur ein entnervtes Seufzen. Sie konnte sich denken, wie sie aussehen musste. Das Kleid, das sie trug, hatte sie nicht einmal ganz geschlossen und halb hochgerafft, um sich flink bewegen zu können. Dazu noch ihre ausgelatschten Chucks und das Beanie auf dem Kopf – ein perfektes Bild. Sie war mitten im Schminken aufgesprungen, weil ihr eingefallen war, dass sie vergessen hatte, eines der Videos für heute zu planen.
„Du siehst aus wie ein Zugunglück, aber ich sehe schon, worauf du hinauswillst", sagte er und schmiss sich auf ihr Sofa.
Sie zeigte ihm nur den Mittelfinger und schminkte sich fertig. Notgedrungen tauschte sie ihre geliebten Schuhe gegen High Heels, zog sich das Beanie vom Kopf und verließ das Zimmer. Malik folgte ihr feixend in Richtung Küche. Schnell schnappte sie sich einen der Äpfel, legte ihn aber noch einmal kurz ab um etwas auf die Zaubertafel am Kühlschrank zu schreiben. Als sie sich umdrehte, war die Frucht weg. Sichtlich selbstzufrieden biss Malik von dem Apfel ab und stiefelte mit dem Müllbeutel die Außentreppe runter.
Callie versuchte alles, um sich von dem, was vor ihnen lag abzulenken. Sie las Zufallsartikel auf Wikipedia und spielte ein Spiel. Doch immer wieder schweiften ihre Gedanken ab. Nein!, herrschte sie sich im Stillen an. Du wirst das nicht kaputt denken! Sie ging zu ihren Mails über, um sich damit etwas abzulenken. Als sie ungeduldig darauf wartete, dass ihr Handy Theas Nachricht lud, tauchte ein Anruf auf dem Display auf. Sie runzelte die Stirn und ging dran. Am anderen Ende der Leitung ertönte ein leises Röcheln, das entfernt an die Lady aus The Grudge erinnerte. Sie wusste sofort, zu wem die Stimme gehörte. Genervt legte sie das Handy auf den Tisch und schloss wortlos die Tür von innen ab. Sollte Malik doch sehen, was er davon hatte.
Callie stockte, als sie in den Flur trat. Ihr Bruder stand an der Haustür und sprach mit jemandem. Sie war sich sicher, dass sie den Mann, der sie an einen verrückten koreanischen Wissenschaftler erinnerte, noch nie zuvor gesehen hatte. Trotzdem war etwas an ihm, was ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. Woher kannte Maarten diesen Kerl? Er sah nicht aus wie jemand, den sie zum Freundeskreis ihres Bruders zählen würde.
Sie wollte sich unbemerkt vorbeischleichen, um die beiden nicht zu stören, als der Blick des Koreaners an ihrem Bruder vorbeiwanderte und sich auf sie legte.
„Da ist sie also", sagte er im starken Akzent.
Ihre Stirn legte sich noch mehr in Falten und ihre Verwirrung wuchs. Was hatte das zu bedeuten?
Maarten drehte sich zu ihr um und streckte die Hand nach ihr aus. „Callie! Komm doch mal her.“
Etwas zögerlich trat sie an ihren Bruder heran. Maarten legte sofort einen Arm um sie und zog sie an sich heran. Der Blick, mit dem dieser Fremde sie bedachte, behagte ihr ganz und gar nicht. „Das ist Prof. Dr. Jeremias Choi. Er hat damals meine Magisterarbeit betreut.“
„Du musst Maartens Schwester sein“, sagte Choi und reichte ihr die Hand. „Machst du auch wie er diese komischen Videos?“
Callie bejahte seine Frage. Sie wusste nicht, was es war, doch irgendetwas an ihm war ihr ganz und gar nicht geheuer. Sie versuchte, ihre Erleichterung zu verbergen, als er sich nach ein wenig Smalltalk endlich verabschiedete.
Noch als sie schon längst vor Torin saß, und versuchte, sich die Zeit vor dem großen Event zu vertreiben, konnte sie nicht aufhören, über diesen seltsamen Kerl nachzudenken. Warum war er ihr so suspekt gewesen? Reine Antipathie? Sie griff nach einem Zettel, um sich etwas zu notieren und schmiss dabei fast den Gameboy vom Tisch. Das kleine Gerät hat meine Kindheit versklavt und hält mich auch jetzt noch vom Arbeiten ab, dachte sie amüsiert und legte ihn an die Seite. Gleich kehrten ihre trüben Gedanken zu ihr zurück. Kurz atmete sie tief durch. Warum hatte diese Begegnung sie derart aus der Bahn geworfen?
Ein Ruckeln an ihrem Fenster lenkte ihre Aufmerksamkeit von Torins Bildschirm ab. Sie hob nur die Augenbrauen, als Malik von dem Baugerüst aus in ihr Zimmer kletterte und ihr breit grinsend zuzwinkerte.
Unruhig sah Nathan zu Amaya herüber. Ihre ganze Haltung zeigte ihm, dass sie von dem, was sie vorhatten, ganz und gar nicht begeistert war. Ihre Lippen waren nur ein Strich und sie fuhr immer wieder mechanisch mit dem Daumen über ihre Fingerkuppen. Hin und wieder sah sie aus dem Fenster, sonst starrte sie nur stumm auf die Straße. Auch Nathans Hände fassten unwillkürlich das Lenkrad fester. Hoffentlich zog sie die Sache bis zum Ende mit ihm zusammen durch. Der Auftrag war wichtig. Er wusste nicht, ob er es noch einmal schaffen würde, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
Nathan warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel. Ihr Ehrengast saß auf dem Rücksitz und blickte unbeteiligt aus dem Fenster. Er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete. Nicht das Hotel, wie er dachte, jedenfalls.
Seit ihrem Streit hatten sie nicht mehr über Cavanagh und das Militär gesprochen. Nathan vermied absichtlich jedes Gespräch, das sie wieder in diese Richtung führen könnte. Er hatte keine Ahnung, ob sie trotz allem an ihrer Aufgabe festhalten würde.
Der Blogger, der auf dem Rücksitz saß, hatte in den vergangenen Monaten jeden erdenklichen einflussreichen Machthaber gegen sich aufgebracht und mit seinen kontroversen Meinungen die Nationen gespalten. Nun war es ihre Aufgabe, sich möglichst unauffällig um ihn zu kümmern. Er dachte, diese beiden Soldaten wären sein Geleitschutz zum Hotel. Doch sie waren sein Untergang.
Amaya setzte an, etwas zu sagen, aber dann presste sie nur die Lippen aufeinander und starrte aus dem Fenster heraus. Auch Nathan hielt einen Moment lang inne, nachdem er den Wagen gestoppt hatte. Er wusste, dass Amaya und Cavanagh nicht einer Meinung waren, was diesen Blogger anbetraf. Zum Teufel, selbst ihm gefiel nicht, was sie tun mussten. Doch es war ihr Auftrag und sie hatten keine Wahl. Cavanagh ließ ihnen keine.
Kurz fing er ihren Blick auf, als er zu ihr herübersah. Ihre Augen waren undurchdringlich und verrieten wie so oft nicht, was hinter ihnen vor sich ging. Kaum merklich gab er ihr ein Zeichen und stieg aus dem Auto aus. Es fiel ihm heute schwerer als sonst, seine eiskalte Maske aufzusetzen, als er nach seiner Waffe griff. Dann öffnete er mit einem Ruck die hintere Tür.
Der Blogger verließ das Auto, ohne auch nur den Blick von seinem Smartphone abzuwenden. Stumm tippte er auf den Bildschirm ein und hob erst den Kopf, als er fast mit Nathan zusammenstieß. „Das ist nicht das Hotel. Wo...?“
Er hatte nicht die Zeit, verwirrt zu sein. Blitzschnell trat Nathan ihm von hinten die Knie weg und stülpte ihm einen Sack über den Kopf. „Sei bloß still“, zischte er und drückte ihm den Lauf seiner Pistole zwischen die Schulterblätter. Nathan suchte Amayas Blick. Noch immer erkannte er nicht, was sie dachte. Eine kurze schreckliche Sekunde lang, dachte er, sie würde protestieren, ihre ganze Mission auffliegen lassen oder ihn dazu bringen, den Blogger laufen zu lassen. Doch dann nickte sie zögerlich und wies mit einem Nicken ihres Kopfes in Richtung der Seitengasse. Sie mussten sich beeilen, bevor bekannt wurde, dass er verschwunden war. So jemand wie er hatte schließlich geradezu eine Instant-Leitung zu Twitter. Sie mussten es schnell machen, diskret und unauffällig. Das war ihr Auftrag.
Amayas Gesicht war völlig bewegungslos. Emotionslos. Auch wenn es das immer war, wenn sie ihren Job erledigte, war es heute anders. Sonst ließ sie ihn immer wieder kleine Teile der Amaya erkennen, die sich hinter dieser Maske versteckte, doch heute verbarg sie sich selbst vor ihm.