Pandora - Katharina Erfling - E-Book

Pandora E-Book

Katharina Erfling

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Beschreibung

Wie machst du weiter wenn du alles schon verloren hast? Anyas Kindheit endet mit einem Schlag, als die Epidemie die Welt, die sie kannte, vernichtet. Zusammen mit ihrem kleinen Hund und ihrem besten Freund muss sie lernen, in einer Welt zu überleben, die ihren Tod will. Als sie den Falschen vertraut, verliert sie beinahe alles. Ausgerechnet der arrogante Fremde Asher ist es, der unerwartet zu ihrer letzten Hoffnung auf Rache gegen jene wird, die ihre Unschuld zerstörten. Doch er hütet ein düsteres Geheimnis, das ihn mit ihrem einstigen Widersacher verbindet.

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Inhaltsverzeichnis

01. Schöne neue Welt

02. Pandoras Büchse

03. Schwere Wege

04. Darwins Gesicht

05. Als die Unschuld starb

06. Kein Weg zurück

07. Nicht real

08. Neuer Name - Neues Leben

09. Neue Pfade

10. Neue alte Freunde

11. Der blinde Pfandleiher

12. Überlebende

13. Gute Menschen. Schwache Menschen

14. Das ‚Was wäre wenn‘

15. Gesichter des Wahnsinns

16. Die Freiheit der Nacht

17. Kaltes Eis

18. Ein Zug nach Nirgendwo

19. Alter Name. Altes Leben

20. Blut für Blut

21. Am Ende der Welt

1. Schöne neue Welt

Grußaufstellung gegen die Hand. Mittelschritt knapp im Raumgriff“, diktierte ihr Großvater dem Protokollanten. Anya saß neben ihm, in der Ecke der großen Halle, die für die Richter abgetrennt worden war. Ihre Augen verfolgten unablässig die Reiter, die in der Abteilung hin und wieder an ihnen vorbeiritten. „Mitteltrab nicht gezeigt“, fuhr er fort. Hektisch kratzte der Stift über das Blatt. Der Schreiber Tobias schaffte es kaum hinterherzukommen. „174 raumgreifend. Mehr Biegung.“

Die Pferde waren unruhig und ihre Reiter wirkten verbissen. Selbst Anya erkannte, wie chaotisch diese Abteilung war. Ihr Großvater verfolgte die einzelnen Reiter mit seinem wachsamen Blick. Ohne die Augen von den Pferden zu lösen, die mehr staksten als trabten, lehnte er sich zu der zweiten Richterin vor und raunte ihr etwas zu. Anya streichelte den kleinen Hund, der auf ihrem Schoß saß. Die schwarze Havaneserhündin beobachtete die Pferde misstrauisch. Navi war noch nie ein Fan von Tieren gewesen, die größer waren, als sie selbst. „Denk dran“, flüsterte Anya und kraulte sie hinter dem Ohr. „Noch einmal so laut bellen und wir fliegen wirklich raus.“

Navi legte den Kopf schief und sah mit ihren grauen Augenbrauen so aus, als würde sie sie spöttisch mustern. Noch einmal streichelte Anya dem kleinen Hund über den Kopf, ehe sie sich wieder zurücksinken ließ. Sie liebte es mit ihrem Großvater am Wochenende auf Turniere zu fahren. Hier konnte sie eine Limo nach der anderen trinken, seinen kryptischen Beurteilungen lauschen und den vertrauten Stallgeruch einatmen. Sie konnte es sich nicht schöner vorstellen.

Anya hob den Blick, als eines der Pferde erschrak und zur Seite sprang. Der Schimmel hinter ihm brach ebenfalls aus und überholte den ersten Reiter, der alle Mühe hatte, sein bockendes Pferd davon abzuhalten, endgültig loszuschießen. „Die bringen sich noch gegenseitig um“, murmelte ihr Großvater und zwirbelte seinen buschigen Schnäuzer.

„So sind nun einmal junge Pferde“, sagte die zweite Richterin mit einem nachsichtigen Lächeln. „Aber mir graut schon vor dem Parcours.“

Anyas Großvater schmunzelte und gab der Ansagerin ein Zeichen. „Abteilung bereitmachen zum Springen“, ertönte es daraufhin stark rauschend durch das Mikrophon.

Der Richter löste seinen Blick von den Reitern und wandte sich dem Protokollanten zu. Tobias war einer seiner Reitschüler und zudem der Bruder von Anyas besten Freund Dan. Während die beiden über die Prüfung sprachen, an der Tobias mit seinem eigenen Pferd teilnehmen würde, beobachtete Anya die Reiter in der Halle. Zwei von ihnen beugten sich vor, um ihre Bügel richtig einzustellen, während der Reiter des Schimmels schon im Schritt um das erste Hindernis herumritt. Die beiden Richter behielten Recht. Mehr als einmal knallten die Stangen zu Boden. Manche der Pferde quittierten den Dienst von vorneherein, oder stürmten so kopflos auf die Hindernisse zu, dass ihre Reiter Mühe hatten sich oben zu halten.

Nachdem auch der letzte Reiter seinen Parcours beendet hatte, steckten die beiden Richter die Köpfe zusammen. Sie diskutierten leise über die Wertnoten, ehe sie eine Liste an die Ansagerin weiterreichten.

Anya drehte den Kopf, als ihr jemand auf die Schulter tippte. Tobias gab ihr mit einem Nicken zu verstehen, zu dem großen Tor herüberzusehen. „Hier die Wertnoten für die letzte Abteilung“, erklang es kratzend aus den Lautsprechern, als sie ihren besten Freund entdeckte. Dan lehnte an sein Fahrrad und grinste breit, als sein Blick auf sie fiel. Er trug wieder eines seiner Minecraft-T-Shirts und hatte seine Haare hochgegelt, wie er es in letzter Zeit so gerne machte.

„Nun geh schon“, flüsterte ihr Großvater neben ihr und zwinkerte ihr zu. „Hier wird nur noch gerechnet. Du kannst also nichts mehr verpassen.“

Das ließ sich Anya nicht zweimal sagen. Als sie aufsprang und Navi an der Leine hinter sich herzog, bemerkte sie, dass Tobias sich hinter ihr ebenfalls verabschiedete, um nach seinem Pferd zu sehen und so langsam für das M-Springen abzureiten. Welchen Tipp ihr Großvater ihm noch gab, hörte sie schon nicht mehr.

„Was machst du denn hier?“, fragte sie, als sie Dan erreicht hatte. Sie konnte gar nicht anders, als sein Grinsen zu erwidern.

Dan strich sich eine hellbraune Strähne hinters Ohr. „Ich dachte, wir holen uns bei Onkel Mario einen Crêpe und sehen uns Tobis Springprüfung an.“

Als könnte sie auch nur irgendetwas dagegen einwenden. Die Crêpes von Dans Onkel waren der helle Wahnsinn.

Auf dem Platz vor der Halle herrschte geschäftiges Treiben. Sie versuchten, niemandem vor die Füße zu laufen, als sie sich in Richtung der beiden Springplätze durchschlugen. Anya liebte die Turnieratmosphäre. Das Schnauben der Pferde. Das aufgeregte Warten vor und nach den Prüfungen. Das Stand up for the Champions, wenn die Schleifen verteilt waren und die Pferde zu einer Ehrenrunde über den Platz fegten.

Marios Stand lag direkt am Abreiteplatz der Springreiter und war von einer Traube Menschen umgeben. Seine Crêpes und das Eis wurden ihm hier auf den Turnieren förmlich aus den Händen gerissen. „Na, ihr beiden?“, begrüßte Onkel Mario sie, als sie sich endlich zu ihm durchgekämpft hatten. Noch bevor sie den Mund aufmachen konnten, schob er ihnen schon Crêpes und einen großen Becher Vanillepudding mit Erdbeeren zu. Er zwinkerte ihnen zu und wandte sich dann dem nächsten Kunden zu.

Dan stieß sie mit dem Ellbogen an und nickte in Richtung Springplatz. Dort ließen sie sich auf dem Wall in das Gras sinken und verfolgten die Siegerehrung des L-Stilspringens. Anya ließ sich auf den Rücken fallen und genoss die Sonne, die ihr auf die Haut schien.

Während die Reiter auf dem Platz zur Ehrenrunde ansetzten, beschwerte sich Dan über die Hausaufgaben, die ihr Lehrer ihnen über das Wochenende aufgebrummt hatte. „Was interessiert es mich, wie ein Schmetterling von innen aussieht?“, mokierte er sich und riss ein Stück von seinem Crêpe ab.

Anya lachte und beobachtete die Parcourshelfer, die die Hindernisse für das nächste Springen erhöhten. „Wer weiß. Vielleicht erkennst du ja deine wahre Leidenschaft und wirst Insektenforscher. Und dann hast du auch überall diese gruseligen Setzkästen an der Wand.“ Dan sagte nichts. Er hob nur vielsagend die Augenbrauen. Nach einer Weile stupste Anya ihren besten Freund an, als sein Bruder als dritter Reiter an den Start ging. Tobias trabte mit seiner schwarzen Stute auf den Platz und hielt vor den Richtern, um zu grüßen. Das Pferd hörte auf den hochgestochenen Namen Con la Doria. Dan‘s Bruder hütete die Stute wie seinen Augapfel und steckte lieber selbst zurück, bevor es seiner Conny auch nur an irgendetwas fehlte. Kaum zu glauben, dass der sonst so einschüchternd wirkende Kerl mit seinem Pferd so sanft umgehen konnte. Anya konnte ihn trotzdem nicht leiden.

Sie hob den Kopf, als ihr Großvater neben sie trat. Mit den Augen verfolgte er den Ritt seines Schülers und murmelte lautlos vor sich hin. Sie wusste, dass er die beiden mehrmals die Woche trainierte, damit sie in der nächsten Saison den Sprung in die nächsthöhere Klasse schafften. „Dein Bruder reitet heute wieder sehr gut“, sagte Großvater zu Dan. „Con la Doria ist in Topform.“

Dan rollte mit den Augen. „Das lässt er mich auch nicht vergessen.“ Das Publikum klatschte, als Tobias seinen Ritt beendete. Anyas Großvater lächelte ihr kurz zu und ging dann auf die Schleuse zu, um ihn abzufangen und mit ihm über seinen Ritt zu sprechen.

Erst machte Dan Anstalten ihm zu folgen, entschied sich dann aber doch dagegen und fiel über den Becher Pudding her. „Fährst du nächstes Wochenende wieder mit aufs Turnier?“, fragte er sie.

Anya nickte. „Wie jedes Wochenende.“

Ihr Rucksack schlug ihr bei jedem Schritt in den Rücken, als Anya dem Weg vom Schulbus nach Hause folgte. Sie konnte es kaum erwarten, die schweren Bücher auf ihrem Rücken loszuwerden. Etwas zu schwungvoll riss sie das gusseiserne Gartentörchen auf und stolperte beinahe über die fette Katze ihrer Mutter. Diva fauchte empört und floh, nicht aber, ohne ihr noch einen missmutigen Blick zuzuwerfen.

„Anya? Kätzchen, komm doch mal rüber!“, rief ihre Mutter. Sie warf gerade ihre Handtasche auf den Rücksitz des Autos und drehte sich um, als ihre Tochter näherkam. Noch bevor ihre Mutter etwas sagte, wusste Anya schon, dass sie auf dem Weg zum Krankenhaus war. Das verrieten ihr allein schon die bequemen Schuhe auf dem Beifahrersitz, die sie nur zur Arbeit trug. „Kannst du deiner Oma die Salben bringen, die in der Küche liegen? Im Krankenhaus gab es einen Notfall. Ich schaffe es nicht, vorher hinzufahren und sie braucht sie doch so dringend.“

Anya stöhnte auf. So viel zu ihrer Planung mit Dan abzuhängen. „Warum?“, fragte sie, eine Spur zu bockig.

„48 Stunden Wehen, darum“, entgegnete ihre Mutter ungerührt und setzte sich hinters Steuer. „Gib dir nen Ruck. Oma hat auch sicherlich ein Eis für dich.“ Die Wahrheit war, so sehr Anya ihren Großvater auch vergötterte... ihre Oma war ihr unheimlich.

Schon von weitem hörte sie das Kratzen und Winseln an der Haustür. Navi wartete kaum, bis sie die Tür ganz aufgeschoben hatte. Geschwind quetschte sie sich durch den Spalt hindurch und sprang freudig quietschend an ihr hoch. „Komm schon“, sagte sie lächelnd und ging nach drinnen. „Lass uns mal schauen, was es zu essen gibt.“

Doch der Hund folgte ihr nicht. Er sah sie nur an, als würde er auf etwas warten. Anya seufzte ergeben und hob Navi hoch. Sofort schmiegte sie sich in ihre Armbeuge.

Ihr erster Weg führte Anya in ihr Zimmer. Ohne ihren Schulsachen noch weitere Beachtung zu schenken, ließ sie ihren Rucksack auf das Bett fallen. Danach schaltete sie ihren PC an und schrieb Dan eine Nachricht über Facebook. Sofort kam die Antwort. Komm doch danach einfach zum Schaukelbaum!

Alles in ihr weigerte sich, aufzustehen und zu ihrer Großmutter zu fahren. Während sie auf YouTube ein Video nach dem anderen sah, überlegte sie, wie sie sich wohl dazu überwinden konnte. Das Vibrieren ihres Handys riss sie aus ihrer Starre. „Hilft ja alles nichts“, murmelte sie und stand auf, ohne auf den Anruf zu reagieren. Wenn es etwas Wichtiges war, würde ihre Mutter es noch einmal versuchen.

Im Vorbeilaufen schnappte sie sich eine Mandarine aus der Obstschale und die Tüte mit den Salben und schwang sich draußen auf ihr Fahrrad. Navi lief dabei freudig neben ihr her und war kaum bei dem Versuch zu bremsen, ein Wettrennen mit ihr zu veranstalten.

Ihre Großeltern wohnten im nächsten Ort, keine fünfzehn Minuten von ihnen entfernt. Während Anya erst der großen Hauptstraße folgte und dann auf die Seitenstraße abbog, die zum Haus ihrer Großeltern führte, runzelte sie die Stirn. Die Straße war wie leergefegt. Sonst kam ihr um die Zeit immer die Lehrerin, die nebenan wohnte, joggend entgegen und fragte sie, wie es bei ihr in der Schule lief. Und auch der griesgrämige Nachbar von gegenüber saß nicht wie sonst auf seiner Terrasse. Anya verdrängte den Gedanken und schloss ihr Fahrrad am Gartenzaun ab. Vermutlich saßen sie alle vor den Fernsehern und sahen sich irgendwelche Nachmittagsserien an.

Im Gehen fischte Anya ihren Schlüssel aus der Tasche und schloss die Tür auf. Sie wusste, dass es eher unwahrscheinlich war, auf ihren Großvater zu hoffen. Um die Tageszeit war er in der Regel im Reitstall und gab Unterricht. Trotzdem konnte sie den kurzen Stich der Enttäuschung nicht leugnen. Also war sie allein mit ihrer Oma. Allein mit erzwungenen Gesprächen und peinlicher Stille.

„Oma?“, rief sie in das Schweigen des Hauses herein. Keine Antwort. Das war nicht unbedingt etwas Ungewöhnliches. Wenn Großmutter in ihrem Lehnsessel saß und ihre Heimatkrimis las, bekam sie kaum etwas mit – auch wenn sie nicht schon halb taub gewesen wäre.

Anya bückte sich, um Navi von der Leine zu lassen und ging ins Wohnzimmer. Wie schon vermutet, saß ihre Großmutter mit dem Rücken zu ihr in ihrem dunkelbraunen Ledersessel. Ein Buch lag neben ihr auf dem Boden, als wäre es ihr unachtsam aus der Hand gefallen.

„Oma? Ich bin‘s. Anya“, sagte sie und stellte die Papiertüte auf die Durchreiche. „Mama hat mich geschickt, um dir die Salben zu bringen.“

Langsam trat sie auf den Sessel zu. Noch immer gab ihre Großmutter kein Geräusch von sich. Keine Bewegung ließ darauf schließen, dass sie Anya gehört hatte. Dabei hätte sie sie doch schon längst bemerken müssen.

„Oma?“ Anyas Herzschlag beschleunigte sich, als sie sich vorantastete. Was war mit ihrer Großmutter nur los? Warum hatte sie sie noch nicht erkannt? Vielleicht schlief sie wirklich tief und fest.

Oma hatte die Augen geschlossen. Scheinbar war sie wirklich beim Lesen eingeschlafen. Ihre Haut war seltsam blass. Vielleicht ist ihr ja kalt, dachte Anya und wollte zu der Decke greifen, die auf dem Sofa lag, als ihr der rote Stoff an Großmutters Hals auffiel. Dieses Tuch kenne ich ja gar nicht... Doch das war kein Stoff.

Anya schrie auf und taumelte zurück. Panik überkam sie so schlagartig, dass ihr schwindelig wurde. Blut. Es war Blut. Die Erkenntnis stieg rasend schnell in ihr auf und ließ ihr Herz stolpern. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein! Übelkeit stieg in ihrem Hals auf. Sie konnte nicht hinsehen und schaffte es doch nicht, den Blick von ihrer Großmutter abzuwenden. Von dem fahlen Grau ihrer Haut zu der klaffenden Wunde an ihrem Hals. Wer hatte das getan? Was hatte das getan?

Navi knurrte neben ihr und in der nächsten Sekunde hörte Anya, was die Hündin bemerkt hatte. Ein seltsames Geräusch aus der Küche. Ein Kratzen. Ein Klopfen an der Haustür. Vielleicht jemand, der ihr helfen konnte. Ihr Hals war wie verschnürt, als sich langsam auf die Quelle der Geräusche zu bewegte. Sie wollte nicht weinen, doch sie konnte die Tränen nicht aufhalten, die ihr über die Wangen rannen.

Auf einmal erschien jemand im Türrahmen, so plötzlich, dass Anya zurückschreckte und sich die Hüfte schmerzhaft anstieß. Sie musste sich an dem rauen Holz festklammern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie kannte den Mann, der sich in den Flur drängte. Es war der Postbote, der sich jedes Mal die Zeit nahm, von seinem Rad abzusteigen und sich mit ihr zu unterhalten. Doch nun sah er anders aus. Sein Gesicht wirkte, als wäre es vertrocknet. Blutige Wunden zeichneten sich überall auf seiner farblosen Haut ab. Seine Kleidung war schmutzig und an einigen Stellen zerrissen. An seinem Kiefer klaffte ein großes Loch und seine Augen waren milchig und leer, wie die, eines Blinden.

Anya schmeckte die Galle in ihrem Mund, als sie zurückwich. Der Postbote stieß ein seltsames Geräusch aus, irgendwo zwischen Kreischen und Stöhnen. Panik verklumpte sich in ihrem Hals. Sie stolperte und fiel rückwärts auf die Treppen. Ein gleißender Schmerz schoss ihr in den Rücken, doch sie konnte nicht liegenbleiben. Der Postbote folgte ihr unaufhörlich. Rückwärts krabbelte sie die Treppen hinauf, ohne den Blick von ihrem Verfolger abzuwenden. Navi hielt sich dicht neben ihr. Zitternd lief sie voraus und blieb auf der obersten Treppenstufe sitzen.

Anya kreischte auf, als der Postbote ihr Fußgelenk zu fassen bekam und daran zerrte. Hektisch versuchte sie sich zu befreien, doch sie hatte zu wenig Kraft, um sich aus seinem Griff zu winden. Sie tastete die Stufen ab und suchte mit der Hand nach irgendetwas, um ihren Angreifer abzuwehren. Was war nur in ihn gefahren?! Sie schaffte es kaum, ihn fernzuhalten.

Sie dachte nicht nach, als sich ihre Finger um den Griff des Hammers schlossen. So fest sie konnte, schlug sie zu, doch der Kopf des Postboten flog nur kurz zurück, ehe er sich weiter über sie beugte. Er hatte den Mund weit aufgerissen. Seine gelblichen Zähne kamen ihr immer näher und fauliger Atem strich ihr über das Gesicht. Ihre Gedanken überschlugen sich, wurden zu einem Rauschen in ihrem Kopf. Wieder holte sie aus und das Knirschen von Knochen zermürbte ihr Innerstes. Anya nahm noch einmal all ihre Kraft zusammen. Der Hammer blieb im Schädel stecken, als der Fremde, der einst der Postbote gewesen war, nach hintenüberkippte.

Anya rappelte sich auf und wollte nach unten eilen, als weitere Fremde in das Haus wankten. Auch sie waren blutverschmiert, mit tiefen Wunden in der blassen Haut. Einem von ihnen hing das Auge halb aus der Augenhöhle heraus. Ihr drehte sich beinahe der Magen um. Panisch machte sie auf der Stelle kehrt und stürmte ins Obergeschoss, dabei mehrere Stufen auf einmal nehmend. Ihr Herz raste und ihr Hals war wie verklebt und ließ sie nur kleinste Atemzüge machen. Wo sollte sie nur hin? Was sollte sie nur tun? Im Laufen griff sie nach der vor Angst wie versteinerten Navi. Das Gästezimmer! Natürlich! Von dort aus konnte sie auf das Dach der Garage klettern. Doch als sie nach rechts abbiegen wollte, war da auch einer von diesen stöhnenden Schleichern. Die Frau streckte kreischend ihre schmutzige Hand nach ihr aus.

Ohne zu zögern riss Anya die nächstbeste Tür auf und verrammelte sie so gut es ging hinter sich. Hier drinnen war keines dieser Dinger. Das kleine Badezimmer war sicher. Noch. Wieder spürte sie Tränen hinter ihren Lidern prickeln. An der Tür kratzte es und das stimmlose Stöhnen verriet ihr, dass dieses Monster versuchte, hier herein zu gelangen. Navi drängte sich ängstlich unter das Waschbecken. Am liebsten würde Anya es ihr gleichtun, doch sie wusste, dass ihre Blockade nicht ewig halten würde. Sie mussten irgendwie hier herauskommen. Ihre Augen suchten den kleinen Raum nach einem Ausweg ab. Irgendetwas musste es doch geben. Noch bevor sie es verhindern konnte, stieg ein Schluchzen in ihrer Kehle auf. Wo war nur Opa? Wo war ihre Mutter? Sie musste sie unbedingt finden. Sie würde wissen, was zu tun war.

Anya ignorierte Navis misstrauischen Blick, als sie auf den Rand der Badewanne kletterte und das Fenster öffnete. Dann griff sie nach dem Hund, der sich unter ihrer Berührung versteifte und reckte sich, um sie auf das Schrägdach zu setzen. Hinter ihr knarzte das Holz der Tür bereits bedenklich. Lange würde sie Anyas Verfolgern nicht mehr standhalten.

Sie brauchte mehrere Anläufe, bis sie es schaffte, sich an der Kante hochzuziehen. Ihre Arme pochten von der ungewohnten Anstrengung. Vom Gästezimmer aus wäre alles viel einfacher gewesen. Ihr Großvater hatte schon vor einer Weile eine Leiter dorthin gestellt, damit sie auf das Zwischendach klettern konnte, um zu lesen. Anya schluckte. Sie hätte es sich nicht träumen lassen, dass sie einmal hier herunterkrackseln müsste.

Vorsichtig tastete sie sich voran, versuchte immer wieder mit ihren Füßen Halt an der Regenrinne zu finden. Das Metall drückte in ihre Hand, doch sie versuchte, die Tränen, die ihr immer noch in die Augen stiegen, zu ignorieren. Ein Ruck ging durch ihren Körper, als das Rohr ein Stück weit nachgab und sie die Balance verlor. Gleißend schnellte der Schmerz durch ihren Rücken. Navi quietschte erschrocken in ihren Armen auf. Sie brauchte einen Moment, bis sie es schaffte, sich wiederaufzurichten.

Vorsichtig rutschte sie an den Rand des Zwischendaches heran. Glücklicherweise hatte ihr Großvater die Kisten noch nicht zurück in die Garage geräumt. Navis Herzchen klopfte aufgeregt an ihrer Brust, als sie mit dem Fuß nach unten tastete und Halt auf der Kiste suchte.

Erleichtert atmete Anya auf, als sie endlich festen Boden unter ihren Füßen spürte. Sie wagte es nicht, sich genauer umzusehen. Sie konnte nicht bleiben, das wusste sie.

Ihre Mutter. Ihre Mutter würde wissen, was zu tun ist. Diese gruseligen Dinger... Eine Welle des Ekels und der Furcht überkam Anya, als sie an das dachte, was sie in diesem Haus gesehen hatte. Ihre Mutter würde wissen, was das alles zu bedeuten hatte. Sie musste sie finden.

Hastig kletterte sie über den Zaun, der an das kleine Waldstück angrenzte, in dem sie so gerne mit Navi spazieren gegangen war. Sie beschleunigte ihre Schritte. Wenn sie erst ihre Mutter gefunden hatte, würde alles wieder gut werden.

Anya lief. Sie drehte sich nicht um, um nachzusehen, ob ihr jemand folgte. Sie lief, bis ihre Lungen brannten und ein dumpfer Schmerz in ihren Beinen pochte. Doch jedes Mal, wenn sie es sich gestattete, langsamer zu werden, hatte sie wieder diese grausamen Bilder vor Augen. Diese leblosen Blicke. Das tonlose Stöhnen. Der Geruch der Verwesung. Anya konnte es nicht vergessen. Es trieb jeden ihrer Schritte an.

Die Straßen lagen menschenleer vor ihr. Sie wusste nicht, ob das, was in der Luft war, das Keuchen und Kratzen dieser Monster in den Vorgärten oder das aus ihrer Erinnerung war. Wann war das alles nur so schiefgelaufen?

Anya bremste ruckartig ab, als sie weitere dieser Dinger sah, die sich an einem Auto zu schaffen machten. Sie warfen sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen und versuchten, ins Innere zu gelangen. Das Keuchen bei jeder ihrer schwerfälligen Bewegungen fuhr ihr tief in die Knochen. Als sich die toten Augen auf sie richteten, drehte sich beinahe ihr Magen um und brachte sie dazu, in den nächsten Seitenweg abzubiegen.

Der Trampelpfad, der vor ihr lag, war ihr immer so vertraut gewesen. An jedem anderen Tag hätte sie ihren Weg mit verbundenen Augen finden können. Doch heute war alles anders. Auch wenn der kleine Pfad friedlich wirkte, war es, als würden die Schatten sie auch bis hierher verfolgen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und pumpte das Blut viel zu schnell durch ihre Adern, als sie ihre Schritte beschleunigte.

„Anya!“ Sie würde Dan unter tausenden Stimmen erkennen. Im nächsten Moment spürte sie schon Arme, die sich um ihren Körper schlangen. Arme, zu schmächtig für die, eines dieser Monster. Ihr bester Freund zitterte am ganzen Leib. Im Augenwinkel bemerkte sie das Blut an seinem T-Shirt, doch es schien nicht sein eigenes zu sein. „A-anya“, stotterte er erneut. Seine Stimme wurde durch den Stoff ihres Oberteils gedämpft. „Hast du sie auch gesehen? Diese... D-dinger.“ Er schluchzte erstickt, als sie nickte. „Meine Eltern“, brachte er abgehackt hervor. „Sie sind beide... Da war so viel Blut.“

Anya schloss die Arme fester um ihren besten Freund. Egal, wie sehr sie sich auch anstrengte, sie schaffte es nicht, Wörter an dem Kloß in ihrem Hals vorbeizuschieben. Sie spürte das Zittern, das Dans Körper schüttelte. Oder war es ihr eigenes Zittern?

„Ich konnte Tobi nirgends finden.“

Anya schluckte. „Vielleicht ist er irgendwo mit meinem Großvater“, sagte sie und versuchte, das Beben ihrer Stimme zu verbergen, auch wenn es ihr alles andere, als leichtfiel. Er war der kleine Bruder, den sie sich in ihrer Einsamkeit immer gewünscht hatte. Sie hatte schon immer auf ihn aufgepasst und sie würde ihn auch jetzt beschützen. „Wir müssen meine Mutter finden. Sie weiß sicher, was los ist. Kommst du mit?“

Dan schniefte, doch dann nickte er. „Deine Mutter weiß immer alles.“ Ein wenig hellte sich sein Gesicht auf, als er nach seinem Rucksack griff. „Ich habe etwas gefunden.“

Anya erkannte die beiden länglichen Gegenstände, die er hervorzog, sofort. Es waren die Walkie Talkies, die sie vor ein paar Wochen hier auf dem Schrottplatz entdeckt hatten. „Aber sind die nicht kaputt gegangen?“

Dan zuckte mit den Schultern. „Vielleicht können wir sie ja reparieren. Wir könnten uns immer erreichen, selbst, wenn wir uns verlieren.“

Anya versuchte, ihm ein Lächeln zu schenken, auch wenn es ihr nur kläglich gelang. „Vielleicht schaffen wir es ja.“

In der Ferne erklang ein seltsames Stöhnen, das sie beide zusammenzucken ließ. Eine eisige Hand legte sich um Anyas Hals und drückte langsam zu. „Komm“, sagte sie gepresst. „Wir sollten uns beeilen.“ Sie klemmte das Walkie Talkie an ihre Hosentasche und stieg über die Schrottteile. Dan folgte ihr, doch er warf immer wieder ängstliche Blicke zurück. Wortlos bahnten sie sich ihren Weg über den Schrottplatz, auf dem sie so viele schöne Stunden verbracht hatten, zu dem Loch im Maschendrahtzaun. Anyas Blick streifte den Reifen, der einsam an einem Ast baumelte. Wohin war das Gestern nur verschwunden?

2. Pandoras Büchse

Da ist es!“ Anya beschleunigte ihre Schritte, als sie die Umrisse des hohen weißen Gebäudes ausmachte. Dan stolperte neben ihr her und schaffte es kaum, Schritt zu halten. Tränen standen in seinen Augen. Er hielt ihre Hand krampfhaft umklammert

Anya versuchte, ihre eigene Furcht weit in den hintersten Winkel ihrer Gedanken zurückzudrängen. Sie wollte ihm nicht zeigen, wie sehr sie sich fürchtete. Sie wollte ihm zeigen, dass alles gut werden konnte. Wenn sie ihre Mutter erst einmal gefunden hatten, würde es das auch werden. Dann waren sie sicher.

Navi lief ein Stück vor ihr her. Bisher hatte Anya ihren Hund immer zuhause gelassen, wenn sie ihre Mutter auf der Arbeit besucht hatte, doch heute störte sie sich nicht an Verboten. Es war ohnehin niemand da, der sie aufhalten konnte. Das Foyer war wie ausgestorben. Wo sonst immer Trubel war, war jetzt nur noch Leere.

Anya wartete erst gar nicht auf den Aufzug. Sie konnte nicht stillstehen. Zwei Stufen auf einmal nehmend stürmte sie die Treppen zum ersten Obergeschoss hinauf. Navi und Dan waren ihr dicht auf den Fersen.

„Mama?!“ Auf dem ersten Blick wirkte die Station völlig still. Die Schwesternstation war genauso leergefegt, wie das Foyer im Untergeschoss. Keine Oberschwester Marga, die sie mit einem frechen Spruch begrüßte, oder der Pfleger Felipe, der seine Scherze mit ihr trieb. Erneut rief sie nach ihrer Mutter, doch es kam keine Antwort.

Dan klammerte sich ängstlich an ihren Arm. „Wir sollten nicht hier sein“, flüsterte er. „Wir müssen hier weg.“

Doch Anya konnte nicht weg. Nicht, bevor sie ihre Mutter gefunden hatte. Sie hing sich an diesen Gedanken, wie an einen Strohhalm. Anya lief, zog Dan mit sich durch die sterilen Gänge. Navi folgte ihnen mit eingekniffener Rute. Ihr gefiel das alles ganz und gar nicht. Immer wieder knurrte sie, bellte leise, ganz als wolle sie sie warnen.

Eine Flut der Erleichterung durchströmte sie, als sie am Ende des Flurs ihre Mutter erkannte. Sie hockte mit dem Rücken zu ihr, weit über einen Mann gebeugt, der verletzt zu sein schien. Allein war sie nicht. Einer der Pfleger war bei ihr und schien ihr bei der Arbeit zu helfen. Anya erkannte nicht genau, was sie da tat, doch sie schien sich mit geübten Handgriffen um den Mann zu kümmern.

Anya wusste, dass sie leise sein und ihre Mutter ihre Arbeit erledigen lassen musste. Doch Hoffnung und Angst hatten sie so sehr im Griff, dass sie kaum an etwas anderes denken konnte, als die Sicherheit, die ihre Mutter vermittelte. Bevor sie es verhindern konnte, rief Anya nach ihr.

Im ersten Moment reagierte ihre Mutter nicht. Sie beugte sich noch immer konzentriert über den Verletzten. Ich sollte sie nicht stören, dachte Anya ängstlich, doch ihre Füße trugen sie wie von unsichtbaren Fäden gezogen weiter auf ihre Mutter zu.

Sie erstarrte, als der Pfleger sich ihnen zuwandte. Seine sonst so moccafarbene Haut war bleich und eines seiner trüben Augen fehlte. Er stöhnte aus halbgeöffneten Mund und streckte die verwesende Hand nach ihnen aus. Angst und Übelkeit setzten sich schlagartig in ihr fest. „Mama, pass auf!“ Sie musste sie warnen! Sie musste zu ihr! Noch immer reagierte ihre Mutter nicht. Dan brüllte ihren Namen, als Anya loslief. Doch dann drehte sich ihre Mutter zu ihr um. Panik schoss durch ihren Körper, als sich blutleere Augen auf sie richteten. Nein... Ihre Augen weiteten sich. Dans Hand, die sich um ihren Arm schloss, spürte sie kaum. Das tote Gesicht ihrer Mutter war das Einzige, das sie wahrnahm. Hoffnung zersprang in ihrem Inneren wie eine Seifenblase.

Wankend richtete ihre Mutter sich auf und taumelte auf sie zu. Einige Fetzen hingen aus ihrem Mund - Haut und Fleisch, die sie dem Verletzten ausgerissen hatte. Sie erkannte ihre Tochter nicht mehr. Das Stöhnen, das über ihre Lippen kam, jagte Anya einen Dolch tief in ihr Herz. Das war nicht mehr ihre Mutter. Was auch immer das war, es war nicht mehr die Frau, die sie gekannt hatte.

Ein Ruck ging durch ihren Körper, als sich Finger um ihren Arm schlossen und sie mit sich zogen. Sie wollte sich mit all ihren Kräften dagegenstemmen, doch dann erkannte sie, dass es keiner dieser Dinger war. Es war ein Junge, nicht viel älter als siebzehn oder achtzehn Jahre. Doch er sah nicht sie an. Sein Blick war auf die Monster vor ihnen gerichtet. Sie bekamen Gesellschaft. Mehr und mehr dieser Dinger drängten durch die Glastür hinter ihrer Mutter auf den Gang. „Ihr müsst hier raus!“, schrie er gegen den Lärm der Beißer an. „Kommt mit!“

Anya war viel zu verstört, um sich zu wehren. Sie schaffte es einfach nicht, den Blick von dem Wesen abzuwenden, das einmal ihre Mutter gewesen war. Der Gang, auf dem der Fremde sie führte, verschwamm zu einer grauen Masse, verschwand hinter dem Schleier ihrer Tränen.

„Beeilt euch!“, rief ihr Retter über die Schulter zurück – sicher zu Dan, der ihnen zu folgen schien. Mit der Machete in seiner Hand hieb er den Monstern, die sich ihnen in den Weg stellte, präzise zwischen die Augen. Es schien ihm kaum etwas auszumachen. Als wäre er an diese neue Welt gewöhnt. Er schenkte diesen Dingern keinen einzigen Blick mehr, nachdem sie zu Boden gefallen und reglos liegen geblieben waren.

„Wohin bringst du uns?“, rief Dan hinter ihnen. Seine Stimme hallte laut im Treppenhaus wider.

„In Sicherheit“, gab der Fremde nur knapp zurück und stieß die Tür auf.

Die frische Luft, die sie umgab, als sie das Krankenhaus verließen, konnte Anya nicht beruhigen. Eher im Gegenteil. Ihr Herz schlug schmerzhaft gegen ihre Rippen. Sie war gefangen in ihrer Panikblase und schaffte es nicht, sich daraus zu befreien. Der Griff des Fremden brannte sich förmlich in ihre Haut. Wo brachte er sie nur hin?

Navi! Hektisch suchten ihre Augen den Boden nach dem kleinen Hund ab. Sie durften sie nicht vergessen haben. Sie durfte sie nicht verloren haben. Doch dann entdeckte sie, dass ihre Hündin dicht neben ihnen herlief. Hastig machte sie sich von ihrem Retter los und griff nach ihrem Hund, um ihn dicht an sich zu drücken.

Eine Hand legte sich in ihren Rücken. „Kommt jetzt!“, zischte der Fremde angespannt. „Ihr seid sicherer, wenn ihr mit mir kommt.“

„Aber meine Mutter“, brachte Anya hervor, ehe ein Schluchzen über ihre Lippen kam.

Kurz hielt der Fremde in der Bewegung inne und sah sie durchdringend an. Seine Miene wurde weicher. „Du kannst ihr nicht mehr helfen. Sie ist nicht mehr da. Jetzt ist sie einer von ihnen. Ein Beißer. Ein Ghul. Sie ist tot... oder Schlimmeres.“

Anya wurde übel bei seinen letzten Worten. Stumm sah sie ihm zu, als er seinen Beutel schulterte und sich in einer fahrigen Bewegung eine Strähne aus dem Gesicht strich. Ihre Augen weiteten sich. „Du bist verletzt!“

Der Fremde betrachtete beinahe gelangweilt den rotgetränkten Ärmel. „Nicht mein Blut“, sagte er nur schlicht und ging voraus. Anya und Dan blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

Im Zickzack führte ihr Retter sie auf Nebenstraßen aus dem Stadtkern heraus, bis sie am Rande der Vorstadt ankamen. Anya taumelte mehr, als dass sie lief. Die Geschehnisse der letzten Stunden hatten sich eiskalt um ihr Herz gelegt. Sie versuchte, es vor den Bildern, die sich ihr geboten hatten, zu verschließen, doch ganz wollte es ihr nicht gelingen. All die Hoffnung war mit einem Schlag zerstört. Wo sollten sie jetzt nur hin? Was sollten sie nur tun?

Als sie immer langsamer wurde, ergriff der Fremde ihre Hand und zog sie mit sich mit. Hin und wieder warf er ihr ein aufmunterndes Lächeln zu, ehe er seinen Blick wieder auf die Straße heftete. Sein Lächeln schaffte es nicht, die Bilder in ihrem Kopf zu vertreiben, konnte die Übelkeit nicht verdrängen, die sie in ihr auslösten. Sie konnte nicht vergessen. Der Schmerz in ihrem Inneren ließ es nicht zu.

„Lucas! Warum hat das so lange gedauert?“ Eine ältere Frau trat durch die Büsche auf den Bürgersteig. Sie war nicht allein, doch Anya schaffte es kaum, den Kopf zu heben, um sie genauer zu betrachten. Sie war mit einem Mal so müde.

Die Frau musterte sie und Dan feindselig. Was, wenn sie ihnen nicht helfen wollten? Der Gedanke kam so schlagartig in ihr auf, dass ihr schlecht wurde. Sie atmete zitternd aus und versuchte, ihre Angst zurückzudrängen. Doch die Panik und die Hoffnungslosigkeit waren fast zu stark, um sie auszuhalten.

„Wer ist das?“, fragte die alte Frau ungehalten und zeigte mit dem knochigen Finger auf sie beide. „Warum hast du diese Bälger mitgebracht? Du solltest nur die Medikamente besorgen.“

Lucas atmete geräuschvoll aus. „Und ich habe sie auch mitgebracht. Reichlich sogar. Siehst du das denn nicht?“ Wie um zu demonstrieren, hob er seinen Beutel. Sein Blick wurde eindringlich. „Marjorie, ich konnte sie nicht dalassen. Sieh sie dir doch an.“

Marjorie musterte sie ganz unverhohlen und hob dann spöttisch die Augenbraue. „Und du meinst, das war eine deiner besten Ideen?“

„Sei nicht so herzlos! Ich verbürge mich für die beiden, wenn es sein muss. Können wir jetzt erstmal diese verdammte Stadt hinter uns lassen?“

Marjorie schnaubte nur und drehte sich um, als ein stämmiger blonder Mann ihr eine Hand auf die Schulter legte.

„Komm“, sagte Lucas, als Anya keine Anstalten machte, sich zu bewegen. „Lasst uns gehen.“

Anya kannte den breiten Waldweg, auf dem sie der Gruppe folgte. Ihr Großvater war oft mit ihr in diesem Waldstück ausgeritten. Ein Stich jagte durch ihr Herz, als sie an ihn dachte. Ob er entkommen konnte? Vielleicht war er am Leben und suchte nach ihr. Sie hoffte es so sehr, dass es sie beinahe körperlich schmerzte.

Die missgelaunte alte Frau ging vorneweg, in der Hand eine zerknitterte Karte, von der sie kaum den Blick hob. Der stämmige Blonde schritt neben ihr her. Er war mit einer schweren Eisenstange bewaffnet und wirkte, als könne er damit ohne Probleme Knochen zertrümmern. Seine Augen suchten die Umgebung ab, als wartete er nur darauf, dass etwas passierte.

„Ich bin übrigens Lucas“, sagte ihr Retter neben Anya auf einmal und grinste ihr zu. „Aber das hast du dir sicherlich schon längst gedacht.“

Anya brauchte einige Versuche, bis sie es schaffte, die Worte an dem Kloß in ihrem Hals vorbeizupressen. „Ich bin Anya. Das hier ist mein bester Freund Daniel“, sagte sie und zeigte auf Dan, der dicht neben ihr herging und sich geradezu an ihren Arm klammerte. Ihr Finger wanderte weiter zu Navi, die am Wegesrand entlanglief und hier und da anhielt, um zu schnüffeln. „Und das ist Navi.“

Lucas hob belustigt die Augenbrauen. „Navi? Wie Navigationssystem?“

Ein Lächeln kitzelte ihre Lippen. Sie konnte fast nicht anders. Lucas gute Laune war ansteckend. Sie schaffte es fast, die dunklen Schatten zu verdrängen, die ihr Herz im Griff hielten. „Nein, wie eine kleine Fee.“

Lucas bückte sich, um Navi die Hand hinzuhalten. „Na, wie eine kleine Fee siehst du aber nicht aus. Eher, wie ein Ewok“, sagte er, ehe er sich wieder erhob und in Richtung der anderen Personen nickte. „Die beiden, die vorausgehen sind Marjorie und Bernd.“ Er wandte sich halb um und sah zu den anderen, die ein Stück weit hinter ihnen liefen. „Die Frau mit den dunklen Haaren ist Leila. Ihr Sohn heißt Henri und der Mann neben ihr ist ihr Vater Thomas. Die anderen zwei, Mike und André, waren Polizisten, bevor die Welt angefangen hat, sich selbst zu zerstören. Und der ältere Herr da drüben ist mein Großvater Mattis. Alles gute Leute, aber nicht sonderlich von Glück gezeichnet.“

„Was passiert hier nur?“, fragte Anya und konnte das Zittern in der Stimme nicht verbergen. „Was sind das für Dinger?“

Sein Gesicht verdüsterte sich. „In einigen Städten ist es schon viel früher ausgebrochen. Die Regierung hat zu lange die Augen davor verschlossen, hat es verschwiegen und unter den Teppich gekehrt, doch am Ende war es zu spät, um noch etwas dagegen zu unternehmen. Pandoras Büchse war bereits geöffnet.“

„Aber man muss doch irgendetwas machen können?!“

„Überleben“, sagte Lucas tonlos. „Das ist das Einzige, was wir noch tun können.“

„Aber was habt ihr jetzt vor?“, fragte Anya und warf einen Seitenblick auf Dan, der inzwischen ihren Arm losgelassen hatte und nun Navi an sich drückte. Sein Blick war ruhelos und wanderte immer wieder durch die Zweige der Büsche.

Lucas fuhr sich mit der Hand durch die dunkelblonden Haare. „So weit nördlich wie der Norden reicht. In der Kälte sind diese Viecher hoffentlich nicht ganz so agil und machen weniger Probleme.“

Der Waldweg wurde steiler und führte einen Hang hinauf. Sie hatten Glück. Nur einmal lief ihnen einer dieser Beißer über den Weg, den Bernd mit seiner Eisenstange niederprügelte. Anya schaffte es nicht, den Blick abzuwenden, als der Schädelknochen barst und das Blut spritzte. Doch die Übelkeit war einer Leere gewichen, die sie weder verstehen noch beschreiben konnte.

„Sorry übrigens für die Sache vorhin“, sagte Lucas nach einer Weile. „Das ist nicht ganz so gelaufen, wie ich es geplant habe.“

Ohne eigenes Zutun wanderte Anyas Blick zu Marjorie. „Sie wollen uns nicht dahaben.“

„So ist das nicht. Sie sind nur vorsichtig. Wir leben nun einmal in gefährlichen Zeiten.“

„Was ist wirklich passiert?“

Lucas zuckte mit den Schultern. „Manche sagen, diese Untoten wären die ganze Zeit über da gewesen. Wir hätten sie nur nicht bemerkt. Andere sagen, dass sie aus irgendeinem Labor ausgebrochen sind. Auf einmal waren sie da. Haben sich rasend schnell ausgebreitet. Die Medien kamen kaum hinterher darüber zu berichten. Zumindest die, die nicht von der Regierung mundtot gemacht worden sind.“

Anya erschauderte. „Aber was sind das für Dinger?“

„Noch nie einen Zombie-Film gesehen?“

„Ich bin erst dreizehn“, sagte sie und hob die Augenbrauen.

Lucas lachte. „Na und? In deinem Alter habe ich Braindead rauf und runter geguckt.“ „Und was hilft gegen die?“

Er atmete geräuschvoll aus und rieb sich über den Nacken. „Ihnen gar nicht erst zu begegnen. Im Zweifel aber immer auf den Kopf. Dann stehen sie zumindest nicht wieder auf.“

Anya wusste nicht, wie viele Stunden sie bereits durch den Wald liefen. Der Weg führte sie mal bergauf und dann wieder bergab, über kleine Brücken und Bäche, vorbei an Hochsitzen und kleinen Lichtungen. Der Wald war still und schaffte es fast, Anya mit Ruhe zu erfüllen – zumindest bis der nächste Beißer aus dem Gebüsch gewankt kam.

Navi rieb ihren Kopf an Anyas Bein, solange, bis sie sich endlich gnädig zeigte und sie auf den Arm hob. Anya hatte ihren Hund schon eine Weile aus dem Augenwinkel beobachtet – wie sich immer mehr Blätter und Zweige in ihrem weichen Fell verfangen hatten und Navi sich alle paar Meter auf den Boden geschmissen hatte. Nun schien es Navi richtiggehend zu genießen getragen zu werden, während Anya mit spitzen Fingern das Laub aus ihren Haaren zog.

Dan lief dicht neben ihr. Er weinte, war mit den Nerven völlig am Ende und erschöpft. Auch sie war müde, doch sie wagte es nicht, etwas zu sagen. Zu groß war die Angst, dass diese Leute sie zurückließen, sobald sie ihnen zu anstrengend wurden.

Als die Sonne tief stand, schlugen sie ihr Lager an einer Grillhütte auf. Erschöpft ließ Anya sich ins Gras sinken und rieb über ihre schmerzenden Beine. Ob sie es schaffen würde, jeden Tag so weit zu laufen? Die beiden Polizisten schlugen sich in die Büsche, um Feuerholz zu suchen, während Marjorie und Leila sich um das Essen kümmerten. Anya wollte gerade aufstehen, um sich irgendwie nützlich zu machen, als Lucas sich im Schneidersitz neben sie auf die Wiese sinken ließ. „Sind wir hier sicher?“, fragte sie und versuchte, das Zittern ihrer Stimme zu verbergen, als sie durch die Äste schielte.

Lucas lächelte ihr aufmunternd zu. „Mach dir keine Sorgen. Hier passiert uns nichts.“

Er zog ein schmales Taschenmesser aus seiner Hosentasche und griff nach einem der umliegenden Ästen. Gebannt beobachtete Anya ihn, während er die scharfe Schneide über die Rinde gleiten ließ. Seine handwerklichen Fähigkeiten ließen durchaus zu wünschen übrig. Was auch immer es darstellen sollte – es sah aus, wie eine Mischung aus Känguru und Schnabeltier. Er bemerkte, dass sie ihn beobachtete und verzog seine Lippen zu einem Grinsen. „Ich weiß, nicht die größte Handwerkskunst. Dafür aber mit viel Enthusiasmus.“ Er ließ seinen Blick über die Gruppe schweifen und ließ das Messer kurz sinken. „Wir waren auf einem Campingausflug, als das alles angefangen hat. Das war vor knapp zwei Wochen. Tante Leila, Thomas, Henri, mein Großvater und ich. Marjorie und Bernd haben wir auf dem Campingplatz kennengelernt und André und Mike sind später zu uns gestoßen. Ich glaube, sie waren auf einer Streife gewesen. Jedenfalls haben sie noch ihre Uniformen getragen. Sie haben uns nie erzählt, was wirklich passiert ist.“ Lucas hob den Kopf, als Leila an ihn herantrat und ihm und Anya etwas zu Essen brachte. „Ich hoffe, du magst Thunfisch“, sagte er belustigt und hob seine Dose, ganz, als wolle er mit ihr anstoßen. „Etwas anderes gibt es heute nicht.“ Mit einem Klacken stieß das Metall aneinander.

Während Anya ihre Dose öffnete, beobachtete sie aus dem Augenwinkel Leila, die sich zu Dan gesellte, der ein wenig abseits saß. Anya verstand nicht, was sie ihm erzählte, als sie ihm eine der Dosen reichte, doch es schien ihn ein wenig aufzuheitern. Es dauerte nicht lange, bis Henri angehüpft kam und auf den Schoß seiner Mutter krabbelte. Er fiel lachend in die Geschichte ein und entlockte Dan das erste Lächeln seit einer ganzen Weile.

„Was ist mit dir?“, fragte Lucas und beobachtete mit einem Lächeln, wie Anya ihre Dose Thunfisch mit Navi teilte. „Was ist deine Geschichte?“

Sie unterhielten sich eine ganze Weile. Über das Leben, wie es gewesen war, über Dinge, die sie gern getan hatten und die bisher zu ihrem Alltag gehört hatten. Sie redeten noch leise, als sich einige schon längst zum Schlafen hingelegt hatten. „Morgen werde ich dir ein paar Dinge zeigen“, versprach Lucas und reichte ihr eine Decke, die sie dankbar um ihren fröstelnden Körper schlang.

„Ihr beiden seid ja immer noch wach“, bemerkte Lucas‘ Großvater und ließ sich etwas schwerfällig neben sie sinken. Anya mochte ihn auf Anhieb. In seinen Augen lag so viel Wärme, selbst, wenn er nicht lächelte. Die kleinen Fältchen sagten ihr, dass er das Leben stets von der positiven Seite aus betrachtete. „Ich hoffe, mein Enkel hat sich nicht über sein karges Mahl beschwert. Er bemitleidet sich so gerne.“

Lucas rollte mit den Augen. „Ich habe kein Wort darüber verloren und bemitleidet habe ich mich schon gar nicht.“ Er konnte das Grinsen hinter seinen Worten nicht verstecken.

Mattis hob rügend den Finger. „Zu meiner Zeit wurde der Gürtel nicht enger geschnallt, da wurde der Gürtel gegessen. Und jetzt hört auf zu schnattern und schlaft lieber ein wenig. Wir haben morgen einen langen Fußmarsch vor uns.“

„Weißt du, Opa hat Kriegsabitur“, flüsterte Lucas, als sein Großvater sich wieder zu den anderen gesellt hatte. „Er meint, das gibt ihm das Privileg, alles zu wissen.“ Dann ließ er sich auf den Rücken sinken und zog die Decke über seinen Körper. Es dauerte keine Minute, bis er eingeschlafen war.

Anya beneidete ihn fast ein wenig. Sie selbst schaffte es kaum, Schlaf zu finden. Immer wieder verlagerte sie ihr Gewicht und versuchte, eine bequemere Position zu finden, was ihr kaum gelang. Navi grummelte entrüstet, wenn sie sich bewegte. Die Hündin lag halb auf ihren Beinen, hatte ihr Kinn auf ihr Knie gelegt und wurde jedes Mal aufs Neue regelrecht durchgeschüttelt.

Als Anya dann doch langsam wegdämmerte, spürte sie noch, wie Lucas sich neben ihr bewegte und aufstand. Durch halb geschlossene Augen beobachtete sie, wie er mit Bernd sprach und dann zwischen den Bäumen verschwand. Doch sie schaffte es nicht, sich darüber Gedanken zu machen. Der Schlaf hatte sie nun endgültig ergriffen.

„Konzentrier dich“, sagte Lucas mit einem Lächeln in der Stimme, als Anya wieder über eine Wurzel stolperte. „Du verscheuchst noch alle Tiere.“

Seit gefühlten Stunden folgte sie ihm schon durch das dichte Unterholz, während der Rest der Gruppe auf dem breiteren Weg lief. Dabei waren sie nie zu weit von ihren Leuten entfernt, aber doch so weit, dass sie in Ruhe üben konnten.

„Dafür sorgen die anderen schon“, sagte sie und warf einen Blick durch die dichten Zweige. Bernds dröhnendes Lachen drang bis zu ihnen hindurch.

„Ich habe nie gesagt, dass wir Großwild jagen. Und für alles andere wird es reichen.“ Er berührte sie kurz an der Schulter und zwinkerte ihr zu.

Mit einer Engelsgeduld brachte er ihr alles bei, was sie wissen musste. Er verlor auch nicht die Ruhe, wenn sie zum zehnten Mal die gleiche Frage stellte. Und sie lernte, war begierig darauf, jedes noch so kleine Detail, wie ein Schwamm aufzusaugen. Er brachte ihr bei, die kleinsten Zeichen der Natur zu lesen, zeigte ihr Spuren, die sie alleine niemals gefunden hatte und lehrte sie zu lauschen. Anya hing förmlich an seinen Lippen.

„Da, schau mal“, flüsterte er und beugte sich dabei dicht an ihr Ohr. Sie folgte seinem Blick und entdeckte, was er gesehen hatte. Ein Eichhörnchen saß nahe einem Baumstamm. Witternd. Nichts ahnend. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie er ohne schnelle Bewegungen seinen Bogen vom Rücken nahm und einen Pfeil an die Sehne legte. Ohne das Ziel aus den Augen zu verlieren, spannte er die Sehne und ließ den Pfeil durch die Luft surren. Sie bemerkte erst, dass sie den Atem angehalten hatte, als Lucas den Bogen sinken ließ und sie tief ausatmete.

Lucas zog den Pfeil aus dem leblosen Körper und steckte ihn zurück in seinen Köcher. Dann band er das Eichhörnchen an seinem Rucksack fest. Er grinste breit, als sie zu ihm aufschloss. „Das Nächste wirst du schießen.“ Er lachte, als er sah, wie sich ihre Augen weiteten. „Keine Sorge. Ich zeige dir, wie man damit umgeht“, sagte er und tätschelte beinahe liebevoll das Holz des Bogens.

„Woher kannst du das alles?“, fragte sie und versuchte nicht über den unebenen Boden zu stolpern. „Und wo hast du den Bogen her?“ Sie konnte sich nicht vorstellen, dass das etwas war, das man auf einen Campingausflug mitnahm.

Lucas lachte. Manchmal hatte sie das Gefühl, nichts könne die Freude je von seinen Zügen vertreiben. „So viele Fragen auf einmal? Den Bogen habe ich in einer Scheune gefunden. Das Ding ist zwar etwas älter, aber es leistet immer noch gute Dienste. Und scheinbar habe ich es auch nicht verlernt.“

„Aber woher kannst du das alles?“ Anya dachte an all das, was er ihr in der kurzen Zeit beigebracht hatte, an all das Wissen über die Tiere des Waldes und das Spurenlesen. „Hast du dir das selbst beigebracht?“

„Das Bogenschießen, ja. Vor langer Zeit. Und was den Rest angeht: Ich war Revierjäger, bevor all das alles passiert ist.“ Er lachte auf, als sich ihre Augen weiteten. „Was?“

„Naja, ich dachte, du hättest vielleicht gerade angefangen zu studieren, oder vielleicht gerade die Schule beendet.“

Lucas verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Was denkst du denn, wie alt ich bin?“, fragte er und feixte.

Anya zuckte mit den Schultern und widerstand der Versuchung, einen Stein vor sich herzutreten. „Keine Ahnung. Siebzehn? Achtzehn?“

Sein Grinsen wurde breiter, als er ihr zuzwinkerte. „Ich bin 25“, sagte er und hielt plötzlich in der Bewegung inne. Er nickte in Richtung eines Baumstammes. „Jetzt bist du an der Reihe.“

Sie war nicht sonderlich gut darin, zu schießen. Bei jedem Fehlversuch erwartete sie ein tadelndes Wort zu hören, doch Lucas deutete ihr nur mit einem Nicken an, weiterzugehen. Und wieder bewunderte sie die Ruhe, mit der er ihr jedes Mal aufs Neue zeigte, wie sie den Bogen richtig spannte, wie sie ihre Atmung kontrollierte und wie sie letztendlich traf. Anya unterdrückte in letzter Sekunde den Jubel, als ihr Pfeil endlich sein Ziel fand.

Als sie den Wald verließen, hatten sie sieben Eichhörnchen geschossen. Genug für alle, um einigermaßen satt zu werden. Auch, wenn Anya sich noch nicht vorstellen konnte, wie sie das überhaupt runterbekommen sollte. Doch der Hunger erstickte den Gedanken im Keim.

Den Rest des Vormittags folgten sie einer Straße, die zwischen breiten Feldern entlang führte. Niemals folgte ihnen. Nur in der Ferne erkannte Anya einige Monster, die durch die Ähren wankten.

Ihr Gesicht bewölkte sich, als ihr Blick auf Dan fiel. Ihr bester Freund war mit den Nerven völlig am Ende. Tränenspuren zeichneten sich auf seinen Wangen ab und er humpelte immer wieder, als hätte er eine Blase am Fuß. Auch Henri, der neben ihm herlief und seine Späßchen machte, schien ihn diesmal nicht aufheitern zu können.

Anya bemerkte, dass auch Lucas ihm besorgte Blicke zuwarf. Eine eisige Hand legte sich um ihre Brust. Was konnte sie nur tun, um Dan zu helfen?

Anya schaffte es einfach nicht, den Blick abzuwenden. Sie saß neben Lucas auf einem Baumstamm und beobachtete seine Hände, die in sicheren Bewegungen das Messer führten, versuchte nicht genauer darüber nachzudenken, was er da machte. Er hatte sie zur Seite genommen, als sie ihr Lager am Waldrand aufgeschlagen haben und sie versuchte wirklich, seinen Erläuterungen zu folgen, auch wenn ihr Magen sich bei den Gerüchen und dem Anblick des ganzen Blutes und der Eingeweide umdrehte. Während Lucas das Eichhörnchen erst häutete und dann ausnahm, erklärte er ihr Schritt für Schritt, was er da tat.

Ihre Augen weiteten sich, als er ihr das Nächste zuschob und ihr das Messer in die Hand drückte. „Ich habe dir gezeigt, wie es geht. Den Rest schaffst du schon.“

Ein Zittern durchlief ihren Körper, als sie das Messer ansetzte. „Und das sollte ich können, wenn wir im Norden sind?“, fragte sie, um sich von ihrer eigenen Anspannung zu befreien.

„Du hast es ihr gesagt?“, fragte Marjorie angriffslustig und fuhr zu ihnen herum.

Lucas‘ Stimme verlor nicht an Ruhe, doch seine Züge wurden hart. „Warum hätte ich es ihnen nicht sagen sollen? Die beiden gehören jetzt zu uns.“

Marjories Augen wurden schmal. „Ach ja? Bist du dir da so sicher? Wer weiß, wer sie schickt.“

„Sie ist ein Kind, verdammt nochmal“, fuhr Lucas sie an. „Was soll sie uns denn antun? Meinst du nicht, du entwickelst langsam ‚ne Psychose?“

Marjorie sagte nichts. Sie wandte sich nur mit einem letzten bösen Blick in Anyas Richtung ab.

Stumm beobachtete Lucas sie, während sie schrittweise das befolgte, was er ihr gezeigt hatte. Nur zwei Mal korrigierte er sie, als sie das Messer falsch ansetzte. „Sorry“, murmelte er, als er das letzte Eichhörnchen ausnahm und sie dann an Leila weitergab, damit sie sie kochen konnte.

Anya schüttelte den Kopf. „Nicht dafür“, erwiderte sie leise. Es gab nichts, was Lucas sich vorzuwerfen hatte. Kurz streiften ihre Augen Marjorie, die etwas abseitsstand. Und zum wiederholten Male fragte sie sich, was sie ihr getan hatte.

Dan schien es ein wenig besser zu gehen. Er lächelte schwach, während er neben Leila und Henri saß und beim Kochen half.

Anya bemerkte erst, dass Lucas aufgestanden sein musste, als er ihr eine Schüssel Eintopf unter die Nase hielt. Ihre Augen hingen förmlich an André und Mike, die ein wenig abseits trainierten. Auch Leila gesellte sich bald zu ihnen. Lucas grinste, während er zu André herübersah. Er aß etwas von seinem Eintopf und zeigte mit dem Löffel auf ihn. „Er war der Beste“, sagte er feixend. „Zu seiner Zeit.“

„Ich werde niemals so werden wie sie“, murmelte Anya demotiviert, als sie Leilas elegante und doch schnelle Bewegungen verfolgte.

Lucas lächelte ihr aufmunternd zu. „Mach dir nichts draus. Meine Tante macht schon seit ihrer Kindheit Kampfsport.“

„Ich werde niemals jemanden schützen können“, fuhr sie leise fort und warf unbewusst einen Seitenblick auf Dan. „Oder mich selbst.“

Lucas berührte ihre Schulter und brachte sie dazu, ihn anzusehen. „Schutz hat nichts mit Kraft zu tun. Nur mit Wissen. Man muss verstehen, wann man laufen und wann man sich umdrehen muss.“ Sein Löffel wanderte und zeigte auf Leila, die nun mit Bernd einige Selbstverteidigungstechniken durchzugehen schien. „Schau dir an, was sie tut. Von ihr kannst du noch viel lernen. Du bist klein. Am besten, du versuchst die Ghule zu Fall zu bringen. Spieß ihnen ins Knie, trete ihnen in die Kniekehle, ganz egal, Hauptsache sie fallen. Du bist schnell. Das zählt oft mehr als reine Körperkraft.“ Er kratzte den letzten Rest Eintopf aus seiner Schüssel. „Und sorg dafür, dass das Gehirn zerstört ist. Auch wenn sie schon auf dem Boden liegen, geh lieber auf Nummer sicher. Nichts ist schlimmer, als einer von denen, der plötzlich hinter dir aus dem Boden sprießt, wie so ein verkacktes Schneeglöckchen.“ Lucas legte seinen Teller beiseite und beobachtete seine Tante eine Zeit lang still. Er drehte erst den Kopf, als jemand nach ihm rief. Als er sich erhob, berührte er kurz eine von Anyas dunklen Strähnen. „Die solltest du zumindest irgendwie zusammenflechten. Die Gefahr ist sonst zu groß, dass dich irgendetwas daran packen könnte“, sagte er und ging zu Marjorie herüber.

3. Schwere Wege

In dem Moment, als Anya sehen musste, wie ihre Mutter diesen armen Mann regelrecht zerriss, hatte sie nicht gedacht, dass das Leben einfach so weitergehen würde. Doch auf die Nacht folgte ein neuer Morgen und die Tage reihten sich nahtlos aneinander. Tagsüber waren sie unterwegs. Nachts rasteten sie.

Dan machte ihr immer mehr Sorgen. Und das nicht nur, weil er stets ein wenig blass zu sein schien und er sich anstrengen musste, um Schritt zu halten. Er sprach kaum noch. Mit ihr hatte er in den letzten Tagen kaum mehr als sechs Sätze gewechselt. Nur mit Henri und Leila schien er sich ein wenig lockerer zu geben.

Lucas bemerkte den Blick, den sie ihrem besten Freund zuwarf. „Er ist für eine solche Welt nicht geschaffen“, sagte er leise.

Sie schluckte schwer, wollte ihm widersprechen, doch es kam kein Wort über ihre Lippen. Ein kleiner Teil wusste, dass er recht hatte.

„Hey, schaut mal hier!“

Lucas beschleunigte seine Schritte, als er Andrés Stimme hörte. Die Gruppe hatte vor einem kleinen Häuschen angehalten. Von außen wirkte die Hütte, als könne sie gerade einmal ein Bett beherbergen. Die meisten von ihnen standen in einer Traube halb vor der geöffneten Tür.

Lucas‘ Augenbrauen zogen sich zusammen, als er sich durch sie hindurchschob. Anya versuchte, ihm zu folgen. Ihre Augen weiteten sich, als sie einen Blick auf das Innere der Hütte erhaschte. Konserven über Konserven bedeckten die Regale an den Wänden und gaben der kleinen Hütte das Gesicht eines Supermarktes.

Die fröhlichen Stimmen er anderen umgaben sie wie ein Nebel, ohne, dass ihr Sinn wirklich zu ihr hindurchdrang. Um sie herum begannen sie Konserven und andere Lebensmittel in ihre Taschen zu füllen - so viel ein jeder von ihnen tragen konnte. Anya selbst war wie erstarrt. Erst, als Lucas behutsam ihren Arm berührte, erwachte sie mit einem Ruck. „Was ist, wenn das jemandem gehört?“, fragte sie unsicher.

„Dann hat derjenige wohl Pech gehabt“, sagte Marjorie kalt und legte eine weitere Dose in ihren Rucksack.

„Wir können die Sachen nicht einfach stehlen. Was, wenn wir ihn damit umbringen?“

„Du dummes Ding“, setzte die alte Frau an, doch Lucas‘ Blick brachte sie zum Schweigen. An der Schulter führte er Anya heraus, bis sie die Hütte ein Stück weit hinter sich gelassen hatten.

Anya verschränkte die Arme vor der Brust, mehr, um sich selbst zu halten, als aus Trotz. „Das ist nicht richtig“, murmelte sie.

„Du hast recht“, sagte Lucas leise. „Das ist nicht richtig. Wir leben in einer grausamen Welt. Vieles, was wir nun tun müssen, ist nicht richtig. Es ist nicht richtig, dass du in deinem Alter Tag und Nacht draußen umherziehen musst, dass man dich deiner sicheren Zukunft beraubt hat.“ Er griff mit beiden Händen nach ihren Schultern und brachte sie dazu, ihn anzusehen. „Es ist nicht richtig. Aber wenn wir es nicht tun, werden wir sterben. Wir müssen das tun. Verstehst du das?“ Als sie nickte, zog er sie kurz an sich.

„Wenn wir erst einmal im Norden sind, wird alles einfacher, oder?“, fragte sie Lucas, der sich gerade zu den anderen umdrehte.

Er stockte in der Bewegung. „Das hoffe ich zumindest.“

Angestrengt versuchte Anya, mitzuhalten. Es regnete schon seit mehreren Stunden ohne Unterlass und mittlerweile war sie völlig durchgefroren. Sie pustete sich die Tropfen von der Nase, auch wenn sie wusste, dass sie keine Sekunde später von neuen ersetzt wurden. Die Stimmung der Gruppe war mies. Niemand sagte auch nur ein Wort und selbst Lucas‘ Mund war zu einem dünnen Strich verzogen. Jeder hoffte auf einen trockenen Platz für die Nacht, doch wenn sie länger erfolglos blieben, mussten sie wohl mit einigen Bäumen als Schutz vorliebnehmen.

Anya biss die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten. Dan hielt sich dicht neben ihr und klammerte sich Halt suchend an ihren Arm. Sie versuchten, sich gegenseitig zu wärmen, doch das war nicht leicht. Navi, die neben ihnen hertrottete, sah mit ihrem nassen Fell aus, wie eine langhaarige Ratte, die man aus dem Fluss gefischt hatte.

Anya hob den Kopf, als Lucas ihre Schulter berührte. Dann sah sie, was er entdeckt haben musste. Auf dem Hügel, unweit der Straße, lag eine Scheune. Sie schien verlassen, doch das musste nichts heißen.

„Bleibt hier“, sagte Lucas zu seiner Tante und streifte Anya kurz mit seinem Blick, ehe er die Pistole zog, die er neben seinem Bogen und der Machete mit sich trug. Er nickte Mike zu, der sofort verstand. Anya beobachtete die beiden, als sie sich an das Tor heranschlichen und versuchten, es zu öffnen. Es gab nicht leicht nach, doch es klemmte nur und war nicht verschlossen. Endlose Minuten waren die beiden im Inneren der Scheune verschwunden. Es rumpelte und sie hörten einen lauten Knall, doch dann war Stille. Anya wagte es erst, auszuatmen, als Lucas den Kopf hinausstreckte. „Kommt rein“, rief er mit seinem typischen Grinsen auf den Lippen. „Es ist sicher.“

Anya seufzte erleichtert auf, als sie sich mit den Tüchern, die sie in einem der alten Bundeswehrschränke gefunden hatten, abtrocknen und ihre Kleidung wechseln konnten. Endlich wieder einigermaßen trocken saßen sie zusammen im Stroh, während Leila versuchte, aus den wenigen Vorräten, die ihnen geblieben waren, etwas Warmes zu Essen zuzubereiten. Die Klamotten, die Anya am Leib trug, hatte Lucas in einem Wohnhaus gefunden. Sie war froh, dass sie auf ihn gehört und sie mitgenommen hatte.

Lucas saß neben ihr und schnitzte wieder an einem Stück Holz herum. Es schien ein kleines Tier zu sein, kaum größer als seine Handfläche, doch sie erkannte nicht, welches es darstellen sollte. Einige Zeit schwiegen sie, bis er sie mit seiner Schulter anstieß. „Erzähl etwas“, bat er leise.

Anya atmete tief durch und überlegte, was sie ihm erzählen sollte. Fast schon mechanisch strich ihre Hand über Navis Fell. „Willst du wissen, woher ich Navi hab?“ Sie spürte sein Lächeln mehr, als sie es sah und fuhr fort. „Der letzte Freund meiner Mutter hat sie mir geschenkt. Ich glaub, Scooter hieß er. Zumindest hat er sich so genannt. Wollte sich bei mir einschleimen. Was soll ich sagen? Navi ist noch hier. Der Kerl nicht.“

Lucas prustete leise. Aus dem Augenwinkel bemerkte Anya, wie Bernd ein Deck Karten hervorzog und mit den beiden Polizisten zu spielen begann. Langsam lockerte sich die Stimmung und die Trübseligkeit, die wie dichte Dunstschwaden über ihnen gehangen hatten, schwanden.

Anya nahm die Konservendose, die Marjorie ihr mit einem missgünstigen Blick reichte. Sie wusste nicht, was es war. Das Etikett war abgerissen. Den Geruch erkannte sie nicht und auch die Form war undefinierbar. „Der Hunger treibts rein“, sagte Bernd und grinste ihr zu.

Zögerlich stocherte Anya mit der Gabel darin rum. „Und was hält es drinnen?“ Sie nahm einen Bissen und kaute misstrauisch. Irgendeine Art Fleisch. Sie konnte nur nicht sagen, wonach es wirklich schmeckte... oder wonach es schmecken sollte.

Dan saß dicht neben ihr. Stumm aß er seine Ration und beteiligte sich nicht an den Gesprächen der anderen. Ehrlich gesagt wusste sie nicht, wann sie zuletzt seine Stimme gehört hatte. Er schwand vor ihren Augen und es gab nichts, was sie dagegen unternehmen konnte. Nur solche Situationen, wenn er ihren Arm berührte, sich an sie drängte, oder sie direkt ansah, zeigten ihr, dass er immer noch da war.

Anya hob den Kopf, als jemand sich vor sie kniete. Es war einer der Polizisten. André, wenn sie sich richtig erinnerte. Ihre Augen weiteten sich, als er ihr eine Pistole in die Hand legte. „Hast du schon einmal mit so einer geschossen?“ Anya brachte keine Worte über die Lippen. Sie schüttelte nur hastig den Kopf. Dan war neben ihr ganz starr vor Schreck.

„Meinst du wirklich...?“, setzte Lucas an, doch André unterbrach ihn.