Charles Finch: Ein verstörter Geist - Thomas Riedel - E-Book

Charles Finch: Ein verstörter Geist E-Book

Thomas Riedel

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Woodfield, England, 1889: Während der Suche nach einem vermissten Kind, wird der Arzt Bob Bristow über von der Klippe eines Steilhanges gestürzt. Als einzig greifbarer Arzt am Ort wird Dr. Finch gerufen, der in Woodfield seinen Urlaub verbringt. Er kann aber nur noch den Tod seines Kollegen feststellen. Als einer der an der Suche Beteiligen gesteht, Bristow in die Tiefe gestürzt zu haben, sind alle Anwesenden schockiert. Doch als sich Finch dessen Aussage anhört, kommen ihm Zweifel an dessen Täterschaft. In gewohnter Manier sucht er nach den Puzzlesteinen, die ihn auf die Spur des wahren Mörders führen …

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Seitenzahl: 138

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Charles Finch:

Ein verstörter Geist

Kriminalroman

Thomas Riedel

Bibliografische Information durch

die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.de abrufbar

1. Auflage

Covergestaltung:

© 2019 Thomas Riedel

Coverfoto:

© 2019 @ ysbrand, Depositphotos

ImpressumCopyright: © 2019 Thomas RiedelDruck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.deISBN siehe letzte Seite des Buchblocks

»Es gibt mehr Schätze in Büchern

als Piratenbeute auf der Schatzinsel …

und das Beste ist,

du kannst diesen Reichtum

jeden Tag deines Lebens genießen.«

Walt Disney (1901-1966)

»Das Gedächtnis ist das Tagebuch,

das wir immer mit uns herumtragen.«

Oscar Wilde

(1854-1900)

1

Woodfield, England, 1889

Der kleine unauffällige Mann kniete neben der Leiche, während die anderen um ihn einen Kreis gebildet hatten und mit ihren Fackeln den Platz am Fuß des Steilhangs ausleuchteten. »Er ist tot, wie man es nur sein kann«, stellte er nach einer kurzen eingehenden Untersuchung fest. »Und ich möchte stark bezweifeln, dass er auch nur einen einzigen Knochen besitzt, der nicht gebrochen ist.«

Von außerhalb des Lichtkreises ertönte das gedämpfte Schluchzen einer Frau.

»Und daran bestehen keinerlei Zweifel, Dr. Finch?«, erkundigte sich Walsh, ein Detective Inspector vom Scotland Yard.

»Leider nein, Inspector.« Finch schüttelte den Kopf. Er sah hoch in die Dunkelheit, die sich wie ein schwarzes Betttuch über ihnen ausgebreitet hatte. »Wie hoch schätzen sie die Kante?«

»Auf gut zweihundert Fuß«, erwiderte Walsh.

Finch zuckte die Achseln. »Das passt zu den Verletzungen.«

»Des Nachts ist das ein gefährlicher Ort. Niemand sollte um diese Zeit hier sein«, meldete sich eine tonlose Stimme aus dem Hintergrund. »Vor allem dann nicht, wenn man mit einem Mörder zusammen ist.«

Augenblicklich wandten sich dem Sprecher alle Fackeln zu, um ihm ein Gesicht zu geben. Er war hochgewachsen und hager. In seiner Wolljacke wirkte er gar ein wenig kleiner als er eigentlich war. Die Fackeln betonten alle Linien und Schatten, aber dennoch schienen seine Augen tief in ihre Höhlen gesunken zu sein. Er stand neben einem Mädchen mit rotgoldenen Haaren, das zu einem schulterlangen Haarknoten gebunden war. Sein Arm lag um ihre Schulter und seine Hand wirkte weiß und riesig auf dem schwarzen Tuch ihres Mantels.

»Aber Stephen! Stephen, Schatz!«, begehrte sie auf.

Der Mann sah auf sie herab und seine Wange zuckte kurz, ehe seine Augen die Blicke der Fackelträger streiften. »Ich glaube, dass ich ihn ermordet habe«, murmelte er halblaut.

»Beruhigen Sie sich, Mr. Drake«, beschwichtigte Walsh. »Jeder hier weiß, dass Dr. Bristow einer Ihrer engsten Freunde war. Sie dürfen sich für den Unfall nicht verantwortlich machen.«

»Ich glaube aber nicht, dass es ein Unfall war«, beharrte Stephen Drake. »Ich glaube wirklich, dass ich ihn ermordet habe …«

Ein junger Mann kam aus der Dunkelheit und ging auf Finch und den Inspector zu. Sein Profil war gut zu erkennen, und auch das er Reitkleidung trug. »Sehen Sie, Inspector Walsh«, sagte er mit gesenkter Stimme, als er heran war, und zwar so, dass es nur er und Finch hören konnten, »Stephen war sehr krank. Er ist völlig überarbeitet und erschöpft. Er weiß nicht, was er sagt. Wir sollten ihn nach Hause bringen.« Er wandte sich an den Doktor. »Habe ich das richtig verstanden, dass Sie hier in der Stadt Urlaub machen, Sir?«

»Das stimmt«, nickte Finch. »Darf ich erfahren, wer Sie sind?«

»Mein Name ist Ted Hunter. Ich bin sein Schwager. Stephen war mehrere Wochen in Bristows Obhut.« Hunters Blick huschte kurz über die am Boden liegende Leiche, ehe er Finch wieder ansah. »Würden Sie mit uns ins Haus zurückkehren? Ich fürchte Stephen braucht Hilfe. Sie sehen doch, dass er unter Schock steht.«

Dr. Charles Finch nickte. »Ja, selbstverständlich komme ich mit«, stimmte er zu, blieb aber noch stehen. »Ihr Schwager hat eine seltsame Art, sich auszudrücken, Mr. Hunter. In der Regel wissen Täter, ob sie einen Mord begangen haben oder nicht.«

***

2

Dr. Finch begleitete Inspector Walsh mit der Kutsche in die Stadt zurück. Sie schwiegen. Nur von Zeit zu Zeit warf Walsh einen kurzen Blick auf den Doktor, dessen Gesicht von den Kutschenlampen nur spärlich beleuchtet wurde und wunderte sich über seine unauffällige, blasse Erscheinung. Es war Walshs Sache, Menschen zu studieren und nach Möglichkeit jeden zu kennen. Aber erst in dieser Nacht hatte er, als ein Arzt gebraucht wurde, erfahren, dass sich Finch seit bereits fast vier Wochen in der Stadt aufhielt.

»Wer ist dieser Stephen Drake?«, fragte Finch plötzlich, die Stille unterbrechend. Seine Stimme war farblos und ohne jede Besonderheit.

»Ein Junge von hier, der seinen Weg gemacht hat«, erwiderte Walsh. »Er ist der Präsident einer Motorenfabrik. Sie werden Sie vermutlich bei Ihrer Anreise mit der Bahn gesehen haben.« Hatte er erwartet darauf eine Bestätigung zu bekommen, so irrte er. »Ich schätze über die Hälfte seiner Arbeiter kommt aus Woodfield.«

»Und der Tote?«

Walsh runzelte die Stirn, richtete seinen Blick auf die Straße und trieb kurz die Pferde des Zweispänners an. »Dr. Bristow war ein feiner Kerl«, sagte er. »Auch einer, der es geschafft hat. Ich denke, er und Stephen Drake sind zwei Menschen, auf die die Leute hier in Woodfield sehr stolz sind. Bob Bristow hatte eine glänzende Karriere als Chirurg vor sich. Nach seiner Ausbildung in Deutschland, er war dort an der berühmten ›Charité‹ und hat mit Ernst von Bergmann gearbeitet, entschied er sich hierher zurückzukehren und eine Praxis zu eröffnen. Die Leute liebten ihn dafür. Er war ein ausgezeichneter Mediziner und das ganze ist ein großer Verlust für uns, Dr. Finch.«

»Ich würde mir einen solchen Epitaphen wünschen«, bemerkte Finch trocken und starrte auf die Straße. »Was haben sie nachts auf diesem Bergpfad gemacht, wenn es doch so gefährlich ist?«

»Dann haben Sie das von dem Conroy-Jungen noch gar nicht gehört, Doktor?«

»Was soll ich nicht gehört haben?«, fragte Finch zurück.

»Franky Conroy. Er ist sieben Jahre alt. Sein Vater betreibt die Fleischerei. Der Junge wird schon den ganzen Tag vermisst, und die ganze Stadt hat nach ihm gesucht. Die Familie Drake und Dr. Bristow waren deswegen auf dem Berg.«

»Sie meinen, der Junge könnte noch dort oben sein?«

»Nein. Er wurde vor einigen Stunden gefunden.« Walsh schüttelte den Kopf. »Das ist der ironische Teil der Angelegenheit. Er wurde lange vor Dr. Bristow gefunden. Der Junge hatte im Keller der Fleischerei gespielt und wurde von seinem Vater versehentlich eingeschlossen.«

»Wie sind die Leute dann darauf gekommen, das Kind in den Bergen zu suchen?«

»Weil jemand dachte, er habe den Knaben dort oben gesehen.«

Für eine Weile kehrte wieder Schweigen ein, bis Finch fragte: »Haben Sie eine Idee, warum dieser Stephen behauptet Dr. Bristow ermordet zu haben?«

Walsh lachte. »Keine. Ted hat recht, wenn er sagt, dass er das niemals tun würde. Stephen war krank und der Unfall hat ihn geschockt. Wahrscheinlich glaubt er, er hätte den Doc irgendwie retten können. Immerhin waren er und Bristow die engsten Freunde.«

Finch wandte sich dem Inspector zu. Gutmütig blickte er ihn aus seinen wässrig grauen Augen an. »Kriminalität ist ihre Sache, Inspector Walsh, nicht meine. Aber ich wage zu behaupten, dass die Fälle, in denen ein Mann einen völlig Fremden tötet, doch eher selten anzutreffen sind. Ganz abgesehen davon würde ich Freundschaft nicht gerade als Alibi einstufen.«

Walsh lachte. »Na, nun versuchen Sie mal nicht Gespenster zu sehen, Doktor.« Er verlangsamte den Lauf der Pferde und lenkte die Kutsche durch ein Eisentor über einen Kiesweg auf eine Villa zu, deren Fenster alle beleuchtet waren. »Die Drake-Villa«, bemerkte Walsh lächelnd. »Man wird Sie bitten sich um Stephen zu kümmern.«

*

Sie kletterten vom Bock und ließen die Pferde von einem Diener versorgen, ehe sie auf das Eingangsportal der Villa zuschritten. Walsh ging hinein, als wäre er ein alter Freund des Hauses. Kaum waren sie eingetreten, fanden sie sich in einer großen Halle wieder. Eine breite geschwungene Treppe mit poliertem Mahagonigeländer führte von hier in den zweiten Stock. An einem Ende der Halle befand sich ein Kamin. Der ganze Bereich erinnerte stark an eine Kunstgalerie. An den Wänden hingen mehr als ein Dutzend großer Ölgemälde: Landschaften und Portraits. Man musste kein Kenner sein, um zu sehen, dass es sich hier um wahre Kunstwerke handelte.

Finch sah sich die Bilder an. Er schien so an ihnen interessiert zu sein, dass er sich anstrengen musste, seine Aufmerksamkeit auf eine junge Frau zu richten, die rechts vom Eingang aus einem Zimmer kam. Es war jene Frau, die er bereits im Arm von Stephen Drake gesehen hatte. Das helle Licht der zahlreichen Glühbirnen zeigte ihre zarte und empfindliche Schönheit. Es war eindeutig, dass sie geweint hatte, was aber durchaus nicht den Eindruck von Schwäche hinterließ.

»Danke, dass Sie den Arzt mitgebracht haben, Inspector«, sagte sie und streckte Dr. Finch die Hand entgegen. »Ich bin Marcia Drake. Ich habe versucht Stephen zu überzeugen, ins Bett zu gehen, aber er lehnt das ab. Er ist ins Arbeitszimmer gegangen und besteht darauf, mit Inspector Walsh zu sprechen. Ich glaube aber nicht, dass er dazu in der Lage ist … wirklich nicht. Wenn Sie es ihm nur verständlich machen könnten, Doktor.«

»Was verständlich machen, Mrs. Drake?«

»Das er sich völlig unbegründet Vorwürfe macht.«

»Dergleichen tun wohl die meisten von uns«, erwiderte Finch. »Zeigen Sie mir den Weg?«

»Hier lang, bitte.«

»Ich würde gern mit Ted darüber reden, was passiert ist«, meldete sich Walsh. »Wo ist er?«

»Im Salon, Inspector. Vielleicht brauchen Sie ja auch einen Drink, so wie die anderen.«

*

Finch folgte Marcia Drake in das Arbeitszimmer, einem dunklen von Büchern gesäumten Raum, von dem zwei große Türen auf eine Terrasse führten.

Die Julinacht hatte eine warme Brise einziehen lassen. Kleine Rauchschwaden zogen von der Zigarette im Aschenbecher auf dem Schreibtisch durch den Raum.

Stephen Drake saß in einem schweren Ledersessel hinter dem Tisch. Er hatte die Ellbogen auf die Platte gestützt und sein Gesicht in den Händen vergraben. Als Marcia und Finch hereinkamen, schaute er auf. In seinen Augen spiegelte sich ein gequälter Ausdruck.

»Das ist Dr. Finch, Stephen«, lächelte Marcia aufmunternd.

»Hallo, Doktor«, begrüßte Stephen ihn. Seine Stimme war so müde, dass es unmöglich schien, dass er noch etwas anderes sagen würde, aber er tat es. »Ich brauche irgendwelche Pillen, ein Beruhigungsmittel, Doktor. Ich muss Walsh nur meine Geschichte erzählen und es hinter mich bringen.«

»Sie müssen ihm das ausreden, Dr. Finch. Man sieht doch, dass er dazu gar nicht die Kraft hat«, bat Marcia. »Er kann jetzt unmöglich mit dem Inspector sprechen.«

»Er wird es wohl müssen«, erwiderte Finch und trat aus dem Lichtkegel der Schreibtischlampe. »Mir wurde gesagt, dass Sie krank waren, Mr. Drake.«

»Ich … ich hatte einen Nervenzusammenbruch«, bestätigte Stephen. »Vermutlich war ich einfach nur überarbeitet. Mein Blutdruck war zu niedrig, der Puls zu hoch. Außerdem war ich ständig gereizt und kam nicht in den Schlaf. Wir produzieren verschiedene dampfgetriebene Motoren für diverse Zwecke. Ich war fünfzehn bis zwanzig Stunden in der Fabrik … Es war mehr als nervenaufreibend alles unter Kontrolle zu behalten, und ich habe nicht auf meinen Körper gehört.«

»Und die Behandlung?«, hakte Finch nach.

»Bestand aus Ruhe, viel Ruhe … und Schlafpulver, einer besonderen Ernährung, viel Leber und daneben Injektionen von Eisen. Aber das ist doch unwichtig, Doktor. Völlig unwichtig, nicht wahr?«

»Wirklich?«

»Ja, Doktor«, nickte Stephen heftig. Er blickte ihn voller Verzweiflung an. »Wissen sie, was heute Abend geschehen ist, passiert mir schon seit vielen Tagen. Ich war vor heute schon dreimal kurz davor einen Mord zu begehen. Ich glaube, ich habe die ganze Zeit über gewusst, dass es irgendwann dazu kommen muss und ich dem Verlangen nicht mehr widerstehen kann. Da ist was in mir, hat sich festgesetzt, Doktor. Ich muss wahnsinnig geworden sein.« Mit zittrigen Fingern drückte er die Zigarette im Kristallaschenbecher aus und zündete sich eine frische an. »Ich möchte nur noch meine Geschichte erzählen und an einen Ort gebracht werden, an dem ich keinen Schaden mehr anrichten kann.«

»Aber Stephen!«, begehrte Marcia auf und weinte. »So darfst du nicht reden!«

»Sie haben den Drang also bereits drei Mal gespürt, Dr. Bristow zu töten«, hielt Finch fest und seine Stimme klang ungerührt, »und haben dann dem vierten nachgegeben?«

Stephen schüttelte den Kopf. »Das ist ja das verrückte, das was ich nicht begreifen kann, Doktor. Bristow war meine einzige Hoffnung. Er war meine Zuflucht. Die anderen Male, als ich das Bedürfnis verspürte, war es nicht Bob, den ich töten wollte.« Er nahm einen Zug von seiner Zigarette, holte tief Luft und blickte seine Frau an. »Die anderen Male warst du es, Schatz. Du warst diejenige, die ich ermorden wollte.«

Für einen Moment starrte Marcia Drake ihren Mann mit weit aufgerissen und verängstigen Augen an und presste den rechten Handrücken fest auf ihren Mund. Dann brach sich die Spannung. »Das ist ein Witz, Stephen. Ein schrecklich, schlechter Witz!«

Ihr Mann antwortete nicht. Wieder hielt er sein Gesicht mit den Händen bedeckt.

Ein Windstoß erfasste ein Blatt Papier und ließ es vom Schreibtisch segeln.

Finch beobachtete es, so als ob er daran interessiert sei, wo es auf dem Teppich landen würde. »Vielleicht ist das kein Witz«, bemerkte er murmelnd, als redete er mit sich selbst.

***

3

Als Inspector Walsh den Salon betrat, fand er drei Personen vor, die er alle gut kannte.

Ted Hunter mischte Getränke in einer kleinen fahrbaren Bar, während Harriet Moore, Teds erstgeborene Tante, in einem großen Ohrensessel am Kamin saß.

Sie war eine dunkelhaarige, drahtige Frau Anfang ihrer Fünfziger. Ihr Rock, der weiße, gestärkte Blusenkragen und die kurze, militärisch geschnittene Jacke, erweckten den Eindruck intelligenter Strenge. In ihren Fingern klickten Stricknadeln, wie in einem automatischen Prozess, der offensichtlich keinerlei Konzentration erforderte. Sie blickte zu Walsh auf, der ein Notizbuch aus der Tasche gezogen hatte, als er ins Zimmer kam. »Müssen Sie sich unbedingt wie ein Polizist verhalten«, fragte sie herrisch.

»Entschuldigung«, erwiderte Walsh gelassen. »Aber Sie müssen verstehen, dass ich einen Bericht verfassen muss.«

»Gib dem Mann einen Drink«, wies Harriet Ted an.

Die dritte Person im Salon war Michael Cleghorn, ein riesiger, zotteliger bernhardinergleicher Mann, dessen Grundstück sich an das der Drakes anschloss. Er war ein Künstler, wenngleich seine Hände groß und unbeholfen wirkten. Aber er verstand es mit einem Pinsel zu zaubern. Auch er war in Woodfield aufgewachsen. Er, Bob Bristow, Ted, Stephen und Marcia waren schon als Kinder immer zusammen gewesen.

Walsh, der selbst ein Junge der Stadt war und sich in anderen sozialen Sphären bewegte, hatte sie damals alle für ziemlich hochnäsig gehalten. Doch insgeheim hatte er sie bewundert und heute mochte er sie sogar, wenngleich es bei einem förmlichen Sie geblieben war. »Das ist ein verdammter Mist, der da passiert ist«, brummte er.

Cleghorn hatte sich auf einem Ledersessel ausgestreckt und die Beine über eine Lehne gehoben. Zwischen seinen Zähnen steckte eine robuste, kurvige, langstielige Pfeife. »Ich wünschte, es hätte mich erwischt«, brummte er. »Bob wurde in dieser Welt gebraucht.«

Ted kam mit einem Drink für Walsh von der Bar herüber. »Cleghorn ist immer so edel«, bemerkte er lächelnd. »Natürlich wünscht sich keiner, dass es ihn erwischt hätte. Aber der Gedanke hat durchaus seinen Reiz.«

Walsh war an den spöttischen Ton in seiner Stimme gewöhnt. »Ich muss wissen, was passiert ist.«

Ted zuckte die Achseln und nahm sich eine Zigarette aus der Schachtel neben dem Aschenbecher vom Tisch. »Das dürfte wohl recht schwer werden, Jim. Immerhin war es stockdunkel. Wir waren alle in einer Gruppe zusammen. Ich denke, Bob trat beiseite, um Marcia oder Harriet auf dem Weg an ihm vorbeizulassen. Er wusste vermutlich gar nicht, wie nahe er dabei an die Kante gekommen ist und verlor den Halt.«

»Bei Gott, ich werde den Klang seiner Stimme nie vergessen als er fiel«, seufzte Cleghorn. »Er klang wie ein schreiendes Kind.«

»Hör' auf damit, Mike!«, fuhr Harriet ihn an. »Was macht das für einen Sinn, es immer und immer wieder durchleben zu müssen?«

»Verdammt, Harriet!«, reagierte Cleghorn aufgebracht. »Ich habe diesen Kerl einfach sehr geliebt!«

»Das haben wir ja wohl alle, nicht wahr?«, setzte Harriet nach. »Aber ihn geliebt zu haben, wird wohl kaum helfen!«

»Wollen Sie mir nicht erzählen, wie das mit dem Aufstieg auf den Berg begonnen hat, Ted? Das Ganze von Anfang an?«, fragte Walsh.

»Da gibt es gar nicht viel zu erzählen«, gab Ted zurück. Er hatte sich auf der Kante des soliden Tisches niedergelassen, und seine Reitstiefel pendelten rhythmisch vor und zurück. »Ich war den ganzen Tag mit Joe Davis unterwegs. Als ich hierher zurückkam, fand ich Marcia, Stephen, Harriet, Cleghorn und Bob draußen auf der Terrasse. Sie alle sprachen über das vermisste Conroy-Kind.«

»Marcia war bei einem Treffen der Frauengruppe in der Kirche und hatte davon gehört«, warf Harriet ein.