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Bei Ausgrabungsarbeiten in einer Burgruine legt eine Gruppe Archäologiestudenten ein gespenstisches Wandgemälde frei. Ohne es zu wissen, haben sie die Büchse der Pandora geöffnet. Unaufhaltsam nimmt das Unheil seinen Lauf, und schon bald kommt es zu einem ersten bestialischen Mord. Chief Inspector Blake wird aus seinem wohlverdienten Urlaub zurückbeordert. Zusammen mit Sergeant McGinnis soll er sich des Falles annehmen. Schnell stellen die beiden Kriminalisten fest, wieder einmal in etwas hineingeraten zu sein, was der normale Menschenverstand zu begreifen nicht im Stande ist. Als auch noch Blakes Partner ausfällt und ins Krankenhaus eingeliefert wird, sieht sich der Chief Inspector der Lösung des Falles allein gegenüber. Zunehmend gerät er in tödliche Gefahr ...
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Seitenzahl: 228
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Die rote Tinktur
Die rote Tinktur
Mystery-Thriller
von
Anna-Lena &Thomas Riedel
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar
2. Auflage (überarbeitet)
Covergestaltung:
© 2019 Susann Smith & Thomas Riedel
Coverfoto:
© 2019 depositphoto.com
ImpressumCopyright: © 2019 Anna-Lena & Thomas RiedelDruck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.deISBN siehe letzte Seite des Buchblocks
»Es leuchtet! seht! – Nun läßt sich wirklich hoffen,
Daß, wenn wir aus viel hundert Stoffen
Durch Mischung – denn auf Mischung kommt es an –
Den Menschenstoff gemächlich componiren,
In einen Kolben verlutiren
Und ihn gehörig cohobiren,
So ist das Werk im Stillen abgethan.«
Johann Wolfgang. v. Goethe,
Faust II, 2.Akt, Laboratorium, 1832
Kapitel 1
D
as Gewölbe in dem sich das Laboratorium befand musste tief unter der Erde oder einem Felsen liegen, denn die grob behauenen Natursteinwände zeigten eine Feuchtigkeit, wie man sie häufig in Höhlen fand. Die zahlreichen Kerzen aus Hammeltalg brannten nur schlecht und dazu unregelmäßig. Hinzu kam eine Vielzahl an Schalenlampen, die mit in Öl getränkten Holzspänen versehen waren. In diesem Licht glitzerten die Wassertropfen wie kaltes, viele Jahrhunderte altes Eis.
Auch die Schweißtropfen im kalkigen Gesicht des großgewachsenen, breitschultrigen alten Mannes mit den langen schlohweißen Haaren funkelten, als er sich über den gläsernen Sarkophag beugte. Der ungewöhnliche Sarg war bis zum Rand mit einer rötlichen Flüssigkeit gefüllt. Knapp unter der Oberfläche waren die Umrisse eines menschlichen Kopfes zu erkennen; tiefe Augenhöhlen und ein weit aufklaffender Mund, angefüllt mit der roten Substanz. Trotz der Kühle des Raumes war der Schädel langsam in Verwesung übergangen. Das Gesicht hatte begonnen sich zu verfärben und war von Tag zu Tag mehr aufgedunsen. Noch immer hing der süßliche Geruch der Vergänglichkeit im Gewölbe. Erst vor einer Stunde war er damit fertig geworden die letzten Drähte am kahlrasierten Kopf anzubringen und ihn zurück in die Flüssigkeit zu legen. Ein feines silbernes Röhrchen hatte er mit ruhiger Hand, präzise in die Halsschlagader eingebracht und anschließend eine kupferfarbene Metallklemme auf die Zungenspitze gesteckt.
Zufrieden über sein Werk blickte der alte Mann auf, als ein großer Kristall in phosphoreszierendem Grün zu flackern begann. Der sonst durchsichtige Bergkristall zuckte im rätselhaften Rhythmus eines Bewusstseins, das nicht von dieser Welt zu sein schien.
Der Weißhaarige atmete schwer, als er von der Flüssigkeit, die aus Menschenblut, Moospflanzen, zermahlenen Knochen, zersetztem menschlichen Fleisch und reichlich weiteren alchimistischen Substanzen bestand, mit einer kleinen kuppelförmigen, bauchigen Flasche mit langem Hals eine Probe entnahm. Mit schlurfenden Schritten brachte er die Phiole, die für ihn den Kosmos verkörperte, an das andere Ende des Gewölbes und stellte sie auf einen groben hölzernen Tisch, auf dem sich eine Menge Laborgegenstände befanden.
Er machte sich an einer Destillieranlage zu schaffen hantierte mit einem Keramiktopf und gab den Inhalt der kleinen Flasche hinein. Jetzt brachte er an dem Topf ein handbreites Rohr an, an dessen einem Ende eine Halbkugel mit drei Schnäbeln war und unter die er Kupferschalen stellte. Nun entzündete er eine Flamme unter der Keramik und studierte aufmerksam den Vorgang der Destillation. Mit einer Feder schrieb er seine Beobachtung auf ein Pergament nieder. Von einem Regal nahm er sich ein altes Buch, blätterte darin und verglich das Ergebnis mit seinen Notizen. Nach einer Weile ging er zurück zum gläsernen Sarg. Wie unter einem geheimnisvollen Bann stehend wartete er auf eine Reaktion.
Jeden Augenblick würde die Sonne ihren höchsten Stand erreicht haben, und die Energie, die ihm die rote Sonne lieferte würde den abgetrennten Kopf zum Leben erwecken. Dieses Mal würde es ihm gelingen. Es musste einfach gelingen! Er war alt und ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Immer wieder fiel sein Blick auf die zahlreich installierten Spiegel. Sie würden für ihn die mächtigen Strahlen der Sonne lenken.
Und dann geschah es!
Rötlich brach sich das Sonnenlicht in den speziell für diesen Zweck geschliffenen Gläsern. Unermessliche Energie floss über die Drähte in den Schädel. Dann zuckten, fast unmerklich die Lippen und doch warf die Flüssigkeit leichte Wellen. Das Zeichen war unübersehbar. Dazu kam das Flackern des Kristalls, von dem aus feine goldene Drähte zu zahlreichen Nervensträngen am Hals des Kopfes liefen. Das Flackern hatte an Intensität zugenommen.
Wieder starrte der alte Mann in die rötliche Lauge hinein, in der sich die Umrisse eines Gesichtes abzeichneten. Er stützte sich auf dem Rand des Behälters in dem sein Versuchsobjekt lag. Bewegten sich endlich dessen Augen? Nur schwach konnte er die papierdünnen Lider erkennen, unter denen sich kugelförmig die Pupillen abhoben. Zuckten vielleicht die Lider? Die Lippen hatten sich doch schon bewegt.
Und dann war es soweit!
Plötzlich schlug der Kopf die Augen auf.
Er starrte ihn an!
Der alte Mann lächelte zufrieden. Er wandte sich wieder der Destillation zu und vertiefte sich in seine Aufzeichnungen. Nach endlosen Jahren und vielen hundert Versuchsreihen war es ihm endlich gelungen. Er hatte den wichtigsten Schritt geschafft. Jetzt war der Rest ein Kinderspiel.
Kapitel 2
I
m dichten Blattwerk der uralten Stieleichen und Rotbuchen brachen sich die warmen Strahlen der herbstlichen Mittagssonne. Einige Blätter zeigten sich noch in satten Grüntönen, andere leuchtete bereits gelb, orange und rot. Jetzt wo die Tage im Herbst kürzer und kälter wurden, zeigte sich der Wald in einem imposanten bunten Kleid. Einem knorrigen Gürtel gleich standen die riesigen Bäume um den Hügel, auf dessen Hochebene, die dunkelgrau wirkende Ruine der festungsartigen Anlage von ›Dùn Gòrdan-Castle‹ stand. Man musste schon sehr genau hinsehen, um durch das üppige Geäst Teile der geborstenen Umfassungsmauer und ein Stück des viereckigen Westturmes, einer gelungenen Kombination aus Wohnturm und Bergfried, zu erkennen. Dahinter erhoben sich die immer noch stattlichen Reste des Torhauses, der Kapelle und des früheren Rittersaals.
Über zwei Jahrhunderte hatte das alte Gemäuer, nachdem im Jahr 1805 auch der südliche Turm in sich zusammengestürzt war, im sprichwörtlichen Dornröschenschlaf gelegen, dessen Ruhe nur noch selten von Pilzsammlern, gelegentlichen Ausflüglern oder jungen Pärchen gestört wurde.
Doch seit einigen Tagen gab es wieder Leben in der schottischen Burgruine, die sich an der Grenze zwischen dem Verwaltungsbezirk Moray und dem der Highlands, in der malerischen Landschaft am See des Findhorn-Flusses, erhob. Ein Team von sechs Archäologiestudenten der Universität Edinburgh nahm in der Ruine Ausgrabungen vor. Für die jungen Leute war es ihr erster ernstzunehmender wissenschaftlicher Auftrag und sie waren dementsprechend mit Feuereifer an ihre Arbeit gegangen. Sie hielten es nicht für ausgeschlossen, in den noch vorhandenen Fragmenten des ›Dùn Gòrdan-Castle‹ eine interessante Entdeckung zu machen.
Obwohl die Wurzeln der Burg im 11. und 12. Jahrhundert zu suchen waren, stammte die Mehrheit der noch vorhandenen Bausubstanz aus dem 13. bis 16. Jahrhundert. Eine erstmalige urkundliche Erwähnung fand die gewaltige Festungsanlage in historischen Dokumenten im Jahr 1237. Weitere Aufzeichnungen berichteten von der herausragenden Rolle des Kastells im Kampf gegen die Engländer. Den Pergamenten nach, soll der damalige Burgherr an die viertausend besiegte englische Soldaten bei lebendigem Leibe gepfählt haben, um sie anschließend rund um den Hügel zu seiner Burg zur Abschreckung aufzustellen.
Von den benachbarten Burgherren wurde er als Tyrann beschrieben, dem das Foltern und Töten seiner Feinde ein sadistisches Vergnügen bereitet haben soll. Folgte man diesen Quellen, so kam man auf die erschreckende Zahl von 20.000 bis 30.000 Opfer, wobei jene, die durch die Zerstörung und das Niederbrennen von ganzen Dörfern und anderer Festungen, nicht mitgerechnet waren. Besonders verstörend waren die zum Teil sehr detaillierten Darstellungen seiner Gräueltaten, und die gab es zuhauf. Da fanden sich Pfählungen, Folterungen, Feuertode, Verstümmelungen, Ertränkungen, Enthäutungen, Röstungen und sogar das Kochen von Opfern. Auch soll er Menschen gezwungen haben, das Fleisch ihrer Freunde und Angehörigen zu essen, oder ihnen die Kopfbedeckung an den Kopf zu nageln. Seine Opfer waren Männer und Frauen allen Alters, einschließlich Kinder und Säuglinge, Religionen und sozialer Schichten.
Eine Erzählung berichtete: »Er verursachte mehr Schmerz und Leid als sich selbst die blutrünstigsten Peiniger der Christenheit wie Herodes, Nero, Dioclethan und alle anderen Heiden zusammen vorstellen konnten.«
In einer Aufzeichnung fand sich der Hinweis, dass er oftmals die Nasen gefangener Soldaten abschneiden ließ, die er dann an den Hof des englischen Königs Eduard I. sandte, um damit zu prahlen, wie viele Feinde er getötet hatte.
Folgte man den Aufzeichnungen, so war das Pfählen seine bevorzugte Art der Folter und Hinrichtung. Dabei ging er unterschiedlich vor, je nachdem, ob er einen schnellen oder langsamen Tod seines Opfers erreichen wollte. Eine der Methoden, von denen berichtet wurde, war, je ein Pferd an die Beine des Opfers zu spannen und einen angespitzten Pfahl schrittweise durch den Anus oder die Vagina in dessen Körper zu treiben, bis er wieder aus dem Körper hervortrat. Doch die wesentlich grausamere Methode, über die einige Chronisten schrieben, war, das Ende des Pfahls nicht spitz zu halten, zu ölen und dann aufzustellen. Während die Opfer sich nun durch ihr eigenes Körpergewicht immer mehr aufspießten, wurde durch den nicht spitzen und geölten Pfahl gleichzeitig verhindert, dass sie zu schnell durch Schock oder die Verletzung lebenswichtiger Organe starben. Dieser Tod am Pfahl war langsam und qualvoll und sein Eintreten dauerte manchmal Stunden oder Tage. Andere Zeitzeugen gaben Kunde darüber, dass die Opfer auch durch den Unterleib oder die Brust gepfählt wurden, was einen relativ schnellen Tod zur Folge hatte. Kinder sollen manchmal gepfählt und dabei durch die Brust ihrer Mutter gedrückt worden sein. In anderen Fällen wurden die Opfer auf dem Kopf stehend hingerichtet. Zur Abschreckung ließ er die Leichen oft über Monate an den Pfählen verwesen.
Im Team sah man hier eine gute Möglichkeit sich als zukünftige Archäologen einen gewissen Namen zu machen. Nicht zuletzt war sie auch von dem unvorstellbar Bösen fasziniert. Gerade ruhte das Arbeitsgerät und die Studenten genossen ihre selbst festgelegte Mittagspause.
Alexander Lawson hatte es sich auf dem Rücken liegend im dichten, verfilzten Gras des ehemaligen Burggrabens bequem gemacht und ließ sich von den wärmenden Sonnenstrahlen verwöhnen. Von irgendwoher aus dem umliegenden Gehölz, erklang gepresst zwitschernd mit schrillen krächzenden Tönen, der wenig melodische Gesang einer Wacholderdrossel. Dazwischen konnte man die gedämpften Stimmen der anderen Studenten hören. Aber Lawson achtete nicht wirklich darauf. Gedankenverloren starrte er in den hellblauen, strahlenden Himmel und nahm von Zeit zu Zeit einen Zug von seiner Zigarette.
Sein Universitätsprofessor hatte ihm vor einigen Wochen die Leitung des ganzen Projektes angeboten und er war darauf eingegangen. Warum auch nicht, hatte er gedacht, immerhin war das für ihn eine einmalige Chance. Er wäre ein Narr gewesen, das Angebot abzulehnen.
Noch deutlich erinnerte er sich an das Gespräch, welches er einen Tag vor der Abreise mit Professor Alverston in dessen Büro in der Fakultät geführt hatte. Längere Zeit hatte dieser gebannt auf die Kopie eines vergilbten Pergaments gestarrt.
»Es gibt ein aufregendes Geheimnis in ›Dùn Gòrdan-Castle‹, Lawson«, hatte Alverston gesagt, als er sein Studium beendet hatte und zu ihm aufsah. »Eines, über das ich Ihnen zu diesem Zeitpunkt aber noch nichts mitteilen werde.«
Überrascht hatte er seinen Lehrer angestarrt.
»Gibt es dafür einen bestimmten Grund, Professor Alverston?«, hatte er von ihm wissen wollen.
»Ich habe Sie für die Stelle eines Assistenten vorgesehen, wie ich Ihnen schon vor einiger Zeit sagte. Und ich möchte dies als eine letzte, besondere Prüfung verstanden wissen«, hatte Professor Alverston ihm lächelnd zur Antwort gegeben. »Die Jugend soll eine Chance bekommen sich zu bewähren. Ich weiß etwas, Sie wissen nichts. Aber ein guter Archäologe sollte dennoch in der Lage sein etwas zu finden, fündig zu werden.« Er hatte seine Brille abgenommen und ihm einen sehr nachdenklichen Blick zugeworfen. Dann hatte er nach einer kurzen Pause hinzugefügt: »Ich überlege noch, ob ich Ihnen einen kleinen Hinweis gebe soll.«
»Wenn Sie den Tipp schon andeuten, …?«, hatte er frech gegrinst.
»Dann will ich mal kein Spielverderber sein«, hatte der Professor schmunzelnd erwidert. »Sie sollten sich den Rittersaal genauestens ansehen. Und wenn ich genauestens sage, dann meine ich das auch so.« Er hatte ihm keine Chance gegeben weiter nachzuhaken und das Gespräch beendet. »Und jetzt habe ich zu tun. Wenn Sie mich entschuldigen wollen?«
Er hatte sich von seinem Professor verabschiedet und lange über die vagen Andeutungen seines Lehrers gegrübelt. Doch so sehr er auch sich anstrengte, er konnte sich absolut keinen Reim auf die vage Andeutung Alverstons machen. Und das bezeichnete man nun als ernsthafte Wissenschaft, dachte er, wenn jeder sorgfältig seine Geheimnisse hütete.
Alexander Lawson hatte sich aufgesetzt. Unzufrieden darüber nicht mehr erfahren zu haben, warf er die fast aufgerauchte Zigarette vor sich ins hohe Gras und zertrat sie mit dem Absatz seines Turnschuhs. Eine aufgeregte, schrille Stimme ließ ihn aufhorchen. Kreischend flatterten ein paar Vögel auf.
»Hey! Wo steckst du, Alex?«, rief eine Stimme aus der Studiengruppe.
»Lauren hat etwas entdeckt!«, meldete sich ein anderes männliches Organ.
Mit einem schnellen Satz sprang Lawson auf die Füße. Er lief ein Stück den ausgetrockneten Burggraben entlang und kletterte den Abhang zur Ruine empor. Nach kaum mehr als einer Minute kam er keuchend oben an. Keine fünfundzwanzig Yards entfernt sah er die kleine Gruppe seiner Mitstudenten.
Lauren Pritchard, seine attraktive Studienkollegin mit einer pinkfarbenen Kurzhaarfrisur, stand mit Shane Miller, Kyle Maxwell, Celia Pike und Finn Donovan vor der noch erstaunlich gut erhaltenen südlichen Innenwand des alten Rittersaals. Aufgeregt winkte sie ihn mit erhobenen Armen heran.
Hastig überquerte Lawson den Burghof. Durch eine riesige, unregelmäßig geformte Mauerlücke betrat er den Saal, in den von oben das helle Licht des Tages fiel.
»Was gibt es denn so Spannendes?«, rief er der Gruppe schon aus einiger Entfernung zu. »Habt ihr einen geheimnisvollen Goldschatz entdeckt? Die auf ewig verwunschenen Gebeine eines mittelalterlichen Ritters, oder vielleicht … wäre noch viel besser ... gar den Zauberstab des großen Merlins?«
»Ach, du alter Spinner!«, entgegnete Kyle Maxwell knapp, aber durchaus freundschaftlich und strich sich über seinen dunkelblonden Schnauzbart. »Du erwartest hier wohl den kompletten Tisch von König Artus. Oder besser noch, ein Portal um direkt nach Avalon zu reisen. Damit können wir leider nicht dienen.«
»Soweit ich weiß, brauchte es dazu kein Portal«, schmunzelte Lawson, »sondern eine Barke. Aber genial wär’s schon. Zeitlich würde es passen, nur räumlich? Immerhin soll sich das Grab Arthurs in Glastonbury befinden. Edward I. hat es öffnen lassen und die gefundenen Knochen im Hochaltar der dortigen Abtei beisetzen lassen.«
Maxwell lachte, wurde aber gleich wieder ernst.
»Eine Barke haben wir auch nicht gefunden und auch keine Knochen vom guten Arthur, aber Lauren hat mit Celia an der Südwand herumgekratzt und dabei Farbe freigelegt. Wir haben uns das zusammen angesehen, und so, wie wir das einschätzen, könnte es durchaus sein, dass sich unter dem ganzen Kalk ein Fresko verbirgt.«
Jetzt mischte sich auch Finn Donovan ein, der sonst immer recht schweigsam war.
»Vielleicht hat das, was die beiden gefunden haben, etwas mit der seltsamen Andeutung von Professor Alverston zu tun?«, meinte er. »Du hast uns doch erzählt, dass er ...«
Lawson hörte schon gar nicht mehr zu. Er war direkt auf Lauren Pritchard zugegangen, die auf ein handteller-großes Wandstück deutete. Neben ihr stehend betrachtete er aufmerksam die von ihr bezeichnete Stelle.
»Schau mal hier, Alex«, sagte die hübsche Zweiundzwanzigjährige. »Eigentlich habe ich mit Celia nur etwas an der Kalkschicht herumgekratzt, weil wir prüfen wollten, wie alt der Belag sein könnte. Naja, dabei ist plötzlich ein Stück herausgefallen. Und Celia ist sofort die ungewöhnliche Farbschicht aufgefallen.«
Das freigelegte Mauerstück leuchtete in einem sanften Gelbton.
»Scheint tatsächlich so, als seien das die Reste von einem in wässriger Lösung angeriebenen Pigments ... typisches Material und bekannte Technik für ein Fresko«, meinte Alexander Lawson nach eingehender Prüfung fachmännisch. »Könnte tatsächlich sein, dass ihr beiden eine wirklich interessante Entdeckung gemacht habt«, setzte er dann noch hinzu und klopfte den beiden Frauen anerkennend auf die Schultern. »Aber klarer sehen, werden wir erst, wenn wir ein größeres Stück der Wand freigelegt haben.« Er wandte sich den anderen zu, die hinter ihn getreten waren. »Was meint ihr, wollen wir gleich damit anfangen?«
Shane Miller grinste ihn an.
»Aber klar doch!«, meinte er. »Auf die faule Haut können wir uns später immer noch legen.«
»Dazu fällt mir ein Witz ein«, meldete sich Donovan, der immer für einen Spaß gut war. »Ein Mann redet mit seinem Kumpel, fragt der: Was machst du heute noch? Sagt der andere: Ich werde nach Hause gehen, und mich auf die Faule legen ... aber die ist bestimmt wieder shoppen!«
»Echt witzig, Finn!«, empörte sich Celia Pike und stieß ihm ihren Ellenbogen in die Seite.
»Könnt ihr beiden mit dem Mist einfach mal aufhören?«, maulte Lawson.
»Die beiden necken sich doch nur!«, schmunzelte Miller. »Und ihr wisst doch, was das bedeutet, oder?«
Celia Pike und Finn Donovan warfen ihm einen vernichtenden Blick zu.
»Wir sollten zunächst Stichproben machen. Jeder von euch legt etwa ein Square Yard frei.« Damit wich Miller direkt einer weiteren Auseinandersetzung aus. »Aber seid vorsichtig, damit wir nichts beschädigen.«
»Shane hat Recht!« Lawson besah sich die Wand noch einmal eingehend und kam zu dem Schluss: »Es sieht so aus als ließe sich der Kalk relativ leicht ablösen.«
Er suchte sich einen Spachtel aus einer der zahlreich herumstehenden Werkzeugkisten und machte sich sofort an die Arbeit. Seine Mitstudenten folgten seinem Beispiel. Auf allen Gesichtern konnte man jetzt die neugierige Spannung ablesen, die sie vorantrieb. Schon in kurzer Zeit gelang es Lawson eine ziemlich große Fläche freizulegen. Plötzlich stieß er auf etwas. Neugierig musterte die Stelle. Sie schimmerte bläulich.
»Hier ist eine andere Farbschicht. Diesmal ist es blau«, informierte er sofort seine Kommilitonen.
»Bei mir auch. Ich habe hier eine Spur von Ocker«, meldete Finn Donovan. »Scheint, als haben Lauren und Celia einen echten Schatz gefunden.«
Die jungen Frauen ließen sich durch das Lob nicht bei ihrer Arbeit stören. In dem Abschnitt, welchen sie freigelegt hatten, kamen verschiedene Farben zum Vorschein. Zuerst war es ein Rotton, dann kam etwas Blaues ans Tageslicht.
Eifrig schabten und kratzten sie alle weiter. Gespannt verfolgten sie, wie auf der Wand vor ihnen nach und nach Konturen entstanden. Umrisse zeichneten sich ab. Vor einem rötlichen Hintergrund erschien ein blassblaues Gebilde.
Die Gruppe sprach kein Wort. Intensiv waren die jungen Leute in ihre Arbeit versunken. Nur das ständige, laute Scharren ihrer Spachtel war zu hören.
Plötzlich ertönte ein markerschütternder, grauenvoller Schrei, der wie ein hämisches, geringschätziges Auslachen als Echo aus dem Wald zurückhallte. Lauren Pritchard hatte ihn ausgestoßen. Am ganzen Leib zitternd stand sie vor der Mauer. Sie hatte ihren Spachtel fallen lassen und bedeckte mit beiden Händen ihr Gesicht.
Innerhalb weniger Sekunden hatte sich eine unheimliche Atmosphäre in dem alten Saal ausgebreitet. Und jetzt schien es sogar noch so, als wolle auch ›Mutter Natur‹ ihren Teil dazu beitragen. Schlagartig verschwand die Sonne hinter dunklen Wolken. Augenblicklich lag der Burghof im Schatten. Dann wühlte ein unangemeldeter heftiger Windstoß in den Wipfeln der Bäume unten im Graben.
Lawson und seine drei männlichen Studienkollegen standen mit weit aufgerissenen Augen neben Lauren Pritchard und Celia Pike. Sie war ihrer Freundin zu Hilfe gesprungen und stützte sie. Lauren Pritchards Gesicht hatte sämtliche Farbe verloren und in ihren Augen stand die nackte Panik.
Alle starrten völlig fassungslos auf die Wandmalerei, die sich jetzt in all ihren prachtvollen Farben auf der Wand des Rittersaales zeigte.
Sie hatten einen Totenschädel freigelegt, dessen Gesichtszüge in einem satanischen Grinsen erstarrt waren. Und obgleich das eigentlich gar nicht möglich sein konnte, trug dieser Schädel tatsächlich noch die Gesichtszüge eines Mannes. Der unbekannte Freskenmaler, der dieses Bild geschaffen hatte und dessen Gebeine längst verblichen waren, musste ein wahrer Meister seiner Zunft gewesen sein, denn er hatte es ausgezeichnet verstanden, das unheimliche Grauen eines halbverwesten Kopfes wiederzugeben. Den sechs jungen Archäologiestudenten grinste der leibhaftige Tod von der Wand entgegen.
Celia Pikes Finger umklammerten Lauren Pritchards Arm. Immer noch musste sie ihre leichenblass gewordene Freundin festhalten. Gebannt starrte sie auf das Bild. Dann brach mit einem Mal wieder die Sonne durch, und die Ruine war wie zuvor erfüllt von hellem Licht. Das Grauen der letzten Minuten verflüchtigte sich. Jetzt war der Schädel nichts mehr weiter als die geniale Malerei eines außergewöhnlichen Künstlers.
Sie atmete tief durch.
»Alles ist gut, Lauren«, sagte sie leise, nachdem sie sich selbst von ihrem Schrecken erholt hatte. Beruhigend streichelte sie ihr die Schultern. »Wir haben uns alle erschrocken, als wir plötzlich diese Malerei sahen. Aber es ist doch nur ein Gemälde, nichts, wovor du dich ängstigen müsstest.«
Ganz behutsam redete sie auf ihre Freundin ein. Auch die Gesichter der anderen hatten sich wieder etwas entspannt. Endlich fand auch Lauren Pritchard ihre Fassung wieder und fuhr sich wie erwachend durch ihre pinkfarbenen Haare.
»Ihr werdet mir das kaum glauben, aber es war mir, als würden mich die toten Augen dieses Schädels direkt anstarrten«, erklärte sie stockend. Immer noch war die Angst in ihrer Stimme deutlich zu vorhanden. »Es ist ja nicht gerade so, als hätte ich zum ersten Mal in meinem Leben ein schauerliches Bild gesehen, aber so eines, wie dieses, noch nie«, fuhr sie fort. »Wahrscheinlich war es nur die Überraschung, die mich so mitgenommen hat. Ausgerechnet einen halbverwesten Totenschädel, noch dazu einen, der so realistisch ist ... damit habe ich nun gar nicht gerechnet. Aber eines ist merkwürdig, obwohl ich das alles nachvollziehen kann, kommt mir diese Ruine jetzt äußerst unheimlich vor. Ich habe irgendwie, dass unerklärliche Gefühl, dass hier nicht alles ganz geheuer ist.«
Lächelnd sah sie Lawson an.
»Ach, komm schon, Lauren«, meinte er und hielt ihr seine Packung Zigaretten hin. »Hier, nimm dir mal eine. Und dann komm erst mal wieder auf den Boden der Tatsachen zurück! Von wegen, es ist hier nicht geheuer! Ich sollte dir eine Extraarbeit zuweisen, dann wird diese Spinnerei schnell wieder vergehen. Und die Freude über deine Entdeckung wird ein Übriges dazu tun«, setzte er hinzu.
Lauren Pritchard zündete sich die angebotene Zigarette an und nahm einige hastige Züge.
»Du wirst sicher recht haben, Alex«, sagte sie.
Ihre Stimme klang jetzt zumindest nach außen hin wieder sehr viel ruhiger. Aber ihre Augen sagten etwas völlig anderes. In ihnen flackerte immer noch die Angst.
Kyle Maxwell tippte seiner Teamleitung auf die Schulter.
»Du, Alex, ich habe weiter drüben eine ähnliche Kontur freigelegt. Aber ich bin noch nicht ganz so weit wie Lauren und Celia«, mischte er sich ein. »Ich halte es für durchaus möglich, dass sich dort noch ein weiterer Totenschädel befindet.«
»Dann wollen wir keine Zeit mehr verlieren«, wies Lawson seine Mitstudenten an. »Lasst uns gleich wieder an die Arbeit gehen ...«
»... denn es stehen uns große Entdeckungen bevor«, warf Finn ergänzend ein.
»Falsch, Finn!«, bemerkte Maxwell grinsend. »Frei nach Louis Pasteur muss es heißen: Gehen wir wieder an die Arbeit, denn eine wissenschaftliche Entdeckung ist die Arbeit von nur einer Person!«
Donovan nickte seinem Studienkollegen schmunzelnd zu, und Lawson musste unwillkürlich an die Worte Professor Alverstons denken.
»Damit könntest du recht haben, Finn«, murmelte er und überging Kyle Maxwells Kommentar. »Aber nun los! Wenn wir fleißig sind, dann können wir das Fresko sicher in zwei bis drei Tagen komplett freigelegt haben.«
Wieder schob sich eine düstere Wolke vor die Sonne. Aber die sechs jungen Archäologiestudenten achteten nicht darauf. Sie waren eifrig damit beschäftigt, ihre unterbrochene Arbeit fortzusetzen.
Kapitel 3
D
ie langen feuerroten Haare umschmeichelten liebreizend ihr bleiches Gesicht mit den süßen Sommersprossen und der niedlichen Stupsnase. Anmutig und leicht wie eine Feder präsentierte sie einen Highland Dance, zu den Klängen einer einheimischen Bagpipe-Gruppe, die mit erstaunlichem Können gängige Popmusik zum Besten gab. Mühelos und mit einem strahlenden Lächeln auf ihren zart geschwungenen Lippen, drehte sie sich einer Primaballerina gleich immer wieder auf ihren Fußspitzen um ihre Achse. Es war eine Freude ihr zuzuschauen.
Lawson bewunderte ihre Schönheit, aber auch die Kraft, die Koordination und Disziplin, die sie bei der Ausführung der einzelnen Figuren an den Tag legte. Sie schien im Klang der Dudelsack-Rhythmen förmlich aufzugehen, während sich die anderen jungen Leute zwar auch voller Begeisterung, aber mit weit weniger Gefühl zur Musik bewegten. Es verwunderte ihn, dass sie keinen Partner an ihrer Seite hatte und völlig allein über die Tanzfläche schwebte, während andere Pärchen um sie herum miteinander schäkerten, lachten und sich verliebt tief in die Augen sahen.
»Die ist schon ein echt niedliches Ding, was?« Finn Donovan knuffte Alexander Lawson grinsend in die Seite. »Kein Wunder, dass du sie mit den Augen förmlich verschlingst, und das schon seit ungeschlagenen zehn Minuten.«
»Ach, hör auf!«, gab Lawson unwillig zurück.
Es ärgerte ihn, von seinem Studienkollegen ertappt worden zu sein, aber Donovan hatte vollkommen Recht mit seiner Beobachtung. Tatsächlich hingen seine Augen wie gebannt an dem Mädchen mit den aparten Gesichtszügen. Er hätte nicht genauer zu sagen gewusst, warum er sie mit einer solchen Ausdauer fixierte, sicher war aber, dass sie ihm gefiel und verdammt sexy aussah. Aber das war es nicht allein, denn hübsche Mädchen gab es an diesem Abend mehr als genug zu sehen. Sie hatte etwas Besonderes, eine bestimmte Ausstrahlung, der er sich einfach nicht entziehen konnte. Lawson fragte sich, wie alt sie wohl sein mochte. Siebzehn, achtzehn, oder vielleicht sogar ein wenig älter?
»Anstatt sie die ganze Zeit anzustarren, würde ich sie mal lieber zum Tanz auffordern!«, stichelte Donovan schmunzelnd. »Schließlich sind wir doch hierhergekommen, um einmal richtig auf die Pauke zu hauen, oder? Und wie du sicher schon bemerkt hast, sie hat ganz offensichtlich keinen Freund!«
Lawson schaffte es nicht sich von ihrem Anblick zu lösen. Geistesabwesend nickte ihm zu.
»Vielleicht sollte ich das wirklich tun«, murmelte er leise vor sich hin.
Der Augenblick sie anzusprechen schien günstig, denn sie tanzte gerade in ihrer unmittelbaren Nähe. Gerade als er auf sie zugehen wollte, bahnte sich ein grobschlächtiger Bursche den Weg zu ihr durch die Menge. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er bereits mehr als reichlich getrunken hatte. Sein derbes, krebsrotes Gesicht wirkte unsympathisch. Und noch weniger sympathisch machte ihn der Umstand, wie er das Mädchen gleich darauf brutal am Arm packte.
»Hey! Los, Kleine, du tanzt jetzt mit mir!«, forderte er grob.
Alexander Lawson hörte die derbe, raue Stimme des Burschen ganz deutlich. Er registrierte, wie das Mädchen direkt zusammenzuckte. Schmerzhaft, gerade so als habe man sie geohrfeigt, verzog sie das Gesicht. Mit aller Kraft versuchte sie sich ihm zu entwinden und seine Hand abzuschütteln. Aber der Kerl grinste sie nur unnachgiebig an und machte nicht geringsten Anstalten seinen Griff auch nur ein wenig zu lockern.
»Heute ist mir sogar die Tochter des Abdeckers willkommen! Zier‘ dich ruhig, Rothaar!«, stieß er höhnisch lachend aus, und versuchte, das sich heftig sträubende Mädchen mit Gewalt in seine Arme zu zerren. »Ich mag es, wenn du dich wehrst!« Dann wurde er anzüglich. »Wenn du im Bett ebenso temperamentvoll und leidenschaftlich bist, soll es mir nur recht sein!«
Der rohen Kraft des Burschen war sie nicht gewachsen. Hilfesuchend, fast flehend, wanderte ihr verängstigter Blick im Saal umher. Und obwohl viele der Anwesenden den brutalen Übergriff bemerkt hatten, schritt keiner von ihnen ein. Niemand wollte in den Vorfall hineingezogen werden, lieber wurde weggesehen.
Alexander Lawson war da anders. Er wurde sich seines Handelns erst bewusst, als er bereits neben dem betrunkenen, schwarzhaarigen Unruhestifter stand, um ihm mit einem heftigen, festen Ruck die Hand vom Arm des Mädchens zu reißen.
»Ganz friedlich, mein Bester!«, hörte er sich selbst sagen, und wunderte sich darüber, dass seine Stimme dabei so hart klang. »Sie werden sie auf der Stelle loslassen!«
Überrascht wandte sich der Bursche ihm zu und starrte ihn an.
»Was willst du Würstchen denn von mir? Suchst du etwa Streit, Mann?« In den Augen des Burschen blitzte es gefährlich auf. »Das Rothaar gehört mir, hast du verstanden!?«