Die Zwanzigste Stunde - Thomas Riedel - E-Book

Die Zwanzigste Stunde E-Book

Thomas Riedel

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Mitten in der Nacht wird Detective Inspector Nicholas Flanders aus dem Bett gescheucht. Auf mysteriöse Weise wird ihm ein Mordfall übertragen. Die Angelegenheit kompliziert sich, als einer der Verdächtigen plötzlich spurlos verschwindet und schon kurz darauf eine weitere Leiche in dessen Wohnung gefunden wird. Auch ein anderer Beteiligter, erweist sich als verdächtig, weil dessen Frau vor Jahren auf ungeklärte Weise verschwunden ist. Flanders steht vor einer Fülle schier unlösbar scheinender Rätsel. Wird es ihm gelingen, den mehrfachen Mörder mit einer geschickt gestellten Falle zu fangen …?

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Seitenzahl: 245

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Inspector Flanders:

Die Zwanzigste Stunde

Kriminalroman

 

Susan Smith & Thomas Riedel

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.de abrufbar

  

 

 

1. Auflage

  

Covergestaltung:

© 2019 Susann Smith & Thomas Riedel

Coverfoto:

© 2019 @ ysbrand, Depositphotos

 

Impressum

Copyright: © 2019 Susann Smith & Thomas Riedel
Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
ISBN siehe letzte Seite des Buchblocks

»Die Liebe bricht herein wie Wetterblitzen,

die Freundschaft kommt wie dämmernd Mondenlicht.

Die Liebe will erwerben und besitzen,

die Freundschaft opfert, doch sie fordert nicht.«

 

Emanuel Geibel (1815 - 1884)

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

London, England, 1889

 

Auf einem der abfallenden Eingangswege zur Nordseite der Arena im ›Alexandra-Park‹ stand ein junger Mann im Smoking, eine Zigarette zwischen den Lippen, die er anzuzünden vergaß.

Eine auserlesene Menge hatte sich zu der großen Springkonkurrenz eingefunden, die alljährlich im November im Rahmen der ›Royal International Horse Show‹ stattfand. Ein Reiter nach dem anderen setzte im Parcours über die vielfachen Hindernisse, über Erdwälle, Hürden, Mauern, Triplebarren, Wassergräben und Oxer.

»Miss Darlene Newdale, Nummer 43, auf ›LuckyLongtail‹«, dröhnte die Stimme des Ansagers aus dem Megaphon.

Diese Ankündigung war die Ursache, dass der junge Mann vergaß, seine Zigarette anzuzünden. Seine wasserblauen Augen hingen an dem Mädchen, das einen braunen Wallach in den Ring führte, dessen starke, gut gewinkelte Hinterhand den guten Springer verriet – da deren Knochen so angeordnet waren, dass das Pferd sie gut ziehharmonikaartig zusammenschieben konnte.

Als das Mädchen auf dem Rücken des Wallachs saß, sah es sehr schmal und zierlich aus. Aber die Art, wie seine behandschuhten Hände lässig die Zügel hielten, ließ auf Zähigkeit und Kraft schließen. Die blonden Haare waren unter einen steifen Hut gekämmt. Die Augen blickten kühl und gesammelt.

Der junge Mann hatte seine Hände in die Taschen gesteckt. Er ließ keinen Blick von dem Mädchen, als ›Lucky Longtail‹ startete. Ohne jedwede Anstrengung flog der Wallach über das erste Hindernis. Sein Stil hatte etwas Vertraueneinflößendes. Darlene Newdales Hände hielten nur losen Kontakt mit seinem Maul.

Weiter ging's, über die Mauern und über die Triplebarren. Die Menge hielt den Atem an, als der Wallach sich auf der Diagonalen dem Wassergraben näherte, bei dem ein Dutzend Konkurrenten den Sprung verweigert hatten. Die Ohren des Pferdes zuckten – aber es zögerte nicht. Ein Murmeln ging durch die Menge. Niemand wagte zu schreien, denn schon kam das nächste Hindernis an die Reihe: Ein Barren von vier Yard Höhe, der beim leichtesten Anrühren hinunterfiel.

In tadellosem Anlauf nahm ›Lucky Longtail‹ das Hindernis.

Ein einstimmiger Schrei der Begeisterung brauste auf. Der Wallach hatte den Parcours als erstes Pferd an diesem Abend fehlerlos geritten.

Der junge Mann am Eingangsweg zog sein Taschentuch hervor und fuhr sich damit übers Gesicht. Als er sich abwandte, sah er sich einem Paar gegenüber, das ebenfalls in Abendkleidung daherkam. »Guten Abend, Merrivell! … Du kennst doch meine Frau, Robert?«

Geistesabwesend begrüßte er die beiden. Seine Stimme war heiser vor Erregung.

»Wahrhaftig«, sagte sein Bekannter, »dieses junge Ding versteht sich aufs Reiten.«

»Allerdings«, erwiderte Robert nickend.

»Ist Darlene nicht Margaret Newdales Schwester?«, erkundigte sich die junge Frau.

»Ja.«

Der Mann zwinkerte ihm zu. »Du hast dich doch mit ihr abgegeben, bevor du anfingst, dich Margaret zu widmen, nicht wahr?«

Roberts Wagenmuskeln zuckten. »Kümmere dich gefälligst um deine eigenen Angelegenheiten«, wies er ihn brüsk zurecht und schritt weiter.

Entgeistert starrte die junge Frau ihm nach, während ihr Mann herzhaft lachte.

 

*

Nach kurzem Zögern begab sich Robert Merrivell in den Gesellschaftsraum der ›Royal International Horse Show‹, wo an einem Ende einer Bar, die sich längs der Wand erstreckte, einige Gentlemen standen. Robert steuerte auf das andere Ende zu.

»Whisky und einen Spritzer Soda«, sagte er. Er ließ die geschlossenen Hände auf der Mahagoniplatte ruhen, bis der Barmann sein Getränk brachte. Seine Finger hatten sich gerade um das Glas geschlossen, als jemand neben ihn trat.

»Guten Abend, Mr. Straightbolt«, grüßte der Mann hinter dem Tresen. »Was darf es für Sie sein, Sir?«

»Whisky«, erwiderte der Angesprochene mit einer wohllautenden, ruhigen Stimme.

Roberts erhobene Hand stockte auf halbem Wege zum Mund. Für einen Augenblick hielt er sein Glas ganz still. Dann trank er es halb leer, bevor er es wieder absetzte. Er blickte den Mann an seiner Seite an. »Hallo, Dwayne«, murmelte er halblaut.

»Hallo, Robert. Darlene hat ihre Sache wirklich gut gemacht«, meinte der große, breitschultrige Mann, mit den blonden, lockigen Haaren und Backenbart. Dwayne Straightbolt trug einen dunkelgrauen Gehrock und Zylinder. Er zeigte die freundliche Miene des Gesellschaftsmenschen. Einem Reporter gegenüber hätte er ohne Zögern folgende Angaben gemacht: vierzig Jahre alt, Besitzer eines der größten Privatvermögen Englands, erstklassiger Polospieler und Mitglied des ›Hurlingham Polo Comitee‹, Eigentümer einer Yacht und begeisterte Wasserratte, noch immer unverheiratet, obwohl unzählige Mütter in ihm die passende Partie für ihre Töchter sahen.

»Nichts Neues, nehme ich an«, sagte Robert.

Dwayne Straightbolts Gesicht bewölkte sich. »Nicht den Schatten einer Neuigkeit. Ich gebe mich geschlagen, Robert. Ich war in jedem Lokal, das Margaret aufzusuchen pflegt. Niemand hat etwas von ihr gesehen … seit Mittwochabend.«

»Das war am Abend, wo ich sie in die ›St. James's Street‹ ins Café ›White's and Brookes'‹ mitnahm«, bestätigte Robert. »Es ist zum Verrücktwerden. Darlene ist derart beunruhigt, dass ich fürchtete, sie würde beim Parcours versagen.«

»Darlene ist nicht nur deshalb beunruhigt, Robert.«

»Vielleicht ist es ja meine Schuld … das mit Margaret, meine ich. Immerhin hatten wir eine kleine Auseinandersetzung, und sie ließ mich einfach stehen.«

»Das ist doch ihre bevorzugte Technik. Dafür kennen wir sie doch«, erwiderte Dwayne. »Aber drei Tage sind auch bei ihr eine ungewöhnlich lange Frist, um schmollend einfach fortzubleiben.«

»Du hast keinen Streit mit ihr gehabt, oder doch?«

»N …nein«, antwortete Dwayne.

Robert blickte ihn an. »Weißt du, Dwayne, ich hatte eigentlich erwartet, dass du mir den Kopf zurechtrücken würdest.«

»Warum?«

»Lass' uns doch mal ehrlich miteinander sein, Dwayne. Du bist mit Margaret so gut wie verlobt. Dann platze ich dazwischen und belege sie mit Beschlag. Ich an deiner Stelle …« Er brach ab.

Dwayne schnippte die Asche von seiner Zigarette. »Wenn ich dir den Kopf zurechtrücken würde, dann ganz sicher nicht deshalb.«

»Ich weiß«, entgegnete Robert bitter. »Wenn es nicht ein zu lausiger Ausweg wäre, würde ich ins Wasser gehen.«

Dwayne zögerte, als wollte er sicher sein, dass er die richtigen Worte wählte. »Margaret ist ein erstaunliches Geschöpf. Sie hat es faustdick hinter den Ohren«, sagte er schließlich. »Niemand kann dir daraus einen Vorwurf machen, dass du den Kopf verloren hast. Aber Darlene ist auch nicht ohne.«

Robert seufzte auf. »Als ob ich das nicht wüsste.«

»Weißt du auch, dass sie eine von jenen Frauen ist, die nur einmal im Leben lieben? Und lass' dir sagen: Sie liebt dich über alles, Robert. Ich glaube nicht, dass du daran etwas ändern kannst.« Dwaynes Ton war trocken. »Wenn ich sie wäre, würde ich dich zum Teufel schicken. Aber so ist sie nicht.«

Robert blickte ihm unverwandt ins Gesicht. »Du meinst also, es bestünde immer noch die Aussicht, dass sie …, dass sie vielleicht …«

»Zweifellos. Was sie in dir eigentlich sieht, weiß ich nicht. Aber immerhin …«

»Ach, scher' dich zum Teufel!«, schimpfte Robert Merrivell und stürzte davon.

»Hallo, Mr. Merrivell! Ihre Zeche! Sir!«, rief ihm der Barmann hinterher.

»Lassen Sie nur«, lächelte Straightbolt säuerlich, während er sein Glas an die Lippen führte. »Ich erledige das schon.«

 

*

Während der achttägigen ›Royal International Horse Show‹ bot der ›Alexandra-Park‹ stets ein äußerst farbenreiches Bild. Die Ställe und Geschirrbaracken waren mit farbigen Bändern geschmückt, vergangenen und gegenwärtigen Trophäen, und die Metallteile der Geschirre funkeln. Von morgens bis nachts drängte sich hier eine dichte Menge, hemdsärmeliger Stallknechte, Reiter im Reitkostüm, Damen in Schneiderkleidern, Offiziere im Waffenrock, Mitglieder der Jury und Zuschauer, die nach der aktuellsten Mode gekleidet waren.

Durch diese Menge bahnte sich Robert Merrivell seinen Weg. Nach einer Weile erblickte er sein Ziel: die Ställe der Familie Newdale. Schnell hatte er Darlene ausgemacht.

Sie war von lauter Leuten umgeben, die sie beglückwünschten und ihr die Hand drückten. Unvermittelt schüttelte sie ihre Bewunderer ab und schritt auf den Ankleideraum zu.

Robert stellte sich ihr so plötzlich in den Weg, dass sie mit ihm zusammenstieß.

»Oh, Entschuldigung!«, murmelte Darlene. Erst jetzt, wo sie aufblickte, sah sie, mit wem sie zusammengestoßen war. »Ach, Robert, du bist das!« Beschwörend schaute sie ihm ins Gesicht. »Hast du Margaret gefunden?«

»Nein«, erwiderte er, kniff die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Er beobachtete, wie der Glanz aus ihrem Antlitz verschwand. »Zum Teufel mit Margaret!«, meinte er dann. »Sie kann selber auf sich achtgeben. Ich brauche einen Aufpasser, Darlene: Ich! … Ich bin völlig durcheinander. Als ich dich auf ›Lucky Longtail‹ sah, wusste ich …«

Sie schnitt ihm die Rede ab, indem sie ihre gebräunte Hand auf seinen Arm legte. »Wir können hier nicht miteinander sprechen, Robert. Jeden Augenblick wird uns jemand unterbrechen. Ich muss mir die Nase pudern, denn ich soll gleich für das ›Horse and Carriage Journal‹ fotografiert werden.«

»Das freut mich für dich, ganz ehrlich. Aber ich muss mit dir sprechen, Darlene. Noch heute Nacht.«

»Ich bitte dich, Robert. Das hat doch keinen Sinn. Ich verstehe auch so.«

»Du verstehst eben nicht!«

Darlene zögerte. »Komm' morgen zum Essen. Vielleicht ist Margaret bis dahin zurück.«

»Ich muss noch heute Nacht mit dir sprechen!«, beharrte er.

»Nun, wenn es denn sein muss … Broderik und Patrick bringen die Pferde nachher in die Reitschule. Ich fahre also allein mit dem Wagen heim. Wenn du mich gegen ein Uhr am Ausstellereingang treffen willst …«

»Ich werde dort sein«, versicherte er.

 

*

Dwayne Straightbolt wollte den Gesellschaftsraum gerade verlassen, als ein Mann hereinkam und ihn begrüßte. Er war groß und schlank, hatte ein scharf geschnittenes Gesicht, schwermütige Augen und trug über dem festen Mund einen ordentlich gezwirbelten schwarzen Schnurbart. »Ich dachte mir schon, dass du hier sein würdest, Dwayne«, meinte er und fügte direkt hinzu: »Ich muss etwas trinken. Willst du nicht mithalten?«

»Warum nicht?«, erwiderte Dwayne und begab sich zur Bar zurück. »Darlene hat es ja nun geschafft. Das ist gut für dich, Broderik.«

»Was darf es sein, Captain Turnblower?«, erkundigte sich der Mann hinter dem Tresen.

»Einen Cognac, bitte.«

»Auch für mich«, setzte Dwayne nach.

Turnblower blickte auf seinen blank polierten Reitstiefel nieder. »Das war heute ein höllischer Abend. Ich war ganz nervös wegen Darlene. In Gedanken beschäftigte sie sich doch immerzu mit Margaret ...«

»Wie wir alle«, fiel Dwayne ein.

»Ja, wie wir alle. Du hast recht.« Turnblower nickte. »Ich fürchtete insgeheim, sie würde beim Parcours versagen. Dabei war es so wichtig für uns.«

»Sie lässt so leicht niemand im Stich, auch wenn sie selbst in Bedrängnis ist«, bemerkte Dwayne lächelnd.

»Sie ist ein großartiges Mädchen«, bestätigte Turnblower. Er trank sein Glas in einem Zug leer und setzte es ab. »Was ist mit Margaret, Dwayne? Weißt du inzwischen etwas?«

Dwayne zuckte unwissend die Schultern. »Wird mal wieder irgendein Streich von ihr sein«, vermutete er. »Sie wird schon auftauchen, wenn es ihr in den Kram passt.«

»Ich sage dir: Mir gefällt die Sache nicht«, erwiderte Turnblower scharf.

»Weißt du vielleicht, was man daran ändern könnte?«

Turnblower blickte seinem Freund offen ins Gesicht. »Höre, Dwayne, ich habe schon seit einiger Zeit das Gefühl, dass du nicht sehr glücklich über den Stand der Dinge bist. Du darfst Margaret nicht heiraten, wenn es dir nicht unbedingt konveniert. Wir leben nicht mehr im Mittelalter, verstehst du?«

»Ach, wirklich?« Dwaynes Ton klang bitter.

»Dwayne, wenn ich dir auf irgendeine Weise behilflich sein kann …«

»Lass' nur! … Margaret und ich werden heiraten und ein äußerst vergnügliches Leben führen. Du weißt schon, Soirées, Ausfahrten mit der Yacht, Whistpartien … Meine Güte!«

»Dwayne!«

»Verzeih'. Bekommt nicht jeder zukünftige Ehemann zu einem gewissen Zeitpunkt Lampenfieber? Ich glaube, ich werde mir heute Nacht noch einen netten kleinen Schwips zulegen.«

Turnblower betrachtete ihn sorgenvoll. »Dwayne, du weißt hoffentlich, dass ich alles für dich tun würde. Wenn ich dir auf irgendeine Weise helfen kann, dann lass' es mich tun. Der Himmel weiß, dass ich dir niemals vergelten kann, was du früher für mich getan hast.«

»Es gibt nichts zu tun«, entgegnete Dwayne, in sein Glas starrend. »Absolut nichts, Broderik.«

»Am liebsten würde ich Margaret übers Knie legen und so richtig den Hintern versohlen, weil sie dich so behandelt«, bemerkte Turnblower grimmig.

»Das würde ich mir gern anschauen!« Dwayne Straightbolt lachte trocken auf.

 

*

Vor dem Ausstellereingang parkte der dunkelgrüne Landauer der Newdales. Robert Merrivell, der seinen Mantelkragen hochgeklappt hatte, schritt auf dem Seitenpfad auf und ab. Ein Blick auf seine Taschenuhr zeigte ihm, dass es bereits nach ein Uhr war.

Endlich erschien Darlene, beladen mit zwei Mänteln, einer großen Silbertrophäe und einem Köfferchen.

Ganz Gentleman nahm Robert ihr die Last ab. »Ich dachte, du würdest überhaupt nicht mehr kommen«, bemerkte er ein wenig vorwurfsvoll.

»Ich bin eigentlich noch gar nicht hier, Robert«, erwiderte sie und schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln. »Sei ein Engel, ja? Leg' die Sachen hinten in die Kutsche. Hier hast du die Schlüssel. Ich muss noch mit ein paar Leuten sprechen. Mit Rachel wegen Margaret telefonieren und einige berufliche Sachen erledigen. Es dauert bestimmt nicht lange.«

»Es ist dein Schaden«, entgegnete er, »denn, wenn ich erst einmal angefangen habe zu reden, musst du mir bis zum Schluss zuhören. Vielleicht dauert es bis in die frühen Morgenstunden.«

Für einen Augenblick legte sie ihre Hand in die seine. »Das wäre mir ganz gleich.« Dann kehrte sie rasch wieder ins Gebäude zurück.

Robert trug die Sachen, die sie ihm übergeben hatte, zu dem in die Jahre gekommenen Landauer hinüber und schloss die Seitentüren zu den hinteren Sitzen auf. Ungefähr dreißig Sekunden lang stand er wie versteinert am offenen Schlag. Dann schlug er ihn schnell wieder zu, sah sich dabei kurz um und verstaute ihre Sachen in fliegender Hast im Kofferaufbau, zu dessen Schloss sich auch ein Schlüssel am Bund befand. Als er damit fertig war, schritt er über die Straße auf einen Bobby zu. »Kennen Sie Miss Newdale vom Ansehen?«, erkundigte er sich.

»Die junge Lady, mit der Sie gerade gesprochen haben? … Natürlich.«

»Bestellen Sie ihr doch bitte, dass ich nicht warten konnte«, trug er ihm auf. »Wenn sie herauskommt, sagen Sie ihr nur, dass ich nicht länger warten konnte.«

»Sie nehmen den Wagen?«, fragte der Uniformierte nach.

»Ja.« Robert kramte in seiner Tasche und holte eine Zwanzig-Shilling-Münze hervor. »Geben Sie ihr die und sagen Sie ihr, sie soll mit einem ›Hansom‹ heimfahren.«

»Vielleicht gefällt es ihr ganz und gar nicht, versetzt zu werden«, bemerkte der Polizist.

»Ja, vielleicht«, erwiderte Robert. Er ging zum Landauer zurück, stieg ein und fuhr in Richtung der ›Dukes Avenue‹ davon.

 

Kapitel 2

 

 

Inspector Nicholas Flanders von der Mordkommission wälzte sich unruhig in seinem Bett und öffnete schließlich die Augen. Jemand klopfte ausdauernd an die Tür seiner Wohnung. Flanders richtete sich auf, knipste die Nachttischlampe an und blickte auf seine Armbanduhr: Viertel nach zwei!

Er schlüpfte in seine Pantoffeln und zog sich einen blauen Morgenrock an. Das Klopfen hielt weiter an. Flanders hatte keine Eile. Er fuhr sich mit den Fingern durch seine kurzgeschnittenen roten Haare, strich den Kragen des Pyjamas glatt und schlurfte zur Tür.

»Aufhören!«, schimpfte er. »Sie schlagen ja noch das Haus zusammen!« Er löste die Sicherheitskette und öffnete die Tür.

Vor ihm stand ein alter Herr, der mit dem Elfenbeingriff seines Schirmes gegen die Tür gehämmert hatte. Zwischen der Krempe einer altmodischen, hohen braunen Melone und dem Astrachankragen eines langen schwarzen Mantels war nicht viel sichtbar. Aus der linken Tasche des Mantels schaute ein schwarzes Hörrohr hervor. Misstrauisch musterte der alte Gentleman Flanders. Hinter ihm stand ein junger Mann mit blassem, verzerrtem Gesicht.

»Guten Tag, Mr. Bishop, oder vielmehr guten Morgen«, sagte Flanders. Seine sanften grauen Augen spiegelten Belustigung wider. Er blickte Bishops Begleiter an.

»Dieser junge Narr hier heißt Merrivell. Robert Merrivell«, erklärte Bishop. »Kümmern Sie sich nicht um ihn, bis ich Sie etwas gefragt habe.«

»Wenn Sie mich etwas zu fragen haben, sollten Sie besser eintreten.« Flanders drehte einen Schalter neben der Tür an.

Ein merkwürdiger Raum wurde erhellt. Einstmals war er die große Küche einer herrschaftlichen Wohnung gewesen. Über dem Kamin hingen alle möglichen Kupferpfannen, offensichtlich zum Schmuck. Auf einem Tisch stand eine blaue Porzellanschale, die mit Pfeifen gefüllt war. Das Bett des Inspektors, das sich in einer Vertiefung zwischen den Fenstern befand, machte den Eindruck einer Schiffskoje. Am anderen Ende des Raumes war eine Tür, deren obere Hälfte aus Glas bestand und die in einen kleinen Garten führte.

Flanders lud seine Besucher mit einer Handbewegung ein, auf einer Couch vor dem Kamin Platz zu nehmen. Er selbst machte sich daran, die Glut im Kamin neu zu entfachen.

Bishop legte Hut, Schirm und Hörrohr auf den Tisch. Er zog seinen Mantel und einen gestrickten Schal aus, ergriff das Hörrohr wieder und nahm die Mitte der Couch ein.

Robert Merrivell stand abwartend bei der Feuerstelle und starrte den Inspector an. Als dieser sich erhob, begegnete er seinem Blick.

»Nun?« Fragend schaute Nicholas Flanders den alten Mann an.

»Was sagten Sie?« Das Hörrohr war auf Flanders gerichtet.

Der Inspector lächelte Robert an. Es war ein freundliches Lächeln. Trotz seiner vielen Runzeln auf der Stirn konnte Flanders nicht älter als vielleicht vierzig oder fünfundvierzig sein. »Die Erfahrung hat mich gelehrt«, sagte er, »dass man unseren Freund nicht zwingen kann zur Sache zu kommen.«

»Natürlich kann ich zur Sache kommen«, fuhr Bishop auf, der ohne Hörrohr ganz gut zu verstehen schien. »Ich bin hergekommen, um eine Frage an Sie zu richten … eine technische Frage. Machen Sie also keine Flausen, sondern beantworten Sie sie geradeaus.«

»Ich will mein Bestes tun«, erwiderte Flanders. Er suchte sich eine Pfeife aus und begann sie zu stopfen.

»Es handelt sich um Folgendes«, begann Bishop. »Durch wen werden Sie im Fall eines Mordes mit der Untersuchung beauftragt?«

»Durch den Commissioner.«

»Angenommen, im Stadtteil ›Soho‹ wäre ein Verbrechen verübt worden. Könnten Sie mit diesem Fall beauftragt werden?«

»Das wäre möglich, wenn der Commissioner der Meinung ist, dass ich der richtige Mann dafür bin. Natürlich hat die Polizei des betreffenden Reviers den Vortritt.«

»Heiliger Strohsack!«, bellte Bishop. »Ich wünsche eine direkte Antwort zu hören, und was erhalte ich stattdessen? Macht es irgendeinen Unterschied, in welchem Stadtteil der Leichnam gefunden wird? Könnten Sie dennoch mit dem Fall betraut werden?«

»Ja, wenn der Commissioner …«

»Hören Sie auf, Inspector!« Bishop wandte sich an Robert. »Ich sagte Ihnen ja, dass er Flausen machen würde. Er ist einfach nicht imstande geradeheraus zu reden.« Er richtete sich wieder an den Scotland Yard-Beamten. »Die Sache ist ganz leicht, Flanders! Wir haben einen Mordfall für Sie und möchten, dass Sie ihn übernehmen. Freunde von mir sind darin verwickelt.« Er legte seinen Kopf ein wenig schief und schaute ihn forschend an. »Wo sollte Ihrer Meinung nach der Leichnam gefunden werden?«

Flanders hatte ein Streichholz angerissen, um seine Pfeife anzustecken. Die Flamme brannte weiter, bis sie ihm die Finger versengte. Mit einem kurzen unterdrückten Schrei ließ er das Zündholz fallen. »Sie haben einen Mordfall für mich?«, reagierte er gedehnt. »Und Sie fragen mich, wo nach meinem Wunsch die Leiche am besten gefunden werden soll? Ja, … können Sie das denn arrangieren?«

»Würde ich Sie fragen, wenn ich es nicht könnte?«

»Angenommen wir kämen überein … Ist dieser Mord bereits geschehen?«

»Natürlich«, nickte Bishop. »Aber stellen Sie doch keine Fragen! Beantworten Sie meine!«

»Sie schlagen mir also gerade vor, den Leichnam an eine bestimmte Stelle zu schaffen, sodass auf jeden Fall ich den Fall zu bearbeiten habe?«

Wieder nickte Bishop. »Wenn nötig, ja.«

»Ihnen ist aber schon bewusst, dass es ungesetzlich ist, einen Leichnam fortzuschaffen, ehe Scotland Yard dazu die Erlaubnis gegeben hat?«

»Glauben Sie, dass ein Mann im Laufe von siebzig Jahren überhaupt nichts lernt? … Selbstverständlich würde ich einen Leichnam nicht mal mit einer yardlangen Stange anrühren.« Er blickte ihn herausfordernd an und ein wissendes Lächeln umspielte seine Lippen. »Aber ich habe noch nie von einem Gesetz gehört, dass es verbietet, den Ort zu ändern, an dem ein Leichnam gefunden wird.«

»Den Ort ändern?« Jetzt war es an Flanders sein Gegenüber argwöhnisch zu mustern, während er tief Atem holte. »Würden Sie so freundlich sein und mir mitteilen, wo sich der Körper des Opfers in diesem Mordfall augenblicklich befindet?«

»Aber gern«, erwiderte Bishop. »Er befindet sich im Fond auf dem Rücksitz eines Landauers.«

»Und wo befindet sich diese Kutsche?«

»Das möchten wir ja gerade von Ihnen wissen«, erwiderte Bishop gereizt.

»Oh, mein Gott: Barmherzigkeit!«, rief Flanders aus, imaginär zum Himmel blickend. »Sie wollen von mir wissen, wo sich der Landauer befindet?«

»Nein! Ich weiß ja nicht, ob es an der frühen Morgenstunde liegt, aber Sie scheinen mir schwer von Begriff zu sein, Inspector! Wir möchten wissen, wo sich die Kutsche befinden muss, damit Sie den Fall bearbeiten! Der Leichnam ist genau dort, wo Robert Merrivell ihn gefunden hat. Auf dem Rücksitz des Landauers.«

»Und wo ist dieser Landauer jetzt?«, wiederholte Flanders. Dabei betonte er jedes einzelne Wort, als spräche er mit einem kleinen Kind.

»Der steht vor Ihrer Haustür, Inspector«, gab Robert mit leiser Stimme Auskunft. »Mr. Bishop und ich haben sie hergefahren.«

 

*

Ungefähr eine Stunde nach Roberts und Bishop' Besuch bei Inspector Flanders fuhr ein ›Hansom Cab‹ vor ein Gebäude in der ›Newland Road‹, etwas südlich vom Park, vor. Früher war dieses Gebäude ein Warenhauslager gewesen, doch dann hatte man das zweite und dritte Stockwerk in Wohnungen verwandelt, in die man von der ›Boyton Road‹ aus gelangte. An der ›Newland Road‹ war ein weiter Torweg, in dessen Hintergrund ein Pferdewagen stand. Zur Rechten des Tores kündigte ein schwarzgoldenes Schild an, dass sich hier die Reitschule von Captain Broderik Turnblower und Darlene Newdale befand.

Darlene Newdale kletterte aus dem ›Hansom‹ und händigte dem Kutscher die Zwanzig-Shilling-Münze aus. »Behalten Sie das Wechselgeld. Es ist nicht meines«, erklärte sie trocken.

Sie begab sich an dem Einspänner vorbei auf die Reitbahn. Mächtige Lampen, die bereits elektrisch gespeist wurden, hingen von der Decke herab, deren Licht von den weißgetünchten Wänden zurückgeworfen wurde. Jenseits der Bahn, an der Rampe zu den Ställen, standen zwei Männer: Patrick Chambers, der erste Stallknecht und Captain Broderik Turnblower.

Turnblower gewahrte Darlene und kam auf sie zu. »Du willst wohl, dass der Landauer hereingeschafft wird und die Pferde abgerieben werden? Sie wird gleich entfernt.«

Darlene lachte, aber es klang nicht fröhlich. »Die Kutsche und Pferde können nicht hereingeschafft werden, denn die habe ich nicht. Ich bin auf die schönste Art und Weise versetzt worden.«

Turnblowers kluge Augen sahen, dass sie allem Lachen zum Trotz den Tränen nahe war. »Was ist los?«, fragte er besorgt.

»Robert!«, erklärte sie. »Es ist wirklich komisch, Broderik. Er kam zu mir und sagte, er müsse noch heute Nacht mit mir sprechen. Ich … ich dachte schon, er sei vielleicht eines anderen Sinnes geworden. Ich schlug ihm vor, auf mich zu warten und nachher mit mir heimzufahren. Als ich dann zurückkam, war er mitsamt dem Landauer fort.«

»Der dumme Junge!«, reagierte Turnblower ärgerlich.

»Aber er war sehr fürsorglich, Broderik! Er übergab einem Bobby Geld für mich, damit ich mit einem ›Hansom‹ heimfahren konnte.«

»Und warum …?«

»Er ließ mir durch den Polizisten ausrichten, dass es ihm nicht möglich gewesen sei, länger zu warten.«

»Wenn ich den Burschen erwische dann, …«

»Lass' gut sein, Broderik. Man kann Robert für seine Handlungen nicht zur Verantwortung ziehen. Er ist verliebt.« Ihr Lächeln wirkte ein wenig traurig. »Ich wünschte nur, er würde sich endlich entschließen, in wen.«

»Vergiss ihn«, mahnte Turnblower und legte ihr seinen Arm um die Schultern. »Ich habe noch gar keine Gelegenheit gehabt, dir zu sagen, wie stolz ich auf dich bin, Kleines. Du hast deine Sache glänzend gemacht. ›Lucky Longtail‹ steht nun ganz groß da.«

»Danke, Broderik. Ich … ich bin fast ein wenig betrübt, dass Pembroke ihn gekauft hat. ›Lucky Longtail‹ ist ein so feines Pferd.«

»Nun, … du bist jetzt halt eine Geschäftsfrau, Kleines«, lächelte Turnblower. »Da darfst du nicht sentimental sein. Zweitausend Pfund können eine Menge Wölfe fernhalten.«

Darlene nickte.

»Da wir gerade von Wölfen sprechen«, fuhr er fort, »dein Vater und Tante Mabel haben oben etwas zu essen für uns. Rachel ist auch gekommen. Ich versprach ihr, sie nachher heimzubringen … Komm, wir gehen hinten hinauf.«

 

*

Der Salon der Newdales war mit Möbeln eingerichtet, die verrieten, dass die Familie schon bessere Tage gesehen hatte. Es waren Stücke darunter, von denen man sich nur im äußersten Notfall zu trennen pflegte.

Douglas Newdale saß in einem großen Sessel neben dem Ofen. Er war um die sechzig Jahre alt und hatte graue Haare. Er trug einen Tweedanzug, der an einen Gutsbesitzer denken ließ und der so gar nicht in eine Londoner Stadtwohnung passte. Er erhob sich, als Darlene und Turnblower eintraten. »Meinen Glückwunsch, Liebling!«

Darlene starrte ihn an. »Du hast doch nicht etwa zugesehen, Dad?«

»Natürlich habe ich zugesehen. Du warst großartig.«

»In diesem Anzug?!«, klagte sie.

Douglas Newdale blickte zärtlich an seinem abgetragenen Tweedanzug hinunter. »N …nein. Ich habe mich inzwischen umgezogen.«

»Du bist wirklich garstig, Dad. Niemals habe ich Gelegenheit, dich im Abendanzug zu sehen. Und dabei siehst du dann so gut aus!«

»Nun, auf jeden Fall habe ich zugesehen. Miss Evermer stellte Mabel und mir liebenswürdigerweise ihre Loge zur Verfügung. Augenblicklich sind die beiden in der Küche.« Er wandte sich an Turnblower. »Einen Whisky, Broderik?«

»Danke schön. Ich bediene mich schon selbst.« Turnblower ging zu einem Schrank und füllte sich ein Glas. »Jetzt wird es wohl aufwärts gehen mit der Reitschule. Darlenes Sieg wird viel dazu beitragen.«

»Ich war sehr stolz auf dich, mein Liebling«, sagte Douglas Newdale. »Ich hoffte so, Margaret würde auch dasein. Aber wahrscheinlich ist sie durch Freunde abgehalten worden.«

»Natürlich«, erwiderte Darlene hastig. »Ich will mal schauen, ob ich in der Küche etwas helfen kann.«

 

*

Miss Mabel Cartwell, Darlenes Tante, stand am Herd. Über einem schwarzen Kleid trug sie eine Küchenschürze. Ihre feinen Züge verrieten, dass sie einmal ein sehr hübsches junges Mädchen gewesen sein musste, wenngleich sie noch immer von ansprechender Schönheit war. Obwohl sie sämtliche Haus- und Küchenarbeiten bei den Newdales verrichtete, gelang es ihr, stets den Eindruck hervorzurufen, als ob ›das Mädchen gerade Ausgang‹ hätte.

»Ich fragte mich schon, ob du überhaupt noch heimfinden würdest«, bemerkte sie. »Wir wollten gerade ohne dich beginnen.«

»Kein Wort davon ist wahr«, lachte Rachel Evermer, die gerade damit beschäftigt war, belegte Sandwiches auf einer Platte anzurichten. »Nach deiner heutigen Leistung hätten wir auch bis zum Tag des Jüngsten Gerichts auf dich gewartet, mein Engel. Ach, Darlene, ich weiß gar nicht, was ich dafür gäbe, wenn ich auch so reiten könnte wie du!«

Rachel Evermer hatte blauschwarze Haare und eine milchweiße Haut. Ihr weicher Mund zeigte ein tiefes Rot. Man sagte oft von ihr, sie sei eine der bestangezogensten Frauen Londons, was nicht weiter verwunderlich war, da sie in der ›Westbury Avenue‹ ein Schneideratelier betrieb, in dem sowohl die erste Gesellschaft als auch die Stars des Theaters ein und aus gingen.

»Dann nimm doch Stunden bei uns«, erwiderte Darlene lächelnd. »Wir können jeden Penny gut gebrauchen, meine Liebe.«

»Gern, wenn ich denn nur Zeit dazu hätte!«

»Eigentlich hätte Margaret so viel Anstand haben sollen, heute Abend zur Loge zu kommen, wo ihr Vater saß«, bemerkte Mabel Cartwell vorwurfsvoll. »Seit drei Tagen haben wir nichts von ihr gesehen oder gehört. Ich fragte Rachel, was die gute Margaret eigentlich die ganze Zeit treibt, aber sie scheint es auch nicht zu wissen.«

Rachel und Darlene tauschten einen raschen Blick aus.

»Ich bin immer schon im Bett, wenn sie heimkommt«, erklärte Rachel. »Und am Morgen bin ich längst im Geschäft, wenn sie aufsteht.«

»Meiner Meinung nach sollte sie dir nicht zur Last fallen, wo sie ein eigenes Heim hat«, bemerkte Mabel ärgerlich.

»Aber ich habe sie doch so gern«, entgegnete Rachel, die sich beeilte, mit den belegten Sandwiches fertig zu werden.

Mabel stellte eine dampfende Schüssel auf ein Tablett. »Bring' du die Sandwiches hinein, Rachel«, sagte sie. »Und du, Darlene, kannst den Kaffee nehmen.«

Kaum hatte die alte Lady die Küche verlassen, wandte sich Darlene an Rachel: »Nichts Neues?«

»Tut mir leid, Liebes: kein Wort.«

»Es ist goldig von dir, dass du Dad und Tante Mabel gegenüber angibst, Margaret sei bei dir«, sagte Darlene. »Aber wenn sie bis morgen nicht auftaucht, muss man ihnen doch die Wahrheit mitteilen … Es wird Ernst, Rachel.«

»Ich würde mir an deiner Stelle nicht so viele Sorgen machen«, meinte Rachel. »Sie bummelt mit irgendjemand herum und hat nur vergessen, dir Bescheid zu sagen.«

In der Halle schrillte das hochmoderne Wandtelefon.

Darlene lief direkt hin und nahm die Hörmuschel von der Gabel. »Hallo?«

»Darlene!«

»Robert! Nun sag' mir aber bloß …«

»Darlene, hör' mich an! Ich kann dir jetzt nicht erklären, warum ich mit der Kutsche durchgebrannt bin, denn du musst den Schein wahren. Nur so viel sollst du wissen: Es geschah um Margarets willen.«

»Du weißt, wo sie …«

»Ja, Darlene.« Roberts Stimme klang sehr ernst. »Ich weiß, wo sie ist. Du musst sogleich an einen bestimmten Ort kommen: ›Rathcoole Avenue‹ 26, Flanders. Kannst du dir Namen und Adresse merken?«

»Ja, Robert. Aber meine Familie … Es sind ein paar Leute hier. Ich …«

»Du musst kommen, Darlene! Es ist … es ist nicht sehr erfreulich. Ein Unglücksfall!«

»Oh, Robert!«

»Du musst kommen, Darlene!«

»Ja, natürlich komme ich. ›Rathcoole Avenue